Von Dr. phil. Clemens Heni, 26. Februar 2022
Die aktuelle Hetze gegen Russland muss aufhören – so wie auch der Krieg Russlands gegen die Ukraine aufhören muss und zwar sofort. Für Geopolitik-Anfänger (m/w/d) möchte ich nochmal auf meinen Text zu „Not one inch“ hinweisen.
Natürlich wäre es gut, wenn die Ukraine „denazifiziert“ werden würde – aber welcher Münchener Bürgermeister würde sich von den Rechtsextremisten im Umfeld von Vitali Klitschko distanzieren? Vielmehr fordert die Stadt München von russischen Stardirigenten, die bei der Stadt München angestellt sind, dass sie sich von Putin distanzieren müssen, sonst würden sie gefeuert. Hört sich grotesk an? Ist aber so:
Ein Ultimatum hatte die Mailänder Scala dem berühmten Dirigenten gestellt: Keine Auftritte mehr für Valery Gergiev, es sei denn, er distanziert sich von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. Ganz ohne Angabe von Gründen ersetzten dagegen die Wiener Philharmoniker den prominenten Putin-Freund, wohl auch auf Druck der New Yorker Carnegie Hall. In New York stehen am Wochenende für die Wiener Philharmoniker drei Konzerte an. Für die springt kurzfristig Yannick Nezet-Séguin ein. Freitag Mittag zog nun endlich auch die Stadt München nach: Oberbürgermeister Dieter Reiter verlangt, wie zuvor sein Mailänder Kollege, ultimativ von Gergiev, die russische Aggression zu verurteilen. Er habe Valery Gergiev aufgefordert, sich eindeutig und unmissverständlich von dem brutalen Angriffskrieg zu distanzieren, den Putin gegen die Ukraine und nun insbesondere auch gegen Münchens Partnerstadt Kiew führe.
Es geht aktuell offenbar gar nicht darum, was Gergiev sagt oder tut, ob er sich die letzten zwei Tage zu dem Krieg Russlands gegen die Ukraine geäußert hat. Es wird nichts zitiert. Es wird nur davon ausgegangen, dass er ein Freund Putins sei und deshalb sei er sicher für den Krieg. Das ist an totalitärer Anmaßung nicht zu überbieten.
Wo sind denn die Ultimaten für Daniel Barenboim sich unmissverständlich vom Antisemitismus von Edward Said zu distanzieren? Oder ein Ultimatum an Claudia Roth, sich unmissverständlich vom Islamfaschismus des Iran zu distanzieren? Oder ein Ultimatum an Karl Lauterbach, endlich eine rationale, evidenzbasierte, verhältnismäßige und menschenfreundliche Politik zu machen und wenn er das nicht tut, bekommt er in Restaurants in München nur noch gesalzene Gerichte?
Und wo waren die Ultimaten an Fans von Ronald Reagan in den 1980ern, sich sofort von den mörderischen Aktivitäten der von ihm unterstützten Contras zu distanzieren, die für Zehntausende Tote in Nicaragua verantwortlich waren und schließlich zum Ende der sozialistischen Regierung der Sandinisten führten? Wo waren da die Ultimaten? Oder ein Ultimatum an Erdogan, sich sofort aus dem völkerrechtswidrig eingenommenen Teil Syriens zurückzuziehen? Oder das Ultimatum an den Iran, jegliche Irananreicherung einzustellen und zwar sofort – sonst würden alle, wirklich alle diplomatischen und ökonomischen Beziehungen gekappt?
Oder wo bleibt das Ultimatum an die FIFA und den DFB, die Fußball-WM 2022 in Qatar abzusagen und sich für die Tausenden Toten, die beim Bau der Stadien elendig starben, zu entschuldigen und Qatar zur Rechenschaft zu ziehen?
Wo waren die Ultimaten an Joschka Fischer, keine Bomben auf Serbien zu werfen und sich von seiner Holocaustverharmlosung zu distanzieren, als er den Kosovo und die serbische Politik mit Auschwitz verglich?
