Clemens Heni

Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Ende einer Epoche: Zum Tode meines Freundes, des Historikers und zionistischen Intellektuellen Robert Solomon Wistrich, z‘‘l

Robert S. Wistrich war der weltweit bekannteste und renommierteste Antisemitismusforscher unserer Zeit. Er war einer der berühmtesten israelischen Forscher in den Geisteswissenschaften überhaupt. Der am 7. April 1945 in Kasachstan als Sohn polnisch-jüdischer Eltern geborene Historiker war „Neuburger Professor“ für „moderne europäische und jüdische Geschichte“ an der Hebräischen Universität Jerusalem und seit 2002 Direktor des dort 1982 gegründeten Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism (SICSA), das sich seither einen Ruf als einzigartige Forschungsstätte erworben hat. Robert Solomon Wistrich starb am 19. Mai 2015 während einer Vortragreise in Rom an einem Herzinfarkt.

 

Prof. Dr. Robert Solomon Wistrich, Berlin, 16. September 2014

Prof. Dr. Robert Solomon Wistrich, Berlin, 16. September 2014

Sein Tod trifft seine Familie und Freunde, aber auch die weltweite Community von Zionisten und kritischen Antisemitismusforscherinnen- und forschern wie ein unfassbares Beben. Ein Schock.

 

Dabei mag es rückblickend wie ein Wunder wirken, dass Wistrich 70 Jahre alt wurde, wie sein Sohn auf der Beerdigung am 21. Mai 2015 in Jerusalem sagte – denn im Alter von 27 wurde bei Wistrich eine Krebsart diagnostiziert, bei der die Überlebenschancen laut Enzyclopaedia Britannica bei 2% liegen.

 

Robert wirkte am 14. Mai 2015, dem Tag, als wir uns das letzte Mal sahen, zuerst müde. Doch selbst in solchen Momenten vermochte er es wie kein zweiter public intellectual zu brillieren. Er sprach auf dem Global Forum for Combating Antisemitism, der weltgrößten Konferenz gegen Antisemitismus, zum Lunch. Vor ihm hatte Dan Shapiro, ein junger aufstrebender Diplomat, Botschafter der USA in Israel, eine Rede gehalten. Dessen Lobeshymnen auf Obamas Kampf gegen Antisemitismus ließ Wistrich nicht unkommentiert. Er begann gerade in diesem Rahmen seine Rede mit einer „ganz typischen jüdischen Frage“: „Wenn alles so wunderbar ist, warum ist es dann so schlimm?“ Seine letzte große Rede, vor 600 Gästen im Jerusalem Convention Center, war der intellektuelle Höhepunkt des Global Forums.

Robert Wistrich Clemens Heni Perry Trotter May 14, 2015, Jerusalem

Robert Wistrich, Clemens Heni, Perry Trotter, Jerusalem, 14. Mai 2015, Global Forum for Combating Antisemitism

 

Später ging Robert noch in eine der working groups (über Holocaust-Trivialisierung), und wir sprachen noch sehr lange und waren bei den Allerletzten, die das Global Forum verließen. Er erzählte mir, dass er seine Nachfolge als Direktor des Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism (SICSA) ab Oktober 2015 regeln müsste. Merkwürdigerweise legte ihm die Hebräische Universität eine Liste mit Namen vor, darunter ausschließlich eigene Dozenten. Schließlich sagte mir Robert mit einem gewissen Schulterzucken sinngemäß, er habe schließlich die womöglich am wenigsten problematische Person gewählt…

 

Der Tod von Robert S. Wistrich besiegelt das Ende des Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism (SICSA), auch wenn das Zentrum formal erstmal weiterexistieren wird. Doch als führender zionistischer Intellektuelle, als der bedeutendste Antisemitismusforscher und als Historiker jüdischer Geschichte ist er nicht zu ersetzen. SICSA war Robert Wistrich und vice versa.

