Wissenschaft und Publizistik als Kritik

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Die Salonfähigkeit der Neuen Rechten und die „Klimaverschärfung“. AfD und Pegida machen das Land peu à peu unbewohnbar

In einem Text auf Seite 3 der Stuttgarter Zeitung vom 7. November 2015 schreibt die Journalistin Katja Bauer über eine „Klimaverschärfung“ in diesem Land. Journalisten werden für ihre Analyse und Kritik des Rechtsextremismus, der Neuen Rechten und von Nationalismus wie Rassismus zunehmend attackiert, angepöbelt, bedroht oder auf offener Straße geschlagen. Auf der anderen Seite gibt es Journalisten und Autoren, die dem rassistischen und stolzdeutschen Treiben gebannt zuschauen und AfD und Pegida munitionieren. Weder Mordanschläge, Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte oder der Vorschlag, im Zweifelsfall die „Schusswaffe“ an der Grenze einzusetzen, wie es der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende der AfD in den Raum warf, irritieren die Nadelstreifengefolgschaft, sondern lösen bei den Pöblern im Netz wie den Schlägern auf den Straßen und den Brandsatzbauern Euphorie aus.

Der 7. November 2015 wird womöglich einmal als der Tag in die Geschichtsbücher eingehen, als 4–5000 Nazis, Rassisten, Antisemiten, Nationalisten und stolzdeutsche Kleinbürger aller Art auf einer von der Alternative für Deutschland (AfD) veranstalteten Demonstration fast ohne Gegenwehr durch Berlins Mitte ziehen konnten. Es gab wohl in den letzten Jahrzehnten noch nie einen so großen Aufmarsch von organisierten Rechtsextremisten, Nazis, Neuen Rechten und ihrem Anhang mitten in Berlin. In Dresden, Erfurt oder Leipzig ist das übel genug. Aber in Berlin? Das ist schwer fassbar. Auch das zeigt eine Klimaverschärfung. Während Proteste gegen Freihandelsabkommen, wie berechtigt oder unnachvollziehbar die immer sein mögen, 150.000 Menschen anlocken, kommen zur Kritik oder Blockade von Nazis 1000 Menschen plus ein paar abgeschirmte Parteien- und Gewerkschaftsvertreter und deren Milieu abseits der Route und ohne Intention, den Nazis sich wirklich in den Weg zu stellen. Die ach so schöne Zivilgesellschaft hat völlig versagt und sich der neuen NPD, der AfD, nicht in den Weg gestellt. Wenn selbst ein Mitbegründer und ehemaliges Mitglied der AfD und strammer Konservativer wie Hans-Olaf Henkel die heutige AfD als „NPD light“ bezeichnet, wird deutlich, in was für einer Situation dieses Land sich befindet.

Die Medien haben sicher eine Mitschuld. Die Unbekümmertheit mit welcher der Lieblingsschwiegersohn der Nation, Günther Jauch, ausgewachsene Nazis wie Björn Höcke einfach so ins Studio einlädt und reden lässt, ist schon nicht mehr naiv, eher fahrlässig, auch wenn die extreme Rechte wie die Junge Freiheit den Auftritt Höckes eher peinlich fand. Das Milieu der AfD fand das offenbar nicht, denn seither steigen deren Umfragewerte auf aktuell (8.11.2015) 9% – auf Bundesebene wohlgemerkt. Damit wäre das erste Mal seit 1949 eine Nazipartei im Bundestag vertreten (einmal abgesehen von den Ex-NSDAP-Mitgliedern im Bundestag wie auch in der Volkskammer der DDR).

Es geht gar nicht nur um die Flüchtlinge, es geht der AfD, Pegida und wie die rassistischen Massenorganisationen alle heißen, um ein „arisches“ Deutschland, Deutschland den Deutschen. Der Vordenker der Neuen Rechten, Henning Eichberg, hätte seinerzeit hinzugefügt: „für das deutsche Deutschland“, denn Deutscher zu sein alleine genüge nicht, es müssen schon deutsche Deutsche sein. Wobei für ihn schon in den 1980er Jahren die damalige DDR „deutscher“ war als die von Amerika „besetzte“ BRD: „Wenn man die Deutschen als Volk erleben will, muß man in die DDR reisen“, so der neu-rechte Henning Eichberg 1984. Das erhält in nicht wenigen Kreisen der heutigen Linkspartei ein Echo, wie bei Sahra Wagenknecht, die ja auch mit „besorgten Bürgern“ reden möchte; das ist eine Tendenz, den Rassismus und Nationalismus zu derealisieren, die man verschärft bei der CSU sehen kann, aber auch in anderen Parteien im Deutschen Bundestag oder auch bei der FDP Christian Lindners, die derzeit ja nicht mehr im Bundestag sitzt.

Aber die Politik von Merkel ist eben eine andere, derzeit. Europa mag daran zerbrechen, weil die Europäer den Nationalismus und Rassismus doch zu sehr mögen, wie jüngste Wahlergebnisse aus Frankreich, Österreich, Ungarn, aber auch Dänemark oder Finnland und anderen Ländern nahelegen. Antifeminismus, Hass auf jede Form linker, emanzipatorischer Gesellschaftskritik wie ein von sekundärem Antisemitismus gespeister Stolz auf Deutschland ergänzen den derzeitigen rassistischen Ausbruch ungeahnten Ausmaßes in der Bundesrepublik.

Auf der AfD-Demo am 7.11. in Berlin werden nun Poster des Magazins Compact mit den Umrissen der Bundesrepublik Deutschland in den Farben der USA gezeigt, drüber steht „Ami go home“. Dieser Antiamerikanismus ist Kernbestandteil des Rechtsextremismus und der Neuen Rechten. Die Schadenfreude nach dem 11. September 2001 in weiten Teilen der Bevölkerung und der zumal kulturellen Elite des Landes koppelt sich mit antisemitischen Verschwörungsfantasien, die Bundesrepublik sei beherrscht von den USA.

AfD-Aufmarsch in Berlin, 7. November 2015; Foto: Sören Kohlhuber

AfD-Aufmarsch in Berlin, 7. November 2015; Foto: Sören Kohlhuber

Das Nazi-Unwort der „Lügenpresse“ feiert fröhliche Urständ bei Pegida und AfD und das geht über das überschaubare Spektrum des bisherigen (Neo-)Nazismus weit hinaus. Und auch das gezielte Kokettieren mit dem Begriff „KZ“ durch Akif Pirincci auf einer Pegida-Kundgebung in Dresden wurde zwar allseits kritisiert, aber auch durch Journalisten wie Stefan Niggemeier trivialisiert und entwirklicht. Egal, ob Pirincci die Antisemiten und Rassisten als potentielle Opfer von „KZs“ herbei fantasieren will oder damit spielt, die Flüchtlinge in KZs zu stecken, es bleibt bei einem gezielten Angriff auf die Erinnerung an die massenmörderische Realität der Konzentrations- und Vernichtungslager im Nationalsozialismus und dem Holocaust, wie der Journalist und Rechtsextremismusexperte Patrick Gensing analysiert.

Wie Katja Bauer in ihrem Bericht unter Berufung auf den Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen schreibt, basteln sich viele extreme Rechte eine Parallelwelt aus Fantasien, Halb- und Unwahrheiten und erstellen sich im Internet eine „Bestätigungswelt“. Pörksen hatte bereits im Jahr 2000 in seiner Studie „Die Konstruktion von Feindbildern. Zum Sprachgebrauch in neonazistischen Medien“ untersucht, wie z.B. neonazistische Gruppen das Wort „Völkermord“ umdefinieren. Dabei werden die Deutschen als Opfer eines Völkermordes herbei fabuliert, der einsetze, wenn das Land gezielt „überfremdet“ werde.

Und hier haben wir einen dramatischen Beleg für die „Salonfähigkeit der Neuen Rechten“. Am 1. November 2015 berichtete der österreichische Standard Folgendes:

„Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat eine eigene Theorie über die Gründe für die jüngsten Flüchtlingsbewegungen entwickelt. Nicht Kriege und Elend würden die Menschen in die Flucht treiben, sondern die Linke und Menschenrechtsorganisationen würden die ‚Völkerwanderung‘ bewusst organisieren, um Nationalstaaten zu zerstören. ‚Gegen diese Verschwörung, gegen diesen Verrat müssen wir uns an die Demokratie und ans Volk wenden‘, tönte der Rechtspopulist am Freitag vor handverlesenem Publikum im Prachtsaal des Italienischen Kulturinstituts. (…) ‚Diese westliche Denkweise und dieses Aktivisten-Netz wird vielleicht am stärksten durch George Soros repräsentiert‘, wetterte Orbán. Der gebürtige Ungar [Soros, d.V.] überlebte als Kind den Holocaust in Budapest und gilt den ungarischen Antisemiten gleichsam als paradigmatischer Jude: steinreich, spekulantenhaft, kosmopolitisch, nations- und gottlos. Orbán nimmt diese Begriffe so nicht in den Mund, suggeriert sie aber mit seinem Diskurs.“

Das ist eine sehr treffsichere Analyse dessen, was die Salonfähigkeit der Neuen Rechten im Jahr 2015 in Europa ausmacht. Von Orbán zu Horst Seehofer ist es ein Katzensprung und Orbán wurde sowohl von Seehofer im Kloster Banz, einem CSU-Klausurtagungsort,  wie auch in Dresden auf Pegida-Aufmärschen mit Sprechchören gefeiert. Antisemitische Agitation, Verschwörungswahnsinn, Nationalismus, Agitation gegen Flüchtlinge und Rassismus sind gemeinsame Nenner Vieler heutzutage. Gottlose Linke und Juden aus USA und sonst woher würden das christliche Europa zerstören und dafür würden sie die Flüchtlinge zuerst produzieren und dann hereinlassen wollen. So denkt Orbán und bekommt nicht nur aus Deutschland Beifall dafür.

Schockierend daran ist nicht nur der ungarische, geradezu völkische Nationalismus, sondern auch das Nicht-Reagieren der anderen EU-Staats- und Regierungschefs auf solche antisemitischen, antiamerikanischen, undemokratischen und zutiefst rassistischen Äußerungen eines Ministerpräsidenten eines EU-Landes. Die Springer-Presse ist vorne mit dabei in der Agitation gegen Merkel wie ein Text von Welt-Herausgeber Stefan Aust & Co. anschaulich zeigt. Da bleiben Stimmen, die Merkel wegen ihrer sympathischen Haltung für bedrängte Menschen loben oder als „Traumfrau“ sehen, nur leise Begleitmusik zu einem nationalistischen Chor.

Mit seiner antisemitischen und rassistischen Agitation punktet Orbán nicht nur bei der Springer-Presse oder der extrem rechten FPÖ in Österreich, sondern auch bei irregeleiteten europäischen wie amerikanischen Liberalen, Bürgerlichen und Konservativen. Letztere übersehen offenbar häufig den eigentlich allzu offenkundigen Antiamerikanismus, der fast immer mit einem Antisemitismus einhergeht. Das betrifft auch weite Teile der „Israel-Szene“ und der „Anti-Islamismus-Szene“, die immer öfter kenntlich macht, dass es ihr gerade nicht um eine Unterscheidung von Religion (Islam) und Ideologie (Islamismus) geht. Bei den Protesten gegen die AfD sind diese Leute nicht mit dabei, von Ausnahmen abgesehen.

Diese Blindheit gegenüber der Gefahr der Neuen Rechten gilt auch und nachdrücklich für ehemalige Antifaschisten und Linke (vor allem in den 1970er Jahren) wie den Journalisten Henryk M. Broder, der seit Jahren mit der Neuen Rechten liebäugelt – von seiner Verharmlosung des völkischen Einsatzes einer Eva Herman 2007 über das Promoten von Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ 2010ff. hin zum Publizieren von Akif Pirincci 2013 auf Broders Autorenblog Achgut – und heute gegen die Bundeskanzlerin Angela Merkel agitiert und damit der AfD wie Pegida Munition liefert.

Einen Schritt weiter geht der Broder-Zögling Hamed Abdel-Samad. Der Ex-Muslimbruder verbreitet nicht nur absurdeste Faschismustheorien nach der Art, dass bereits „Abraham“ eine Art Faschist gewesen sei, weil er auf Gottes Wort gehört habe und vorgehabt hätte, seinen Sohn zu opfern („Bedingungsloser Gehorsam und Opferbereitschaft bis zum Äußersten“). Solche Agitation gegen monotheistische Religionen kommt durchaus gut an, nicht nur bei der Giordano-Bruno-Stiftung (GBS), in deren wissenschaftlichen Beirat Abdel-Samad sitzt. Seine Auslassungen hören sich völlig absurd an, aber er hat es so geschrieben in seinem Buch „Der islamische Faschismus“ und spätestens aufgrund solcher längst bekannter Passagen hätte es sich die Jüdische Gemeinde Düsseldorf überlegen müssen, gerade einen Agitator und unwissenschaftlichen Autor wie Hamed Abdel-Samad vor wenigen Wochen mit der „Josef-Neuberger-Medaille“ auszuzeichnen – Laudatio von Henryk M. Broder wie von Klaus Wowereit, Doppelpreisträger war Ahmad Mansour. Abdel-Samads Auslassungen haben mit einer seriösen Analyse des Islamismus, des islamistischen Antisemitismus und der jihadistischen Gefahr nun rein gar nichts mehr zu tun. Es ist lächerlich, was er zu Abraham geschrieben hat, und antijüdisch ist es obendrein.

Aber weit mehr, und das macht die Person Abdel-Samad zu einem Skandalon: Er tritt regelmäßig bei der AfD wie in Mölln, Berlin oder in Dachau auf und meinte auch schon auf einer weiteren Veranstaltung ganz nassforsch, dass ihm – dem Eingewanderten aus Ägypten – die „Nazikeule“ gar nichts anhaben könne, die aber „leider“ bei „Deutschen und Österreichern immer noch“ funktioniere. Abdel-Samad macht Antisemiten und Rassisten zu Opfern einer „Nazikeule“ und bekommt dafür tosenden Applaus. Das wird auch Martin Walser gerne hören, doch Abdel-Samad hat keine bebende Stimme wie seinerzeit Walser, vielmehr spricht aus Abdel-Samad eine extrem rechte und selbstbewusste Stimme, die gar kein Problem darin sieht und sehen will bei einer extrem rechten Partei wie der AfD aufzutreten.

Abdel-Samad selbst lebt unter Polizeischutz, weil extremistische Muslime ihn mit dem Tode bedrohen. Das mag manches an Übertreibung und grotesken Auslassungen erklären, es rechtfertigt nicht die Kollaboration mit Nazis und extremen Rechten, die ein Klima verschärfen, dessen Opfer nun eben die Gegner der AfD oder Pegidas sind. Und nur durch Zufall und Glück sind – soweit bekannt – bei den dutzenden Brandanschlägen und sonstigen Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte in diesem Jahr noch keine Menschen ermordet worden.

Der Mordanschlag auf die Kölner OB-Kandidatin und jetzige Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker hat überhaupt gar keinen Schock gegenüber dem Auftreten von Pegida und AfD ausgelöst, von deren Hetze der Nazi, der Henriette Reker ermorden wollte, sich mit motivieren ließ. Drei Tage nach dem Anschlag auf Reker hetzte die AfD in Köln weiter gegen Flüchtlinge. Und umso aggressiver tritt Abdel-Samad bei der AfD jüngst auf und lässt sich auch unter anderem von Personen wie Michael Stürzenberger unterstützen, dem Vorsitzenden der Partei „Die Freiheit“ in Bayern, der für seine antijüdischen und antimuslimischen Ausfälle gegen die Beschneidung von Jungen berüchtigt ist.

Das Klima in diesem Land ist extrem aggressiv geworden durch die Salonfähigkeit der Neuen Rechten. Das hat auch viel mit dem Durchsetzen der schwarzrotgoldenen Fahne 2006 durch Jürgen Klinsmanns „Sommermärchen“ zu tun, als der Fußball-Wahnsinn alles an Zivilität und nationaler Zurückhaltung, die die BRD viele Jahre prägten, hinwegfegte, für alle Zeiten, wie es scheint. Die deutsche Fahne war zuvor eigentlich immer das Symbol der NPD und anderer Nazis in Kneipen von Buxtehude, Mönchengladbach oder Tuttlingen. Doch heute drehen alle schwarzrotgold durch und die Nazis registrierten das 2006ff. umgehend. Heute ist die deutsche Fahne das Symbol von Pegida und der AfD, die wie die Fische im Wasser bei jeder Fußball-Männer-WM oder -EM mitschwimmen und ihren nationalistischen Gestank absondern können, ohne dass es jemand merkt – weil ja alle mitmachen. Das waren schon 2006 die Töne des „nationalen Apriori“. „Ich bin nicht tief traumatisiert, denn ich denke nicht oft an die deutsche Schuld und an den Holocaust“, sagte 2006 Matthias Matussek, damals noch beim Spiegel, er kämpft wie Walser, heute auch Abdel-Samad und viele andere gegen die „moralische Keule“. Die Deutschen wollen wieder stolz sein, wenn schon nicht auf VW 2015 dann wenigstens auf die Gründung von VW 1938 durch die nationalsozialistische Organisation „Kraft-durch-Freude“ und der „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ (heute: Wolfsburg).

Und jene, die ganz offensiv nicht mitmachen beim AfD klein- oder schönreden, wie Georg Diez von SpiegelOnline (eine einsame Stimme dort), Helmut Schümann vom Berliner Tagesspiegel, Nadine Lindner vom Deutschlandfunk, die schon Todesdrohungen bekommen hat wegen ihrer AfD- und Pegida-Kritik, so Katja Bauer in ihrem so wichtigen Artikel in der Stuttgarter Zeitung, sind die Ausnahme. Diez kritisiert die der AfD nachlaufende rassistische Politik von Bundesinnenminister Thomas de Maizière wie auch die Agitation der „Merkel-muss-weg-Fraktion“, die von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) bedient werde. Er stellt ebenso fest, wie absurd es ist, dass eine Partei wie die AfD ungemein viel mediale Aufmerksamkeit und vor allem Redezeit im Fernsehen und grotesk verharmlosende Berichterstattung erfährt, dass es der Partei selbst wohl schon ungeheuer ist mit diesem medialen Schmusekurs gegenüber Nazis. Was für ein Land!

Ein überwältigender Teil der Deutschen jedoch merkt gar nicht, wie sich das Klima hier verändert hat, in ganz kurzer Zeit wurden Ressentiments gegen Menschen – Flüchtlinge, Linke (und auch Juden, wie bei Orbán und seinen vielen Anhänger/innen) – sagbar, die nach Gewalt rufen.

Stimmen gegen den deutschen Rassismus und Nationalismus wie jene des ehemaligen amerikanischen Botschafters in der Bundesrepublik, John Kornblum, werden verhallen, da das Klima in diesem Land ein anderes geworden ist. Deutschland hat sich bis zur Kenntlichkeit entstellt. Der Mordangriff auf Reker, die Terrorserie des NSU und der ausbleibende Schock darauf bei den Behörden, der Politik wie der Gesamtgesellschaft, und das Kokettieren mit dem Rechtsextremismus, Nazismus, Rechtspopulismus, Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus der Typen um Lutz Bachmann und Akif Pirincci oder Frauke Petry und Alexander Gauland und die aktuellen Übergriffe auf Journalist/innen, die weiter kritisch über Rechtsextremismus, Pegida, AfD, Rassismus und Nationalismus berichten, sprechen eine brutale Sprache. Und die Umfrageergebnisse zeigen: die Deutschen mögen das.

Es hat insofern geradezu etwas von Zynismus, wenn der Chef vom Dienst bei SpiegelOnline, Janko Tietz, nun die Gefahr für kritische Journalistinnen und Journalisten einfach derealisiert und ernsthaft meint, man solle gelassener mit der AfD umgehen. Sein Betonen, die Deutschen seien kein Volk von Wirtshausschlägern kann man mit Sigmund Freud so analysieren, dass gerade das Gegenteil der Fall ist – und der Autor damit contre coeur die Wahrheit ausspricht. Abgesehen davon, dass sich Nicht-Deutsche bzw. als solche Kategorisierte in ganz normale Wirtshäuser oft gar nicht erst rein trauen, wie es die Antilopen Gang in einem Song analysierte.

Die Empathielosigkeit, mit der viele – diesmal: nicht alle, das ist ein substantieller Unterschied zu den 1990er Jahren, als wirklich nur eine Handvoll Linksradikaler Flüchtlinge unterstützte – Deutsche derzeit über Flüchtlinge reden, indiziert einen Rassismus, der in diesem Land allzeit losprügeln kann. Als ob Menschen, die alles hinter sich gelassen haben und mit ein paar Klamotten, etwas Geld und einem vielleicht in Plastik wasserdicht verpackten Handy eine lebensgefährliche Reise in Kauf nehmen, um nach Germany zu kommen – eine Gefahr darstellen? Sicher gibt es das Problem des Jihad, des Islamismus, des Fanatismus – doch vor allem sind die allermeisten dieser Flüchtlinge traumatisiert, nicht nur die Kinder. Und elender, langweiliger oder auch widerwärtiger als der ganz normale Kegelklub ganz normaler Deutscher in Dresden, Rostock, Heidenau oder Dortmund werden auch Flüchtlinge aus dem Irak oder Syrien nicht sein.