Wo waren die Ultimaten des Münchener Bürgermeisters an deutsche Rüstungsfirmen aller Art, die an Kriegen weltweit Milliarden verdienen?
Am 17. Dezember 2021 schickten Putin bzw. die Russische Föderation einen Vertragsentwurf nach Amerika, der sich auf gegenseitiges Vertrauen bezog, friedenserhaltende Maßnahmen vorschlug, eine NATO-Osterweiterung auf das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ausschloss (wie es James Baker und auch Helmut Kohl Gorbatschow sehr wohl versprochen haben, es gibt die Dokumente, ich habe sie ja zitiert). In diesem Vertragsentwurf von Dezember 2021 heißt es:
reaffirming that a nuclear war cannot be won and must never be fought, and recognizing the need to make every effort to prevent the risk of outbreak of such war among States that possess nuclear weapons,
reaffirming their commitments under the Agreement between the United States of America and the Union of Soviet Socialist Republics on Measures to Reduce the Risk of Outbreak of Nuclear War of 30 September 1971, the Agreement between the Government of the United States of America and the Government of the Union of Soviet Socialist Republics on the Prevention of Incidents On and Over the High Seas of 25 May 1972, the Agreement between the United States of America and the Union of Soviet Socialist Republics on the Establishment of Nuclear Risk Reduction Centers of 15 September 1987, as well as the Agreement between the United States of America and the Union of Soviet Socialist Republics on the Prevention of Dangerous Military Activities of 12 June 1989,
have agreed as follows
Weiter heißt es:
Article 1
The Parties shall cooperate on the basis of principles of indivisible, equal and undiminished security and to these ends:
shall not undertake actions nor participate in or support activities that affect the security of the other Party;
shall not implement security measures adopted by each Party individually or in the framework of an international organization, military alliance or coalition that could undermine core security interests of the other Party.
(…)
Article 4
The United States of America shall undertake to prevent further eastward expansion of the North Atlantic Treaty Organization and deny accession to the Alliance to the States of the former Union of Soviet Socialist Republics.
The United States of America shall not establish military bases in the territory of the States of the former Union of Soviet Socialist Republics that are not members of the North Atlantic Treaty Organization, use their infrastructure for any military activities or develop bilateral military cooperation with them.
(…)
Article 7
The Parties shall refrain from deploying nuclear weapons outside their national territories and return such weapons already deployed outside their national territories at the time of the entry into force of the Treaty to their national territories. The Parties shall eliminate all existing infrastructure for deployment of nuclear weapons outside their national territories.
The Parties shall not train military and civilian personnel from non-nuclear countries to use nuclear weapons. The Parties shall not conduct exercises or training for general-purpose forces, that include scenarios involving the use of nuclear weapons.
Offenbar waren das den USA und der NATO zu konkrete, zu friedenssichernde Artikel. Es wurde nie ernsthaft diskutiert.
Und jetzt hetzt die Welt wieder wie früher gegen „den“ Russen, das geht bei Springer und dem ganzen Land super schnell, das sind deutsche Traditionen. Nazi-Aufmärsche seit Jahren in der Ukraine? Kinderkram, lass sie doch spielen, wir haben doch unsere Ur-Omas mit den Bildern des gefallenen Bruders in SS-Uniform auf dem Kaminsims immer stehen sehen. So denken die Deutschen.
Einige der interessantesten Beiträge und Analysen zur Ukraine-Krise hat der Journalist Lutz Herden im Freitag publiziert. Er schreibt am 24. Februar 2022 um kurz vor 10 Uhr vormittags:
Leider unterliegt die westliche, vor allem aber die deutsche Russland-Politik einer teils eklatanten Erfahrungsferne und Erkenntnisverweigerung, die sich von historischer Überlieferung und daraus resultierenden Verhaltensweisen in Russland nicht behelligen lässt. Man hat es verlernt, sich in einen Gegner hinein zu versetzen, um ihn zu verstehen.
