Lapsus orientalis?
Sekundärer Antisemitismus – türkisch, mit Koscherstempel
Der Antisemitismus geht neue Wege. Sowohl offene Vernichtungs-Drohungen gegen Juden oder den jüdischen Staat Israel nehmen zu als auch rhetorisch raffiniertere Versionen einer Erinnerungsabwehr, Relativierung oder Universalisierung des Präzedenzlosen von Auschwitz. Die Befürchtungen von Professorin Dina Porat kürzlich auf dem Jerusalemer Global Forum for Combating Antisemitism, sind sehr hellsichtig: Es gebe einen „Opferwettstreit“, im Namen des Antikolonialismus, Antirassismus oder der Menschenrechte werden Juden angeklagt, diffamiert und Auschwitz verniedlicht, banalisiert und in die Geschichte des Kolonialismus, Rassismus, der Sklaverei oder anderer Elemente der bürgerlichen Gesellschaft eingegliedert. Damit wird – wie bewusst auch immer – das Unvergleichliche nicht nur der Judenfeindschaft, sondern namentlich der Shoah geleugnet. Es ist eine soft-core Leugnung, wie es Deborah Lipstadt nennt. Auch der Leipziger/Tel Aviver Historiker Dan Diner sieht diese Gefahr (in „Gegenläufige Gedächtnisse“, Göttingen 2007), wenn er schreibt:
„Dies wird nicht folgenlos bleiben. Wie unter der Hand wird der so seiner Geschichtlichkeit entblößte Holocaust – das zum bloßen Exempel verallgemeinerte Ereignis Auschwitz – zu einem Genozid unter anderen Genoziden mutieren.“
Diner sieht in einer „anthropologisierenden Wahrnehmung“ die Gefahr einer Verkennung jedweder Spezifik des Holocaust.
Man muss noch weiter gehen: Sowohl die Geschichte des Holocaust wird heute umgeschrieben (Stichworte: „Bombenkrieg“, „Vertreibung“, „Europäisierung des Holocaust“, „nur Hitler war schuld“) als auch die Vorgeschichte und die Nachwirkung bis heute. Sprich: der Antisemitismus als Phänomen sui generis wird gezielt negiert. Jüngstes Beispiel ist Faruk Sen, der türkische Leiter des Zentrums für Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen. In einem kleinen Kommentar für eine Zeitschrift schrieb er unter der Überschrift „die neuen Juden Europas“:
„Bis zur Mitte des 20.Jahrhunderts war es nicht gerade leicht, Jude zu sein. Es genügt nicht, die bitteren Geschichten der in vielen Ländern – allen voran Nazideutschland – Völkermorden ausgesetzten und vom Rest der Bevölkerung ausgeschlossenen Juden und die zu dieser Zeitspanne gehörende Geschichte der Menschheit zu erzählen.“
Und weiter schreibt dieser Mann:
„Nach dem großen Massaker, bei dem Europa sich von seinen Juden zu säubern versuchte, gibt es 5200000 Türken, die jetzt die neuen Juden sind.“
„Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war es nicht gerade leicht, ein Jude zu sein“, wird so dahin gesagt. Etwas flapsige Worte aus dem Mund eines Muslims im beginnenden 21. Jahrhundert, oder nicht? Denn als Muslim spricht er ja, Faruk Sen. Er möchte, wie die Linken, Frauen, Radfahrer, Nichtraucher, Hartz4-Empfänger, so gern Opfer sein WIE die Juden. Das war bereits in der Dankesrede von Alice Schwarzer, welche dieses Jahr unnötigerweise den Ludwig-Börne-Preis hat zugesprochen bekommen, deutlich geworden. Sen sekundiert auf seine Weise den Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, der seit 2002 „deutsche Zustände“ beobachtet und allerorten „gruppenbezogene Menschfeindlichkeit“ sieht. Er postulierte 2002 dass „Antisemitismus“ „schon länger einen abnehmenden Trend“ aufweise, was besonders grotesk wirkt und sich im Laufe des Jahres 2002 ins Gegenteil verkehrte. Immerhin gab es 2002 eine der heftigsten antisemitischen Kampagnen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, als Jürgen W. Möllemanns Hetze gegen Michel Friedman und Ariel Sharon, Walsers „Tod eines Kritikers“ und die allgemeine Stimmung gegen Israel und für die II. Intifada der Palästinenser sich gegenseitig hoch schaukelten. Heitmeyer hat nun sein Konzept „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ ausgebaut, neben Antisemitismus gibt es zwar weiterhin „Islamphobie“, „klassischen Sexismus“, nun jedoch sogar („deutschen Zustände“, Folge 6, 2008 ) „Obdachlose“ oder auch „die Abwertung von Langzeitarbeitslosen“… Was das mit der jahrtausendealten und sehr spezifischen Judenfeindschaft und zumal mit dem sekundären Antisemitismus nach Auschwitz zu tun hat, wird der Forscher auf ewig schuldig bleiben, zu erklären. Aber für die Banalisierung des Antisemitismus ist sein Konzept prima geeignet.
