Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Update, 24.06.2017: Zur Rezeption dieses Textes siehe den Faktencheck des WDR und das Neue Deutschland (ND)

Große Aufregung: Das öffentlich-rechtliche Fernsehen, sein deutsch-französischer Sender ARTE im Duo mit dem WDR, hat einen Film zensiert und nicht ausgestrahlt. Die BILD-Zeitung hat ihn nun am 13. Juni 2017 einen Tag lang online gestellt. Es handelt sich um den Film „Auserwählt und Ausgegrenzt – der Hass auf Juden in Europa“ von Joachim Schröder und Sophie Hafner. Der Westdeutsche Rundfunk (WDR) unter der Redaktion von Sabine Rollberg hat den Film für den öffentlich-rechtlichen Fernsehkanal ARTE produzieren lassen.

ARTE weigert sich nun, den Film zu zeigen. Laut einem Bericht des Tagesspiegel sagt ARTE, den Film keineswegs deshalb nicht zeigen zu wollen, weil das Thema der antizionistische Antisemitismus sei. Im Gegenteil, sie wollten ja heutigen europäischen Antisemitismus thematisieren und explizit auch den antizionistischen oder israelbezogenen Antisemitismus.

Der Historiker Michael Wolffsohn sagt zu dem Film:

„Glückwunsch! Das ist die mit Abstand beste und klügste und historisch tiefste, zugleich leider hochaktuelle und wahre Doku zu diesem Thema“,

auch der Politologe Matthias Küntzel, der Historiker Götz Aly und der Publizist Ahmad Mansour

(„Inhaltlich ist der Film großartig und überfällig… Ich finde es merkwürdig, dass ausgerechnet ein renommierter öffentlich-rechtlicher Sender wie ARTE Probleme mit der Realität hat.“)

loben den Film überschwänglich. Die Frankfurter Rundschau (Christian Bommarius), das Blog „Salonkolumnisten“ wie der Radiosender MDR-Kultur würdigen den Film und preisen ihn an.

Ein Film, 90 Minuten gar, gegen heutigen Antisemitismus ist sehr wichtig, da weite Teile der Bevölkerungen in Europa antisemitische Ressentiments hegen.

Darunter fallen jedoch weit mehr Ideologeme als „nur“ der antizionistische Antisemitismus (man denke an die Hetze gegen die jüdische Beschneidung im Sommer 2012, die von der FAZ über die linke Wochenzeitung Jungle World und obskure Einrichtungen wie die Giordano Bruno Stiftung bis hin zu „Antideutschen“ reichte), aber sei es drum.

Den Israelhass zu thematisieren ist schon wichtig genug, in der Tat. Und das tut der Film.

Der Film möchte jedoch überwältigen, er argumentiert gar nicht, da wird keine Sekunde zum Nachdenken angeregt. Schlag auf Schlag werden antisemitische Beispiele zusammenhangslos aneinandergereiht. Von Neonazis (die teilweise eher als Ex-Linke dargestellt werden) über den Palästinenserpräsidenten Abbas und den SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Martin Schulz hin zu christlichen NGOs und der BDS-Bewegung und antisemitischen Rappern, die teils minutenlang mit Youtube- oder anderen Videos im Original gezeigt werden, geht der Schnelldurchlauf im antisemitischen Milieu hier und heute.

Marginale linke Splittergruppen wie die Sozialistische Alternative Voran (SAV) bekommen einen enormen Stellenwert und könnten diesen Film als Werbung für sich in Anspruch nehmen, weil er ihnen eine Bedeutung zuschreibt, die sie – zum Glück – gar nicht haben.

Der Film möchte alle möglichen antiisraelischen und antisemitischen Beispiele, wie die Ideologie von der „jüdischen Weltverschwörung“ und den Protokollen der Weisen von Zion, aneinanderreihen.