 

Er meinte, vielleicht würden wir uns ja am Sonntag am Ben Gurion International Airport treffen, da er nach Rom und wir zurück nach Berlin fliegen würden. So kam es, dass ich am Mittwochmorgen von Anat Varon, Roberts letzter Doktorandin, eine E-Mail bekam mit der schrecklichen Nachricht. Es gab vielfach Anzeichen für seinen wirklich schlechten Gesundheitszustand, doch Vorsicht, Zurückhaltung oder die Sorge um sich selbst waren ihm offenbar unbekannt. Anat zeigte mir Roberts Lieblingsplätze an der Hebräischen Universität, seinen quasi kaum bekannten zweiten Arbeitsraum (neben jenem bei SICSA) und sie erzählte wie genussvoll er bei Gesprächen über ihre Dissertation zu Franz Werfel, Österreich und jüdische Geschichte, Schokolade aß, die sie immer mitbrachte.

Prof. Dr. Robert S. Wistrichs Arbeitszimmer an der Hebräischen Universität Jerusalem

 

In seiner Rede auf dem Global Forum spannte Robert den Bogen vom Kampf gegen den Antisemitismus hin zum jüdischen „Empowerment“, zum aktiven Eintreten für Israel als das Land der Juden, wie es in einer bahnbrechenden Ausstellung des Simon Wiesenthal Centers, die Wistrich erarbeitet hat und die – nachdem Proteste arabischer Staaten, sie könne den „Friedensprozess“ gefährden, für eine Verschiebung ihrer Eröffnung und Umbenennung gesorgt hatten – selbst bei der UNESCO in Paris und dem UN-Hauptquartier in New York gezeigt wurde, so phänomenal deutlich wird: „People, Book, Land: The 3500 Year Relationship of the Jewish People with the Holy Land“.

 

Robert Wistrich war es, der mich im Dezember 2002 zu meiner ersten Israelreise einlud, mitten in der zweiten Intifada. Mein Vortrag auf seiner ersten großen Konferenz als Leiter von SICSA – über Medien, Antizionismus und politische Kultur in der Bundesrepublik – verursachte eine tomatenroten Kopf des Kulturattachés der Deutschen Botschaft in Israel, die meine Reise mitfinanziert hatte, und eine offizielle Beschwerde der Deutschen Botschaft beim Präsidenten der Hebräischen Universität Jerusalem über meine Person (und über meinen Kollegen Martin Ulmer von der Universität Tübingen). Die Botschaft forderte die Hebräische Universität auf, das Zentrum nicht weiter (oder weniger stark) zu unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt war Robert Wistrich noch keineswegs als Leiter von SICSA etabliert, wenngleich als Antisemitismusforscher schon längst eine Berühmtheit.

Es war eine Ehre als frisch gebackener Promotionsstipendiat der Hans Böckler Stiftung (HBS) von offizieller Seite so wahrgenommen zu werden. Konsequenz: der Präsident der Hebräischen Universität befand unsere Vorträge als wissenschaftlich einwandfrei, es gab seither keinerlei Kontakt mehr zwischen SICSA und der Deutschen Botschaft. Ich bekam 2003 und 2004 ein Felix Posen Fellowship von SICSA. Robert selbst erwähnte diesen Konflikt mit der Deutschen Botschaft bei unserem Besuch am 12. Mai 2015 bei SICSA.

 

Wistrichs Bezeichnung des Antisemitismus als „der längste Hass“, wie sein gleichnamiges Buch und eine daran angelehnte dreiteilige Fernsehserie 1991 hießen – Antisemitism: The Longest hatred –, ist so prägnant wie mittlerweile international etabliert.

 

1985 beschrieb Wistrich in seinem Buch Hitler’s Apocalypse (auf Deutsch 1987: Der antisemitische Wahn: Von Hitler bis zum Heiligen Krieg gegen Israel), wie er bereits zehn Jahre zuvor in England eine neue Form des Antisemitismus bemerkt hatte: den antizionistischen Antisemitismus, der heute ein wesentlicher Teil dessen ist, was man „neuer Antisemi­tis­mus“ nennt. Dieser ging zunächst vor allem von Linken, häufig gut ausgebildeten Leuten an Universitäten aus.