Bei Sen fällt somit neben der mittlerweile mainstreammäßigen Verharmlosung des Holocaust – ein ganz typisches Muster des sekundären Antisemitismus – Folgendes auf: Für ihn endet die Geschichte der Judenfeindschaft Mitte des 20. Jahrhunderts. Hoppla! Was meint er damit? Ein lapsus orientalis womöglich? Hat er sich verschrieben? Gibt es seit „Mitte des 20. Jahrhunderts“ (eine sehr merkwürdige Zeitangabe) keinen Judenhass mehr? Oder handelt es sich doch eher um einen gezielten, verschmitzt lächelnden antizionistischer Einsatz? Heute ist die Gefahr für Israel und die Juden die größte für eine spezifische Gruppe von Menschen. Kein anderes Land der Welt ist von Vernichtung und Angriff bedroht wie Israel. Kein Mensch kritisiert die Türkei, Österreich, Lettland oder Indien, um hinzuzufügen: Ich akzeptiere aber selbstverständlich das Existenzrecht Österreichs, der Türkei, Lettlands oder Indiens. Kein Mensch macht das. Bei Israel ist es das geflügelte Wort – „Existenzrecht“ – als Gnade oder was? Das UN-Mitgliedsland Iran hat dem UN-Mitgliedsland Israel gedroht, eine „World without Zionism“ herbei zu führen. Seit 1948 musste sich Israel in unregelmäßigen Abständen den Drohungen seiner arabischen Nachbarn erwehren. Seit einigen Jahren kommt nun die reale Drohung aus der Islamischen Republik Iran dazu.
Davon also kein Wort bei Prof. Sen. Den politischen Islam erwähnt er selbstredend gar nicht. Dafür spricht er von sich und allen in Europa lebenden Türken als „den Juden von heute“. Es ist sicher kein Zufall, dass er die Zahl der in Europa lebenden Türken recht penibel mit 5,2 Millionen angibt – eine ähnliche Zahl wie die sechs Millionen ermordeten Juden Europas. Die Perfidie geht noch weiter, wenn man bedenkt, wie er die Shoah erwähnt: als „Massaker“, was mit dem Zivilisationsbruch Auschwitz nichts zu tun hat und auch die Mordaktionen der deutschen Polizeibataillone oder der Wehrmachtseinheiten, des Sicherheitsdienstes (SD), der Schutzstaffel (SS) und ihrer Gehilfen nicht annähernd adäquat in Worte fasst. Massaker gab es in der Geschichte der Menschheit zu viele, in der Tat. Aber der ontologische Bruch aller Gewissheiten menschlichen Zusammenlebens, wie ihn die Shoah offen zeigte, ist un-fassbar. Ein Zivilisationsbruch, wie Diner dezidiert betont. Davon hat Professor Sen keine Ahnung.