Offenkundig sollte der Film Antisemitismus in Norwegen, Schweden, Griechenland, Ungarn und Großbritannien untersuchen. Heraus kam eine Analyse von deutschem und französischem Antisemitismus, dabei hätte man ja durchaus auch norwegischen oder ungarischen (in Ungarn wurde offenbar gefilmt, so das MDR-Radio, aber nicht in den Film aufgenommen) und griechischen Israelhass untersuchen können, von anderen Formen des heutigen Antisemitismus nicht zu schweigen. Was die beiden Autoren bewog, einen anderen Weg zu gehen und primär den antizionistischen Antisemitismus zu untersuchen und das in zwei europäischen Ländern sowie den Palästinensergebieten, die offenbar aus ARTE und WDR-Sicht gerade nicht als empirische Basis dienen sollten, ist unklar.

Die Produktionsfirma von Schröder hat auch schon „Entweder Broder – Die Deutschland-Safari“ gedreht. In dem von ARTE zensierten Film filmen sich die drei Filmemacher (darunter der Kameramann) auch selbst und zeigen sich in eher lächerlichen oder läppischen Posen im Flugzeug oder im Auto und als Teil des Teams von „Preview Productions“ (München) bzw. „Preview Enterprises“ (Ulm) wirkt auch die Hündin Wilma, die bereits bei Broders Safari mit dabei war und eine Hauptrolle spielte. Es sind solche Szenen oder die Promotion eines Hundes als Teil des „Teams“, die an der Seriosität der Filmemacher zweifeln lassen. Möglicherweise sollten sie aber auch in der Endfassung dieses Dokumentarfilms nicht zu sehen sein.

Der Kern jedoch, weshalb jede Redaktion, die einen gewissen historischen, politischen und intellektuellen Anspruch an sich hat, hellhörig werden sollte, sind folgende drei gravierende Fehler in dem Dokumentarfilm von Joachim Schröder und Sophie Hafner:

1) Das Christentum als die „Mutter allen Judenhasses“?

Gleich zu Beginn wird behauptet: „Die christliche Kultur ist die Mutter allen Judenhasses.“ Nun, dann hat wohl der Historiker Robert S. Wistrich (1945–2015) sein Hauptwerk „A Lethal Obsession“ von 2010 mit einem völlig falschen Untertitel versehen: „Anti-Semitism from Antiquity to the Global Jihad.“ In dem Film wird ohne jedwede Differenzierung das Christentum an sich über Luther bis hin zum Evangelischen Kirchentag diffamiert und nicht etwa kritisiert.

Das ist eine Polemik und das wäre auch in einem anderen Rahmen ok, aber nicht in einem Dokumentarfilm. Denn das hat mit einer luziden Kritik am christlichen Antisemitismus rein gar nichts mehr zu tun. Die Plumpheit ist geradezu peinlich untermalt, indem ein gekreuzigter Jesus auf einem Holzkreuz, wie es an vielen Orten in Bayern und sonst wo in diesem Land herumsteht, als Beispiel für christlichen Judenhass herangezogen wird. Als ob es nicht endlich seit einigen Jahrzehnten sehr wohl eine innerchristliche Kritik am eigenen Judenhass geben würde.

Vor allem aber: der Judenhass ist keine Erfindung des Christentums, er ist älter. Schon die antiken Griechen waren teils ausgesprochen judenfeindlich, man denke an Apion oder Epiphanes.

Der Direktor des Jüdischen Museums Berlin, Peter Schäfer, hat sich intensiv mit dem antiken Antisemitismus befasst, siehe seine Studie „Judenhass und Judenfurcht. Die Entstehung des Antisemitismus in der Antike“ (Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2010). Für die Entwicklung des völkischen und zumal heidnischen deutschen Antisemitismus war es zumal seit Ende des 19. Jahrhunderts von erheblicher Bedeutung, die antiken Antisemiten wieder auszugraben und sich gerade nicht (nur) auf das judenfeindliche Christentum zu beziehen.