Mehr noch: im Gegensatz zur AfD und zu Pegida oder „Otto Normalvergaser“ (Eike Geisel) besteht bei Flüchtlingen viel eher die Chance, interessante neue Menschen kennen zu lernen, wenn man das möchte. Egal, ob es sich um syrische Ärzte, irakische Frisöre, afghanische bürgerliche Anti-Taliban oder malische Arbeitslose handelt. Die Art, wie die AfD, Pegida und wie sie alle heißen, mit Flüchtlingen umgehen, die mit Mühe und Not, vielfältiger Demütigung und Todesangst hierher kommen, ist eine Schande für die Menschheit. Eine Schande, dass Menschen anderen Menschen so begegnen, a priori. Es ist reiner Zufall dass die widerwärtigsten Hetzer der AfD in Sachsen oder Hessen geboren wurden und nicht in Syrien. Reiner Zufall.

Alle werden lernen müssen, dass ein westliches Land Religion und Politik trennt und die Scharia keine Chance haben darf, dass Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer (aber weniger verdienen), Juden und Israel nicht unsere Feinde sind, sondern dass Juden auch Menschen sind, die weder eine Weltverschwörung am laufen haben noch die Kinder von Affen und Schweinen sind und dass Israel der jüdische Staat ist – wobei bei den Flüchtlingen eine Chance besteht, dass sie das auch lernen (wenn sie es nicht schon längst wissen), bei der AfD, Pegida und normalen deutschen Antisemiten aller Couleur sind hierbei die Chancen gleich Null. Die wissen was sie tun, die Elsässers, Bachmanns, Gaulands, Petrys und Höckes und ihr Fußvolk. Im Gegensatz zu den meisten Flüchtlingen hätten die ganz normalen deutschen Antisemiten, Nationalisten, Hitler-Verehrer (offen oder verdruckst), Israelfeinde und Verschwörungsfanatiker wie Antiamerikaner Zeit genug gehabt, sich in einem freien Land mit einer vielfältigen Presse und einer großen Zahl seriöser Bücher und Publikationen aller Art zu bilden. Diese Chance wurde von vielen ganz normalen Deutschen, nicht nur im Osten seit 1989, sondern lange davor, nicht genutzt.

Auf den autonomen Gegenaktivitäten gegen den AfD-Aufmarsch wurde skandiert „Say it loud, say it clear: Refugees are welcome here“ oder „ganz Berlin hasst die Polizei“ und „nie, nie, nie wieder Deutschland“. Diese Slogans indizieren eine Übelkeit an den deutschen Zuständen.

Bei der AfD und Pegida, bei den Internetportalen Politically Incorrect (PI) oder Achgut, Magazinen wie Compact oder dem Kopp-Verlag macht sich Euphorie breit und Günther Jauch oder seine Kolleginnen und Kollegen werden schon mit den Füßen unterm Küchentisch zappeln, wen sie wohl als nächstes einladen können – Akif, Hamed oder doch Beatrix von Storch? Was die Presse lernen muss von der Wissenschaft oder von Aktivistinnen und Aktivisten, die seit Jahrzehnten sich mit der Sprache und Politik des Neonazismus und der Neuen Rechten befassen: es geht bei der extremen Rechten und ihren organisierten und unorganisierten Anhängern unterschiedlicher Art lediglich um „Bestätigungsmilieus“ (Bernhard Pörksen), heutzutage via Internet noch verschärft – diskutieren kann man mit diesen Leuten nicht. Man muss sie politisch bekämpfen.

Die Salonfähigkeit der Neuen Rechten war nie so greifbar wie derzeit.

 

Der Verfasser, Dr. phil. Clemens Heni, ist Politikwissenschaftler. Studium der Philosophie, Geschichte, Empirischen Kulturwissenschaft und Politikwissenschaft in Tübingen, Bremen und der FU Berlin; Promotion in Politikwissenschaft 2006 an der Universität Innsbruck, die Studie wurde 2007 unter dem Titel „Salonfähigkeit der Neuen Rechten. ‚Nationale Identität‘, Antisemitismus und Antiamerikanismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1970–2005: Henning Eichberg als Exempel“ publiziert (zweite Auflage 2016). 2008/09 war er Post-Doctoral Associate an der Yale University in USA. 2011 gründete er das Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA).

Beyond Colonialism and Secularism: The Peace Prize of the German Book Trade for a “true” Muslim, German-Iranian Navid Kermani

The Times of Israel, October 20, 2015

October 18, 2015, Navid Kermani, a German born German-Iranian author, was awarded the Peace Prize of the German Book Trade. This is among the most prestigious prizes in Germany. His speech is entitled “Jacques Mourad and Love in Syria” and dedicated to the fate of that Syrian-Christian priest who was kidnapped by the Islamic State (IS or ISIS) the very day in May 2015 Kermani learned he was being awarded that prize. His long speech was aired live on TV (second channel, ZDF) and published in the Frankfurter Allgemeine Zeitung (pages 10 and 11) the following day. Kermani is a troubling, even perfidious author and this article will tell you why.

Father Mourad is only important to Kermani, to the degree that he loves Islam. This is the starting point of Kermani’s entire speech and approach. Mourad was freed recently, thanks to the efforts of some Syrian citizens. Those helpers, though, are not portrayed as citizens, but as Muslims. And this is the core aspect of Kermani’s point: to show the world that Islam is love and we all should embrace Islam as much as he does. He uses the word “Islamic Fascism” exclusively for the Islamic State (not for al-Banna, al-Qaradawi or the Shia Iranian regime), which is denying the legacy of Islam in his view. Worse, Kermani says that we are living in a time where the true Islam is hidden behind the wall, and he knows the true Islam and Quran, which is spiritual kinship, poetry and love.

He praises the “spirituality of Ibn Arabi”, the “poetry of Rumi”, the “historiography by Ibn Khaldun”, the “poetic theology by Abdulqaher al-Dschurdschani”, the “philosophy of Averroes” or the “travelogue by Ibn Buttuta”, not to forget the “fairy tales of 1000 and 1 nights”. For Kermani, Islam does not at all need a time of “enlightenment” – as the old examples of Islamic writing, as mentioned, were wonderful examples of enlightenment. So Kermani seems to rewrite the entire history of modern philosophy, including European and western thought from the 17th century and the time of enlightenment in the 18th century, to argue that Islam was at least as modern or enlightened as these European philosophers. Impressive, no?

Kermani ignores Albert Hourani and Ahmad Kasravi, who both dealt with modern thinking in the Arab and Muslim (Iranian) worlds. Kermani ignores these writings in his speech.[i] Kermani’s reference to Nasr Hamid Abu Zaid is rather selective. Abu Zaid focused on the danger for a vibrant and many-voiced intepretation of Islam, as reformer aš-Šāfiʿīs rejected the personal factor when interpreting the Quran – this also meant a push back of reason, as Muhammad was seen infallible as early as in the 9th century. In addition, American political scientist Shadi Hamid stated in a 2014 study, based on his own field research: „[t]he vast majority of Arabs have no a priori ideological opposition to Islamism as such“. German Islamic Studies scholar Tilman Nagel analyzed Sufi-Islam, which in his view is rather based on breaking the individual in order to set Sufi-Islam as representative of the prophet. Finally, Kermani’s reference to Ibn Battuta is remarkable, as he was seen as a plagiarist as early as in the 14th century; today we know that all his reports are taken from other authors.

Who, then, is responsible for the decline of Islamic thinking and the true Islamic world? Kermanis says:

“All people in the Orient have witnessed a brutal, bottom-down modernization by colonialism and secularist dictatorships.”

According to the German Prize winning author, the Iranian Shah urged his soldiers to pull down the headscarves of Iranian women in 1936 – those women did not reject the headscarf by themselves, they were forced. Imagine! However, Kermani of course neither mentions any kind of feminist outrage against religion and the headscarf, nor Atatürk’s approach to the West and his concept of anti-religious secular Turkish statehood which has been largely destroyed by today’s Erdogan and his colleagues.

“Modernity” was always seen as “violent” in the “Orient,” says Kermani. In Europe, we have a rather positive view, “despite backlashs and crimes”. This is all this proud Muslim writer has to say about the unprecedented crimes of Auschwitz and the Shoah! He seems to be completely ignorant about Jews and Jewish history. For him Treblinka or Sobibor were obviously rather “backlashs” or simple “crimes” that did not change the optimistic outlook of European history.

Antisemitism, let alone anti-Zionism, today’s most dangerous form antisemitism, are not mentioned once in the entire speech. While he portrays the Iranian Shah as violent and despotic, the 1979 Islamist revolution is not mentioned either, and no mentions of today’s threats by Iranian leaders to eliminate the Jewish state are nowhere to be found in his long speech.

This is no surprise, though, as Kermani’s wife, Islamic Studies scholar Katajun Amirpur, now a professor in Hamburg, is infamous for telling a German audience that Ahmadienedschad did not call for the destruction of Israel during his speech on October 26, 2005. Her notorious lie was also published by then leading German scholar in antisemitism, Wolfgang Benz. I dealt with her and Kermani in my 2011 study “Schadenfreude. Islamic Studies and Antisemitism after 9/11 in Germany”. In it, I said that Kermani is driven by anti-American resentment, which can be seen in his speech in Frankfurt, Oct. 18, 2015, as well. 9/11 is just mentioned in passing as an example how not to deal with Islam: he attacks the reaction to 9/11 and not the Islamist crime as such! Kermani portrays Muslims as victims over the centuries. Victims of modernity, of Arab or Iranian dictators, of America and the West and now – of the Islamic State. This equation or analogy of the West and Jihad is remarkable. He goes so far as to reject the notion that Islamism and jihad are driven by anti-Western ideology.

Kermani, to be sure, mentions today’s Iran just a few times without specifying its antisemitic or Islamist agenda while he is very clear about the threat deriving from Wahhabism and Saudi-Arabia…

Not once does he deal with the Iran Deal and Iranian nuclear ambitions – and not once the threats directed at Israel.

The core message of his speech is simply: Islam is a wonderful religion, even Christians in Syrian fell in love with it. The true Muslims help Christians and fight the Islamic State.

At the end of his talk, Navid Kermani urged the entire audience, including the head of the German Parliament, the Bundestag, several MPs, and the entire cultural elite to stand up – and to pray! Imagine: a supposedly secular speech in a former church was abused by a prize-winner who prayed, of course, in an Islamic manner, while others prayed in a Christian way and even those non-religious people were urged and literally forced by the very mass of people to stand and follow the Muslim preacher Kermani.

Religion must be a case of privacy, pure and simple. Kermani did not learn this lesson, although he was born in Germany and lived in Germany his entire life. This Islamist approach is devious, whining, and insidious, as he portrayed his entire talk as support for a Christian. For a Christian who fell in love with Islam, one must say.

At first view, people might think: Kermani wants to stop the war in Syria, that is nice and of course important, fighting both the IS and Assad. Fine. Upon closer inspection, it becomes clear that he rather abuses, in even a cynical way, the fate of a tiny Christian group in Syria for Muslim purposes. He is just telling the story of father Mourad because Mourad is in love with Islam. And finally, Kerami just uses that example to emphasize that ordinary but truly believing Muslims saved the Christian priest. His message: both colonialism, secularism and the Islamic State are anti-Islam. And he wants the pure Islam, which was enlightened, in his distorted and rather arrogant ahistoric view, even before the European enlightenment – which in fact was the first and only enlightenment, but Kermani will for sure be happy to head a pan-European textbook commission to rewrite the history of philosophy and the enlightenment and to portray Islam as the original enlightened religion and culture.

While colonialism and secular Arabs and Muslims destroyed the legacy of Islam, others embraced Islam, says Kermani, and he mentions, very intentionally, Annemarie Schimmel (1922–2003) as a good example of someone who truly loved Islam, including Sufi Islam. Schimmel was also awarded the same prize as Kermani, the Peace Prize of the German Book Trade, in 1995. There was outrage about that award, as Schimmel expressed sympathy for the fatwa against and outrage in the Islamic world about Salman Rushdie’s book “Satanic Verse”.

Isn’t this remarkable? This year, Iran did not attend the Frankfurt Book Fair because Rushdie gave a speech there. And now, a few days after Rushdie spoke, Kermani attacks him under the guise of praising Annemarie Schimmel. In 1995 there was a huge outrage about Schimmel, hundreds of book stores and publishing houses, leading bestselling authors like Mario Simmel, leading scholars in the field like Bassam Tibi and public intellectuals like Taslima Nasrin showed support for Rushdie and disgust for Schimmel. Now Kermani praises Schimmel. And no one in Germany recognizes this affront to Rushdie by a prize winning German-Iranian agitator with a tearful voice. Arabist and Islamic Studies scholar Wolfgang Schwanitz told me in October 2010 that Schimmel also worked as a translator in the Ministry of Foreign Affairs of Nazi Germany and had to deal with the Grand Mufti of Jerusalem, Haj Amin al-Hussaini, a close friend of Hitler. Not a word about that from prize winner Kermani, nor in the German press. They all praise him, left, right, and center.

For observers of Islamic Studies in Germany, the Award of the Peace Prize of the German Book Trade to Navid Kermani is just another sign of the failure of Islamic Studies and the public. It is a radical change in political culture. Germany will embrace those Muslims who have strong resentments against critics of jihad like Rushdie and against America, and who do not even pretend to be shocked by 9/11. Apparently, Iranian and Islamist antisemitism is not even worth mentioning. Germany, let alone many Muslims living in Germany like Kermani, does not care about Jews and Israel any more.

Not even the dead Jews of the Holocaust are part of the agenda when authors deal with the crimes of European and German history, as a friend told me. Nor is Iranian jihad against the Jewish state worth mentioning. I fear he is right. Sunday’s ceremony and the German Peace Prize of the German Book Trade for Navid Kermani is just one more proof of this.

Dr. Clemens Heni is a political scientist, the author of five books, including “Antisemitism: A Specific Phenomenon. Holocaust Trivialization – Islamism – Post-colonial and Cosmopolitan anti-Zionistm” (Berlin 2013, 648 pages), “Schadenfreude. Islamic Studies and Antisemitism in Germany after 9/11” (2011, in German, 410 pages) and the director of the Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA), www.bicsa.org

[i] For this and the following information thanks to Dr. Michael Kreutz, Islamic Studies Scholar from the University of Munster, Germany:

 

Gute Deutsche versus antideutsche jüdische Taxifahrer in New York. Bizarres von der „Pro-Israelszene“

Alle müssen dieses Jahr so tun, als ob sie Juden irgendwie doch mögen. Klar, die toten Juden mochten die Deutschen schon immer, vor und fast noch mehr nach 1945 (allerdings verschärft erst wieder seit den 1980er Jahren). 2015 muss mann und frau jedoch auch mal so tun, als ob die heute lebenden Juden zumindest erwähnt werden sollten, denn es sind ja die staatlich finanzierten Feierlichkeiten zum 50. Jubiläum des Beginns der (west-)deutsch-israelischen diplomatischen Beziehungen. Es ist deshalb schon bemerkenswert, dass es diese Beziehungen gibt, weil es ja für die Welt besser gewesen wäre, hätte es nach 1945 gar kein Deutschland mehr gegeben. Das sah auch der Soziologe Helmuth Plessner so, by the way, der nach dem Nationalsozialismus, 1946/1948, gerade keinen deutschen Nationalstaat mehr wollte, vielmehr föderale Strukturen, die an die Nachbarländer angekoppelt sein sollten. Dafür wurde er noch 1981 vom Soziologen Helmut Schelsky als „Deutschenhasser“ geziehen (siehe dazu Carola Dietze, Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892–1985). Bekanntlich jedoch gab es nach 1945 gleich zwei deutsche Staaten und seit 1990 wieder einen, der fast so groß ist wie das Deutschland von 1933 und Europa ökonomisch und politisch beherrscht wie nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg.

 

Um nun zu zeigen, wie sehr die Deutschen die Juden doch mögen, gibt es Ausstellungen im Deutschen Bundestag mit Grußworten in Broschüren von Bundesaußenminister Steinmeier, der gleichzeitig dem auf die Vernichtung der Juden und ihres Staates ausgerichteten Regime in Teheran die Hand schüttelt. Es gibt auch „Heimat“-Abende mit Steinmeier und Edgar Reitz, dem Vordenker der nationalistischen Heimatideologie der BRD der frühen 1980er Jahre, als „nationale Identität“ – ein Wort des Vordenkers der Neuen Rechten, Henning Eichberg – in aller Munde und Thema unzähliger Konferenzen nicht nur evangelischer oder christlich-sozialer Akademien war. Edgar Reitz hatte nämlich – und hier haben wir schon mal die bösen Amerikaner, die nachher noch eine prominente Rolle spielen werden – einmal gesagt, was ihn motiviert hatte, jene TV-Serie „Heimat“ zu drehen:

„Der tiefste Enteignungsvorgang, der passiert, ist die Enteignung des Menschen von seiner eigenen Geschichte. Die Amerikaner haben mit Holocaust [der TV-Serie, d.V.] uns Geschichte weggenommen.“

Das prädestinierte ihn offenbar, mit Steinmeier im Jahr 2015 die Feierlichkeiten zu dem runden Geburtstag der deutsch-israelischen Beziehungen einzuläuten. Alle erwähnen die „deutsche Verantwortung“, die gerade darin besteht, den Juden zu sagen, wo es langgeht. Was man sich „unter Freunden“ eben so sagt. Und das ist ja auch ein Geschäft, nicht nur im Ausstellungs- und Devotionaliengewerbe.

Der Publizist Eike Geisel hat bezüglich der deutschen Erinnerungsleistungen schon 1992 in seinem Buch „Die Banalität der Guten“ geschrieben:

„Ein halbes Jahrhundert nach der wirtschaftlichen Ausplünderung der Juden, die 1938 einen Höhepunkt erreicht hatte, sind die Vertriebenen und Ermordeten zum Material einer gemeinnützigen Wachstumsindustrie geworden: There is no business like Shoahbusiness.“

Als wollten sie seine Kritik nachträglich bestätigen, basteln heute ganz normale Deutsche aus Fotografien von Stolpersteinen ganze Wandtapeten, und der Arbeiter, der die Steine verlegt, meint, er sei geradezu „süchtig“ danach. Deutsche Obsessionen kennen keine Grenzen, wenn es um Juden geht.

Und dann gibt es auch Buffets der Luxusklasse wie im Alten Rathaus Hannover zu Ehren der diesjährigen Preisträgerin des Theodor Lessing-Preises. Geladen waren Bundestagsabgeordnete, Landtagsabgeordnete, der Bürgermeister von Hannover, Lokalgrößen und –patrioten, Unbekannte und weniger Bekannte, die Presse, das Fernsehen (NDR, ARD). Eine gehobene Stimmung war allseits erkennbar.

Es war eine ganz typische, aber doch so ehrliche Positionierung in der „Pro-Israel-Szene“, der nicht-jüdischen, wie es sie eher selten gibt, an diesem denkwürdigen Abend in der Altstadt Hannovers. Wir hatten es ja mit Freunden Israels zu tun. Doch wie wird man zu einem Freund Israels?

Es wurde von der Preisträgerin, die als Letzte an diesem Abend sprach, gar nicht erst um den heißen Brei geredet oder so getan, als ob frau sich für den Zionismus interessiere oder anerkenne, ganz grundsätzlich, dass Juden ein Recht auf die Errichtung oder auch Wiedererrichtung staatlicher Souveränität nach 2000 Jahren hätten oder wenigstens einen Schutzraum brauchen vor Antisemitismus. Vielmehr ging es ums Eingemachte, um den Holocaust und das Deutsch-Sein. Die Preisträgerin sprach nämlich ganz offenherzig und völlig schamlos von ihrer persönlichen Motivation, sich für Israel einzusetzen, und zwar nicht als Person, sondern als Deutsche.

Und das ging so: eines Tages, wohl so um 1970 herum, sie war noch jung, war sie in einem Taxi in New York unterwegs. Als der Taxifahrer hörte, dass sie Deutsch sprach oder bemerkte, wie sie sich als Deutsche zeigte, warf er sie aus dem Taxi. Wer sich je mit amerikanischen Freundinnen, Freunden oder Bekannten über die Post-Holocaust-Zeit unterhalten hat, weiß wie verbreitet z.B. der Boykott deutscher Produkte bei Juden in den USA damals war. Das verwundert ja überhaupt nicht.

Die Preisträgerin jedoch stand also alleine und verlassen auf einem Highway kurz vor Manhattan, so erzählte sie es. Der Taxifahrer hieß „Menachem“, das hat sie sich bis heute gut gemerkt. Und sie fühlte auf diesem Highway, wie es wohl für die Juden gewesen sein musste, als sie auf dem Weg ins KZ waren. Das hat die Preisträgerin so gesagt. Genau so.

Mehr noch: sie betonte, dass diese Begebenheit sie dazu animierte, Deutschland wieder einen guten und schönen Namen zu geben (damit nie mehr eine deutsche Frau von einem jüdischen Taxifahrer in New York aus dem Auto geschmissen wird, das war der Subtext hierbei). Sie tue alles, damit in Israel Deutschland ein schöner Name sei. Und sie ist überglücklich, wenn jüdische Kinder sie umarmen und küssen, wenn sie Süßigkeiten oder einen neuen Spielplatz bekommen. Schließlich sind ja so viele Kinder im Holocaust umgekommen. Auch das sagte sie. Und das mag auch für nicht wenige in deutsch-israelischen Gesellschaften der Grund sein, stolzdeutsch eine deutsche Fahne am Revers zu tragen, die zwar von einer israelischen flankiert wird, aber doch den deutschen Namen reinwaschen möchte. Es geht um ein Reinigungsritual. Sicher, das ist um Welten besser als der Antizionismus weiter Teile der deutschen Bevölkerung, zumal der Eliten in Politik, Wissenschaft und Kultur.