Was damals noch am Rande der Gesellschaft sich zutrug, ist längst Mainstream. Der islamische Antisemitismus benötigt den Antisemitismus der Linken und des Mainstreams in westlichen Ländern dringend. Ohne wohlwollende, abwiegelnde Linke, Liberale und naive Multikulturalisten, die das Thema muslimischer Antisemitismus aus den Universitäten zu verbannen suchen, hätten die Islamisten kein so leichtes Spiel.

 

Robert S. Wistrichs wissenschaftliche Karriere begann an der berühmten Wiener Library in London in den 1970er-Jahren, nachdem er Ende der 1960er-Jahre unter anderem im kalifornischen Stanford studiert hatte. 1982 erhielt Wistrich eine Professur an der Hebräischen Universität in Jerusalem, der Hauptstadt Israels. Man kann seine Forschungen in fünf Kategorien einteilen, wobei im Folgenden nur seine Bücher aufgeführt werden. Hinzu kommen etliche von ihm herausgegebene Bände, Hunderte Artikel, Einführungen zu Bänden, Broschüren und andere Texte, die fast alle ebenfalls in diese Kategorien fallen:

 

1) Die Linke und Antisemitismus. Hierzu zählen folgende Monografien: Revolutionary Jews from Marx to Trotsky (1976); Trotsky: Fate of a Revolutionary (1979); Socialism and the Jews: The Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria-Hungary (1982); From Ambivalence to Betrayal. The Left, the Jews and Israel (2012).

2) Die Geschichte der Juden mit einem Schwerpunkt auf dem deutschsprachigen Judentum in Europa von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933. Hierzu zählen seine 700 Seiten starke, mehrfach preisgekrönte Arbeit The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph, 1987 abgeschlossen, 1989 auf Englisch publiziert (1999 auf Deutsch Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs); Between Redemption and Perdition. Antisemitism and Jewish Identity (1990); Austrians and the Jews in the Twentieth Century: From Franz Joseph to Waldheim (1992); Austrian Legacies: Jews and National Identity (2004); Ma’abada le-heres ha-olam. Germanim ve-yehudim be mercaz-europa (2006); Laboratory for World Destruction. Germans and Jews in Central Europe (2007).

3) Hitler, der Nationalsozialismus und der Holocaust. Who is Who in Nazi Germany (1982; 1983 und in weiteren Auflagen auf Deutsch unter dem Titel Wer war wer im Dritten Reich?); Hitler’s Apocalypse: Jews and the Nazi Legacy (1985; auf Deutsch 1987 Der antisemitische Wahn: von Hitler bis zum Heiligen Krieg gegen Israel); Weekend in Munich: Art, Propaganda and Terror in the Third Reich (1995; auf Deutsch 1996 Ein Wochenende in München: Kunst, Propaganda und Terror im Dritten Reich); Hitler and the Holocaust“ (2001; auf Deutsch 2003 Hitler und der Holocaust).

4) Theorien und Analysen des Antisemitismus und Antizionismus. Antisemitism: The Longest Hatred (1991); ebenso in Hitler and the Holocaust und in A Lethal Obsession. Anti-Semitism from Antiquity to the Global Jihad (2010).

5) Muslimischer Antisemitismus. Diesen betrachtete Wistrich zunächst in Hitler’s Apocalypse (siehe [3]), sodann in der Broschüre Muslim Antisemitism. A Clear and Present Danger (2002,) sowie in weiten Teilen von A Lethal Obsession (2010), das neben (4) und (5) auch die anderen analytischen Kategorien behandelt.

