Von Dr. phil. Clemens Heni, 25. Mai 2021

Es hat sich seit der Pest von Regensburg im Jahr 1713 kaum etwas geändert in deutschen Landen. Zwar gibt es heute keine „Schnellgalgen“ mehr wie 1679 in Wien bei einem Pestausbruch und es werden keine Juden mehr für die Pest verantwortlich gemacht wie 1713 in Regensburg (abgesehen von der neo-nazistischen oder islamistischen Hetze gleich im März 2020 gegen Juden sowie Israel, die Corona absichtlich herbeigeführt hätten bzw. die personifizierte Pest seien), doch die staatliche Reaktion ist fast exakt die gleiche: Stigmatisierung, Einsperren, Quarantäne anordnen und Angst verbreiten.

Das ist das Thema eines faszinierenden Aufsatzes des Medizinsoziologen und späteren Professors für Sozialwesen an der Universität Kassel, Gerd Göckenjan, aus dem Jahr 1988. Auf dieses „Kursbuch“ wies mich ein weiterer Leser meines Blogs hin.

Früher wäre ich nach einem solchen Hinweis noch abends gegen 23 Uhr in die Humboldt-Universität zu Berlin geradelt (von Tempelhof keine 10 km), deren Grimm-Zentrum bis Mitternacht offen hatte und wo die meisten sozial- und geisteswissenschaftlichen Zeitschriften im Freihandmagazin jederzeit zugänglich sind. Dort hätte ich die Bände im zweiten Obergeschoss locker gefunden, ich kenn mich dort noch deutlich besser aus als in der jüngeren Campus-Bibliothek der FU Berlin, die besonders antiintellektuell, wissenschaftsfeindlich und medizinisch nicht evidenzbasiert ihre Schließung begründet:

Die Kernaussage ist Folgende:

Wir bitten von Besuchen ohne Anlass Abstand zu nehmen.

Eine absurdere „Begründung“ kann es für eine wissenschaftliche Einrichtung gar nicht geben. Wer in eine Bibliothek geht, hat einen Anlass – Forschung, die Wissenschaft kontaktieren, Menschen treffen, denken. Doch in den a-sozialsten Zeiten seit 1945 ist das kein „Anlass“. Da die Bibliotheken also de facto zu sind, musste ich mir den Band antiquarisch bestellen (in meiner kleinen Privatbibliothek stehen nicht alle Kursbücher).

Aus solchen Sätzen wie von der FU Berlin spricht die größte Menschen- und Wissenschaftsverachtung – seit 1945. Denn 17.000 Männer und Frauen in Kraft-durch-Freude-VOLKSwagen-Fabriken, oder bei Mercedes, bei BMW, Audi etc. – das ist ein „Anlass“, da darf man in die Fabrik, oder zu Heckler & Koch nach Oberndorf am Neckar im fleißigen Ländle paar Maschinengewehre bauen, die dann über Umwege oder direkt in den Irak ins Kriegsgebiet oder zur islamistisch-antisemitischen Hamas und dem Islamischen Staat gelangen:

In den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ermordete die Rote Armee Fraktion Generalbundesanwalt mit einem HK43-Gewehr, im Logo leuchtete die MP5 – gleichsam von Heckler & Koch. Der Sendero Luminoso in Peru, die FARC in Kolumbien, der militärische Arm der PKK in Türkisch-Kurdistan, die sunnitisch-islamistische Palästinenserorganisation Hamas, Al Quaida in Pakistan, Taliban in Afghanistan – sie alle schossen oder schießen mit der MP5 oder dem Schnellfeuergewehr G3, entwickelt von Heckler & Koch.

Im August 2014 haben Bundeskanzlerin Merkel und vier Minister von CDU/CSU und SPD in interner Runde entschieden, 16.000 G3- und G36-Sturmgewehre aus Beständen der Bundeswehr mit 6.000.000 Schuss Munition, 40 MG3-Maschinengewehre mit 1.000.000 Schuss Munition, 8.000 P1-Pistolen mit 1.000.000 Schuss Munition, 30 Panzerabwehrwaffen MILAN mit 500 Lenkflugkörpern, 200 Panzerfäuste-3 mit 2.500 Patronen, 40 Schwere Panzerfäuste mit 1.000 Patronen, 100 Signalpistolen mit 4.000 Patronen sowie 10.000 Handgranaten in das Bürgerkriegsland Irak auszuliefern.

Solche Einrichtungen wie Fabriken von Heckler & Koch haben also immer einen guten „Anlass“ geöffnet zu sein. Eine Bibliothek wie die HU Berlin oder die Campus-Bibliothek der FU Berlin haben solche Gründe nicht. Das zeigt den ganzen Irrsinn, die Kultur- und Wissenschaftsverachtung, für die Merkel nur exemplarisch steht – und für die Perfidie und den affirmativ-kapitalistischen Zug der gesamten Coronapolitik. Ginge es um Gesundheit, müsste jede Kriegsfabrik geschlossen werden, ob mit oder ohne Corona. Doch das wird sie nicht, also lügt jede Kanzlerin, wenn sie behauptet, es ginge ihr um die Gesundheit. Es geht um Krieg, um Kapitalismus, ums Geschäft und nicht um die Menschen, die oben zitierten Zahlen zeigen das.