Auch viele Verfechter der Stolpersteine wollen sich offenbar gerne freikaufen (120€ kostet das) und vor allem der Welt zeigen: Deutschland erinnert und ist ein ganz schönes Land! Merkt euch das! Wir wissen, wie man mit den Millionen ermordeten Juden umgeht! (Schließlich haben wir sie auch ermordet. Oder vielmehr unsere Väter, Großväter und Onkel und deren Frauen, die auf die eine andere Weise dabei geholfen haben). Dass die Steine von Gruppen und Leuten, die bekannt sind als Israelhasser (wie in Kassel oder anderswo), verlegt werden (lassen), das stört uns gar nicht. Diese unwürdige Form des „Gedenkens“ kann einem in den Sinn kommen ob dieser Feierstunde im Alten Rathaus Hannover. So wie die Stolpersteinfetischisten der ganzen Welt in Weltmeistermanier zeigen wollen, wie massenhaft die Deutschen solche Steine verlegen und also so tun, als ob sie – und nur sie – wissen, wie man gedenkt, so wollte die Preisträgerin womöglich unbewusst zeigen, was für nicht wenige die Motivation sein könnte, sich für Israel einzusetzen: nicht wegen den Juden oder den Israeli, nein, wegen sich, wegen „uns“, wegen „Deutschland“ und seines Rufs.

Anders ausgedrückt: wenn das der nicht-antisemitische Teil des deutschen kulturellen Establishments war oder sein sollte, der sich dort traf, hat man eine Ahnung, wie es um den anderen bestellt sein muss.

Davor und danach gab es noch etwas teils unpassende, schunkelhafte Musik (es war eine Preisverleihung zu Ehren eines von Nazis 1933 ermordeten Juden) aus einem E-Piano und von einer Violine, Blumen. Und alle waren glücklich.

 

Der 3. Oktober, das Ende der BRD und der Aufstieg des Islamismus wie auch des akademischen Kapitalismus

Für einen Intellektuellen aus Berliner BRD-Zeiten: Karl-Hans Wieser

Morgen ist der 3. Oktober. Das ist kein Feiertag. Sicher ging mit der DDR ein ganz elendes, auch antizionistisches Regime zu Ende. Aber die Welt war besser, als es noch die alte BRD gab. Das ist kein Pathos, sondern eine Realanalyse. Klar hatten wir Aufkleber in den 1980ern wie “lasst euch nicht BRDigen” oder “Über Italien lacht die Sonne – über Kohl lacht Deutschland”. Die alte BRD war schlimm genug – ich habe über die politische Kultur seit 1970 und die “Salonfähigkeit der Neuen Rechten” eine ganze Dissertation geschrieben. – Doch die BRD war noch harmlos verglichen mit der “neuen Unübersichtlichkeit” nach 1989, um mal ganz contre coeur einen Habermas-Begriff zu verwenden. Denn Habermas selbst hat diese Unübersichtlichkeit und die antiamerikanische Agitation doch mit zu verantworten, 2003 mit Jacques Derrida und der deutschen Friedenshetzbewegung. Das ist der unverschämte neue “deutsche Weg” von Egon Bahr und Gerhard Schröder, von den noch weit rechter Stehenden ganz zu schweigen.

An “Feiertagen” wie dem 3. Oktober, wenn es nochmal etwas sonnig wird, gehen die Deutschen auf ihre Datsche (im Osten) oder in die Schrebergärten – bundesweit. Das mag einen kleinen Exkurs in deutscher Kleingartenkultur rechtfertigen:

Nach Daniel Gottlob Moritz Schreber werden bis auf den heutigen Tag die Schrebergärten bezeichnet. Er war im 19. Jahrhundert ein Volkserzieher und Naturdomestizierer ersten Ranges. Seine Bücher (z.B. Schreber 1858) erlangten ungewöhnlich hohe Auflagen. Seine Philosophie ist eine (pädagogische) Vorwegnahme der Carl Schmittschen Freund-Feind Dichotomie und also sehr deutsch;

„die edlen Keime der menschlichen Natur spriessen in ihrer Reinheit fast von selbst hervor, wenn die unedlen (das Unkraut) rechtzeitig verfolgt und ausgerottet werden”

(Daniel Gottlob Moritz Schreber (1858): Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit durch naturgetreue und gleichmäßige Förderung normaler Körperbildung, lebenstüchtiger Gesundheit und geistiger Veredelung und insbesondere durch möglichste Benutzung specieller Erziehungsmittel, Leipzig: Fleischer, 104).

Der sprachliche Duktus läßt die impliziten und expliziten Exegeten Schrebers als diejenigen Deutschen erkennbar werden, die als der Welt größte ‚Reinigungskollektivanstalt‘ praktisch wurden: eliminatorische Antisemiten. Wobei es eben kein Zufall war, daß das Töten wollen, bei Schreber ‚ausrotten´ genannt, in Deutschland Juden traf, da diese häufig mit Ungeziefer und Unkraut analog gesetzt wurden.

Die ganze Dimension von Naturbeherrschung, wie sie in der ‚Dialektik der Aufklärung´ von Horkheimer/Adorno entfaltet wird, hat z.B. in Schreber einen Apologeten und Protagonisten vor sich, der weiß wovon er spricht, denn die Menschenversuche an seinen eigenen Kindern (ans Bett binden bei nächtlicher Errektion, oder kalte Dusche beim selben ‘Vergehen’, Geradesitzen incl. der Herstellung extra dafür entwickelter Geradehalter etc.) hat bei einem Sohn den Selbstmord, beim anderen ‘Wahnsinn’ erzeugt; letzterer ist als Daniel Paul Schreber in die Geschichte der Psychoanalyse (u.a. bei Freud) eingegangen. Schreber bringt innere und äußere Naturbeherrschung auf den Punkt, jedoch in affirmativer Propaganda:

„Der Mensch soll seiner hohen Bestimmung gemäß immer mehr und mehr zum Siege über die materielle Natur gelangen, der einzelne Mensch zur Herrschaft über seine eigene Natur, die Menschheit im Ganzen zur Herrschaft über die Natur im Großen” (ebd. 121).

Für das bürgerliche Selbst hat solche innere Naturbeherrschung, die Folge einer patriarchal evozierten und die sinnlose kapitalistische Warenwelt legitimierenden Selbstkasteiung ist, die „Inversion des Opfers” (Horkheimer/Adorno 1944:62) zur Konsequenz;

„Das aus der Angst geborene Gewissen, das Innerste des Bürgers findet seinen Inhalt und seine Beruhigung einzig im Äußerlichen, in der Reinheit (noch nicht der Rasse, aber schon) des Funktionierens” (Jürgen Langenbach (1988): Preußische Kinderstube, in: Forvm, Wien, 35.Jg., Jan./Febr., S. 12-16, 14),

wie Langenbach die Position Schrebers pointiert. Langenbach bringt die okzidentale Vernunft auf ihren Kulminationspunkt, exemplarisch am Protagonisten Leipziger Turnvereinene, D.G.M. Schreber herausgearbeitet:

„Mit ihrer letzten List opfert die Vernunft den eigenen Leib” (ebd.).

Dazu kommen die Hunderten Morde von Neonazis an Migranten, Nicht-Deutsch-genug-aussehenden, Obdachlosen, Linken, Homosexuellen etc. etc., und die Goldhagen-Debatte, die das Deutsche an den deutschen Historikern – von Hans Mommsen über Norbert Frei bis zum ZfA (Rainer Erb/Johannes Heil) – hervorkitzelte, dann Martin Walsers antisemitischer Einsatz 1998 und einige Jahre später mit “Tod eines Kritikers”.

2000 die zweite Intifada, die deutsche Linke mit ihrem Antizionismus, der an 9/11 mit grölendem Antiamerikanismus ein Freudenfest der Schadenfreude feierte in jeder “Szene”-Kneipe (“Bin Laden-Cocktails”). Wolfgang Benz sprach von der Arroganz der USA und viele Deutsche nickten eifrig. Für Klaus Theweleit oder die Grüne Adrienne Goehler war 9/11 ein quasi antipatriarchaler Akt, da Hochhäuser phallische Symbole seien. Ein Schenkelklopfer für Altlinke und junglinke Fanatiker gleichermaßen. Auch Gremliza von Konkret kicherte ob der Toten an 9/11, der Kapitalismus habe sich “zu Ende gesiegt”. Ja, klar. Keine Spur von Jihad und Islamismus, genuinem. Alles abgeleitet vom Kapitalverhältnis. Diese alten Sprüche hat die DDR vorgegeben (und hatte sie von der UdSSR) und das ist gut, dass insofern die DDR weg ist, na klar.

Das Ende der Sowjetunion führte auch zu 9/11 wie zu allen anderen asymmetrischen Kriegserklärungen und Kriegen. Während des Kräftegleichgewichts von Ost und West war das so nicht denk – und machbar. Islamismus war keine weltpolitische Macht wie er es heute ist. Die permanente Panik an Flughäfen, die tagtäglich vom schlummernden in den akuten Zustand wechseln kann, ist eine Angst vor dem Jihad. Das gab es vor 1989 nicht – niemand hatte Angst vom KGB erschossen zu werden, einfach so – von Verbrechern wie Stepan Bandera mal abgesehen. Doch der führt heute ja ein ruhmreiches Nachleben in der Ukraine, wie auch der Nationalismus von Ungarn über Litauen bis zur Ukraine ein Revival erlebt, wie es vor 1989 undenkbar war.

Und es gibt kaum einen, der paradigmatischer steht für die neu-deutsche Frechheit, Unverschämtheit und den sekundären Antisemitismus, jenen nach Auschwitz, jenen, der lachend die Erinnerung wegbläst und blökt wie Matthias Matussek. Dazu schrieb ich 2006:

“Diese neu-deutsche Selbstverständlichkeit gerade als Deutsche stolz zu sein, zu betonen, ja zu brüllen: die deutsche Geschichte war im Kern was sehr Schönes, etwas ganz Einzigartiges, ‘Hitler’ war lediglich ein ‘Freak-Unfall der Geschichte’ (O-Ton Matussek), ist die neue Befindlichkeit, die neue, deutsche Ideologie im 21. Jahrhundert. ‘Ich bin nicht tief traumatisiert, denn ich denke nicht oft an die deutsche Schuld und an den Holocaust’ sagt Matussek, er kämpft wie Walser und Konsorten gegen die ‘moralische Keule’.

Das sind die Töne des nationalen Apriori.”

Die Weltlage hat sich für Juden, Israel und die westliche Welt – ja die ganze Welt – seit dem 9. November 1989 massiv verschlechtert. Selten wurde eine Parole so schnell so brutal und blutig widerlegt wie die These vom “Ende der Geschichte” durch Fukuyama (1992). Denn der weltweite Jihad hat exakt seit 1989/1990 einen wahnwitzigen Aufstieg genommen, und das hatte sich 1979 im Iran bereits angekündigt. Kein Ende der Geschichte, nirgends. Die großen Kriege sind vorbei – erstmal – aber die sog. asymmetrischen Kriege bestimmen das Leben vieler Millionen Menschen, auch hier: vor allem der jihadistische Islamismus, von Asien (Pakistan u.a.) über den Nahen Osten bis nach Afrika, von anderen Weltgegenden nicht zu schweigen, wobei im Westen primär der “legale Islamismus” der Muslimbrüder vorherrscht. Dieser begann 1958 seinen Siegeszug, in München, doch hat erst durch das Ende des Ost-West-Konflikts richtig an Fahrt aufgenommen – wiederum mit dem ersten Fanal 1979 im Iran. –

Die Verwandlung der BRD zu “Deutschland” geschah 2006 durch Jürgen Klinsmann – das nationale Apriori wie ich schon 2006 analysierte. Pegida, Sarrazin und AfD sind nur die neuesten Ausdrücke desselben, die ökonomische Herrschaft der Deutschen über Europa ein weiterer. Dazu kommt der Iran-Deal, der maßgeblich von den Deutschen gepusht wurde und die Schamlosigkeit deutscher Kapitalinteressen wurde – logisch – vom SPD-Mann Gabriel unverzüglich angemeldet.

Das sind nur einige wenige Gedanken, warum der 3. Oktober kein Feiertag ist. Überlegungen über den “akademischen Kapitalismus” (Richard Münch) oder die “Unruhe der Welt” (Ralf Konersmann) wären weitere zentrale Aspekte, die genuin mit dem Ende des Ost-West-Konflikts zusammenhängen. Das Geschwätz von “Es gibt keine Alternative” widerlegt sich tagtäglich in den Hunderten und Tausenden von Jihadkämpfern, jungen Männern und auch mal Frauen, die in Syrien oder im Irak und in Afghanistan auflaufen. Verglichen mit dem immer noch rationalen Realsozialismus der UdSSR ist der Irrationalismus des Jihad eine weltweite Gefahr ungeahnten Ausmaßes.

Die Deutschen sind Weltmeister – im Autoverkauf, im Tüfteln und kriminellen Manipulieren von Diesel-Autos, beim völlig entspannten, aggressiven Deutschland-Fahnen-Schwenken, beim moralische Ratschläge an böse Amerikaner und ignorante Israeli geben, beim Stolpersteinverlegen und gleichzeitigen Hetzen gegen den Zionismus und Israel, und vielem mehr – wie auch beim Entwickeln von “Schrebergärten” und dem “Ausmerzen”.

Deutschland – Nie wieder. Doch es ist zu spät. Die BRD ist seit 25 Jahren dahin und heißt jetzt Schland.

Ein kleiner Palast für Israelhass im Herzen von Berlin? Die Bundesregierung, die Barenboim-Said-Akademie und der Antisemitismus

Von Thomas Weidauer* und Clemens Heni*, juedische.at, 17.06.2015

Am Montag, den 15. Juni 2015, wurde in Berlin das Richtfest der Barenboim-Said-Akademie gefeiert. Die deutsche Bundesregierung untertstützt den Bau mit 20 Millionen Euro, was 2/3 der Gesamtkosten ausmacht, und wird sich auch später an der Finanzierung der laufenden Kosten des Prestigeobjektes beteiligen. Kulturstaazsministerin Monika Grütters sagte:

 „Mit der Barenboim-Said Akademie feiern wir heute ein wegweisendes kulturelles Versöhnungsprojekt, das uns auch in Berlin einen kleinen Beitrag zum Friedensprozess im Nahen Osten leisten lässt. Jeweils drei Jahre lang werden hier bis zu 100 israelische und arabische junge Menschen, entlastet von dem oft kriegerischen Lärm ihrer Heimat, aufeinander hören, miteinander musizieren, sich gegenseitig achten und, so hoffen wir, die Botschaft in die Welt tragen: Frieden ist möglich.“

Zugegen beim Richtfest waren auch der Barenboim-Said-Akademie- Präsident Michael Naumann, der Kukturstaatssekretär des Berliner Senats Till Renner sowie ein Vertreter des Auswärtigen Amtes, Andreas Görgen. Der kanadisch-amerikanische Stararchitekt Frank Gehry hat das Gebäude entworfen und wurde per Videobotschaft zugeschaltet.  Barenboim war ganz euphorisch.

„Frieden ist möglich“ – das hört sich vielversprechend an, doch entspricht es der Wahrheit? Wer war Edward Said? Und wer ist Daniel Barenboim? Für was steht seine Stiftung, die Daniel-Barenboim-Stiftung, auf deren Homepage die Akademie vorgestellt wird?

Auf Barenboims Homepage steht:

„Über die Jahre hat das West-Eastern Divan Orchestra Beziehungen zu vielen Organisationen in Israel, Palästina und anderen Teilen der Welt aufgebaut. Einige Organisationen existierten – mit vergleichbaren Zielen – schon vor dem Divan und einige wurden von Mitgliedern oder Ehemaligen des Orchesters gegründet, aber alle gemeinsam verdienen unsere volle Unterstützung.“

Sodann werden fünf Gruppen aufgeführt:

Al-Kamandjati (www.alkamandjati.com)
Barenboim-Said Conservatory / Orpheus (
www.orpheus-music-edu.org)
Friends School Ramallah (
www.palfriends.org)
Palestinian Medical Relief Society (
www.pmrs.ps)
Musikkindergarten Berlin (
www.musikkindergarten-berlin.de)

“Al-Kamandajati” verweist gleich auf der Startseite (aufgerufen am 17.06.2015) auf folgenden Text von Juli 2014 bezüglich des Abwehrkrieges gegen die Hamas:

 “This latest Israeli attack against Gaza is a crime that must be understood within the context of Israeli occupation and apartheid. For over six decades Palestinians have been systematically bereaved of their lands, their water and their freedom of movement.”

Die bloße Existenz Israels wird hier in Abrede gestellt, wenn keineswegs von der Besatzung des Westjordanlandes seit 1967, vielmehr von einer Besatzung „seit über sechs Jahrzehnten“ geredet wird, also seit 1948, der Gründung des Staates Israel. Auch die Diffamierung Israels als „Apartheid“ kommt hier vor – ist das das „kulturelle Versöhnungsprojekt“, von dem die Bundesregierung beim Richtfest am Montag sprach?

Die nächste von Barenboim unterstützte Einrichtung ist die „Friends School of Ramallah“.

In deren “Summer Newsletter 2015” wird die Nakba erwähnt, die palästinensische “Katastrophe” von 1848, ohne dabei zu erwähnen, warum es zu den Vertreibungem kam: weil die Araber sich im November 1947 weigerten , den UN-Teilungsplan für Palästina anzunehmen und neben dem (jüdischen) Staat Israel einen (weiteren) arabischen Staat zu gründen. Schon 1937 hatten die Araber den Teilungsplan der Briten abgelehnt, während die Zionistische Bewegung ihn angenommen hätte. Zudem haben die umliegenden arabischen Staaten die Palästinenser dazu gezwungen, Israel zu verlassen, da ein Dortbleiben dem jüdischen Staat Akzeptanz verschafft hätte. Zwar kam es von jüdischer Seite zu einzelnen Verbrechen-die in Israel heute breit diskutiert werden-während es in der arabischen Welt kaum jemanden gibt, der die Vertreibung von fast einer Million Juden anspricht.

Barenboim selbst scheint ein Anhänger des palästinensischen Rückkehrrechts zu sein und propagiert somit die Zerstörung des jüdischen Staates Israel, wenn er im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung 2012 sagt:

„Es ist doch absurd“, sagt er, „dass Woody Allen noch heute Abend nach Israel ziehen könnte, eine palästinensische Familie, die tausend Jahre lang dort gelebt hat, aber nicht.“

Barenboim erwähnt gar nicht den grotesken Charakter dieser palästinensischen angeblichen Flüchtlinge. Es handelt sich hierbei um ca. 5 Millionen Menschen, davon sind jedoch nur ein paar Zehntausend tatsächlich 1948/49 geflohen bzw. vertrieben worden. In krassem Gegensatz zu allen anderen Flüchtlingen weltweit wird nämlich bei Palästinensern der Flüchtlingsstatus vererbt! Das wird durch die ausschließlich für die Palästinenser zuständige United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA), die auch von der deutschen Bundesregierung finanziell unterstützt wird, organisiert und perpetuiert.

Während Israel ca. eine Million jüdischer Flüchtlinge aus arabischen Ländern nach 1948 in die Gesellschaft integrierte, weigern sich arabische Staaten wie Syrien, der Libanon, Jordanien und weitere Staaten die Palästinenser als Staatsbürger zu integrieren. Vielmehr wird auf zynische Weise deren Flüchtlingsstatus zementiert, die Flüchtlingslager dienen als Faustpfand im Kampf gegen Israel.

Dabei haben die Araber in Israel gar kein Interesse an einer Rückkehr dieser angeblichen (und der wenigen noch lebenden tatsächlichen) Flüchtlinge! Die UN haben 1947 – so wie die britische Peel Commission 1937, die bereits die unüberbrückbaren politischen und weltanschaulichen Differenzen von Arabern/Muslimen und Juden erkannte – ausdrücklich von einem jüdischen und einem arabischen Staat gesprochen, doch die Araber („Palästinenser“) lehnten das ab.

Und da wären wir beim Thema arabischer und muslimischer Antisemitismus. Jede Präsenz von Juden auf „arabischem“ oder „muslimischem“ Land wird abgelehnt, so die antisemitische Ideologie. Jene, die eine Einstaatenlösung (oder einen binationalen Staat) propagieren, wollen Juden lediglich als Minderheit am Leben lassen, gerade ohne jede politische Eigenständigkeit und Souveränität. Und, nochmal: selbst die Mehrheit der Araber in Israel möchte keinen solchen Staat, da sie keine demokratieunfähigen oder –unwilligen, verhetzten und antisemitischen Palästinenser an ihrer Seite haben wollen.

Ganz davon zu schweigen, dass in Paris, Chicago, Brüssel oder Berlin geborene „Palästinenser“ keinerlei Bezug zu Israel haben und es völlig absurd ist, ihnen ein „Rückkehrrecht“ zu gewähren. Das erinnert vielmehr an ewiggestrige Nazis in Deutschland, die bis heute von einem Rückkehrrecht der vertriebenen Deutschen nach Polen oder der Tschechischen Republik, der Slowakei, Rumänien oder Bulgarien etc. träumen.