 

Wer Wistrichs Bücher, Artikel und Broschüren liest, Interviews von ihm hörte, mit ihm diskutierte oder seine Vorträge live erlebte, bemerkte sofort: Inmitten einer geschwätzigen, sich am liebsten selbst bespiegelnden und innerhalb der eigenen Schulrichtung untereinander sich zitierenden Forscherwelt sprach hier jemand, der etwas zu sagen hat, der seine Analysen öffentlich diskutiert wissen wollte und sich nicht im Elfenbeinturm versteckte. Seine Bücher haben eine Geschichte.

 

Wistrich forschte und publizierte nicht, um eine lange Publikationsliste vorweisen zu können, wie es heute nicht selten mit Indifferenz zum Sujet der Fall ist. Seine Vorworte zu vielen seiner Studien zeugen von einer persönlichen Beziehung zu der jeweiligen Forschung. Sein Werk über die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs, die Geschichte der Juden im Habsburgerreich (dem ältesten europäischen Herrschaftsverbund, der von Ende des 13. Jh. bis 1918 währte), hat viel mit seiner Herkunft zu tun. Er widmete das Buch seinen vier Großeltern (Salomon und Anna Wistreich sowie Simon und Helena Silbinger), die Bürger von Krakau waren, das damals zur österreichisch-ungar­ischen Monarchie gehörte. Bereits 1969/70 fing er an, sich als Student an der Hebräischen Universität Jerusalem Wien und dem Fin de Siècle zu widmen – ein Projekt, das knapp 20 Jahre später in die genannte Studie mündete. Viel machte Wistrich an Personen fest, etwa an Sigmund Freud oder Arthur Schnitzler, Karl Kraus oder dem Rabbiner, Politiker und Autor Joseph Bloch.

 

Prof. Dr. Robert S. Wistrichs Zimmer als Direktor des Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism (SICSA)

Prof. Dr. Robert S. Wistrichs Zimmer als Direktor des Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism (SICSA)

Friedrich Nietzsche war für viele Zionisten um 1900 Inspiration für einen jüdischen Aufbruch, eine lebensfreudige, ästhetische, kraftvolle Kritik am herrschenden geistigen Stillstand des christlichen Europa mit seinem immer stärker werdenden Antisemitismus, gerade in Österreich-Ungarn und Deutschland, aber auch in Frankreich. Nietzsche war eine Provokation für Deutschtümler, Christen und Antisemiten. Wistrich zeigte, wie Nietzsche gegen den Antisemitismus im 19. Jahrhundert kämpfte und sich von seiner Schwester und von Richard Wagner geradezu angewidert abwandte. Ebenso analysierte Wistrich in Laboratory for World Destruction, wie manche Texte oder Phrasen Nietzsches wie der „Übermensch“ von Rechten und dem Nationalsozialismus in deren völkische Richtung uminter­pretiert werden konnten, was gleichwohl einer kompletten Verkehrung gleichkam. Tatsächlich hatte Nietzsche eher einen jüdischen „Supermann“ (so Wistrich) und vor allem eine „Entdeutschung“ im Blick als ein teutonisches Monster, was auch die Faszination der Zionisten und anderer Intellektueller, Außenseiter und Gesellschaftskritiker um 1900 und später erklärt. Wistrich geht auf die Analyse der Bibel aus der Feder des eher projüdischen Philosophen ein. Nietzsche machte sich über Christen lustig und feierte das Judentum, ohne ein plumper ‚Philosemit‘ zu sein – dafür waren sein Sarkasmus, seine Kritik und seine Umwertung der allzu deutschen Werte, die sich als Vorbild die Bosheit Heinrich Heines nahmen, viel zu stark, Leib gewordenes „Dynamit“. Nietzsche trennt in Die Genealogie der Moral zwischen Altem und Neuem Testament: „Das Alte Testament – ja, das ist ganz etwas anderes: alle Achtung vor dem Alten Testament! In ihm finde ich große Menschen, eine heroische Landschaft und etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivität des starken Herzens.