2) Deir Yassin, 1948

In dem Film wird postuliert, im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 seien keine Palästinenser im Rahmen der Vertreibungen getötet worden. Eine Lüge. Alleine das Massaker von Deir Yassin, bei dem am 9. April 1948 100-110 arabische Zivilisten von israelischen Einheiten ermordet wurden, wie der Historiker Benny Morris neben vielen anderen herausgearbeitet hat, steht dagegen.[i]

Dir Jassin (Deir Yassin) war ein Wendepunkt im Krieg, die Moral der Araber war vollends gebrochen. Es ist natürlich überlebenswichtig, dass Israel den Krieg gewonnen hat, da sich Israel im Gegensatz zu den Arabern nicht eine einzige militärische Niederlage leisten darf. Und natürlich sind „kleinere“ Massaker kein Genozid und schon gleich gar nicht ist die „Nakba“ mit der Shoah in einem Atemzug zu nennen, wie es Antisemiten zur Delegitimierung Israels seit Jahrzehnten tun. Aber ein Massaker oder die Ermordung von Zivilisten ist schrecklich genug und muss erwähnt werden.

Es ist völlig unangemessen, diese Verbrechen zu leugnen. Das schadet Israel. Sicher sind Israelfeinde erpicht darauf, Juden Verbrechen anzuhängen und viele machen antisemitische Vergleiche mit dem Nationalsozialismus und der Shoah. Das darf aber im Umkehrschluss nicht dazu führen, bekannte Verbrechen Israels zu leugnen.

Der Film konzediert, dass arabische Soldaten umkamen, bis zu 12.000, in Kampfhandlungen. Aber es geht an der Stelle im Film um die Vertreibung der Araber (neben dem selbst gewollten Auszug aus dem jüdischen Staat, wie er auch von arabischen Staaten und Führern gefordert wurde) und in diesem Kontext muss ein Massaker an Zivilisten erwähnt werden und Deir Yassin war ja nicht das einzige Verbrechen seiner Art.

Nochmal: das war kein Genozid, wie die palästinensische und andere antiisraelische und Holocaust verharmlosende Propaganda bis heute behauptet – aber es waren Verbrechen und viele Israelis sind darauf nicht stolz. Der damalige Palmachkämpfer Karl Pfeifer schreibt in seinen Erinnerungen („Einmal Palästina und Zurück“, Edition Critic, 2015) über Dir Jassin (Deir Yassin) und über den Schock, den er und seine Einheit darüber hatten, während sich andere zionistische Gruppen mit dem Angriff rühmten.

Ein viel bessere Vorlage für die BDS-Bewegung und andere Antisemiten könnte dieser Film an dieser Stelle kaum sein: er leugnet Massaker an Palästinensern während des israelischen Unabhängigkeitskrieges. Das stützt die Propaganda der Gegenseite, dass Israel die Wahrheit unterdrücke. Die Wahrheit ist: es gab Massaker an Palästinensern, aber die waren völlig offenkundig kein Völkermord und nicht ansatzweise mit der Shoah zu vergleichen, wie es „Nakba“-Propagandisten tun.

Erst vor wenigen Tagen zeigte ARTE einen Film von 2015, „Zensierte Stimmen“ der jungen israelischen Filmemacherin Mor Loushy, der auf Filmaufnahmen von Avraham Shapira und Amos Oz basiert, die sie wenige Tage nach dem Sechstagekrieg im Juni 1967 machten. Sie interviewten damals hunderte Kameraden der IDF. Darin zeigen sich viele junge israelische Soldaten sehr selbstkritisch.

Erst 50 Jahre nach dem Krieg werden diese Dokumente nun bekannt. Dabei waren sich die israelischen Soldaten der Notwendigkeit ihres Krieges sehr wohl bewusst. Der Judenhass wie der antizionistische Antisemitismus der arabischen Welt waren lebensgefährlich und Israel hat zu Recht präventiv die arabischen Armeen Ägyptens, Syriens und Jordaniens ausgeschaltet.

Doch die Soldaten sind eben auch sehr selbstkritisch und erwähnen ein Massaker an 15 arabischen Kriegsgefangenen, die von Frauen, Alten und Kindern getrennt und einfach erschossen wurden. Das alles spricht für eine große Verzweiflung dieser jungen Zionisten, die den Krieg verabscheuen und, nochmal, sich zugleich über die Notwendigkeit des Kampfes gegen die arabischen Staaten bewusst waren. Aber dazu gehörten keine willkürlichen Ermordungen. Einige der damaligen Soldaten sind heute alte, desillusionierte zionistische Männer.