Auf das historisch gesehen unlogische und absurde palästinensische „Recht auf Rückkehr“ weist auch der bekannte israelische Journalist Ben Dror Yemini in seinem Buch „The Industry of Lies“ (Hebräisch 2014) hin. Der Vorsitzende der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe Volker Beck (Die Grünen) sprach sich wie andere Politiker und Redner im April 2015 gegen eine Konferenz des „Palestinian Return Center“ aus London und der Palästinensischen Gemeinde in Deutschland in Berlin-Treptow und somit gegen das palästinensische Rückkehrrecht aus, da dies Israel zerstören würde. Es ginge um das gleichberechtigte Nebeneinander von Israel und einem möglichen Staat „Palästina“ Seite and Seite mit Israel, so mehrere Redner.

Es ist in der politischen Kultur der Bundesrepublik Konsens, dass das Plädieren für eine Rückkehr der Deutschen nach Polen oder der Tschechischen Republik und anderer Länder Revanchismus ist und zudem Flüchtlinge niemals ihren Status hätten auf ihre Nachfahren übertragen können. Warum also wird via UNRWA bezüglich der Palästinenser anders geurteilt? Das ist unlogisch und nicht nachvollziehbar.

Es scheint ein antijüdisches Ressentiment dahinter zu stecken, da Juden und Israel anders behandelt werden denn andere Gruppen bzw. Länder. Was wäre in Europa und in Polen zu Recht für ein Aufschrei zu vernehmen, wenn die deutsche Bundesregierung mit 20 Millionen Euro eine Akademie unterstützen würde, die von Personen und mit ihnen assoziierten Gruppen getragen bzw. geprägt wird, die von einem „Rückkehrrecht der Schlesier nach Polen“ daher reden?

Die Araber in Israel ziehen ihre geschützte Minderheitenposition im jüdischen Staat Israel einer möglichen Mehrheit im Staate mit aus aller Welt kommenden, fünf Millionen Arabern vor. Niemand leugnet, dass es auch in Israel, wie in jedem westlichen Land, Rassismus gibt – doch im Gegensatz zur PA oder den arabischen Ländern wird dieser Rassismus gegen Araber in Israel von der überwiegenden Mehrheit kritisiert und bleibt niemals unwidersprochen.

In einer Art Gedicht wird sodann im Sommernewsletter 2015 der Boys School Ramallah „lyrisch“ der Mord an Juden in Israel angekündigt, wenn die Palästinenser endlich ihr „Rückkehrrecht“ in Anspruch nehmen könnten:

„We don’t only hold our keys

We will return and forget about ever being refugees

And you will leave or “rest in “peace” “. [Anführungszeichen so im Original, d.V.]

Im selben hetzerischen Text eines Schülers, der die von Barenboim unterstützte und angepriesene Schule in Ramallah besucht, wird das Märtyrertum propagiert:

„I’d rather be a martyr than be on your unjust venue

Which causes us to call for another menu

Whether it consists of harm and pain

You, Israel, are one to blame.”

Das ist Ramallah im Frühsommer 2015! Mit deutscher Unterstützung?

Als weiteres Vorzeigeprojekt wird von der Daniel-Barenboim-Stiftung die „Palestinian Medical Relief Society“ (PMRS) angeführt. Die hat auf ihrer Website, nun ja, einen Bericht über den Krieg im vergangenen Sommer, der eine einzige Verleumdung Israels darstellt:

Darin wird Israel nicht nur das Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen, sondern etwa behauptet,

“The war Israel is waging on Gaza right now is not about self-defense, it is not even about destroying Hamas. It is a war about complete control over a territory and a people and it is being conducted with complete disregard for human life.“

Die PMRS steht dem vor zehn Jahren ins Leben gerufenen BDS Movement nahe. Diese Bewegung ruft dazu auf, Israel mit Boykotten auf allen Ebenen zu bekämpfen, nicht in Israel zu investieren und die jüdische Demokratie mit Sanktionen für ihre Existenz zu bestrafen. BDS-Aktivisten bedrohen Menschen, die ihre Ansichten nicht teilen, nicht selten mit Gewalt, in Südafrika gehört der Ruf „Shoot the Jew“ offenbar zum festen Repertoire dortiger BDS-Anhänger. In Berichten von der „First Palestinian Conference for the Boycott of Israel“ (2007) heißt es: „The organizing committee expresses its special thanks to (…) PMRS-Palestinian Medical Relief Society“.

Edward Saids Witwe Mariam Said ist eine Vertraute Barenboims und aktiv involviert im „West-Eastern-Divan-Orchestra“ (WEDO). Im März 2010 verteidigte sie Barenboim auf der antiisraelischen Seite „Electronic Intifada“  und versicherte den Agitatoren, dass Barenboim ganz im Sinne Edward Saids agiere, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln. Mariam Said unterstrich, dass viele aus den Reihen von WEDO und dem Umfeld von Daniel Barenboim den Boykott gegen Israel unterstützen würden.

Alle diese Beispiele zeigen: Die von Daniel Barenboim und seiner Stiftung unterstützten und promoteten Projekte fördern die Hetze gegen den jüdischen Staat Israel, sie verlangen ein palästinensisches Rückkehrrecht, welches einer, wenn nicht der Hauptgrund für das Scheitern der seit vielen Jahren geführten Friedensverhandlungen zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde ist. Sie preisen zudem das Märtyrertum, schweigen zum Islamismus der Hamas und des islamischen Jihad und drohen Juden mit Gewalt.

Von all dem hat man beim Richtfest am 15. Juni 2015 in Berlin nichts gehört. Die Frage ist: schaut sich die deutsche Bundesregierung die Projekte, die sie mit 20 Millionen Euro Steuergeldern unterstützt, überhaupt an? Wenn ja, unterstützt die Bundesregierung den in diesem Text dokumentierten Antisemitismus einiger jener Gruppen, die von Daniel Barenboim auf seiner Seite hochgelobt werden? Hat sich die Bundesregierung, haben der Berliner Senat oder Michael Naumann jemals mit der Ideologie von Edward Said beschäftigt, nach dem nun im Herzen von Berlin eine luxuriöse Akademie benannt wird?

Schon 1969 bezeichnete Edward Said (1935–2003) die Araber als „die neuen Juden“. 1979 setzte er Israel mit dem südafrikanischen Apartheidstaat gleich. In seinem bekanntesten Buch Orientalismus von 1978, denunzierte er Israel als das letzte orientalistische, also imperialistische, westliche und rassistische Land. 1987 sagte Said in einem Interview, die Juden hätten die Lehren aus ihrem eigenen Leiden unter Nazi-Deutschland nicht gezogen. Für ihn verhalten sich die Juden/Israeli gegenüber den Palästinensern heute so, wie die Nazis sich gegenüber den Juden verhalten haben.

Diese Ideologie wird nun offenbar sehenden Auges von der deutschen Bundesregierung mit 20 Millionen Euro Baukosten plus Teilen der laufenden Kosten nach Eröffnung der Akademie unterstützt.

Deutschland, Deutschland, du tüchtiges Land.

 

 

*Thomas Weidauer ist Blogger und Vorsitzender des Vereins für Gesellschaftskritik und Antisemitismusforschung e.V.

*Dr. phil. Clemens Heni ist Politikwissenschaftler und Direktor des Berlin International Center for the Study of Antisemitism.

 

Ende einer Epoche: Zum Tode meines Freundes, des Historikers und zionistischen Intellektuellen Robert Solomon Wistrich, z‘‘l

Robert S. Wistrich war der weltweit bekannteste und renommierteste Antisemitismusforscher unserer Zeit. Er war einer der berühmtesten israelischen Forscher in den Geisteswissenschaften überhaupt. Der am 7. April 1945 in Kasachstan als Sohn polnisch-jüdischer Eltern geborene Historiker war „Neuburger Professor“ für „moderne europäische und jüdische Geschichte“ an der Hebräischen Universität Jerusalem und seit 2002 Direktor des dort 1982 gegründeten Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism (SICSA), das sich seither einen Ruf als einzigartige Forschungsstätte erworben hat. Robert Solomon Wistrich starb am 19. Mai 2015 während einer Vortragreise in Rom an einem Herzinfarkt.

 

Prof. Dr. Robert Solomon Wistrich, Berlin, 16. September 2014

Prof. Dr. Robert Solomon Wistrich, Berlin, 16. September 2014

Sein Tod trifft seine Familie und Freunde, aber auch die weltweite Community von Zionisten und kritischen Antisemitismusforscherinnen- und forschern wie ein unfassbares Beben. Ein Schock.

 

Dabei mag es rückblickend wie ein Wunder wirken, dass Wistrich 70 Jahre alt wurde, wie sein Sohn auf der Beerdigung am 21. Mai 2015 in Jerusalem sagte – denn im Alter von 27 wurde bei Wistrich eine Krebsart diagnostiziert, bei der die Überlebenschancen laut Enzyclopaedia Britannica bei 2% liegen.

 

Robert wirkte am 14. Mai 2015, dem Tag, als wir uns das letzte Mal sahen, zuerst müde. Doch selbst in solchen Momenten vermochte er es wie kein zweiter public intellectual zu brillieren. Er sprach auf dem Global Forum for Combating Antisemitism, der weltgrößten Konferenz gegen Antisemitismus, zum Lunch. Vor ihm hatte Dan Shapiro, ein junger aufstrebender Diplomat, Botschafter der USA in Israel, eine Rede gehalten. Dessen Lobeshymnen auf Obamas Kampf gegen Antisemitismus ließ Wistrich nicht unkommentiert. Er begann gerade in diesem Rahmen seine Rede mit einer „ganz typischen jüdischen Frage“: „Wenn alles so wunderbar ist, warum ist es dann so schlimm?“ Seine letzte große Rede, vor 600 Gästen im Jerusalem Convention Center, war der intellektuelle Höhepunkt des Global Forums.

Robert Wistrich Clemens Heni Perry Trotter May 14, 2015, Jerusalem

Robert Wistrich, Clemens Heni, Perry Trotter, Jerusalem, 14. Mai 2015, Global Forum for Combating Antisemitism

 

Später ging Robert noch in eine der working groups (über Holocaust-Trivialisierung), und wir sprachen noch sehr lange und waren bei den Allerletzten, die das Global Forum verließen. Er erzählte mir, dass er seine Nachfolge als Direktor des Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism (SICSA) ab Oktober 2015 regeln müsste. Merkwürdigerweise legte ihm die Hebräische Universität eine Liste mit Namen vor, darunter ausschließlich eigene Dozenten. Schließlich sagte mir Robert mit einem gewissen Schulterzucken sinngemäß, er habe schließlich die womöglich am wenigsten problematische Person gewählt…

 

Der Tod von Robert S. Wistrich besiegelt das Ende des Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism (SICSA), auch wenn das Zentrum formal erstmal weiterexistieren wird. Doch als führender zionistischer Intellektuelle, als der bedeutendste Antisemitismusforscher und als Historiker jüdischer Geschichte ist er nicht zu ersetzen. SICSA war Robert Wistrich und vice versa.

 

Er meinte, vielleicht würden wir uns ja am Sonntag am Ben Gurion International Airport treffen, da er nach Rom und wir zurück nach Berlin fliegen würden. So kam es, dass ich am Mittwochmorgen von Anat Varon, Roberts letzter Doktorandin, eine E-Mail bekam mit der schrecklichen Nachricht. Es gab vielfach Anzeichen für seinen wirklich schlechten Gesundheitszustand, doch Vorsicht, Zurückhaltung oder die Sorge um sich selbst waren ihm offenbar unbekannt. Anat zeigte mir Roberts Lieblingsplätze an der Hebräischen Universität, seinen quasi kaum bekannten zweiten Arbeitsraum (neben jenem bei SICSA) und sie erzählte wie genussvoll er bei Gesprächen über ihre Dissertation zu Franz Werfel, Österreich und jüdische Geschichte, Schokolade aß, die sie immer mitbrachte.

Prof. Dr. Robert S. Wistrichs Arbeitszimmer an der Hebräischen Universität Jerusalem

 

In seiner Rede auf dem Global Forum spannte Robert den Bogen vom Kampf gegen den Antisemitismus hin zum jüdischen „Empowerment“, zum aktiven Eintreten für Israel als das Land der Juden, wie es in einer bahnbrechenden Ausstellung des Simon Wiesenthal Centers, die Wistrich erarbeitet hat und die – nachdem Proteste arabischer Staaten, sie könne den „Friedensprozess“ gefährden, für eine Verschiebung ihrer Eröffnung und Umbenennung gesorgt hatten – selbst bei der UNESCO in Paris und dem UN-Hauptquartier in New York gezeigt wurde, so phänomenal deutlich wird: „People, Book, Land: The 3500 Year Relationship of the Jewish People with the Holy Land“.

 

Robert Wistrich war es, der mich im Dezember 2002 zu meiner ersten Israelreise einlud, mitten in der zweiten Intifada. Mein Vortrag auf seiner ersten großen Konferenz als Leiter von SICSA – über Medien, Antizionismus und politische Kultur in der Bundesrepublik – verursachte eine tomatenroten Kopf des Kulturattachés der Deutschen Botschaft in Israel, die meine Reise mitfinanziert hatte, und eine offizielle Beschwerde der Deutschen Botschaft beim Präsidenten der Hebräischen Universität Jerusalem über meine Person (und über meinen Kollegen Martin Ulmer von der Universität Tübingen). Die Botschaft forderte die Hebräische Universität auf, das Zentrum nicht weiter (oder weniger stark) zu unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt war Robert Wistrich noch keineswegs als Leiter von SICSA etabliert, wenngleich als Antisemitismusforscher schon längst eine Berühmtheit.

Es war eine Ehre als frisch gebackener Promotionsstipendiat der Hans Böckler Stiftung (HBS) von offizieller Seite so wahrgenommen zu werden. Konsequenz: der Präsident der Hebräischen Universität befand unsere Vorträge als wissenschaftlich einwandfrei, es gab seither keinerlei Kontakt mehr zwischen SICSA und der Deutschen Botschaft. Ich bekam 2003 und 2004 ein Felix Posen Fellowship von SICSA. Robert selbst erwähnte diesen Konflikt mit der Deutschen Botschaft bei unserem Besuch am 12. Mai 2015 bei SICSA.

 

Wistrichs Bezeichnung des Antisemitismus als „der längste Hass“, wie sein gleichnamiges Buch und eine daran angelehnte dreiteilige Fernsehserie 1991 hießen – Antisemitism: The Longest hatred –, ist so prägnant wie mittlerweile international etabliert.

 

1985 beschrieb Wistrich in seinem Buch Hitler’s Apocalypse (auf Deutsch 1987: Der antisemitische Wahn: Von Hitler bis zum Heiligen Krieg gegen Israel), wie er bereits zehn Jahre zuvor in England eine neue Form des Antisemitismus bemerkt hatte: den antizionistischen Antisemitismus, der heute ein wesentlicher Teil dessen ist, was man „neuer Antisemi­tis­mus“ nennt. Dieser ging zunächst vor allem von Linken, häufig gut ausgebildeten Leuten an Universitäten aus.

Was damals noch am Rande der Gesellschaft sich zutrug, ist längst Mainstream. Der islamische Antisemitismus benötigt den Antisemitismus der Linken und des Mainstreams in westlichen Ländern dringend. Ohne wohlwollende, abwiegelnde Linke, Liberale und naive Multikulturalisten, die das Thema muslimischer Antisemitismus aus den Universitäten zu verbannen suchen, hätten die Islamisten kein so leichtes Spiel.

 

Robert S. Wistrichs wissenschaftliche Karriere begann an der berühmten Wiener Library in London in den 1970er-Jahren, nachdem er Ende der 1960er-Jahre unter anderem im kalifornischen Stanford studiert hatte. 1982 erhielt Wistrich eine Professur an der Hebräischen Universität in Jerusalem, der Hauptstadt Israels. Man kann seine Forschungen in fünf Kategorien einteilen, wobei im Folgenden nur seine Bücher aufgeführt werden. Hinzu kommen etliche von ihm herausgegebene Bände, Hunderte Artikel, Einführungen zu Bänden, Broschüren und andere Texte, die fast alle ebenfalls in diese Kategorien fallen:

 

1) Die Linke und Antisemitismus. Hierzu zählen folgende Monografien: Revolutionary Jews from Marx to Trotsky (1976); Trotsky: Fate of a Revolutionary (1979); Socialism and the Jews: The Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria-Hungary (1982); From Ambivalence to Betrayal. The Left, the Jews and Israel (2012).

2) Die Geschichte der Juden mit einem Schwerpunkt auf dem deutschsprachigen Judentum in Europa von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933. Hierzu zählen seine 700 Seiten starke, mehrfach preisgekrönte Arbeit The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph, 1987 abgeschlossen, 1989 auf Englisch publiziert (1999 auf Deutsch Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs); Between Redemption and Perdition. Antisemitism and Jewish Identity (1990); Austrians and the Jews in the Twentieth Century: From Franz Joseph to Waldheim (1992); Austrian Legacies: Jews and National Identity (2004); Ma’abada le-heres ha-olam. Germanim ve-yehudim be mercaz-europa (2006); Laboratory for World Destruction. Germans and Jews in Central Europe (2007).

3) Hitler, der Nationalsozialismus und der Holocaust. Who is Who in Nazi Germany (1982; 1983 und in weiteren Auflagen auf Deutsch unter dem Titel Wer war wer im Dritten Reich?); Hitler’s Apocalypse: Jews and the Nazi Legacy (1985; auf Deutsch 1987 Der antisemitische Wahn: von Hitler bis zum Heiligen Krieg gegen Israel); Weekend in Munich: Art, Propaganda and Terror in the Third Reich (1995; auf Deutsch 1996 Ein Wochenende in München: Kunst, Propaganda und Terror im Dritten Reich); Hitler and the Holocaust“ (2001; auf Deutsch 2003 Hitler und der Holocaust).

4) Theorien und Analysen des Antisemitismus und Antizionismus. Antisemitism: The Longest Hatred (1991); ebenso in Hitler and the Holocaust und in A Lethal Obsession. Anti-Semitism from Antiquity to the Global Jihad (2010).

5) Muslimischer Antisemitismus. Diesen betrachtete Wistrich zunächst in Hitler’s Apocalypse (siehe [3]), sodann in der Broschüre Muslim Antisemitism. A Clear and Present Danger (2002,) sowie in weiten Teilen von A Lethal Obsession (2010), das neben (4) und (5) auch die anderen analytischen Kategorien behandelt.

 

Wer Wistrichs Bücher, Artikel und Broschüren liest, Interviews von ihm hörte, mit ihm diskutierte oder seine Vorträge live erlebte, bemerkte sofort: Inmitten einer geschwätzigen, sich am liebsten selbst bespiegelnden und innerhalb der eigenen Schulrichtung untereinander sich zitierenden Forscherwelt sprach hier jemand, der etwas zu sagen hat, der seine Analysen öffentlich diskutiert wissen wollte und sich nicht im Elfenbeinturm versteckte. Seine Bücher haben eine Geschichte.

 

Wistrich forschte und publizierte nicht, um eine lange Publikationsliste vorweisen zu können, wie es heute nicht selten mit Indifferenz zum Sujet der Fall ist. Seine Vorworte zu vielen seiner Studien zeugen von einer persönlichen Beziehung zu der jeweiligen Forschung. Sein Werk über die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs, die Geschichte der Juden im Habsburgerreich (dem ältesten europäischen Herrschaftsverbund, der von Ende des 13. Jh. bis 1918 währte), hat viel mit seiner Herkunft zu tun. Er widmete das Buch seinen vier Großeltern (Salomon und Anna Wistreich sowie Simon und Helena Silbinger), die Bürger von Krakau waren, das damals zur österreichisch-ungar­ischen Monarchie gehörte. Bereits 1969/70 fing er an, sich als Student an der Hebräischen Universität Jerusalem Wien und dem Fin de Siècle zu widmen – ein Projekt, das knapp 20 Jahre später in die genannte Studie mündete. Viel machte Wistrich an Personen fest, etwa an Sigmund Freud oder Arthur Schnitzler, Karl Kraus oder dem Rabbiner, Politiker und Autor Joseph Bloch.

 

Prof. Dr. Robert S. Wistrichs Zimmer als Direktor des Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism (SICSA)

Prof. Dr. Robert S. Wistrichs Zimmer als Direktor des Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism (SICSA)

Friedrich Nietzsche war für viele Zionisten um 1900 Inspiration für einen jüdischen Aufbruch, eine lebensfreudige, ästhetische, kraftvolle Kritik am herrschenden geistigen Stillstand des christlichen Europa mit seinem immer stärker werdenden Antisemitismus, gerade in Österreich-Ungarn und Deutschland, aber auch in Frankreich. Nietzsche war eine Provokation für Deutschtümler, Christen und Antisemiten. Wistrich zeigte, wie Nietzsche gegen den Antisemitismus im 19. Jahrhundert kämpfte und sich von seiner Schwester und von Richard Wagner geradezu angewidert abwandte. Ebenso analysierte Wistrich in Laboratory for World Destruction, wie manche Texte oder Phrasen Nietzsches wie der „Übermensch“ von Rechten und dem Nationalsozialismus in deren völkische Richtung uminter­pretiert werden konnten, was gleichwohl einer kompletten Verkehrung gleichkam. Tatsächlich hatte Nietzsche eher einen jüdischen „Supermann“ (so Wistrich) und vor allem eine „Entdeutschung“ im Blick als ein teutonisches Monster, was auch die Faszination der Zionisten und anderer Intellektueller, Außenseiter und Gesellschaftskritiker um 1900 und später erklärt. Wistrich geht auf die Analyse der Bibel aus der Feder des eher projüdischen Philosophen ein. Nietzsche machte sich über Christen lustig und feierte das Judentum, ohne ein plumper ‚Philosemit‘ zu sein – dafür waren sein Sarkasmus, seine Kritik und seine Umwertung der allzu deutschen Werte, die sich als Vorbild die Bosheit Heinrich Heines nahmen, viel zu stark, Leib gewordenes „Dynamit“. Nietzsche trennt in Die Genealogie der Moral zwischen Altem und Neuem Testament: „Das Alte Testament – ja, das ist ganz etwas anderes: alle Achtung vor dem Alten Testament! In ihm finde ich große Menschen, eine heroische Landschaft und etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivität des starken Herzens.