 

Robert Solomon Wistrich war nicht nur ein Historiker europäischer Geschichte. Insbesondere die intellektuellen Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert, häufig an herausragenden Protagonisten festgemacht, waren wesentliches Element seiner Forschungen. Interessant ist, wie er Geschichte mit heutiger Politik politisch-philosophisch in Beziehung setzte beziehungsweise heutige Phänomene kontextualisierte; so z. B., wenn er in Lethal Obsession den iranischen Revolutionsführer Ayatollah Khomeini und das iranische Prinzip des wali al-faqih, das dem oberster Herrscher die Exekutive, Judikative und die Legislative unterordnet, erwähnte und dieses Prinzip zu einer „dynamischen, schiitischen Version des platonischen Philosophenkönigs“ erklärte.

 

Wisstrich kannte sich in den Werken von Franz Mehring, Karl Marx, Karl Kautsky, Rosa Luxemburg, Theodor Herzl und Victor Adler so gut aus wie in der gegenwärtigen islamistischen Literatur und Publizistik aus Iran, Ägypten, den Golfstaaten, Syrien und dem Irak sowie der Palästinensischen Autonomiebehörde. Er war ein Aufklärer und weiß doch um die Dialektik der Aufklärung. Voltaire war nicht nur eine wichtige Figur der Aufklärung im 18. Jahrhundert, er war auch ein „rabiater Judenfeind“ mit großer Ausstrahlung nicht nur auf den französischen Antisemitismus (z. B. den Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon). Wistrich wusste um die Bedeutung von Bildung in der heutigen Zeit, doch ebenso war ihm vor dem Hintergrund der Geschichte des westlichen Antisemitismus und des Anteils der Gebildeten und Eliten daran seit dem Mittelalter bis in unsere modernen und postmodernen Zeiten bewusst: „Es ist nicht genug“, wie er 2009 auf einem Vortrag in Kanada sagte. Wer sich die Forschungstendenzen an Universitäten anschaut und sieht, dass gerade von den vorgeblich gebildetsten Kreisen Antisemitismus und Islamismus trivialisiert, vernebelt, wenn nicht massiv gefördert werden, merkt, wie naiv bloße Appelle wie „mehr Bildung für alle“ oder „Migranten in Deutschland brauchen mehr Bildung“ sein können.

 

Wistrich promovierte mit der oben genannten Arbeit Socialism and the Jews – eine über 700 Druckseiten dicke Arbeit, die auf der „Shiva“, der siebentägigen Trauerzeit im Hause des Verstorbenen, gemeinsam mit allen anderen Werken aus seiner Feder gezeigt wurde, was wie ein roter Faden in seinem Leben ist: die Geschichte der Linken und die der Juden.

 

Sein Vater, Jacob Wistreich, war kurzzeitig Mitglied der linken zionistischen Gruppe Hashomer Hatzair, wurde aber bald darauf durch eine Zwangsumsiedlung unter Stalin 1940 seiner Träume von einem „sozialistischen Paradies“ beraubt, wie Wistrich schreibt. Doch viel wichtiger: So überlebte der Vater den Holocaust; das Gleiche gilt für Sabina, Robert Wistrichs Mutter, der er mehrere seiner Bücher widmete. Fast die Hälfte seiner Familie hat Wistrich in der Shoah verloren.

 

Die Geschichte der Juden in Europa war für Robert S. Wistrich also sowohl biografisch als auch wissenschaftlich von herausragendem Interesse. Er wuchs in England auf, sprach aber zuerst Polnisch und Französisch, ebenso lernte er Englisch, Deutsch und Hebräisch; zudem konnte er Jiddisch, Russisch, Ukrainisch, Tschechisch, Italienisch, Spanisch, Lateinisch, Niederländisch und Arabisch.