Der Film von J. Schröder und S. Hafner kann durchaus das Vertrauen in die Israelis untergraben, das manche Palästinenser sehr wohl haben mögen, wenn solche historischen Tatsachen von 1948 (oder 1967) gerade hier und heute, 50 Jahre nach dem Sechstagekrieg und nach 50 Jahren Besatzung nicht benannt werden.

3) Die Besatzung

Die Besatzung des Westjordanlandes wird insofern in blühenden Farben gezeichnet, als dort in einer Fabrik für Plastikprodukte in der Siedlung Ariel auch Palästinenser arbeiten, die gar glücklich sind und 9000 Schekel verdienen würden. Nun könnte man das als Argument gegen die antisemitische BDS-Bewegung verstehen, die Israel boykottiert und eine zentrale Rolle in dem Film spielt. Aber warum werden dann nicht auch pro-israelische Kritiker*innen der Besatzung interviewt?

Warum wird nicht im Ansatz seriös journalistisch recherchiert, ohne gleichwohl Judenhass als verhandelbar darzustellen? Die enormen antidemokratischen und rassistischen Tendenzen und Aktionen in Israel in den letzten Jahren werden einfach ignoriert oder affirmiert. Wer weiß, wie es teilweise in Israel im Diskurs über Araber zugeht, welche Schikanen es an den Checkpoints gibt oder wie es im palästinensischen Hebron mit einigen jüdischen Siedlern, die massivst geschützt werden müssen und selber gerne provozieren bzw. Araber demütigen, zugeht – ohne den palästinensischen Judenhass, des es auch massiv gibt, zu leugnen -, kann nicht einfach alles Übel des Konflikts auf die Palästinenser und die Muslime schieben.

Diese Affirmation des Besatzung wird dadurch drastisch untermauert, dass der Journalist Tuvia Tenenbom die israelische, gegen die Besatzung des Westjordanlandes und gegen israelische Menschenrechtsverletzungen, aber gerade deshalb auch zionistische NGO B’tselem als antisemitisch diffamieren kann, weil diese NGO Fehler gemacht hat und vor Jahren einen antisemitischen Palästinenser beschäftigte. Es wird gar nicht gesagt, dass die NGO sich selbst von diesem antisemitischen Mitarbeiter distanziert hat.

Aus diesem Vorfall die ganze NGO, die 1989 von Zionisten wie Amos Oz gegründet wurde und Oz noch 2016 einen aktuellen Spendenaufruf auf der Homepage der Gruppe platziert, als antiisraelisch oder antisemitisch zu bezeichnen, ist völlig unwissenschaftlich, falsch und politisch sehr problematisch. Der Film macht sich nicht einmal die Mühe, die NGO selbst zu befragen oder Forscher zu befragen, die z.B. aus linkszionistischer Perspektive und nicht nur rechtszionistischer, wie im Film, die Thematik beleuchten. Israel hat unendlich mehr Stimmen zu bieten, als dieser Film andeutet. Der Film schadet dem Ansehen Israels, weil er Selbstkritik a priori eskamotiert. Und Amos Oz übt Selbstkritik an Israel, 1967 wie heute, aus einer zionistischen Position heraus. Und Amos Oz steht für B’tselem.

Schließlich wird ganz offenkundig, dass der Springer-Konzern eine antilinke und eine gegen das öffentlich-rechtliche Fernsehen gerichtete Agenda fährt und der Film bedient das auf perfide Weise. So werden marginale linke antisemitische Gruppen, wie erwähnt, aufgeführt und die Linke an und für sich als antisemitisch dargestellt. Und selbst die Erwähnung der Kritischen Theorie verpasst es, die enormen inneren Kämpfe eines Max Horkheimer anzudeuten, den Zionismus zu akzeptieren. Die Kritische Theorie war, unterm Strich, pro-israelisch, aber das Verhältnis zum Zionismus, grade bei Horkheimer, ist um ein Vielfaches gebrochener.