 

Robert Solomon Wistrich war nicht nur ein Historiker europäischer Geschichte. Insbesondere die intellektuellen Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert, häufig an herausragenden Protagonisten festgemacht, waren wesentliches Element seiner Forschungen. Interessant ist, wie er Geschichte mit heutiger Politik politisch-philosophisch in Beziehung setzte beziehungsweise heutige Phänomene kontextualisierte; so z. B., wenn er in Lethal Obsession den iranischen Revolutionsführer Ayatollah Khomeini und das iranische Prinzip des wali al-faqih, das dem oberster Herrscher die Exekutive, Judikative und die Legislative unterordnet, erwähnte und dieses Prinzip zu einer „dynamischen, schiitischen Version des platonischen Philosophenkönigs“ erklärte.

 

Wisstrich kannte sich in den Werken von Franz Mehring, Karl Marx, Karl Kautsky, Rosa Luxemburg, Theodor Herzl und Victor Adler so gut aus wie in der gegenwärtigen islamistischen Literatur und Publizistik aus Iran, Ägypten, den Golfstaaten, Syrien und dem Irak sowie der Palästinensischen Autonomiebehörde. Er war ein Aufklärer und weiß doch um die Dialektik der Aufklärung. Voltaire war nicht nur eine wichtige Figur der Aufklärung im 18. Jahrhundert, er war auch ein „rabiater Judenfeind“ mit großer Ausstrahlung nicht nur auf den französischen Antisemitismus (z. B. den Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon). Wistrich wusste um die Bedeutung von Bildung in der heutigen Zeit, doch ebenso war ihm vor dem Hintergrund der Geschichte des westlichen Antisemitismus und des Anteils der Gebildeten und Eliten daran seit dem Mittelalter bis in unsere modernen und postmodernen Zeiten bewusst: „Es ist nicht genug“, wie er 2009 auf einem Vortrag in Kanada sagte. Wer sich die Forschungstendenzen an Universitäten anschaut und sieht, dass gerade von den vorgeblich gebildetsten Kreisen Antisemitismus und Islamismus trivialisiert, vernebelt, wenn nicht massiv gefördert werden, merkt, wie naiv bloße Appelle wie „mehr Bildung für alle“ oder „Migranten in Deutschland brauchen mehr Bildung“ sein können.

 

Wistrich promovierte mit der oben genannten Arbeit Socialism and the Jews – eine über 700 Druckseiten dicke Arbeit, die auf der „Shiva“, der siebentägigen Trauerzeit im Hause des Verstorbenen, gemeinsam mit allen anderen Werken aus seiner Feder gezeigt wurde, was wie ein roter Faden in seinem Leben ist: die Geschichte der Linken und die der Juden.

 

Sein Vater, Jacob Wistreich, war kurzzeitig Mitglied der linken zionistischen Gruppe Hashomer Hatzair, wurde aber bald darauf durch eine Zwangsumsiedlung unter Stalin 1940 seiner Träume von einem „sozialistischen Paradies“ beraubt, wie Wistrich schreibt. Doch viel wichtiger: So überlebte der Vater den Holocaust; das Gleiche gilt für Sabina, Robert Wistrichs Mutter, der er mehrere seiner Bücher widmete. Fast die Hälfte seiner Familie hat Wistrich in der Shoah verloren.

 

Die Geschichte der Juden in Europa war für Robert S. Wistrich also sowohl biografisch als auch wissenschaftlich von herausragendem Interesse. Er wuchs in England auf, sprach aber zuerst Polnisch und Französisch, ebenso lernte er Englisch, Deutsch und Hebräisch; zudem konnte er Jiddisch, Russisch, Ukrainisch, Tschechisch, Italienisch, Spanisch, Lateinisch, Niederländisch und Arabisch.

 

Wistrich kannte eine ungeheure Anzahl von Dokumenten, gedruckten wie ungedruckten, und war in vielen wichtigen historischen Archiven von Paris bis New York, Jerusalem, Tel Aviv, Washington D. C., London, Rom und Wien unterwegs, um nur einige Orte zu nennen. Er hatte die Gabe, sich in die Details zu vertiefen und dabei das Ganze der Gesellschaft nicht aus den Augen zu verlieren und auf den Begriff zu bringen. So zitierte er zum Beispiel aus einem Brief des Wiener Komponisten Arnold Schönberg an den Maler Wassily Kandinsky vom April 1923, in dem der ansteigende Antisemitismus am Beispiel der „Bauhaus-Architektur-Schule“ in Deutschland thematisiert wird und Schönberg resigniert feststellt, dass er als Jude sich aus der Menschheit fast schon ausgeschlossen vorkommt, so aggressiv war schon seinerzeit das antisemitische Klima. Das bettete Wistrich in die Geschichte des Antisemitismus bis zum Holocaust ein, ausgehend vom Habsburger Reich, von Multiethnizität und Moderne hin zu Deutschtum, Nationalismus, Karl Lueger und Hitler.

 

2010 publizierte Wistrich im New Yorker Verlag Random House die derzeit umfangreichste und bedeutendste Monografie über die Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus: A Lethal Obsession: Anti-Semitism from Antiquity to the Global Jihad (Eine tödliche Obsession: Antisemitismus von der Antike bis zum weltweiten Jihad). In diesem quellengesättigten, über 1.100 Seiten zählenden Werk stellt er in fünfundzwanzig Kapiteln umfassend die Geschichte des Antisemitismus dar – mit einem klaren Schwerpunkt auf dem zwanzigsten und vor allem einundzwanzigsten Jahrhundert. Es ist ein wissenschaftliches Standardwerk der Antisemitismusforschung und zugleich ein eminent politisches Buch, eine Einmischung, kein esoterisches Kleinklein für Oberstudienräte oder habilitierte Karrieristen.

 

Man sah es dem Verfasser durchaus schon an: Rollkragenpullover und Jackett sind nicht nur Insignien kritischer philosophischer Kreise der 1960er-Jahre und später. Wer wie Wistrich nicht selten öffentlich so auftrat, so auch bei seinem letzten großen Auftritt am 14. Mai 2015 in Jerusalem, gibt damit auch ein Statement ab. Man ist versucht zu sagen: Etikette ist etwas für „wannabees“, Intellektuelle haben das nicht nötig. Oder einfacher gesagt (mit Hegel im Hinterkopf): Inhalt schlägt Form. Der ruhige und sachliche, aber persönliche, engagierte Ton sowie seine historischen und philosophischen Anspielungen waren ungemein inspirierend. Wistrich betonte mitunter, wer ihn zu seinen vielfältigen Studien animiert hatte, zum Beispiel Simon Wiesenthal, der ihn Mitte der 1980er-Jahre bat, doch die Beziehung von Antizionismus und Antisemitismus zu untersuchen. Dieses Thema avancierte zu einem Schwerpunkt der Forschungen Wistrichs und mündete in die bereits erwähnte Analyse in Buchform und die TV-Serie Antisemitism: The Longest Hatred.

20 Jahre später, gleich zu Beginn des Buches Lethal Obsession, strich Wistrich heraus, dass der Antisemitismus seit dem Ende des Nationalsozialismus keine solche „Hochzeit“ („heyday“) mehr erlebt habe wie heute im Nahen Osten. Der Antisemitismus ist aus Deutschland in den Nahen Osten gewandert, ohne bloß exportiert worden zu sein. Wer bei Sinnen ist, kann weder die ungeheuerliche Quantität noch die gefährliche neue Qualität des muslimischen Antisemitismus ignorieren.

Wistrich war auch ein Kritiker mancher Erklärungen über den Holocaust (in seinem Buch Hitler and the Holocaust) und der These, die Moderne, Bevölkerungspolitik oder eine „Ökonomie der Endlösung“ und nicht ideologischer Hass und Antisemitismus seien für die Shoah verantwortlich gewesen. Hitler und der Nationalsozialismus insgesamt hatten eine „millenaristische, apokalyptische Ideologie der Vernichtung“, in deren Zentrum der „Antisemitismus“ stand, wie Wistrich hervorhebt. Wie bei seinen heutigen Analysen des islamischen Antisemitismus wendet sich der Historiker bei der Analyse des Holocaust gegen Rationalisierungen und ein Verstehenwollen von antisemitischer Agitation und Aktion, wo sich doch irrationaler Hass jenseits der Vernunft oder ökonomischer Logik befindet. Es gibt keine „Logik der Modernisierung“ in der Tatsache, dass die Deutschen 2.200 Juden von der griechischen Insel Rhodos nach Auschwitz deportierten, wie er schreibt.

 

Die herkömmliche Forschung ignoriert und derealisiert die internationalen Diskussionen über Antisemitismus in den letzten zehn Jahren. Sie will nichts von der Resignation der Juden in den Niederlanden wissen, von der der israelische Forscher und Holocaustüberlebende Manfred Gerstenfeld berichtet, wo viele Juden keine Zukunft mehr für sich in einem zunehmend von aggressiven Muslimen beziehungsweise Islamisten bestimmten Land sehen. Ähnlich sieht es in Schweden aus. Und Juden in Deutschland trauen sich kaum, offen mit Magen-David-Halskette durch die Straßen zu laufen, vor jeder Synagoge und jedem jüdischen Kindergarten stehen schwer bewaffnete Polizisten, um Juden vor antisemitischen Angriffen zu schützen. Ein Blick ins Internet zeigt einen teils unfassbar brutalen und vulgären Antisemitismus. Auch Robert Wistrich sprach in den letzten Jahren zunehmend pessimistischer über die Zukunft der Juden in Europa.

Die europäischen und deutschen Wirklichkeiten im virtuellen Raum, aber ebenso in Redaktionsstuben, auf den Straßen, in Forschungskolloquien, beim Einkaufen, auf Demonstrationen etc. sind vor allem seit dem Jahr 2000 und dann nach 9/11 von einem enormen Antisemitismus bestimmt. Die meisten Forscher wollen ihn nicht erkennen, weil er meistens nicht im Neonazi-Style daherkommt, sondern sich als „Israelkritik“ versteckt und aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Der einstimmige Bundestagsbeschluss am 1. Juli 2010 bezüglich der sog. Gaza-Flottille ist ein Beleg für die zunehmende Israelfeindschaft selbst in einem Land, das sich als Freund des jüdischen Staates geriert. Und dann kam der antisemitische Sommer 2014 mit den brutalsten, massivsten und größten antijüdischen Aufmärschen in ganz Europa seit Jahrzehnten.

 

Im November 2011 erschien der erste „Antisemitismusbericht“ der Deutschen Bundesregierung („Antisemitismus in Deutschland. Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze“), verfasst von einem „unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus“, der sich aus zehn teils erfahrenen Forschern zusammensetzte. Darin wurden nicht nur die deutsch-iranischen Beziehungen außen vor gelassen und eine Analyse und Kritik des Islamfaschismus (in seiner historischen wie gegenwärtigen Version) verweigert. Auch die meisten der international bedeutenden Forscher zu muslimischem Antisemitismus wurden bewusst ignoriert. Während manche (Antisemitismus-)Forscher mit englischen Texten durchaus rezipiert wurden, ignorierte der Bericht z.B. alle Bücher und Artikel von Robert S. Wistrich, obwohl seine Texte sogar auf Deutsch vorliegen. Solche Ignoranz entspräche einer Studie über Die Geschichte der Physik in den Jahren 1900 bis 1925, die Albert Einstein noch nicht einmal erwähnte.

 

Würden die meisten deutschen (Antisemitismus-)Forscher/innen die Diskussionen in den jüdischen Gemeinschaften, z. B. in Europa, Israel und den USA kennen, wären sie über die dortigen Ängste in den letzten zehn Jahren informiert und würden nicht Texte publizieren, die z. B. in Anlehnung an Umfrageerbnisse ernsthaft behaupten, 47 % der Linken seien zwar „antiisraelisch“, aber nur 3 % davon antisemitisch. Als ob die Ablehnung des jüdischen Staates Israel nicht einen Kern des heutigen Antisemitismus ausmachte. Wer gegen (einen jüdischen Staat) Israel ist, ist heutzutage natürlich ein Antisemit, da Israel der Staat der Juden ist.

 

Die Situation in Europa und Deutschland ist dramatisch und die Forschung versagt in weiten Teilen. Antisemitismus ist unschwer erkennbar, wenn man denn nur luzide untersucht und nicht nur auf der Oberfläche surft. Eine Analyse der Medien ist von großer Bedeutung.

Ein Witz, den Robert S. Wistrich bei der offiziellen Präsentation seines Meisterwerkes A Lethal Obsession am 5. Januar 2010 im Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington D. C. im Beisein des bekannten Historikers Jeffrey Herf erzählte, mag verdeutlichen, wie Antisemitismus heute in Europa häufig funktioniert. Der Witz geht so: Steht ein kleines Mädchen verlassen in der Flughafenhalle in Paris und wird von einem aggressiven Hund, einem Pitbull, attackiert. Reaktionsschnell erschießt ein zufällig vorbeikommender Mann den Hund und rettet das Mädchen. Natürlich kommen sofort viele Journalisten, machen Bilder, loben den Helden und sagen zu ihm: „Morgen werden wir in den Pariser Zeitungen mit der Schlagzeile ‚Pariser rettet Mädchen vor dem Angriff eines Hundes‘ aufmachen.“ Daraufhin der Mann: „Aber ich bin gar nicht aus Paris.“ „Okay, dann schreiben wir ‚Franzose rettet Mädchen vor dem Angriff eines Hundes‘.“ „Aber ich bin auch kein Franzose.“ „Na gut, dann schreiben wir ‚Europäer rettet Mädchen‘.“ „Aber ich bin auch kein Europäer. Ich komme aus Israel.“ Darauf dann die Journalisten unisono: „Ah, okay. Dann bringen wir morgen die Headline: ‚Israeli tötet den Hund eines Mädchens‘.“

Seit Mitte der 1980er-Jahre betonte Wistrich (wie in seinem Buch Hitler’s Apocalypse von 1985), dass der muslimische Antisemitismus eine große Gefahr ist. Dies ist empirisch nachvollziehbar und zeigt, dass in Israel und den USA dieser Sachverhalt schon weitaus früher erkannt wurde, während sich in Deutschland bis heute der allergrößte Teil der universitären Forschung und der Mainstream der Politik, des Journalismus und der politischen Aktivisten weigern, dies auch nur zu thematisieren. Wistrich war als Forscher und Stipendiat bereits in den frühen 1970er-Jahren in der Bundesrepublik und hat sich seitdem intensiv und kontinuierlich mit den Diskussionen um Antisemitismus in Deutschland beschäftigt. In Lethal Obsession bezog er sich sowohl auf die Kritik von Henryk M. Broder am linken Antizionismus in der Bundesrepublik der 1970er- und 1980er-Jahre als auch auf die Kritik am Islamismus, am Wegschauen, Duckmäusern und Plädieren für den unhinterfragten Dialog, die Broder in seinem Buch Hurra, wir kapitulieren (2006) formulierte.

Im Herbst 2014 fragte mich Robert, ob ich nicht eine Chance sehen würde, sein Buch „Der antisemitische Wahn“ von 1987 (das war die deutsche Ausgabe von „Hitler’s Apocalypse“) neu herauszugeben. Er sähe darin viele Aspekte des heutigen Antisemitismus antizipiert und wolle das Buch mit einem aktuellen Vorwort im Jahr 2015 publizieren. Natürlich sagte ich zu, das Buch herauszugeben. Bei dem oben erwähnten Treffen bei SICSA, exakt eine Woche vor seinem Tod in Rom, gab mir Robert einen Ausdruck seiner ganz frisch geschriebenen Einleitung zu diesem Band. Diese Einleitung ist ein Rückblick auf seine Forschung sowie die politischen Entwicklungen des Antisemitismus in den letzten 30 Jahren. Der Text wird im Sommer 2015 als Teil der Neuausgabe von „Der antisemitische Wahn“ in deutscher Sprache erscheinen. Robert S. Wistrichs Einleitung kann nun geradezu als eine Art wissenschaftliches und politisches Testament gelesen werden, da es einer der letzten längeren Texte ist, die er unmittelbar vor seinem Tod geschrieben hat und der ganz grundsätzlich zusammenfasst, was er unter Antisemitismusforschung verstand.

 

Es war immer eine solche Freude mit ihm – wem sonst? – über die merkwürdigen Forschungen vieler unserer Kolleg/innen zu sprechen. Seine Zustimmung wie Kritik war über viele Jahre hinweg Inspiration und von einer unbeschreiblichen Motivation geprägt. Er hatte viele Probleme mit der Mainstreamforschung, die dem Gerede oder esoterischen Kleinklein noch immer der Kritik und luziden Analyse Vorzug gab und gibt. Robert wusste das und spürte es schmerzlich. Er ließe sich mitunter auch zu Vorträgen einladen von Leuten, die er wissenschaftlich teils sehr problematisch empfand (oder zu empfinden lernte), wie er mir einmal sagte.

 

Der Kern seiner zahlreichen öffentlichen Auftritte ist folgender: Wie kein anderer verstand er es, wie zum Beispiel auf der großen Abschiedskonferenz als Professor der Hebräischen Universität im Frühsommer 2014 in Jerusalem, „to step back“, einen Schritt zurück zu gehen und sich das große Bild anzuschauen. Er hatte den Überblick und zeigte die großen Linien auf. Selten wurde das postmoderne Geschwätz vom Ende der großen Ideen und der Foucaultianismus so sehr der Unwahrheit geziehen wie in Reden und Texten von Robert Wistrich.

 

Wenn die Stadt Jerusalem „Body and Soul“ meint, wie ein Dokumentarfilm von Gloria Greenfield heißt, bei dem Robert Wistrich eine wichtige Rolle spielt, somit die städtische Verkörperung der Verbindung von Juden zum Land Israel, dann war Robert Wistrich die intellektuelle Verkörperung jüdischer Geschichte und des Zionismus.

 

Diese Geschichte des jüdischen „Empowerment“ ist es, die so zentral war für das Werk von Robert S. Wistrich. Die ruhige Art, in der er sprach, das Blicken, ob das Ungeheuerliche, das er analysierte, überhaupt als solches erkannt würde, war so faszinierend und mitreißend, ja intellektuell inspirierend. Robert wurde die letzten Jahre religiöser, wie seine Witwe Daniela in ihrer Rede erwähnte, was gleichwohl in Kontrast oder einem dialektischen Verhältnis stand zu seiner gleichsam jugendlichen Freude, mit uns im Herbst 2014 in Berlin eine ganz unkoschere Wurst mit Pommes zu essen und es im Sonnenlicht zu genießen. Seine Ironie war köstlich, auch wenn er sich auf Bildern als der fünfte Beatle hineinphotoshopte, wie man heute sagen würde.

 

Es war bewegend, wie Daniela mir auf der Shiva das Arbeitszimmer von Robert zeigte und auch private Fotografien aus seinem und zu weiten Teilen ihrem Leben.

 

Robert sprach immer wieder mal von sich als „Marathon-Man“, was Susanne Wein und ich nach fünf- oder sechsstündigen Gesprächen wie in Berlin oder New Haven (CT, USA) erleben konnten, er blühte nach stundenlangen Diskussionen noch mehr auf. Robert besaß ein sagenhaftes Erinnerungsvermögen, von Episoden aus dem Leben von Hannah Arendt – die er nicht wirklich schätzte – über den Zionisten Ben Halpern – der mal sein Nachbar war – reichte die Palette der Beziehungen.

Als Historiker des linken Umgangs mit Juden bzw. des linken Antisemitismus und der Geschichte der Juden in Europa kam Wistrich schon Mitte der 1980er Jahre zum Thema des Islamismus oder des antijüdischen und antiwestlichen Jihad. Die eminente Bedeutung seiner Analyse zumal des muslimischen Antisemitismus zeigt sich vor dem Hintergrund der üblichen Abwehrmaßnahmen innerhalb der Geschichtswissenschaft, Soziologie, Politologie, Islam- und Nahostforschung, Literaturwissenschaft, Amerikanistik und Arabistik, Irankunde und Antisemitismusforschung. Dort schwelgen viele Forscherinnen und Forscher lieber in postkolonialer und postorientalistischer Theorie und schüren antiwestliche Ressentiments, statt sich mit der Realität des mörderischen, weltweit agierenden Jihad und islamischen Antisemitismus zu befassen und Kritik zu üben.

