Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)
Zionismus bedeutet jüdische Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit. Das war 1948. Ein wahrhaft historischer Moment.
Die Araber lehnten den einzigen jüdischen Staat ab und wollten den jungen Staat wenige Jahre nach der Shoah an seiner Gründung hindern und umgehend wieder zerstören. Fast alle arabischen Staaten und vor allem der Iran lehnen Israel bis heute ab. Dazu kommen unzählige sogenannte Akademiker:innen, NGO-Aktivist:innen, Neonazis und Linke sowie Islamist:innen sowie weite Teile im bürgerlichen Mainstream, die Israel kategorisch ablehnen und am 07. Oktober 2023 Jubelschreie von sich gaben, kicherten oder schwiegen. Während Hunderttausende völlig zu Recht gegen die Gefahr des Rechtsextremismus und der AfD auf die Straße gingen und gehen, ging von den gleichen Leuten fast niemand für Solidarität mit Juden und Israel auf die Straße. Ein Schelm, der Böses dabei denkt…
Das exkulpiert aber nicht Netanyahu. Der israelische Ministerpräsident ist aktuell die wohl größte konkrete Gefahr für den einzigen Judenstaat. Er wollte schon 2023 vor dem 07. Oktober mit einer geplanten Justizreform Israel in einen autoritären Staat ohne wirkliche Gewaltenteilung verwandeln. Das wird er heute fortführen und den Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, Ronen Bar, entlassen. Bar war wie Netanyahu hauptverantwortlich für das Versagen Israels, trotz offenkundiger Warnungen, das Massaker vom 07. Oktober 2023 durch die Hamas und die Palästinenser zu verhindern.
Netanyahu ist angeklagt wegen Korruption und international wird er wegen Kriegsverbrechen gesucht. Nicht nur in der Haaretz werden diese Verbrechen auch angeklagt – von zionistischer Seite. Also ist Netanyahu ein antizionistischer Kriegsverbrecher, das ist die Pointe. Das wiederum macht weite Teile Israels nicht weniger verantwortlich für die Verbrechen der IDF im Gaza-Krieg. Die israelische Militärpolizei untersucht zum Beispiel, ob die israelische Armee palästinensische Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbraucht hat. Hingegen sieht ein geplantes Gesetz in Israel vor, Menschen, die dem internationalen Strafgerichtshof – so umstritten der auch bekanntlich ist – Dokumente vorlegt, die mögliche israelische Kriegsverbrechen belegen sollten, mit einer Gefängnisstraße von bis zu fünf Jahren (!), zu verurteilen:
Tamar Meggido, an expert in international law, warned that ‚the definitions in this dangerous bill are so broad that even someone sharing on social media a photo or video of a soldier documenting themselves committing what appears to be a war crime could face imprisonment.‘
According to her, any journalist publishing an investigation that suggests a crime committed by IDF forces would also be at risk of imprisonment if the bill is passed.
Dazu kommt, dass dem israelischen Ministerpräsidenten die Geiseln vollkommen egal sind. Vermutlich werden die Dutzenden noch in den Händen der Muslim-Faschisten der Hamas befindlichen jetzt auch ermordet werden. Überlebende berichteten ja schon, dass nach jedem Scheitern von Verhandlungen und neuerlichen Kriegshandlungen sie gefoltert, geschlagen, gedemütigt und andere gar ermordet wurden. Das weiß Netanyahu, aber es ist im völlig egal. Der Zionismus ist ihm auch völlig egal, der möchte kein souveränes Israel Seite an Seite mit einem palästinensischen Staat – wie ihn zum Beispiel der Anti-Hamas Aktivist und Flüchtling aus Gaza, der jetzt in Deutschland lebt, Hamza Howidy, möchte. Netanyahu möchte nicht wegen Korruption ins Gefängnis. Dafür geht er über Leichen. Es sind vor allem palästinensische Leichen, aber auch jüdische und nicht zuletzt die Leiche des – Zionismus.

Screenshot, https://realignforpalestine.org/
Nächste Woche lädt Netanyahu rechtsextreme Politiker:innen aus Europa und der Welt nach Israel zu einer Konferenz gegen Antisemitismus ein, was selbst dem sicher nicht gerade linken Beauftragten der deutschen Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, zu heftig ist und er wird wie der französische Intellektuelle Bernard-Henri Lévy nicht hinfliegen.
Das Drama ist, dass die extreme Gefahr, die Jüdinnen und Juden in Deutschland und weltweit speziell und verschärft seit dem 07. Okober 2023 erleben, von israelischen Politikern wie Netanyahu, Ben Gvir oder Smotrich noch angeheizt wird.
Zionismus hieße, den „Anderen“ ernst zu nehmen als möglichen Verhandlungspartner, was ganz sicher nicht die Hamas inkludiert, aber ebensowenig die gesamte palästinensische Bevölkerung in Gaza ausschließen kann. Der wahnwitzige Vertreibungsplan von Trump bezüglich Gaza fiel ja in Israel auf fruchtbaren Boden.