Es gibt auch aktuell wieder große Hochzeitsfeiern – vor allem bei Rüstungsfirmen in Thüringen:

“Standardgewehr” oder gar “Braut des Soldaten”: Nach einem jahrelangen Auswahlverfahren steht die künftige Bewaffnung der deutschen Soldaten praktisch fest. Die Thüringer Waffenschmiede C.G. Haenel – Neugründung einer Suhler Traditionsfabrik und als kleinerer Außenseiter in das Rennen gestartet – soll das neue Sturmgewehr liefern. (…) Heckler & Koch ist Hersteller des aktuellen Sturmgewehrs G36. Und um das hatte es in den zurückliegenden Jahren einigen Wirbel gegeben, der sich um die Treffgenauigkeit unter Extrembedingungen drehte – dem hochintensiven Feuerkampf mit langen Schussfolgen oder auch bei klimatischen Spitzen. Verteidigungsministerin von der Leyen verkündete 2015, „dass das G36, so wie es heute konstruiert ist, keine Zukunft in der Bundeswehr hat“. (Herv. CH)

Mit der Pest von 1347-51 wurde die Lepra als größte Plage abgelöst, so der Kursbuch-Autor. Allerhand Mythos rankte sich um die Pest, Glockenläuten oder Kräuterabsude sollten sie vertreiben, die Pest, was dazu führte, dass der Gestank und die kirchliche Panik die Angst riech- und hörbar machten. Schon damals eine inszenierte Panik, obwohl ja die Leute sahen, dass sehr viele, bis zu 30 Prozent eines Dorfes oder einer Stadt in Europa, starben.

Folgendes im Text von Göckenjan hört sich an wie ein Bericht über einige ZeroCovid-Protagonist*innen und deren Epigon*innen beziehungsweise klammheimlichen Fans in den Bundes- und den Landesregierungungen – also ein Bericht über die Folgen des Lockdowns im Globalen Süden und in Teilen auch hierzulande:

Oder es wird kritisiert, daß die öffentlichen Pestmaßnahmen während einer Epidemie die Auswirkungen der Krankheit potenzieren, statt sie einzuschränken. Quarantäne-Maßnahmen wie das Einschließen der Infizierten in ihren Häusern und das Schließen der Stadttore erreichen, daß jeder, der erkrankt, auch stirbt, weil keine ausreichende Lebensmittelversorgung bzw. medizinische Pflege organisiert werden kann. Dazu bricht aller Verkehr zusammen, und gerade die Armen, ohnehin die Hauptbetroffenen einer Epidemie, sind ohne Arbeit, Geld und Ernährungsmöglichkeiten. So ist es kein Wunder, daß es zu Chaos und jeder Art Verletzung von Eigentum kommt (z.B. Stöckel 1710).

Bei der Lepra wurde mitunter, da ja der „Grund“ für die Krankheit mysteriös blieb, beliebig gesucht und gefunden, was sich ein Mensch zu Schulden habe kommen lassen, auch das erinnert an die heutigen ach-so-aufgeklärten Deutschen, die – wie in Hamburg, wir erinnern uns – mit Motorgeheul und brutalem Losrasen, das lebensgefährlich war, einen jungen Mann in einem Park verfolgte, der einen Anderen, den Anderen schlechthin in diesem Fall, abklatschte, berührte, und das auch noch im Freien:

Der Aussätzige ist die Repräsentation des sündigen Menschen, die ‚Ursache‘ des Aussatzes ist folglich alles, was strafwürdig schien: üble Nachrede, Götzendienst, Blutschande, Meineid, Hochmut, Neid, Schlemmerei und Trunksucht, Wollust usw.

‚Er fiel durch Gottes Gebot von der Höhe seines Ansehens in ein erniedrigendes Leiden: ihn ergriff der Aussatz. Als man die schwere Züchtigung Gottes an ihm an seinem Leibe gewahr wurde, da wurde er Männern und Frauen widerwärtig‘, so heißt es im Armen Heinrich von Hartmann von Aue (um 1200). Hier ist die Strafe der Beweis für eher geringfügig erscheinende Verfehlungen: für Selbstbewußtsein, Innerweltlichkeit, Lebenslust.

Schon damals gab es offenbar noch zu wenig Angst vor der Krankheit, die Panik wurde auch damals geschürt, auch das erinnert an die Corona-Politik von Johnson bis Macron und Merkel („Invisible killer“, „Wir sind im Krieg“ oder „Nehmen Sie es ernst“):

Die Quarantäne-Maßnahmen müssen häufig durchgesetzt werden, weil die Leute nicht genug Angst vor Infektionen haben. Offenbar sind es erst die Pest-Inszenierungen, die wirklich Furcht und Schrecken verbreiten. Der Terror beginnt nicht mit der Pest, sondern mit den Maßnahmen gegen sie, mit dem Verbot ehrlicher Beerdigungen, mit dem Schließen von infizierten Häusern, ‚als ein Grab derer Lebendigen‘, oder mit dem Abtransport Pestkranker in die Spitäler, die Sterbehäuser sind, meist ohne wirkliche Pflege und medizinische Versorgung; am Ende steht sogar das Verbot öffentlicher Gottesdienste.

Das „sogar“ lässt einem heute das Blut in den Adern gefrieren, da bei der vergleichsweise läppischen Dimension – verglichen mit der Pest, 30 Prozent der Bevölkerung starben, bei Corona viel weniger als 0,1 Prozent – von Covid-19 fast überall die Kirchen, Moscheen, Synagogen und sonstigen Gotteshäuser geschlossen wurden.

Und auch dieses letzte Zitat aus dem Text von Gerd Göckenjan ist aufschlussreich, denn wer hat nicht schon panikzerfressene Leute gesehen, mit zerfurchten, ja in Schockstarre befindlichen ‚Gesichtern‘, wenn ein Mensch ohne Maske, lachend oder lächelnd gar, ihnen zu nahe kam:

Auch die Ansteckung durch Ansehen und der Tod durch Erschrecken ist ein typischer literarischer Topos (…).