 

In seiner deutschen Ausgabe Muslimischer Antisemitismus, zu der er mich und den Verlag Edition Critic 2011 angeregt hat, nachdem das American Jewish Committee (AJC) in Berlin sich Jahre zuvor geweigert hatte, eine Übersetzung der ursprünglich 2002 auf Englisch in USA vom dortigen AJC publizierten Broschüre anzugehen, ging Robert S. Wistrich auf die gesamte Geschichte der islamischen Judenfeindschaft seit Mohammeds Zeiten ein. Selbstredend wurden viele Aspekte nur angeschnitten, da ein knapper Text nicht über 1400 Jahre Geschichte in allen Details berücksichtigen kann. Der Schwerpunkt lag auf der Analyse des islamischen Antisemitismus seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Tagesaktuell, wenige Monate nach dem islamistisch motivierten Massenmord vom 11. September 2001 geschrieben, besitzt die Studie bis heute eine enorme Aktualität.

Entgegen stolzdeutschen Aktivisten und Publizisten, die den Islam ablehnen, aber das Hohelied der „christlich-jüdischen Wertegemeinschaft“ singen, legt Wistrich Wert darauf zu betonen, dass es im Mittelalter den Juden (als Dhimmi) unter der Herrschaft des Islam besser ging als unter dem Christentum. Ohne den christlichen Antijudaismus und Antisemitismus wäre es nicht zum deutschen Antisemitismus und zum Holocaust gekommen. Dies blenden jene, die jetzt gegen Muslime agitieren, gerne aus. Wistrich analysiert und kritisiert hingegen die enge Verwandtschaft von christlichem und islamischem Antisemitismus, wie sie auch von heutigen arabischen oder/und muslimischen Führern Christen gegenüber betont wird, um ihnen zu schmeicheln. Wistrich untersucht die historische Beziehung des Großmuftis zu den Deutschen, von Nationalsozialismus und Islamismus ebenso, wie er die heutige Gefahr eines „Islamfaschismus“ herausstellt.

 

Wistrich untersucht in Lethal Obsession eine Besonderheit des Islamismus aus Teheran: Khomeini von 1979 bis 1989, sein Nachfolger Khamenei und dann Präsident Ahmadinejad und das heutige Regime sahen und sehen sich als Anwälte der Unterdrückten und Armen der Welt. Das schiitische islamistische Regime in Iran möchte weiterhin weltweit Bündnisse mit „antiimperialistischen Kräften“ gegen Amerika, den Westen und Israel schließen. Es gibt auch eine kaum überraschende Hinwendung mancher iranischer Denker und Philosophen zum antiwestlichen Nazivordenker Martin Heidegger, wie Wistrich in Lethal Obsession bemerkt.

 

Wistrich zitierte in Lethal Obsession viele antisemitische Reden und Äußerungen Ahmadinejads, der exemplarisch für das Regime steht, dessen „Präsident“ er war, die zur Vernichtung Israels und zur Vertreibung der Juden aus dem Heiligen Land aufrufen. Sowenig Hitlers Drohung vom 30. Januar 1939, ein kommender Weltkrieg werde die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ bringen, eine leere Drohung war, sowenig sind die Drohungen der iranischen Führung „leere Drohungen“, wie Wistrich betont.

 

Deutscher und europäischer Antisemitismus beein­fluss(t)en jenen im Nahen Osten und umgekehrt, auch dank moderner Kommunikationstechnologie und Migrationsbewegungen, in beide Richtungen. 1985 in Hitler’s Apocalypse untersuchte Wistrich die Beziehung von alten Nazis und arabischen Antisemiten. Viele Deutsche gingen nach Ägypten und wurden dort freudig empfangen, sie waren ja „Experten“ für Antisemitismus, wie „der notorische Antisemit Johann von Leers“, der „ex-SS-Offizier Leopold Gleim“ oder ein anderer „ex-Nazi, Louis Heiden“.

 

Für Wistrich war die Antisemitismusforschung jenseits wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Moden von enormer Bedeutung. Die Kontinuität, mit der er sich als Wissenschaftler mit den unterschiedlichsten Facetten des Judenhasses befasste, war herausragend und ohne Vergleich. Während seit einiger Zeit Forschungsfelder wie „vergleichende Genozidforschung“, „Rassismus und Vorurteilsforschung“ oder gar „Islamophobie“ im Trend liegen und doch nur heutigen Antisemitismus und den präzedenzlosen Holocaust relativieren, war die kritische Antisemitismusforschung von Wistrich darauf bedacht, die Spezifik des Antisemitismus, dieses „längsten Hasses“, zu untersuchen.

 

In jenem letzten Vortrag am 14. Mai 2015 betonte Robert Wistrich auch die enorme Gefahr die darin liege, dass es geradezu zu einer Heilsideologie geworden sei, die Lösung des arabisch-israelischen Konflikts für den gesamten Nahen Osten bzw. die ganze Welt als Symbol des Friedens zu sehen. Er nannte das „Palästinianismus“, also die Fokussierung auf diesen einen Konflikt. Seine Analyse der tödlichen Obsession, die der Antisemitismus seit tausenden von Jahren darstellt, verdeutlicht, wie wichtig es ist, zuallererst den Judenhass zu analysieren und sich von der naiven (und antizionistischen) Vorstellung einer Welt ohne Antisemitismus abzuwenden. Sicher darf man träumen, aber Juden haben die unsagbar schmerzhafte Erfahrung gemacht, die man „Realität“ nennt. Es ginge nicht um die legitimen Rechte der Palästinenser, sondern um eine geradezu Erlösungshoffnung, die viele, allzu viele weltweit mit dem Begriff „Palästina“ verbinden würden – und sehr viele würden dazu noch ein Land meinen vom Jordan bis zum Meer und nicht einen friedlichen und vielleicht gar demokratischen Staat Palästina neben dem jüdischen Staat Israel.

 

Die Antisemitismusforschung wird nach dem Tode von Robert S. Wistrich eine andere sein, sein Tod ist ein epochaler Bruch. Das betonte nicht nur die langjährige Mitarbeiterin am Vidal Sassoon Center Martina Weisz am Tag der Beerdigung an der Hebräischen Universität in privatem Rahmen.

 

Mit Robert Wistrich verlieren die Antisemitismusforschung und die public intellectuals für Zion einen einzigartigen Leuchtturm und einen Ideengeber. Es wird keine inspirierenden Momente mehr geben, die die öffentlichen wie privaten Auftritte von Robert Solomon Wistrich prägten. Vielleicht sind es auch die Blicke und das Lächeln, die am meisten fehlen werden, da darin soviel Reflexion und Kritik wie intellektueller Charme sich Ausdruck verschaffte.

 

Wie Manfred Gerstenfeld in einem Nachruf betonte, wird das Erbe von Robert weiterleben, große Intellektuelle haben eine ungeheure Nach-Wirkung. Bei Robert ist es die bleibende Inspiration für jene, die den Kampf, wenn auch nicht mit dieser Energie und unsagbaren Power, gegen den Antisemitismus und für Zion mitfochten und in seinem Sinne weiter kämpfen bzw. es zumindest versuchen werden.

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Bekanntmachung des Todes von Prof. Robert S. Wistrich an seiner Haustüre in Jerusalem

 

May your memory be a blessing, dear Robert Solomon Wistrich, z‘‘l.

 

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Was erlauben LizasWelt? Über die Notwendigkeit einer Selbstkritik der Pro-Israel-Szene

Giovanni Trapattoni, der am 10. März 1998 die bis heute vielleicht bekannteste Rede eines Fußball-Bundesligatrainers gehalten hat, ist mit Israel nicht unbedingt in Verbindung zu bringen. Doch als Trainer war er seinerzeit aufgebracht ob der Leistung von und den Diskussionen über seine Mannschaft und ihn.

Und nun geht es hier und heute um eine Kritik und Selbstkritik der sog. Pro-Israel-Szene. Netanyahu hat zuviel Schaden angerichtet, als dass man da einfach so drüber hinweg gehen könnte, mit einer Handbewegung, die den Tisch leerräumte von halbleeren Flaschen.

 

Was ist passiert? Angesichts einer massiven und offenkundigen Wechselstimmung in Israel zog Netanyahu in den letzten Tagen vor der Wahl und am Wahltag selbst, Dienstag, den 17. März 2015, alle Register und agitierte massiv gegen alle Linken, das Zionistische Lager – und die israelischen Araber. In Videoclips seines Likud konnte man IS-Jihadisten auf einem Pick-Up-Truck sehen, die einen Israeli in einem Wagen nach dem Weg nach Jerusalem fragen; „links abbiegen“ ist die Antwort, sprich: wer links wählt, unterstützt den antisemitischen und islamistischen blutrünstigen Jihad.

 

Dann sagte Netanyahu, eine Zweistaatenlösung sei nicht mehr möglich, sie stelle keine Perspektive mehr dar – um diese Aussage in amerikanischen Medien kurz nach der Wahl wieder zu dementieren (es geht gar nicht um die exakte Wortwahl, es geht um die Message – und die kam unzweideutig weltweit so an). Somit hat er sein Ansehen endgültig beschädigt. Wer nimmt ihn jetzt noch ernst?

Doch die übelste Aktion Netanyahus, war der Aufruf an seine Unterstützer, wählen zu gehen, da „die Araber in Massen“ zu den Wahlurnen gekarrt werden würden. Wohlgemerkt geht es hier um israelische Staatsbürger, die wählen dürfen und sollen, das Ziel der Demokratie ist ja gerade, eine möglichst hohe Wahlbeteiligung zu erreichen. Der rassistische Tonfall ist schockierend gewesen, selbst für einen israelischen Wahlkampf. Die späteren Entschuldigungen Netanyahus bei der arabisch-israelischen Bevölkerung kommen zu spät und wer will auch die noch ernst nehmen? Gerade die umgehenden Dementi nach der Wahl führten zu Kopfschütteln und Abwinken aus dem Weißen Haus. Man muss definitiv kein Fan von Obama sein, dessen Nahostpolitik und Iranpolitik unfassbar gefährlich und von Unkenntnis geprägt sind, um diese Aktionen von Netanyahu als willkommene Delegitimierung des jüdischen Staates von Seiten Obamas zu erkennen. Dazu kommt das ohnehin seit langem äußerst angespannte Verhältnis zum Weißen Haus und zu US-Präsident Obama, den Netanyahu polemisch als „Hussein Obama“ bezeichnete.

Von all dem ist in einem Blog auf LizasWelt, der stellvertretend für weite Teile der hiesigen Pro-Israel-Szene stehen mag, nicht die Rede. Dafür werden Texte wie in SpiegelOnline diffamiert, die angeblich gegen Israel gerichtet seien. Doch ein Blick gleich in den ersten auf dem Blog verlinkten Text zeigt eine zwar parteiische, aber pro-israelische Positionierung, ja paradoxerweise stellt sich die Autorin hinter das zionistische Lager. Und das soll ein Beispiel für den Antizionismus der deutschen Mainstream-Medien sein? Da lachen doch die Rebhühner.

An deutschem Antizionismus fehlt es ja nun wahrlich nicht. Aber Texte zur Wahl in Israel, die eben gerade nicht in typisch antizionistischer Manier lamentieren, dass Israels Problem die Existenz an sich sei, dass 1948 das Problem sei und nicht 1967, als antiisraelisch oder gaga zu denunzieren, schlägt einfach ins Leere. Diesmal gibt es doch einen himmelweiten Unterschied zwischen der antiisraelischen Tonlage eines Michael Lüders im Fernsehen und diesem Text auf SpiegelOnline.

Mehr noch: es geht um eine Selbstkritik auch des Zionismus, das ist ja gerade die ungemeine Stärke des Zionismus, die Reflektion auf sich selbst. Schon 1987 schrieb der Historiker Robert S. Wistrich in seinem Werk „Der antisemitische Wahn. Von Hitler bis zum heiligen Krieg gegen Israel“:

„Allein, die außerordentlichen Leistungen und Erfolge des Zionismus sind offenkundig teuer erkauft. In zunehmendem Maße den immensen inneren und äußeren Konflikten und Pressionen ausgesetzt, hat die israelische Gesellschaft einen Gutteil jener außerordentlichen moralischen und geistigen Tugenden geopfert, die die Juden sich im Laufe ihres langen Marsches durch die Diaspora bewahrt hatten. Ihr demokratischer Geist ist offensichtlich alles andere als immun gegen die Gefahren eines rechten Ultranationalismus, wie er auch in anderen Teilen der Welt mit praktisch identischen Begründungen gepflegt wird; ebensowenig ist sie immun gegen die Versuchung, Hexenjagden gegen den vermeintlichen ‚inneren Feind‘ zu veranstalten und die eigenen handfesten nationalen Interessen zu einer vom Schicksal vorgegebenen Bestimmung zu verklären. Man muß zugeben, daß die Gefahr besteht, daß bei einer weiteren Zunahme der isolationistischen und antiarabischen Tendenzen in der israelischen Gesellschaft jene von den Feinden Israels gezeichneten Zerrbilder des Zionismus zu einer alptraumhaften Realität werden könnten; es gilt daher, diese Tendenzen beizeiten zu bekämpfen.“

In diesem Zitat kann man die ganze zionistische Selbstreflektion hineinlesen, die Kenntnis ob Moses Mendelssohns jüdischer Aufklärung, die die Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70CE gerade feierte, da sie die jüdische Diaspora begründete, Judentum, staatliche Macht und Herrschaft gegeneinander stellte, Religion versus jüdische Nation als politisches Gemeinwesen. Die emeritierte Harvard-Professorin für Jiddisch und Vergleichende Literaturwissenschaft Ruth Wisse zeichnet diese Linien des (deutsch-jüdischen) Antizionismus avant la lettre und den zionistischen Aufbruch in ihrem Buch „Jews and Power“ (2007) nach. In dem Zitat von Wistrich kann man wie bei Wisse vor allem den selbstbewussten Anspruch des Zionismus entdecken, sehr wohl einen jüdischen Staat, jüdische Staatsgewalt wieder zu haben, haben zu wollen und damit so aufgeklärt, kritisch und demokratisch wie möglich umzugehen.

Als im Sommer 2014 angesichts von brutalem antisemitischen Terror einiger Palästinenser in der Westbank ebenso einige fanatische Israeli antiarabische Hetze verbreiteten und auf ähnliche Weise mordeten, gab es in Israel durch alle Teile der Gesellschaft einen Aufschrei, doch in der Pro-Israel-Szene in der Bundesrepublik blieb der Schock weitgehend aus, nur wenige wandten sich unmissverständlich gegen den offenkundigen antiarabischen Rassismus in nicht geringen Teilen der israelischen Gesellschaft. Er wird dort bekämpft von der übergroßen Mehrheit, aber er existiert. Doch die „Szene“ versagte weitgehend.

Und auch jetzt angesichts der unerträglichen Hetze (und nicht nur scharfen Kritik) gegen alle Linken, das zionistische Lager und Araber in Israel durch den Likud, das rechte Lager und Netanyahu, ist diese „Szene“ „schwach wie eine Flasche leer“.

Dabei geht es anderswo ganz anders ab: Die letzten Wahlen in Israel führen weltweit zu kontroversen Diskussionen und verlangen nach einer Selbstreflektion der sogenannten Pro-Israel-Szene in der Bundesrepublik. In pro-israelischen, zionistischen Kreisen wie in England oder Amerika, wird vehement über den Wahlkampf Benjamin Netanyahus und seine Methoden diskutiert. Der pro-israelische Journalist Jonathan Freedland schreibt, Netanyahus Wahlkampf sei eine Mischung aus „Kriegsführung und blindem Eifer“ gewesen. Freedland wurde schon 2006 von tatsächlich krassen antiisraelischen Autoren wie Steven Rose als böser Vertreter der „Israel Lobby“ kritisiert, wie der britische Soziologe und antirassistische wie pro-israelische Aktivist und Autor David Hirsh festhielt.

Für den langjährigen Autor des New Yorker, David Remnick, hat Bibi die „rassistische Karte gezogen“, ist Netanyahu kein Richard Nixon, jener konservative, republikanische US-Präsident, der die Öffnung hin zu China bewirkte, trotz oder wegen seines Antikommunismus. Doch Netanyahu könne kein Nixon werden, das hätten die letzten 20 Jahre gezeigt. Auch Remnick möchte einfach eine andere Version von Zionismus als jenen von Bibi, auch dem New Yorker kann man hier keine Agitation gegen Israel vorwerfen. Für Gil Yaron droht Israel ein „diplomatischer Tsunami“, an dem nicht nur der weltweit ohnehin ausreichend vorhanden Hass auf den Judenstaat, vielmehr auch die Politik Netanyahus mit verantwortlich sei.

Andy Friedman illustration of Benjamin Netanyahu in New Yorker March 2015

Andy Friedman illustration of Benjamin Netanyahu in New Yorker March 2015

Der Jewish Daily Forward aus New York schreibt in einem Editorial, wie schwierig es für Juden in USA und anderswo nun werde, „Israels Ideale zu verteidigen, aber nicht die eklige Rhetorik von Netanyahu“? Bibi sei „nicht der König der Juden“.

Soviel zu den internationalen pro-israelischen Stimmen, die äußerst genervt sind von Benjamin Netanyahu und dadurch doch mit keiner Silbe zu Israelgegnern werden, im Gegenteil: sie wollen den Zionismus reaktivieren, wie die Zionist Union um Isaac Herzog, der trotz der Niederlage dem Zentrum und einer „Mitte-Links“-Option eine neue Chance gibt, auch in Zukunft.

Natürlich wird die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Projekte unterstützen, die sich dem Phänomen des „Transnationalismus“ widmen. Viel schlimmer jedoch als ein Projekt, das sich positiv auf einen Staat bezieht, und dann auch noch auf den jüdischen, kann es nicht kommen, davon kann man wohl ausgehen. Die super exzellenzgeclusterten jungdeutschen Akademikerregimenter werden nie im Leben ein Projekt zur Unterstützung des „jüdischen Staates“ auch nur vorschlagen, das wäre ja ethnizistisch und eine Sünde wider die Aufklärung und Immanuel Kant.

Also ist Vorsicht immer geboten, Kritik angesagt. Doch die muss seriös sein, differenziert und nicht einäugig oder blind. Es ist einfach eine Groteske, wenn weite Teile dieser „Szene“ zusammen mit der Tageszeitung die Welt und ihrem Reporter Henryk M. Broder bis heute behaupten am 27. Januar 2015 wie die Jahre zuvor seien am Holocaust-Gedenktag über Auschwitz israelische Kampfflieger geflogen. Dabei sind noch nie an einem 27. Januar solche Flugzeuge dort geflogen, nur einmal an einem Tag im September 2003. Niemand kümmert das und die Welt ändert nicht einmal die Online-Seite wider besseres Wissen. Das nennt man dann wohl neudeutsche Professionalität, die von der Bloggerszene sekundiert wird.

Im Januar 2001 publizierte ich mit einer kleinen autonomen Gruppe eine Broschüre über den linken Antizionismus der Revolutionären Zellen (RZ). Empirisch ging es um Entebbe und die erste antisemitische Selektion von Juden durch Deutsche nach Auschwitz, durchgeführt von Wilfried Böse im Rahmen der bekannten Flugzeugentführung der RZ nach Uganda. Bei der Befreiungsaktion der israelischen Geiseln kam am 4. Juli 1976 Jonathan Netanyahu, der Kommandant der Einheit, ums Leben. Er war der ältere Bruder von Benjamin Netanyahu. Es ist wichtig daran zu erinnern.

Die Kritik an der Regierungspolitik von Benjamin Netanyahu muss möglich sein, wie seine höchst umstrittene Einladungspraxis an Litauen oder Ungarn zu den wohl weltweit größten Konferenzen gegen Antisemitismus, dem Global Forum for Combating Antisemitism. Dort habe ich 2009 wie auch 2013 zusammen mit dem Jiddisch-Experten Dovid Katz aus Litauen, Efraim Zuroff vom Simon Wiesenthal Center auf Jerusalem oder auch dem Labour-Politiker John Mann aus England gegen diese Einladungspraxis protestiert, da gerade Litauen und Ungarn derzeit zu den Ländern gehören, die den Holocaust trivialisieren und die Nazizeit gar glorifizieren als Zeit des antikommunistischen Kampfes während des Zweiten Weltkriegs. Auch das kümmert in dieser „Szene“ so gut wie niemand, dabei verstehen sich viele sehr wohl als Kritiker des Antisemitismus auch jenseits seiner antizionistischen Variante.

Nochmal aus der Rede des italienischen Meistertrainers:

 „Es gibt im Moment in diese Mannschaft, oh, einige Spieler vergessen ihnen Profi was sie sind“ –

viele, allzu viele pro-israelische Blogger (das Pro-Israel Team) in diesem Land haben das seit langem auch vergessen, auch wenn es sich hierbei um Amateure handelt, unbezahlte zumeist. Sie schreiben nicht immer schlecht, aber zunehmend seltener gut oder gar sehr gut, sie vergessen die Reflektion, sie wehren Antisemitismus gekonnt ab, und das ist wichtig; aber sie zeigen keine eleganten Spielzüge mehr und es geht keine Torgefahr von ihnen aus.