***

Der Film von J. Schröder und S. Hafner ist ein Film gegen Antisemitismus, Verschwörungsideologien, Islamismus und die antijüdische Indoktrination von kleinen Kindern im Jihad-Fernsehen von Hamas und anderen. Es ist pro-israelischer Film, das ist sehr gut.

Aber er ist ein pro-israelischer Propagandafilm und das ist sehr schlecht.

Er regt nicht zum Nachdenken und Selberdenken an, sondern präsentiert eine fertige Meinung. Diese Meinung hat Recht, wenn es um Antisemiten wie Ken Jebsen oder Verschwörungsanhänger*innen geht etc., aber sie ist völlig im Unrecht, wenn sie ohne jede Differenzierung israelische (!) NGOs, die ihr Land verbessern und den jüdischen und demokratischen Staat Israel retten wollen, als antisemitisch disqualifizieren.

Der Journalist Arno Frank, der noch vor wenigen Tagen auf SpiegelOnline eine Ode auf den Musiker Roger Waters publizierte und durch die Dokumentation nun hoffentlich auch weiß, wie antisemitisch und gerade nicht „humanistisch“ Waters drauf ist, schreibt gleichwohl begründet über den Film:

„Es ist von keinem richtigen Journalisten zu verlangen, über gezielten Hass und traditionelle Dummheit ‚ausgewogen‘ zu berichten. Er sollte dann aber nicht fahrlässig Lücken lassen, durch die der Zweifel einsickern kann. Was stimmt, das muss auch sitzen. Seine Unschärfen sind es, mit denen der Film im Eifer des Gefechts seine eigene Haltung schwächt. Deshalb ist es kein Verdienst, dass diese Dokumentation nun über Umwege doch gezeigt wurde. Mit ein wenig mehr Arbeit hätte sie wesentlich mehr Wucht entfalten können.

In ihrem gegenwärtigen Zustand ist sie nur etwas, das man im Internet sehen, das man glauben kann oder auch nicht. Und das ist schlimm.“

Wenn man in einer Diskussionsveranstaltung über Antisemitismus in Norwegen gefragt wird und antwortet, wie antisemitisch es in den Vororten oder Banlieus in Frankreich zugeht, ist das Thema verfehlt. Das macht die elende Situation in Frankreich nicht besser, aber man erfährt nicht, wie es um den Antisemitismus in Norwegen steht, was nun mal die Frage war.

Es ist sehr bedeutsam, im Fernsehen Antisemitismus zu analysieren und zu kritisieren, ja gerade den antizionistischen Antisemitismus zum Thema zu machen.

Ein Grundfehler des Films liegt aber in der Reise nach Israel und die Palästinensergebiete. Damit wird suggeriert, das Verhalten von Juden, ob nun gut oder böse, habe mit europäischem Antisemitismus etwas zu tun. Man muss aber nicht nach Israel fahren um in Europa lebende antisemitische Querfrontler, Neonazis, Linke, Muslime, Araber oder Palästinenser zu untersuchen.

Wenn man jedoch den arabisch-israelischen Konflikt – das ist ein Thema, das über den Komplex Antisemitismus hinaus reicht – beleuchten will, dann muss man eben auch zionistische Kritiker*innen an Israels Politik, den Kriegen wie der Besatzung interviewen. Doch das macht der Film nicht.

Eine weitere ganz erhebliche Schwäche des Films ist es, dass Antisemitismus fast nur als antizionistischer analysiert wird, inklusive dem antisemitischen Verschwörungsdenken. Was völlig fehlt, ist der Schuldabwehrantisemitismus, der postkolonial („Von Windhuk nach Auschwitz“) oder antibritisch sowie antikommunistisch und Holocaust verharmlosend („Dresden“, „Roter Holocaust“, Joachim Gauck, Prager Deklaration) strukturiert ist.