Joe Biden ist ein alter und kranker Mann, er war ein typischer amerikanischer Kapitalist und Imperialist (und fanatischer Antikommunist), aber er war gleichwohl auch ein zionistischer amerikanischer Präsident. Er hat mehr für den Zionismus gemacht als ein Netanyahu. Ironischerweise war der Antikommunist Biden dem Sozialismus des Zionismus von 1948 unendlich näher als es Netanyahu je war. Er war für Ausgleich und Kompromiss, für Gerechtigkeit, ohne je die jüdische Selbstbestimmung aus dem Auge zu verlieren. Er hatte einen Begriff von Zionismus – das hat Netanyahu nicht, er kennt nur sich selbst und seine rechtsextremen Kumpel, die in Israel aktuell nach Millionen zählen.
Es ist nicht nur rassistischer Fanatismus, der Netanyahu antreibt, nicht nur sein eigenes politisches Überleben, sondern auch bodenlose Dummheit. Eine faschistisch-muslimische Bewegung wie die Hamas kann man nicht komplett eliminieren. Wer das nach fast eineinhalb Jahren Krieg in Gaza und den widerwärtigen Geiselübergaben durch die Hamas-Faschisten nicht kapiert hat, hat wirklich gar nichts verstanden.
Es muss um eine mühsame aber mögliche Deradikalisierung der Palästinenser:innen gehen, primär in Gaza, aber auch in der Westbank und weltweit. Es muss um eine zionistische Antwort auf das genozidale Massaker vom 07. Oktober gehen – nicht um einen Krieg, der nicht zu gewinnen ist und es darf nicht mit weiter mit rechtsextremen, sexistischen, ja in Teilen offen faschistischen Politiker:innen wie Smotrich oder Ben Gvir zusammengearbeitet werden.
Der Zionismus und Israel und die Welt haben Besseres verdient als die aktuelle israelische Regierung. Dazu jedoch muss die gesamte israelische Bevölkerung aufstehen und nicht nur ein paar Zehntausend Demonstrant:innen. Das mehrheitliche Schweigen der ach-so Pro-Israel-Szene zu Netanyahus kriminellen und antidemokratischen Aktivitäten oder seinen Kriegsverbrechen tut ein Übriges.
Wer gegen die Zweistaatenlösung ist, ist Antizionist. Das meint ironischerweise nicht nur linke Israelhasser:innen oder Fans einer selbstmörderischen Einstaatenlösung oder eines binationalen Wahngebildes, das der vormalige Anhänger dieser Idee und Zionist Gershom Scholem spätestens seit Mitte der 1930er Jahre als naiv und eben selbstmörderisch erkannte, sondern gerade auch die aktuelle israelische Regierung und den Mainstream der israelischen Gesellschaft, der weiter paralysiert ist wegen dem 07. Oktober und „den Anderen“ nicht sehen kann oder will und seien es pro-israelische palästinensische Anti-Islamisten, die „Freiheit für Palästina“ fordern …
Ein jüdischer Autor aus Ungarn bringt es in der Haaretz angesichts von geplanter Mangelernährung und bewusster Unterversorgung mit Grundnahrungsmitteln in Gaza durch Israel – von den sonstigen brutalen Kriegshandlungen ganz zu schweigen – so auf den Punkt:
Many Jews believe that they have a duty to defend Israel, regardless of its conduct. I believe that, besides our natural support and commitment to the Jewish state, we must draw a line. We cannot sacrifice the universal and Jewish ideal of justice and humanity on the altar of defending Israel, right or wrong, even when it acts in an unjust manner.
Moreover, we are not helping Israel either: we are failing to hold up a mirror to it and continue to allow it to fall into an ever deeper moral abyss. Israel has as much right to exist in the world as any other nation, and when it is attacked, it must be supported in the same way as any other country, but we must also speak out against violations and abuses, including those committed by Jews or the Jewish state. It is the only way to preserve our own moral integrity and, in my view, the only right way to show solidarity with Israel.
Der ehemaligen israelische Ministerpräsident Ehud Barak erkennt bei Netanyahu einen „toxischen Narzissmus„, auch eine Form des Antizionismus.
„Once again, it was a frontal assault launched by Netanyahu against state institutions, particularly Shin Bet, which is responsible for the investigation. And he, Netanyahu, is once again the victim.
‚Netanyahu has completely succumbed to self-delusion. He doesn’t even feel a trace of cognitive dissonance. On the contrary, he remains convinced that he is still saving Israel and even the entire West from an Islamo-Nazi conspiracy,‘ says former Israelis Prime Minister Ehud Barak, 82, who spent four years as Netanyahu’s defense minister beginning in 2009. Barak knows Netanyahu better than most and says the prime minister is suffering from a case of ‚toxic narcissism.’”