Nun bekommt der neumodische „Jude von heute“, Faruk Sen, Unterstützung von einem „echten“ Juden, Sergej Lagodinsky aus Berlin, Sozialdemokrat und Kämpfer für das Gute auf der Welt. Er schreibt:
„Die Singularität des Holocaust steht außer Frage. Doch niemand beharrt auf der Singularität von jüdischen Diskriminierungserfahrungen, davor und danach. Dass zahlreiche jüdische Organisationen weltweit für Menschen- und Bürgerrechte eintreten, speist sich ja gerade aus der Sorge, dass sich die eigene Diskriminierungserfahrung unter anderen Minderheiten wiederholen könnte. Dass Vertreter des Zentralrats der Juden in Deutschland genauso wie jüdische Stimmen aus der Türkei ihr Unverständnis über die Reaktionen auf Sens Vergleich geäußert haben, liefert dafür eine Bestätigung.“
Wo sind die Vernichtungsdrohungen gegen Türken? Wo sind die „Protokolle der Weisen von Istanbul“? Wo werden Türken des Ritualmordes beschuldigt? Wo wird die weltweite Verschwörung der Groß- oder Jungtürken verbreitet? Wo wird ein Türke weil er Türke ist, sagen wir in Mallorca aufm Urlaub, halb tot geprügelt? Wo sind die türkischen Schulen, die von Polizisten beschützt werden müssen, weil schon 8jährige Steine nach den jungen Türken werfen? Wo wurde jemals den Türken oder den Muslimen die Entwicklung des Kapitalismus zur Last gelegt? Oder wo wurden Türken der bolschewistisch-kommunistischen Revolte gegeißelt? Wo wird Türken (oder meinetwegen Muslimen insgesamt) unterstellt, sie würden mit ihrer „Künstlichkeit“ und Modernität die organische Verwobenheit der Menschen zerstören?
Nicht zu vergessen die Angst und Sorge (nicht nur) von Juden, an Universitäten, Schulen, auf Veranstaltungen etc. vor ekligen antisemitischen Sprüchen des Establishments, erinnert sei nur an die widerwärtige Story, als nach einer ARD-Talkshow ein beliebter Gast von der Sorte „Stolzdeutscher“ – Hans-Olaf Henkel natürlich – nicht mit Henryk M. Broder Aufzug fahren wollte, weil er mit „einem Juden nicht Aufzug fahren möchte“… Oder die zwischen Absurdität und Drohung oszillierenden Sprüche eines Matussek, der sich darüber aufregt, dass das „Thema“ Holocaust ein „Stimmungskrepierer“ sei auf jeder Party, weshalb er selbst nicht oft an den Holocaust denke.
Hat Lagodinsky sich je schließlich gefragt, welche Bedeutung der Antisemitismus im 19. Jahrhundert für die Konstituierung des deutschen Nationalbewusstseins hatte? Hat er je von den Antisemitenparteien gehört? Hat er eine Ahnung wie viele Juden vor und nach 1848 Deutschland verließen, zumal in Richtung Amerika? Was wäre in Deutschland wohl los, wenn die paar wenigen Juden und ihre Freunde bei Fussballspielen Israels die Israelfahne an ihre Autos klemmen würden? Na? Wieviele tausende türkische Fahnen gab es allein in der Falckensteinstraße und drum herum in Berlin-Kreuzberg bei der Euro 08? Und war das für irgend jemand ein Problem? Selbstverständlich nicht. Die Türken als „die Juden von heute“?
Wer frägt einen x-beliebigen Dönerbudenbesitzer ob er wieder nach „Hause“ gehen würde? Nazis, sicher. Doch die deutsche Bundesregierung mit ihrer pro-Islamkonferenz etwa? Oder die nordrhein-westfälische Landesregierung, die auch nicht gerade bekannt ist für Sprüche gegen Türken? Wer jedoch fragt Juden nicht immer sofort, ob sie oder er nicht in „ihr“ Land wollen? Türken haben in Deutschland kein Problem als Muslim ganz offensiv in Erscheinung zu treten, ob mit Schleier, Kopftuch, Türkeifähnchen, Kettchen mit Halbmond etc. Juden jedoch trauen sich in Deutschland heute kaum, offen eine Davidsternhalskette zu zeigen. Wer mit einer jüdisch-orthodoxen Reisegruppe aus Ortsunkenntnis einen Spontantripp nach Berlin-Neukölln macht oder nach Wedding, wird das im Zweifelsfall bereuen. Juden leben in Deutschland nicht ungefährlich, zumal aus Angst vor Palästinensern, Syrern, Türken, Libanesen oder auch Linksextremen sowie Nazis in Städten wie Hamburg, Köln, Jena oder Berlin.