Dazu zählt die Kenntnis der bizarren Geschichte der Ukraine zwischen europäischen Groß- und Geltungsmächten, zu denen im 20. Jahrhundert nicht nur Russland bzw. die Sowjetunion, sondern ebenso Deutschland und Polen gehörten. Als deutsch-kaiserliche Truppen im Frühjahr 1918 in der Ukraine einmarschierten und das Land besetzten, lautete das Mantra: „Wer Kiew hat, kann Russland zwingen.“ Und wer es nicht hat, eben nicht. Dies galt 1918/19 wie zwischen 1941 und 1944, während der zweiten deutschen Okkupation. Und es bleibt dabei.
Was soll man politisch von einer Stadt wie Kiew und ihrem in Deutschland so obsessiv fanatisch verehrten Box-Bürgermeister Vitali Klitschko halten, der in seiner Stadt solche Aufzüge stattfinden lässt wie im April 2021? Ich erinnere mich an einen Besuch in Kiew 2010, als ein paar wenige Antifas ein Lenindenkmal beschützten, schon damals sahen sie die Gefahr, dass Neonazis das schleifen wollten.
Der Antisemit Oleh Tjahnybok war zusammen mit Vitali Klitschko und Arsenij Jazenjuk im Komitee des nationalen Widerstands 2013 in der Ukraine aktiv.
Einige Jahre zuvor im Jahr 2004 hatte Tjahnybok gesagt:
Das Zitat stammt aus einer Rede von Oleh Tjahnibok aus dem Jahr 2004. Er sprach auf einer Gedenkveranstaltung für einen UPA-Kommandeur. Auf der Veranstaltung hatten sich sowohl Veteranen der Bandera-Partisanen sowie Zuschauer versammelt. Das Zitat im o.g. Ausschnitt lautet in ganzer Länge nach unserer Übersetzung wie folgt:
„Ihr seid ukrainische Nationalisten, ukrainische Patrioten! Ihr müsst die Helden werden, die heute die Erde unter unseren Füßen verteidigen! Sie hängten sich Gewehre um den Hals und gingen in die Wälder. Sie kämpften gegen Russen, gegen die Deutschen, gegen Judenschweine und sonstiges Gesindel, welches uns den ukrainischen Staat wegnehmen wollte! Man muss endlich die Ukraine den Ukrainern geben!“
Dass Tjahnybok von „Judenschweinen“ spricht, gegen die die Bandera-Faschisten gekämpft hätten und dass er von einer heutigen „moskowitisch-jüdischen Mafia“ fabuliert und somit gegen Juden hetzt, das störte Klitschko 2013 nicht, er kooperierte mit ihm.
Update, 13:29 Uhr, dieses Bild, das ein Twitter-User gepostet hat:
Der völkerrechtswidrige Krieg von Putin muss sofort enden. Das sieht auch Sahra Wagenknecht so, aber auch sie betont, dass man die Aggression Putins ohne das nicht minder aggressive Nicht-Reagieren auf seine Friedensinitiativen und Abrüstungsvorschläge – keine NATO-Osterweiterung, keine Ausbildung von Soldaten z.B. der Ukraine an Waffensystemen, die auch Atombomben transportieren können, was bei NATO-Manövern auch in der Ukraine gerade nicht ausgeschlossen werden kann – nicht verstehen kann.
Der Ukraine-Konflikt ist also weit komplexer, als es der Mainstream in Deutschland, Europa und den USA darstellt.
Es ist frappierend, wie homogen schon wieder die deutsche Volksgemeinschaft schreit, diktiert, bebt und lebt. Von Corona hin zur Ukraine, Hauptsache es gibt immer nur eine Wahrheit, nur eine Meinung, nur eine Perspektive!