 

Wistrich kannte eine ungeheure Anzahl von Dokumenten, gedruckten wie ungedruckten, und war in vielen wichtigen historischen Archiven von Paris bis New York, Jerusalem, Tel Aviv, Washington D. C., London, Rom und Wien unterwegs, um nur einige Orte zu nennen. Er hatte die Gabe, sich in die Details zu vertiefen und dabei das Ganze der Gesellschaft nicht aus den Augen zu verlieren und auf den Begriff zu bringen. So zitierte er zum Beispiel aus einem Brief des Wiener Komponisten Arnold Schönberg an den Maler Wassily Kandinsky vom April 1923, in dem der ansteigende Antisemitismus am Beispiel der „Bauhaus-Architektur-Schule“ in Deutschland thematisiert wird und Schönberg resigniert feststellt, dass er als Jude sich aus der Menschheit fast schon ausgeschlossen vorkommt, so aggressiv war schon seinerzeit das antisemitische Klima. Das bettete Wistrich in die Geschichte des Antisemitismus bis zum Holocaust ein, ausgehend vom Habsburger Reich, von Multiethnizität und Moderne hin zu Deutschtum, Nationalismus, Karl Lueger und Hitler.

 

2010 publizierte Wistrich im New Yorker Verlag Random House die derzeit umfangreichste und bedeutendste Monografie über die Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus: A Lethal Obsession: Anti-Semitism from Antiquity to the Global Jihad (Eine tödliche Obsession: Antisemitismus von der Antike bis zum weltweiten Jihad). In diesem quellengesättigten, über 1.100 Seiten zählenden Werk stellt er in fünfundzwanzig Kapiteln umfassend die Geschichte des Antisemitismus dar – mit einem klaren Schwerpunkt auf dem zwanzigsten und vor allem einundzwanzigsten Jahrhundert. Es ist ein wissenschaftliches Standardwerk der Antisemitismusforschung und zugleich ein eminent politisches Buch, eine Einmischung, kein esoterisches Kleinklein für Oberstudienräte oder habilitierte Karrieristen.

 

Man sah es dem Verfasser durchaus schon an: Rollkragenpullover und Jackett sind nicht nur Insignien kritischer philosophischer Kreise der 1960er-Jahre und später. Wer wie Wistrich nicht selten öffentlich so auftrat, so auch bei seinem letzten großen Auftritt am 14. Mai 2015 in Jerusalem, gibt damit auch ein Statement ab. Man ist versucht zu sagen: Etikette ist etwas für „wannabees“, Intellektuelle haben das nicht nötig. Oder einfacher gesagt (mit Hegel im Hinterkopf): Inhalt schlägt Form. Der ruhige und sachliche, aber persönliche, engagierte Ton sowie seine historischen und philosophischen Anspielungen waren ungemein inspirierend. Wistrich betonte mitunter, wer ihn zu seinen vielfältigen Studien animiert hatte, zum Beispiel Simon Wiesenthal, der ihn Mitte der 1980er-Jahre bat, doch die Beziehung von Antizionismus und Antisemitismus zu untersuchen. Dieses Thema avancierte zu einem Schwerpunkt der Forschungen Wistrichs und mündete in die bereits erwähnte Analyse in Buchform und die TV-Serie Antisemitism: The Longest Hatred.

20 Jahre später, gleich zu Beginn des Buches Lethal Obsession, strich Wistrich heraus, dass der Antisemitismus seit dem Ende des Nationalsozialismus keine solche „Hochzeit“ („heyday“) mehr erlebt habe wie heute im Nahen Osten. Der Antisemitismus ist aus Deutschland in den Nahen Osten gewandert, ohne bloß exportiert worden zu sein. Wer bei Sinnen ist, kann weder die ungeheuerliche Quantität noch die gefährliche neue Qualität des muslimischen Antisemitismus ignorieren.