Es wäre ein Zeichen von Größe gewesen, und in England oder USA sehen wir das in den dortigen, viel größeren Pro-Israel-Szenen, dass man gerade als Zionist und Israelfreund den Rassismus und die Agitation des Likud oder Netanyahus scharf attackieren kann, und die Sehnsüchte, Ängste und Sorgen der linken, zionistischen Israeli ernst nehmen. Das österreichische Blog juedische.at schreibt:

„Es hat ihm einige Mandate eingefahren. Aber in der Welt, auch bei vielen Likud-Wählern, hat sein Ansehen gelitten.  Aus Bibi sprach da nicht der Geist Seew Jabotinskys. Der Urvater der israelischen Rechte forderte noch einen ständigen arabischen Vize neben dem jüdischen Premier. es sei denn. ein wird Araber Premier. Dann sollte ein Jude Vize sein. Netanjahus erste Umdeutungsversuche erklärten die Veränderung seiner Stellung mit veränderten Umständen. Aber 2009, als er in seiner Bar-Ilan-Rede eine Zwei-Staaten-Lösung zum Ziel machte, gab es schon Iran, Hamas-Raketen und Hisbollah. Wenn sich etwas verändert hat, dann auch die deutlich geschwächte militärische Schlagkraft aller arabischen Nachbarn.  Mit bloßen Beteuerungen, auch nicht im eloquentesten Englisch, kommt Netanjahu aus der Rolle des Kompromissverweigerers und Rassisten nicht mehr raus.“

Es gibt auch viele rechtszionistische oder nationalreligiöse Wähler/innen in Israel, die sich freuen und kein Problem haben mit Netanyahus Agitation. Und auch das kann man kritisieren, ohne mit einem Wort Israel zu denunzieren.

Es ist vielmehr anders herum, wie der Schriftsteller Amos Oz es in einem Kommentar, ja einem Hilfeschrei in der Los Angeles Times vor wenigen Wochen sagte: es geht um alles oder nichts!

Wes Bausmith Los Angeles Times March 7, 2015

Wes Bausmith Los Angeles Times March 7, 2015

Entweder Israel verabschiedet sich unzweideutig von allen „Einstaatenlösungen“ der radikalen Linken (wie Judith Butler und ihrem Fanclub etc.) und der radikalen Rechten (wie Bennett oder Caroline Glick) oder der Traum eines jüdischen Staates ist dahin. Zionismus heißt einen jüdischen Staat mit einer klaren arabischen Minderheit, einer Minderheit die exakt die gleichen Rechte hat, wie Zeev Jabotinsky es Jahre vor der Staatsgründung proklamierte und wie es der britische Politikwissenschaftler, Publizist und Herausgeber der Zeitschrift Fathom Alan Johnson in Erinnerung ruft.

Trapattoni:

„Mussen zeigen jetzt, ich will, Samstag, diese Spieler mussen zeigen mich eh … seine Fans, mussen allein die Spiel gewinnen.“

Die Wahrheit liegt auf den Blogs, nicht nur am Samstag.

Ich habe fertig.

 

 

Ganz Konkret gegen Juden

 

Deutschland ist das wahre Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die meisten Menschen haben zwischen Arbeit, Mann und Frau oder beidem, Hund oder/und Kind, IKEA oder Karstadt, Aldi oder Edeka, Tagesschau oder Heute Journal, Hart aber Herzlich Fair, Maybrit Illner oder Günter Jauch, Musikantenstadl oder Tatort, der vierten Urlaubsplanung im Jahr oder dem Reifenwechsel jedoch keine Zeit sich mit anderem als sich selbst zu beschäftigen.

Andere haben Hartz4, leben isoliert oder werden zu fanatischen Aktivisten aller Art. Manche werden kauzig und sind noch die harmloseren, gar liebenswürdigen, tragischen Gestalten, wir kennen sie aus den Studentenstädten wie Tübingen, Freiburg, Marburg oder Göttingen, aber selbst in Berlin, Leipzig, München oder Hamburg werden sie gesichtet.

Die Angepassten jedoch schnorcheln um die Wette und werden doch nie glücklich. Sie wissen das und deshalb wird auch den Kindern oder Hunden das Schnorcheln dringend empfohlen bzw. verordnet. Entweder auf den Seychellen oder doch in der Badewanne zu Hause oder dem Whirlpool bei Tante Erna in Köln.

Doch die wenigen, die sich um ein klein wenig mehr kümmern, sind meist noch kümmerlicher. Da kann man dann wählen zwischen Antisemiten aller Art in allen Parteien, vom vulgären und brutalen, islamistisch organisierten oder unorganisierten muslimischen bzw. arabischen Straßenschläger über den Brandsatzwerfer auf Synagogen hin zu den salbungsvolleren Tönen der Nobelpreisträger, Verleger und Kolumnisten, von den Kommentaren auf Stehempfängen in den Vorstadtvillen oder Townhausterrassen bei Ärzten und Anwältinnen der großen Städte bis hin zur philosemitischen, wattierten Judenfeindschaft evangelikaler Kreise und Zeitschriften, für die auch manche LizasWelt und Konkret-Autoren schreiben

– nehmen wir Stefan Frank und die Zeitschrift factum aus der Schweiz, für die er regelmässig schreibt, als Exempel, z.B. steht im Editorial von factum 2/2015: “Möge dieses factum unseren Blick lenken auf «das barmherzige Evangelium» (S. 40) und auf den, dem wir in den alltäglichen Dingen des Lebens (S. 45) wie in den grossen Sorgen ganz vertrauen dürfen: Jesus Christus”; Stefan Frank selbst insinuiert im selben Heft, der “Liberalismus” sei “bedroht”, wenn er seine “christlichen Wurzeln vergessen” würde –

oder katholischen Judengegnern, die das Warschauer Ghetto mit dem „Ghetto von Ramallah“ vergleichen und somit Israeli zu Nazis herbei fantasieren und die deutsche Schuld projizieren, hin zu antijudaistischen Augustinus-Jüngern (wie Leser von factum im Heft 6/2014) oder Konservativen, gläubigen Atheisten, Humanisten oder Linken, die gegen die jüdische Beschneidung hetzen (wie die FAZ, die Giordano-Bruno-Stiftung oder die Wochenzeitung jungle world). Die Auswahl ist groß, niemand kann behaupten der Antisemitismus sei nicht „facettenreich“.

 

Angesichts soviel offenem und subtilem Judenhass haben manche paradoxe Erleuchtungen (wie Henryk M. Broder) und sehen Flugzeuge, wo keine sind, wie am 27. Januar über der Gedenkstätte Auschwitz und wollen die Erinnerung an die Shoah einstellen, dabei gab es sie ohnehin nie in diesem Land; wieder andere stellen das Denken auf andere Weise ein und brüllen „Deutschland den Deutschen“ oder „Ami go home“ und natürlich „wir lassen uns von Tel Aviv keine Befehle erteilen“, was übrigens lustig ist, da in Tel Aviv gar keine Regierung sitzt … Verschwörungswahnsinn und Blödheit waren noch immer beste Freunde, was sie keinen Deut ungefährlicher macht, denn die Blöden haben schon zu oft in der Weltgeschichte Regie geführt.

Das islamistisch und somit antisemitisch motivierte Massaker vom 11. September 2001 im World Trade Center in New York sowie im Pentagon und den vier entführten Flugzeugen gereichte weiten Teilen der Gesellschaft zu Schadenfreude sowie der Verleugnung der jihadistischen Bedrohung.

Nicht etwa die weltweite Gefahr des Islamismus wurde zu einem wichtigen Thema der Gesellschaft, sondern die „Islamophobie“, nicht zuviel, sondern zu wenig Religion sei das Problem im Kontext dieses von religiösen Fanatikern verübten Massenmords.

Es wurden nach 9/11 Islamkonferenzen einberufen, nicht um den Islamismus zum Thema zu machen, sondern vielmehr um mehr Akzeptanz für „den“ Islam oder für Religion ganz allgemein zu promoten. Die rassistische Mordserie des NSU hat bekanntlich mit dem 11. September gar nichts zu tun, sondern ist Teil des neonazistischen Terrors gegen alle Nicht-Deutschen seit Jahrzehnten, vor allem seit der sog. Wiedervereinigung 1989/90.

Nach 9/11 raunten Teile der damaligen PDS: „sowas kommt von sowas“. Böser Kapitalismus führe zu islamistischem Massenmord. Vielmehr vulgäranalytische Kaschierung des eigenen Hasses auf Amerika und die Juden war selten. Und diese Tonlage ist bis heute zentral, wenn es um den Jihad geht.

Bernard-Henri Lévy bei einem Auftritt in Tel Aviv

Bernard-Henri Lévy bei einem Auftritt in Tel Aviv

Er wird verniedlicht, ohne Ende, es geht fast immer um die „soziale Frage“, wie Bernard-Henri Lévy in der FAZ ganz exakt kritisiert. Er regt sich sehr über die Trivialisierung des Jihad und des Massakers an Charlie Hebdo durch jene Leute auf, die immer das angebliche Elend hinter dem jihadistischen Terror vermuten und somit rationalisieren. Lévy trennt auch den Islam vom Islamismus, wenngleich er manche problematischen Figuren wie Izetbegovic zu freundlich rubriziert. Lévy ist gerade ein moderater, reflektierter Kritiker des Jihad, kein Sarrazin, kein Pegida-Anhänger und keine Necla Kelek, die vor lauter Abscheu vor dem Islam auch die Beschneidung von Juden de facto mit diffamiert.

Im Februar 2015 gibt es nun ein lautstarkes Echo auf die alte linke Trivialisierung des Jihadismus durch die Zeitschrift Konkret und ihren langjährigen Herausgeber Hermann L. Gremliza, der nun bezüglich des 11. September Frankreichs, des 7. (–9.) Januars 2015, ausrastet.

 

Detlef zum Winkel

Detlef zum Winkel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Was ist passiert? Am 18. Februar schreibt der Buchautor und langjährige Autor der linken Publikumszeitschrift Konkret, Detlef zum Winkel, über eine Kolumne des Konkret-Herausgebers Hermann L. Gremliza im Februar-Heft des Magazins:

 

„Im Februar-Heft des Magazins “Konkret” nimmt Herausgeber Hermann L. Gremliza  die Attentate vom 7. und 9. Januar in Paris zum Anlaß, die Welt nach den Schemata eines schlichten Antiimperialismus zu ordnen. In dieses Bild passt es offenbar nicht, sich deutlich an die Seite eines beschossenen Satire-Magazins zu stellen.

Als langjähriger “Konkret”-Autor habe ich eine Erwiderung verfaßt, schließe aber aus den sparsamen Auskünften der Redaktion, daß sie dort nicht gedruckt werden wird. Auch mein Appell, die bisherige Stellungnahme noch einmal zu überdenken und einen Fehler einzuräumen, fand keine Resonanz. Daher wähle ich diesen Weg, um den Text bekannt zu machen.“

 

Zentral ist folgender Vorwurf an Gremliza von zum Winkel:

 

„Zum Skandal wird es, wenn HLG die Figur des reichen Juden bemüht, um seine Abneigung gegen die „Je suis Charlie“-Solidarität zu begründen. Diese Konstruktion fällt hinter alles zurück, weshalb und wozu ich in den letzten 30 Jahren in „Konkret“ geschrieben habe. Sehen Kritiken jetzt so aus?”

 

Das Konkret-Heft im Februar 2015

Das Konkret-Heft im Februar 2015

Völlig zu Recht ist Detlef zum Winkel schockiert, ja fassungslos, was man seinem Duktus anmerkt, er ist schließlich aus der Generation Gremlizas und Konkret verbunden. Was schreibt der Konkret-Herausgeber?

 

“Und wenn man denkt, es geht nicht schlimmer, kommt von irgendwo das französische Hemdenmodel Bernard-Henri Lévy daher, der Welt vorzuführen, was für einen ideellen Fummel man im Spätherbst des Kapitalismus trägt: »Es ist an der Zeit«, schrieb er in der »FAZ«, »ein für alle Mal mit dem beschwichtigenden Gerede aufzuhören, das uns so lange schon die nützlichen Idioten eines in die Soziologie des Elends und der Verzweiflung auflösbaren Islamismus vortragen.« Wer Religion als Antwort auf die soziale Frage verstehe, sei ein nützlicher Idiot des Terrors, soll das heißen (…) Eine Woche nach Lévys Auftritt wird gemeldet, dass ein Prozent der Menschheit so viel Vermögen angehäuft hat wie die restlichen 99 Prozent der Weltbevölkerung zusammen, 92 Milliardäre mehr besitzen als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Einen Meisterdenker kann das nicht erschüttern. Er zählt zur anderen Hälfte, wenn nicht zu dem einen Prozent.“

 

Lévy ist sicher weltweit einer der bekanntesten Intellektuellen Europas und der vielleicht bekannteste Jude Frankreichs. Vor wenigen Wochen sprach er vor den Vereinten Nationen über den Kampf gegen den Antisemitismus. Der Jude Lévy trage also schicke Hemden, behaupte dass man den Islamismus verharmlose, wenn man ihn auf ein soziales Problem reduziere („Armut“) und er sei auch noch sehr, sehr reich: Vielmehr antijüdisches Ressentiment und Intellektuellenfeindlichkeit in einer sich als Freund Israels vorstellenden Zeitung hat man lange nicht gesehen! Deshalb ist der Konkret-Autor Detlef zum Winkel so schockiert.

 

Es ist die Abwehr der Kritik am Islamismus, die Leugnung, dass der Islamismus eine spezifische und eigenständige Ideologie ist und das Ressentiment gegen (reiche, gut gekleidete und natürlich mächtige) Juden, die diese Trivialisierung des Islamismus nicht mitmachen, die Gremliza so typisch für die deutschen Zustände macht.

 

So offen einen Juden zu diffamieren und mit dem jahrhundertealten Ressentiment gegen den „reichen Juden“ zu spielen, wie das Gremliza mit Lévy im Februarheft 2015 von Konkret tut, sagt alles über das ubiquitäre Ressentiment gegen die Juden in diesem Land und Europa aus. Es sagt auch viel über die Redaktion dieses Blattes aus. Welcher Konkret-Autor hat sich öffentlich von dem Heft und dieser Kolumne von Gremliza distanziert? Offenbar, so Detlef zum Winkel, wurde noch nicht mal auf sein Textangebot eingegangen, dabei ist er einer der bekanntesten und langjährigsten Autoren der Zeitschrift.

 

Wage das Hamburger Magazin Konkret es auch nur noch einmal, sich als Kritiker des Antisemitismus, als Freund von Juden oder Israel zu imaginieren, die Lachsalven werden noch weit über die Elbmündung hinaus zu hören sein. Oder es bleibt einem das Lachen im Halse stecken, denn dieser neue, linke Antisemitismus gar derjenigen, die sich als „Freunde Israels“ aufspielen, ist besonders elendig.

 

Kritische Theorie und Israel – Vortrag von Dr. Clemens Heni am 17. Februar 2015 in Berlin

Am 17. Februar 2015 hielt ich in den Räumen der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) einen Vortrag bei BAK Shalom der Linksjugend solid in Berlin (vor ca. 80-90 Leuten)  zum Thema “Kritische Theorie und Israel”, der hier anzuhören ist. Hier ist das Handout zum Vortrag:

 

Handout_Seite_1

 

 

 

 

 

Handout_Seite_2

 

Zu Beginn des Vortrags wurde ein Ausschnitt dieser Knesset-Rede von Stav Shaffir von Januar 2015 eingespielt (ca. ab Min 1:20)

Später im Vortrag wurde der Beginn dieses Films über PunkJews gezeigt:

Eine Zukunft für Berlins Vergangenheit: Olympia-Fieber 2015

Über „sportliche Nazis“ 1936, Carl Diems „Olympische Jugend“, „Opfertod“ und Friedrich Schillers „Ode an die Freude“

 

Berlin möchte seiner Vergangenheit eine Zukunft geben und im gleichen Stadion, in dem schon 1936 der Nationalsozialismus Olympische Spiele abhalten durfte, wieder fröhlich feiern. Trotz der nicht einmal ansatzweise in Frage gestellten deutschen Vorherrschaft in Europa im Jahr 2015, wird man in Berlin ganz dünnhäutig, wenn Kritik, und sei es satirische, an der so typisch Berlinerischen, ungezwungen-krampfhaft-megalomanischen Olympia-Bewerbung deutlich wird.

Screenshot Deutschlandradiokultur 11022015

 

 

Im Folgenden sei eine Stelle aus meiner Dissertation „Ein Völkischer Beobachter in der BRD“ von 2006 an der Uni Innsbruck („summa cum laude“) dokumentiert, die sich mit der Olympiade 1936 und dem heutigen Forschungsstand bezüglich Sport und NS-Ideologie befasst. In der Dissertation geht es um einen führenden Ideologen der Neuen Rechten, Henning Eichberg, und dessen Beziehung zur politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland 1970–2005. Im folgenden Abschnitt geht es um eine Kritik an der Historikerin Christiane Eisenberg und ihrer Rezeption von Eichberg und der Olympiade 1936 sowie um das dort uraufgeführte Stück „Olympische Jugend“ von Carl Diem. Ohne extra Einleitung für diesen Blog geht es medias in res:

 

(…)

 

Die Historikerin Christiane Eisenberg schließlich rezipiert Eichbergs Thingspiel-Analysen[1] in ihrer Habilitationsschrift von 1997, wo dieser als Anwalt der ›guten Seiten des Nationalsozialismus‹ gezielt herangezogen wird. Sie versucht die Bedeutung des englischen Sports für die Ausbildung bzw. Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert herauszuarbeiten. Für mich ist hier nur ihr Kulminationspunkt von Interesse: die Olympiade 1936. Eisenberg versucht dem Sport ein Eigenleben auch und gerade unter den Bedingungen eines Herrschaftssystems wie dem Nationalsozialismus, welchem damit gleichsam ein ganz normaler Platz im Pantheon der (Sport-)Geschichte gesichert werden soll, zuzugestehen.

»Für die Atmosphäre der Spiele war es darüber hinaus von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß es reichlich Gelegenheit zur internationalen Begegnung und freien Geselligkeit außerhalb der Arenen gab. Gemeint sind hier weniger die Restaurants auf dem Reichssportfeld und auch nicht die zahllosen Empfänge und Partys der Nazigrößen. Das Urteil gründet sich vielmehr darauf, daß der Großteil der männlichen Athleten in einem Olympischen Dorf untergebracht wurde, so wie es erstmals bei den vorangegangenen Spielen in Los Angeles 1932 versucht worden war (Abb. 29). Hatte das OK [Olympische Komitee C. H.] zunächst geplant, dafür eine bereits bestehende Kaserne zu renovieren, so ergab sich 1933 auf Vermittlung Walter v. Reichenaus die Chance, Neubauten zu bekommen. In der Nähe eines Truppenübungsplatzes in Döberitz/Brandenburg wurden in einem landschaftlich reizvollen Gelände 140 ›kleine Wohnhäuser‹ für das Infanterie-Lehrregiment gebaut, deren Erstbezieher 3.500 Sportler wurden. Es gab Sporthallen, ein offenes und ein überdachtes Schwimmbad, Spazierwege, Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen. Zu den Gemeinschaftsräumen gehörten eine vom Norddeutschen Lloyd bewirtschaftete Speiseanstalt mit internationaler Küche und ein Kino.«[2]

 

Eisenberg will einer neuen Sicht auf den Nationalsozialismus den Weg ebnen. In gezielter Negierung gesellschaftlicher Totalität isoliert sie Momentaufnahmen aus ihrem Kontext, um deren Allgemeingültigkeit, ja Universalität, kurz, das moderne Moment zu würdigen. Denn »Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen« sind ja eine feine Errungenschaft, in Berlin 1936 wenigstens so lobenswert wie in Los Angeles 1932, will sie suggerieren.[3] In diesem Kontext zieht Eisenberg Eichbergs Thingspiel-Publikation heran, um sie als »zurückhaltend« und »vorsichtig«[4] bezüglich der Einordnung der olympischen Spiele als »spezifisch nationalsozialistische Veranstaltung« zu bezeichnen.[5]

Ihr behagt die affirmative Darstellung Eichbergs weitaus mehr als die kritischen Reflexionen und Analysen bekannter und renommierter Sportwissenschaftler wie Hajo Bernett, Thomas Alkemeyer oder Horst Ueberhorst.[6] Auch die Untersuchungen des Politikwissenschaftlers Peter Reichel über den Schönen Schein des Dritten Reichs[7] qualifiziert Eisenberg ab:

»Diese Interpretation der Spiele vermag aus drei Gründen nicht zu überzeugen. Erstens ist das zugrundeliegende Argument methodisch fragwürdig, weil es nicht falsifizierbar ist. Wer immer das Gegenteil behauptet, daß Berlin 1936 ein Ereignis sui generis und der schöne Schein auch eine schöne Realität gewesen ist, riskiert es, als Propagandaopfer abqualifiziert zu werden.«[8]

Die Olympiade in Berlin 1936 sei ein ›Ereignis‹ ›sui generis‹ gewesen, gleichsam eine ›schöne Realität‹. Diese positivistische Abstraktion von jeglicher Gesellschaftsanalyse ist für nicht geringe Teile der Mainstream-Wissenschaft typisch. Ihre Argumentation steigert Eisenberg noch, indem sie Reichels Analyse im Reden von den vermeintlichen ontologischen Zwittern Sport und Propaganda untergehen lässt:

»Zweitens ist das Argument unergiebig, weil Sport und Propaganda wesensverwandt sind. Beide sind nach dem Prinzip der freundlichen Konkurrenz strukturiert, beide verlangen von den Akteuren eine Be-Werbung um die Gunst von Dritten (›doux commerce‹). Daß dabei geschmeichelt, poliert, dick aufgetragen, ja gelogen und betrogen wird, überrascht niemanden, weder in der Propaganda noch im Sport. Olympische Spiele sind, so gesehen, immer Illusion und schöner Schein; eben das macht ihre Faszination aus. Daraus zu folgern, daß Berlin 1936 eine um so wirksamere Werbemaßnahme für den Nationalsozialismus gewesen sein müsse, wäre jedoch kurzschlüssig. Denkbar wäre auch, daß Nutznießer der Propaganda der Sport war. Diese Möglichkeit hat jedoch noch keiner der erwähnten Autoren geprüft.«[9]

Eisenberg will sagen: So schlimm kann der Nationalsozialismus doch nicht gewesen sein, wenn ein so zentrales Moment für moderne, freizeit- und spaßorientierte Gesellschaften wie der Sport, gar ein ›Nutznießer‹ dieses politischen Systems war.