Und wer jetzt meint, ich sei mit der Kritik an der Coronapolitik und der antirussischen Agitation im Lager der typischen ‚Kritiker‘, die doch meist nur Ressentiment haben, irrt gewaltig. So nervt mich zum Beispiel stark, dass die Ex-ZDF-Journalistin Katrin Seibold jetzt auch noch von einem Rubikon-Autor interviewt wurde – kann sie nicht mal schauen, mit wem sie da spricht und was für höchst problematische Ideologeme dort sonst so vertreten werden? Oder wenigstens schauen, wen ihr Interviewer Jens Lehrich sonst so zu seinem ach-so-fairen Talk bittet, nämlich den AfD-Bundespräsidentschaftskandidaten Max Otte, den Heidegger- und Ernst Jünger Leser Gunnar Kaiser oder den wegen seiner antisemitischen Invektiven bekannten Autoren Ken Jebsen sowie den rechten und antifeministischen Journalisten Boris Reitschuster, einer der Stars der Coronapolitik-Kritiker*innen-Szene, der auch schon mal als neutral oder informativ getarnte positive Beiträge über die AfD auf seiner Seite bringt.
Es braucht eine linke Kritik der Ukraine Politik und eine linke Coronapolitik-Kritik. Beide sollten sich gegen die vorherrschende deutsche Volksgemeinschaft wenden, die nur rudimentär, wenn überhaupt etwas von Geopolitik, Diplomatie oder Public Health, Epidemiologie und Demokratie versteht.
Es muss um ein Ende der NATO-Osterweiterung gehen, um eine Demokratisierung der Ukraine, um ein Ende der russischen Aggression, um eine vertragliche Kooperation von Ukraine und Russland, inklusive dem Autonomiestatus des Donbass und anderer Gebiete, die von der Ukraine auf antirussische Weise diskriminiert und bekämpft werden, und es muss natürlich um eine Entnazifizierung der Ukraine gehen, um eine Umbenennung jener Straßen und Plätze, die nach Stepan Bandera, anderen OUN-Verbrechern, Antisemiten und Pro-Nazi Aktivisten benannt wurden, um nur dieses eine Beispiel einer Demokratisierung zu nennen. Dass Putin selbst auch Gruppen und Strömungen unterstützt, direkt oder indirekt, die in Westeuropa genau solche nationalistischen, antisemitischen, Querfront- und geschichtsrevisionistischen Tendenzen pushen, das ist Teil einer völlig absurden geopolitischen Konstellation seit 1989/90, die nicht auf Frieden und Neutralität, sondern auf Siegergebaren, Häme und Nicht-Ernstnehmen gebaut waren und sind. Putin ist eine große Gefahr für den Frieden – aber er wurde geradezu gezielt vom Westen zu so einer Gefahr gemacht, weil der Kapitalismus es offenkundig oder immanent nicht ertragen kann, dass es womöglich nicht marktwirtschaftliche oder neutrale Staaten geben könnte (was im Weltmarkt-System ohnehin unmöglich ist).
Noch einmal Lutz Herden im Freitag:
Was ihn seit 2014 – mal mehr, mal weniger, zuletzt aber heftig – zuspitzte: Russland durfte nicht teilhaben an der nach 1990 errichteten Sicherheitsordnung. Nun errichtet es eine eigene, seinen Regeln gehorchend, zu denen der Einsatz militärischer Gewalt gehört, um sich Geltung zu verschaffen. Machtentfaltung steht über dem Völkerrecht. Auch das ist fast so etwas wie ein Gesetz der Geschichte, dass Länder, die um ihre strategischen Kerninteressen fürchten, zu härtesten Maßnahmen greifen können.
Alle sonstigen Optionen, vor allem die diplomatischen, werden in Moskau inzwischen offenbar als sinnlos und unergiebig betrachtet. Man muss der Regierung Putin zugestehen, dass sie mit ihren den USA und der NATO im Dezember zugesandten Vertragsentwürfen über gegenseitige (!) Sicherheitsgarantien den Versuch der politischen Entspannung unternahm. Und man sollte sich erinnern, dass sie die ihr zugegangenen Antworten als unzureichend und ungeeignet eingestuft hat, um in substantielle Verhandlungen einzutreten. Wenn die Bundesregierung in Berlin auch ständig beteuert hat, man wolle eine diplomatische Lösung, hat sie doch nichts dafür getan, dass es die geben konnte. Vielmehr wurde in den entscheidenden Fragen – der NATO-Osterweiterung und der Verlagerung von militärischer Infrastruktur in osteuropäische NATO-Länder – gemauert und auf dem Status quo beharrt.