Der bloße Rassismus ist schrecklich genug, in der Tat. Wer als „nicht deutsch genug“ kategorisiert wird, im Osten oder auch in München, Bremen oder Aachen, wird von Neonazis angegriffen. Doch diese auf Unterordnung basierende Gewaltförmigkeit ist dem Antisemitismus nur am Rande eigen. Der Antisemitismus hat viel mehr Codes, Bilder und Metaphern, er ist ideologisch und sozial-psychologisch viel aufgeladener als bloßer Rassismus. Ja Antisemitismus ist auf einer ganz anderen Ebene situiert als Rassismus. Juden sind für Judenfeinde keineswegs „minderwertig“ wie Schwarze oder andere „Fremde“. Juden wurde historisch und gegenwärtig vielmehr gerade Omnipotenz zugeschrieben. Juden seien der „unsichtbare Feind“, was sie umso gefährlicher mache, hieß es schon Anfang des 19. Jahrhunderts. Wie der „Wert“ als Kategorie der politischen Ökonomie ist es gerade das „Unsichtbare“, was Juden für Antisemiten so suspekt macht, wie beispielsweise Wolfram Stender in einer interessanten Dissertation schon vor einigen Jahren zeigte („Kritik und Vernunft“, Lüneburg 1996). Dass dies nicht für alle bürgerlichen Gesellschaften in gleichem Maße gilt, steht auf einem anderen Blatt. Von all diesen Dimensionen, die hier nur tangiert werden können, haben weder Heitmeyer, noch Sen oder Lagodinsky auch nur den Hauch einer Ahnung.
Das Problem liegt also weit tiefer: Weder Lagodinsky, noch Professor Sen, der nicht gerade überraschend sowohl vom Zentralrat der Juden als auch von Silke Tempel in der Jüdischen Allgemeinen umgehend in Schutz genommen wurde – keine Spur von Antisemitismus sei bei ihm zu finden – befassen sich mit der Erinnerung an die Shoah, der Vorgeschichte des Holocaust und schon gleich gar nicht mit gegenwärtigem Antisemitismus. Der neue Antisemitismus bleibt bislang DIE Leerstelle in der Debatte. Dabei unterstützt Sen diesen ja gleich doppelt gemoppelt: erstens indem er die Shoah banalisiert, als „Massaker“ minimalisiert und total verkennt und zweitens indem er vom politischen Islam schweigt. Der politische Islam jedoch hat ein klares Feindbild: Juden.
Wer heute einen Artikel über die deutsche Unterstützung des iranischen Faschismus und Antisemitismus schreibt muss unverzüglich mit antisemitischen Kommentaren en masse rechnen. Kein anderes Thema als Juden, Israel und Antizionismus/Antisemitismus hat auch nur annähernd eine solche Wirkung ( – am nächsten kommt dem jedoch der Amerikahass).
De facto muss man die Kraft aufbringen, sowohl Hitler-Büsten als auch neumodischere Judenfeinde wie den Iraner Laridschani und seine Hessischen und Berliner Freunde anzugreifen.
Die Juden sind die Juden von heute, nicht die Türken. Israel ist „der Jude von heute“, von Vernichtung bedroht wie die deutschen und europäischen Juden – nicht erst! – ab 1933 auch. Wer die Türken, die Muslime oder wen immer als „die Juden von heute“ herbei fabuliert generiert eine Form des sekundären Antisemitismus. Mit bestem Gewissen. Und als Trendsetter.