Jede Redaktion wäre gut beraten, es sich zweimal zu überlegen, diesen offenkundig noch nicht zu Ende geschnittenen Film (mitunter fehlen Untertitel zu arabischen TV-Sendungen oder es wird nicht erwähnt, warum das Gesicht einer deutschen Anti-Israel-Aktivistin gepixelt wird, das von vermutlich weit gefährdeteren Anti-Hamas-Palästinenser*innen in Gaza hingegen nicht) im Fernsehen zu zeigen. Auf vielen Ebenen werden Qualitätsstandards, wie man sie von einem professionellen Film bei einem so hochsensiblen Thema erwarten darf, unterlaufen.

Eine Kritik des ehemaligen israelischen Botschafters in Deutschland, Shimon Stein und des israelischen Historikers Moshe Zimmermann in der ZEIT vom 1. Juni 2017 an der Definition von heutigem Antisemitismus macht deutlich, um was es sehr wohl auch gehen muss:

„Nach dem Bericht des Expertenausschusses [Bericht des zweiten Unabhängigen Expertenausschusses Antisemitismus] gehört unter anderem die Zustimmung zu dem Satz ‚Es ist ungerecht, dass Israel den Palästinensern Land wegnimmt‘ zur antisemitischen Israelkritik. So gesehen sind sogar friedensbewegte Israelis ‚antisemitische Israelkritiker‘. Das ist absurd. Israelbezogene Kritik ist erst dann antisemitisch, wenn nicht die Regierungspolitik, sondern das Existenzrecht des Staates Israel infrage gestellt wird. (…) Wer ‚Antisemitismus‘ ruft, wo keiner ist, der schadet dem Kampf gegen Antisemitismus.“

Nun werden im Film, den ARTE und der WDR nicht zeigen wollen, sehr wohl hardcore antisemitische Beispiele gebracht, sehr viele sogar.

Der Fehler ist jedoch, implizit jedwede Kritik an Israel wie Verbrechen während des israelischen Unabhängigkeitskrieges oder des Sechstagekrieges zu entwirklichen, sie zu leugnen. Das spiegelt die vielfältige Diskussionskultur in Israel gerade nicht wider. Abgesehen davon, noch einmal, muss man gar nicht nach Israel fahren um neonazistischen, islamistischen oder linken Antisemitismus in Europa zu decodieren und zu attackieren.

Die Filmemacher und die Fanszene scheinen gar nicht zu merken, wie dieser Film Israel schaden wird. Wer Massaker von 1948 (oder 1967) leugnet, die Besatzung in den höchsten Tönen lobt (sie bringt doch Arbeitsplätze, hey!) und linkszionistische NGOs wie B‘Tselem, die vom bekanntesten israelischen Schriftsteller, Amos Oz, unterstützt werden, in die antisemitische Ecke rückt und keinen Hauch von Selbstkritik im arabisch-israelischen Konflikt erkennen lässt, beschädigt das Vertrauen in den israelischen Friedenswillen von Seiten jener moderaten palästinensischen Kräften, die es gibt.

Dabei hätte das  Verhalten Israels, wie gesagt, in einem Film, der sich gegen europäische Antisemiten wendet, gar nichts zu suchen – doch der Film macht diese Fässer auf, der Film möchte jede Aktion Israels rechtfertigen und gibt damit jenen Hetzern Vorschub, die immer behaupten, das Pro-Israel-Lager würde Fakten nicht anerkennen. Ja, in diesem Fall stimmt das eben, wer auf diese Weise über 1948 berichtet, und das ganz gezielt und mit dem Ton des Besserwissenden, schadet Israel, da andere israelische Stimmen, die über 1948 (und 1967) seriös und differenziert berichten, gar nicht erst befragt werden.

Die selbst ernannte oder sich so fühlende Pro-Israel-Szene preist den Springer-Verlag nun an, wie mutig er sei, den Film ohne rechtliche Grundlage online gestellt zu haben.

Eine scharfe und fundierte Kritik am Antisemitismus muss jedoch anders vorgehen als dieser Dokumentarfilm.

 

[i] Benny Morris (2005): The Historiography of Deir Yassin, Journal of Israeli History, 24:1, 79–107.

©ClemensHeni