Diese eben zitierte Passage von Eisenberg ist Ausdruck eines Wandels politischer Kultur in der BRD. Ungeniert lässt sie den Nationalsozialismus, am Beispiel der Olympischen Spiele von 1936, im Kontinuum bürgerlicher Gesellschaft, die eben im Sport ›wesenhaft‹ lüge, dick auftrage und schmeichele, aufgehen. Es ist nun gerade Eichberg, dem diese Darstellung entgegenkommt. Ich sehe es nicht als Zufall an, dass Eisenberg aus der Fülle von Analysen zum Thingspiel gerade seine Arbeit heranzieht.

So wie Eichberg das Thingspiel in die Geschichte des Arbeiterweihespiels, des Agitprop-Theaters, des Sprechchorgesangs etc., sprich der Arbeiterkulturbewegung einreiht, so versucht er gezielt den Bruch, den die in der Tat nationale Revolution des Nationalsozialismus bedeutet, als Kontinuität darzustellen. Für ihn ist das Thingspiel die Konsequenz vor allem Weimarer Versuche, Theater massenwirksam zu gestalten. Dass einer der Protagonisten dieser Ideen, Ernst Toller, 1933 ins Exil gehen musste, spielt in dieser auf die Konfiguration fixierten Analyse keine Rolle.

Eisenberg treibt Eichbergs Apologie des Thingspiels auf ihre Art zu einem weiteren Kulminationspunkt: Wie soll es nach der auf internationale »Verständigungspolitik« ausgerichteten Weimarer Republik[10] möglich gewesen sein,

»daß die Olympiapropaganda nach 1933 plötzlich eine Nazifizierung der Athleten und des sportinteressierten Publikums bewirkte? Mußte nicht zuvor eine Versportlichung der Nazis erfolgt sein[11]

 

Für Eichberg zeigt sich im ›olympischen Zeremoniell‹ die Kontinuität der mit »Weihe- und Feierspiele« »zusammenhängenden Verhaltensformen« über die »Veränderungen um 1937/45« hinaus.[12] Deshalb geht er gegen Ende seines Beitrages im Thingspiel-Band auf das während der Olympiade uraufgeführte ›Weihespiel‹ »Olympische Jugend« von Carl Diem ein.[13] Die verschiedenen Bilder dieses Spiels mit über 10.000 Teilnehmern werden dargestellt und einige zentrale Stellen ausführlich zitiert. Es geht in diesem olympischen Weihespiel um »›Kampf um Ehre, Vaterland‹«[14] (im ersten Bild), was ihn bei der Analyse des dritten Bildes unter Hinzuziehung einer zeitgenössischen Darstellung ausführen lässt:

»Während sich die Mädchen zum weiten Rand der Arena zurückziehen und diesen säumen, stürmen von der Ost- und Westtreppe Tausende von Knaben in das Spielfeld, lassen die Romantik aller Jugend aufklingen, indem Jugendgruppen verschiedener Nationen um Lagerfeuer geschart Volkslieder ihrer Heimat singen«.[15]

Gerade vor dem Hintergrund Eichbergs politischer Biografie, zu denken ist an sein Zeltlager 1966 in Südfrankreich (vgl. I.5), ist die Beschreibung einer weihevollen, heimatumwobenen (jugendlichen) Zeltlager-Stimmung des Jahres 1936 im nationalsozialistischen Deutschland bezeichnend. Die Jugend sieht ihrem Selbst-Opfer ins Gesicht:

»Allen Spiels heil’ger Sinn: Vaterlands Hochgewinn. Vaterlandes höchst Gebot in der Not: Opfertod!«[16]

Eisenberg ordnet diesen Opfertod folgendermaßen ein: das Diemsche »Festspiel« werde

»in der sport- und tanzhistorischen Literatur als Verherrlichung des ›Opfertodes‹ für die nationalsozialistische ›Volksgemeinschaft‹ interpretiert – was nicht zu überzeugen vermag. Erstens gehörte die Opferrhetorik schon in der Weimarer Republik zum spezifisch deutschen Sportverständnis (…) Zweitens haben die Zeitgenossen des Jahres 1936 die Szene ohne Zweifel mit dem Ersten Weltkrieg und nicht mit dem bevorstehenden Zweiten in Verbindung gebracht.«[17]

Auch wenn sich die Historikerin Eisenberg ganz sicher ist (»ohne Zweifel«), bleibt zu betonen: die Erinnerung an die deutschen Toten des I. Weltkriegs war sehr wohl die Vorbereitung auf den II. Der ›Langemarck-Topos‹ der Jugend, des Opfers und des Nationalen[18] kommt hierbei zu olympischen Ehren. Die internationale Anerkennung der Spiele ist Zeichen des Appeasements dem nationalsozialistischen ›Aufbruch‹ gegenüber.

Wenn in einem Buch von 1933 ausgeführt wird:

»›Daraus erhellt, daß bei Ausbruch des Krieges der Zukunft die Ausbildung künftiger Langemarckkämpfer um ein mehrfaches verlängert und die Material- und Munitionsmenge für heutige Schlachten um ein Vielfaches vermehrt werden muß‹«[19],

so muss gerade eine solche Interpretation des Langemarck-Topos ernst genommen und nicht, wie bei Eisenberg, als quasi Weimarer Tradition, die zufällig 1936 wieder hervortritt, verharmlost werden. Dagegen ist die Kontinuität von ‘33 bis ‘36 zu sehen, die soeben zitierte Passage von ‘33 bekommt im Festspiel von Diem eine internationale Beachtung findende Weihe:

»So wurde im Glockenturm des Berliner Olympia-Stadions eine Gedächtnishalle für die Toten von Langemarck eingerichtet, und Carl Diems Eröffnungsspiel der Olympiade von 1936 endete mit ›Heldenkampf und Totenklage‹; eine Division des Hitlerschen Ost-Heeres bekam den Namen ›Langemarck‹«.[20]

 

Ein weiterer Kritikpunkt, ganz eng am Diemschen Spiel und seinen Protagonisten wie der Ausdruckstänzerin Mary Wigman[21] orientiert, ist folgender: es lässt sich gut zeigen, wie Wigmans Auffassung von Opfertod Diems Weihespiel in diesem Punkt inhaltlich bzw. choreographisch bereits vor ‘33 antizipiert hat, so am

»Stück ›Totenmal‹, einem Drama von Albert Talhoff, welches von Talhoff und Wigman 1930 gemeinsam inszeniert wurde, wobei Wigman die tänzerische Choreographie übernahm. Das Werk wurde zum Gedenken an die Gefallenen des 1. Weltkriegs geschrieben. (…) [Zudem] ist dieses Werk ein Prototyp nationalsozialistischer Inszenierungen, zum einen wegen des Themas (Verehrung der gefallenen Soldaten) zum anderen wegen der Form (die Inszenierung stellt eine Kombination aus Sprechchor und Bewegungschor dar).«[22]

 

Waren schon die »Tanzfestspiele 1935« eine »Propagandaveranstaltung für den deutschen Tanz nationalistischer Prägung«[23], so kulminierte das im olympischen Jahr im Weihespiel von Diem, an dem Wigman aktiv beteiligt war. Micha Berg weist auf die zentrale Bedeutung von Symbolik[24] für das nationalsozialistische Deutschland hin und zitiert den völkischen Vordenker Alfred Baeumler:

»Das Symbol gehört niemals einem Einzelnen, es gehört einer Gemeinschaft, einem Wir. Dieses Wir ist nicht ein Wir des gesinnungsmäßigen Zusammenschlusses von Persönlichkeiten, ist nicht ein nachträgliches Wir, sondern ein ursprüngliches. Im Symbol sind Einzelner und Gemeinschaft eins. (…) Das Symbol ist unerschöpflich, in ihm erkennt sich sowohl der Einzelne wie die Gemeinschaft.«[25]

 

Es ist genau diese Prädominanz, die geradezu onto-theologische Setzung eines (deutschen) Wir, welches Eichbergs politische Theorie kennzeichnet. Er versucht zwei Momente des nationalsozialistischen Deutschland für seine neu-rechte Theorie der 1970er Jahre zu koppeln: einerseits, als Wink für traditionsbewusste, ›treue, alte Kameraden‹, den Bezug zu Militarismus, Sterben, Tod und Opfer-Metaphorik, wie er nicht nur bei Euringer vorkommt, andererseits im Rekurs auf die Arbeiterbewegung und -kultur einem neu-rechten Diskurs eine Bresche zu schlagen, sowie ohne Berührungsängste gewisse Facetten linker Geschichte mitsamt deren Vokabular aufzunehmen. Sein Insistieren auf der massenhaften Spontaneität der Deutschen beim Verfassen von trivialen Thingspielen ab 1933[26] ist ein Zeichen für einen ›Aufbruch‹. Während Eichberg dem Thingspiel Mitte der 1970er Jahre seine Weihe gab, ist es spätestens heute – via Stadionspiel von 1936 – mit Eisenberg im akademischen Establishment angekommen.[27]

 

Eisenberg beharrt darauf: Diems Festspiel ende doch mit Beethovens »Schlußchor der IX. Sinfonie mit der ›Ode an die Freude‹ von Friedrich Schiller«,[28] was Ausdruck von ›Kunst‹ sei. Auch Eichberg schließt seine diesbezügliche Darstellung: es habe sich am Ende ein »goldener Glanz über alles Leben und Treiben des Alltags gebreitet.«[29] Dieser ›goldene Glanz‹ kehrt heute in Eisenbergs vor Affirmation strotzender Sprache als »zivile Sportgeselligkeit« mit »Eigenweltcharakter« in der Darstellung des Sports im Nationalsozialismus wieder.[30] Sie schließt ihre Arbeit, indem sie nicht nur dem Sport unterm NS mehr Möglichkeiten als noch in der Weimarer Republik attestiert, sondern auch, den II. Weltkrieg als »Beeinträchtigung des Wettkampfbetriebs«[31] euphemisierend, dem Nationalsozialismus bescheinigt, er habe den »Sport« zuungunsten des Turnens gewinnen lassen, was sie als »Rahmen für den Sport in der Bundesrepublik« für gut erachtet.[32]

 

 

[1] Es geht hierbei nur um den Band von Eichberg 1977 [Henning Eichberg (1977) Thing-, Fest- und Weihespiele in Nationalsozialismus, Arbeiterkultur und Olympismus. Zur Geschichte des politischen Verhaltens in der Epoche des Faschismus, in: Henning Eichberg u. a. (Hg.) (1977a), Massenspiele. NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell, Stuttgart-Bad Cannstatt (frommann-holzboog; problemata 58), S. 19–180], nicht um den Aufsatz von 1976 [Henning Eichberg (1976) Das nationalsozialistische Thingspiel. Massentheater in Faschismus und Arbeiterkultur, in: Ästhetik und Kommunikation, Jg. 7. (1976), H. 26, S. 60–69; ebenfalls auf Englisch als Henning Eichberg (1977b) The Nazi Thingspiel, in: New German Critique, No. 11, pp. 133–150].

[2] Christiane Eisenberg (1999): »English sports« und Deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939, Paderborn u. a. (Ferdinand Schöningh), S. 418.

[3] Völlig selbstverständlich, ja stolz präsentiert sich das ehemalige Gelände des olympischen Dorfes von 1936 im brandenburgischen Döberitz am Tag des offenen Denkmals im Jahr 2004, Kritik ist hier a priori ausgeblendet, vgl. die affirmative Ankündigung zum Tag des offenen Denkmals im Tagesspiegel, 11.09.2004.

[4] Eisenberg 1999: 414, Anm. 112.

[5] Ebd.: 414.

[6] Vgl. ebd., Anm. 110, Anm. 112, Anm. 113.

[7] Vgl. Reichel 1991.

[8] Eisenberg 1999: 410. Eisenbergs Einspruch erweist sich einmal mehr als Ressentiment, wenn sie an eben zitierter Stelle folgende Anm. platziert: »Dies [dass also der schöne Schein eine schöne Realität war, C. H.] haben z. B. jene ehemaligen Olympiateilnehmer erfahren, die 1986, anläßlich des 50. Jahrestags der Spiele, von der Presse um ihre Erinnerungen gebeten wurden und beharrlich die Meinung vertraten, sie hätten damals ›nur Sport‹ getrieben. Diese Zeitzeugen, die im Grunde nichts anderes taten als die Diskrepanz zwischen der politikgeschichtlichen Perspektive ›von oben‹ und der für sie maßgebenden ›von unten‹ und ›von innen‹ zu benennen, mußten sich nachsagen lassen, sie seien unbelehrbar und politisch naiv, ja ›peinlich‹ [so Hajo Bernett, C. H.]« (ebd., Anm. 96). Kritisch zu Eisenberg: »Indem Eisenberg ihren gesellschaftsgeschichtlichen Ansatz aber auf die Augenzeugenperspektive verkürzt, läuft sie Gefahr, der NS-Propaganda nachträglich auf den Leim zu gehen« (Hans Joachim Teichler (2001): Besprechung von Christiane Eisenberg (1999): »English sports« und Deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939, Paderborn u. a. (Ferdinand Schöningh), in: Sportwissenschaft, 31. Jg. (2001), Nr. 3, S. 334–342, hier S. 341).

[9] Eisenberg 1999: 410.

[10] Eisenbergs Perspektive lässt Mitgefühl mit den Opfern des Nationalsozialismus vermissen: »Der ganze Bereich Sportjournalismus, in dem sich – abgesehen vom Fehlen der jüdischen Kollegen – gegenüber der Weimarer Republik nichts Grundsätzliches geändert hatte« (ebd.: 419). Lapidar wird hier vom Kern des Nationalsozialismus, der Vernichtung der europäischen Juden und deren Vorbereitung durch soziale Exklusion, Goldhagen spricht treffend von der »Verwandlung der Juden in ›sozial Tote‹«, Goldhagen 1996: 118., abstrahiert, um von »Blumenbeeten« für Sportler während der Olympiade 1936 in Berlin zu reden.

[11] Eisenberg 1999: 411, Herv. C. H.

[12] Eichberg 1977:143. Genau diese Seite führt Eisenberg abschließend an, um Eichberg Recht zu geben in seinen Analysen. Allein schon die Zeiteinteilung »1937/45«, Eichberg meint ganz offensichtlich das vermeintliche Verebben der Thingspielbewegung 1937 und mit 1945 das Ende des Nationalsozialismus, ist eine Verharmlosung nationalsozialistischer Totalität. Dieser sehr einfache Trick Eichbergs, ein vermeintlich diskontinuierliches Moment des Nationalsozialismus hervorzuheben und zu einer Periode zu stilisieren, fällt Eisenberg entweder nicht auf oder sie affirmiert diese Sichtweise.

[13] Ebd.: 143–146.

[14] Ebd.: 144.

[15] Ebd.

[16] Ebd.: 145. Helmich stellt diesen Opfertod recht positiv dar: »Für Diem liegt in dieser Szene [der vorletzten von Olympische Jugend, C. H.], die die Olympische Flamme zum Sinnbild der Seele der Jugend werden läßt, der ›geistige Höhepunkt‹ des Spiels. Dessen eigentlicher Sinn aber erschließe sich im folgenden Bild, ›Heldenkampf und Totenklage‹«; es folgt die oben zitierte »Opfertod«-Passage, die weiter erläutert wird: »Für den Rezitator Joachim Eisenschmidt werden diese Verse wenige Jahre später zur Realität werden«, um schließlich mit dem »Anspruch der Tanzkunst« eines Rudolf von Laban die praktisch werdende Frage »Wann und wie darf ich töten« zu stellen, Helmich 1989: 209 f. In der Weimarer Republik war Laban »zum großen Guru des Ausdruckstanzes« avanciert, später konnte er die Olympische Jugend mit inszenieren, vgl. Horst Koegler (1980): Vom Ausdruckstanz zum »Bewegungschor« des deutschen Volkes: Rudolf von Laban, in: Karl Corino (Hg.) (1980): Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus, Hamburg (Hoffmann und Campe), S. 165–179, hier S. 171 bzw. S. 176.

[17] Eisenberg 1999: 427.

[18] Vgl. Uwe-K. Ketelsen (1985), ›Die Jugend von Langemarck‹. Ein poetisch-politisches Motiv der Zwischenkriegszeit, in: Thomas Koebner/Rolf-Peter Janz/Frank Trommler (Hg.) (1985): ›Mit uns zieht die neue Zeit‹. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. (Suhrkamp; edition suhrkamp), S. 68–96, hier S. 75.

[19] Zitiert nach ebd.: 83.

[20] Ebd.: 95, Anm. 62. Auch Euringer spielt mit jenem Mythos: »Wir lagen an der Somme und so, vor Ypern, Verdun, ich weiß nicht wo« (Euringer 1933: 22).

[21] Eisenberg erwähnt Wigman ebenso wie Eichberg sie als »Hauptvertreterin des modernen Ausdruckstanzes« und »Schülerin von Laban« rühmt, vgl. Eichberg 1977: 143 und Eisenberg 1999: 427 f.

[22] Micha Berg (1994): Der deutsche Ausdruckstanz und seine Annäherung an den Nationalsozialismus. Eine Literaturarbeit zum Verhältnis von Sport und Politik im nationalsozialistischen Deutschland. Wissenschaftliche Hausarbeit zur Ersten Staatsprüfung für das Amt des Studienrats, Berlin, S. 63.

[23] Ebd.

[24] Vgl. hierzu auch Horst Ueberhorst (1989): Feste, Fahnen, Feiern. Die Bedeutung politischer Symbole und Rituale im Nationalsozialismus, in: Rüdiger Voigt (Hg.) (1989): Politik der Symbole. Symbole der Politik, Opladen (Leske + Budrich), S. 157–178, hier S. 168 f. Ueberhorsts Kritik an Diems Weihespiel steht allerdings neben einer Anführung von Eichbergs Thingspiel-Band von 1977, ohne dessen Apologie gerade auch Diems Weihespiel auch nur anzusprechen; umso inkonsistenter wirkt dieser Verweis als Ueberhorst in der gleichen Anmerkung die sehr bedeutsame Kritik Hajo Bernetts am Weihespiel Diems zitiert: »›Um das blutige Hinschlachten symbolisch zu verklären, intonierten 1 500 Sänger Freude, schöner Götterfunken. Zwei Flakbatterien blendeten ihre Scheinwerfer auf … Die Reizüberflutung der magischen Lichtregie ließ jedes nachdenkliche Wort auf den Lippen ersterben. Das Läuten der Olympiaglocke suggerierte das Gefühl, einer sakralen Handlung beigewohnt zu haben‹« (Hajo Bernett (1986): Symbolik und Zeremoniell der XI. Olmypischen Spiele in Berlin 1936, zitiert nach ebd.: 178, Anm. 20). Früher hat Ueberhorst Eichberg publiziert, vgl. Henning Eichberg (1980 ii): Sport im 19. Jahrhundert. Genese einer industriellen Verhaltensform, in: Horst Ueberhorst (Hg.) (1980): Geschichte der Leibesübungen Bd. 3/1, Berlin 1980, S. 350–412.

[25] Berg 1994: 63.

[26] Es handelte sich dabei »überwiegend um dilettantische Versuche« (Eichberg 1976: 61).

[27] Christiane Eisenberg ist Professorin an der Humboldt-Universität Berlin.

[28] Eisenberg 1999: 427. Vgl. auch folgende affirmative Darstellung bei Helmich: »Nach der ›Totenklage‹ [also dem letzten Bild, C. H.] folgt, wie stets bei diesem ganz auf Kontrastwirkung der einzelnen Bilder zielenden Festspiel, ein jäher Stimmungswechsel. Angenehmere und freudenvollere Töne sollen nun angestimmt werden verkündigt das Rezitativ, das den letzten Satz von Beethovens IX. Sinfonie, den eigentlichen Anlaß und Höhepunkt der ›Olympischen Jugend‹, einleitet. Das Landes-Orchester Gau Berlin und die vereinigten Hochschul-Orchester spielen unter der Leitung von Fritz Stein, alle, insgesamt mehr als 10.000 Mitwirkende strömen noch einmal in das Stadion ein. Hinter den Außenmauern strahlen 14 Flakscheinwerfer in die Höhe, treffen zusammen und vereinigen sich zu einem Gebilde, das wie eine Domkuppel aus Licht wirkt und auch der Höhepunkt folgender Stadionfestspiele Niedeckens sein wird« (Helmich 1989: 210). Hier, und nicht erst bei den Nürnberger Reichsparteitagen, wurde erstmals der ›Lichtdom‹ in Szene gesetzt und die technische Apotheose des NS zelebriert.

[29] Eichberg 1977: 146.

[30] Eisenberg 1999: 441.

[31] Ebd.

[32] Ebd.

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