Wistrich war auch ein Kritiker mancher Erklärungen über den Holocaust (in seinem Buch Hitler and the Holocaust) und der These, die Moderne, Bevölkerungspolitik oder eine „Ökonomie der Endlösung“ und nicht ideologischer Hass und Antisemitismus seien für die Shoah verantwortlich gewesen. Hitler und der Nationalsozialismus insgesamt hatten eine „millenaristische, apokalyptische Ideologie der Vernichtung“, in deren Zentrum der „Antisemitismus“ stand, wie Wistrich hervorhebt. Wie bei seinen heutigen Analysen des islamischen Antisemitismus wendet sich der Historiker bei der Analyse des Holocaust gegen Rationalisierungen und ein Verstehenwollen von antisemitischer Agitation und Aktion, wo sich doch irrationaler Hass jenseits der Vernunft oder ökonomischer Logik befindet. Es gibt keine „Logik der Modernisierung“ in der Tatsache, dass die Deutschen 2.200 Juden von der griechischen Insel Rhodos nach Auschwitz deportierten, wie er schreibt.

 

Die herkömmliche Forschung ignoriert und derealisiert die internationalen Diskussionen über Antisemitismus in den letzten zehn Jahren. Sie will nichts von der Resignation der Juden in den Niederlanden wissen, von der der israelische Forscher und Holocaustüberlebende Manfred Gerstenfeld berichtet, wo viele Juden keine Zukunft mehr für sich in einem zunehmend von aggressiven Muslimen beziehungsweise Islamisten bestimmten Land sehen. Ähnlich sieht es in Schweden aus. Und Juden in Deutschland trauen sich kaum, offen mit Magen-David-Halskette durch die Straßen zu laufen, vor jeder Synagoge und jedem jüdischen Kindergarten stehen schwer bewaffnete Polizisten, um Juden vor antisemitischen Angriffen zu schützen. Ein Blick ins Internet zeigt einen teils unfassbar brutalen und vulgären Antisemitismus. Auch Robert Wistrich sprach in den letzten Jahren zunehmend pessimistischer über die Zukunft der Juden in Europa.

Die europäischen und deutschen Wirklichkeiten im virtuellen Raum, aber ebenso in Redaktionsstuben, auf den Straßen, in Forschungskolloquien, beim Einkaufen, auf Demonstrationen etc. sind vor allem seit dem Jahr 2000 und dann nach 9/11 von einem enormen Antisemitismus bestimmt. Die meisten Forscher wollen ihn nicht erkennen, weil er meistens nicht im Neonazi-Style daherkommt, sondern sich als „Israelkritik“ versteckt und aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Der einstimmige Bundestagsbeschluss am 1. Juli 2010 bezüglich der sog. Gaza-Flottille ist ein Beleg für die zunehmende Israelfeindschaft selbst in einem Land, das sich als Freund des jüdischen Staates geriert. Und dann kam der antisemitische Sommer 2014 mit den brutalsten, massivsten und größten antijüdischen Aufmärschen in ganz Europa seit Jahrzehnten.

 

Im November 2011 erschien der erste „Antisemitismusbericht“ der Deutschen Bundesregierung („Antisemitismus in Deutschland. Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze“), verfasst von einem „unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus“, der sich aus zehn teils erfahrenen Forschern zusammensetzte. Darin wurden nicht nur die deutsch-iranischen Beziehungen außen vor gelassen und eine Analyse und Kritik des Islamfaschismus (in seiner historischen wie gegenwärtigen Version) verweigert. Auch die meisten der international bedeutenden Forscher zu muslimischem Antisemitismus wurden bewusst ignoriert. Während manche (Antisemitismus-)Forscher mit englischen Texten durchaus rezipiert wurden, ignorierte der Bericht z.B. alle Bücher und Artikel von Robert S. Wistrich, obwohl seine Texte sogar auf Deutsch vorliegen. Solche Ignoranz entspräche einer Studie über Die Geschichte der Physik in den Jahren 1900 bis 1925, die Albert Einstein noch nicht einmal erwähnte.

 

Würden die meisten deutschen (Antisemitismus-)Forscher/innen die Diskussionen in den jüdischen Gemeinschaften, z. B. in Europa, Israel und den USA kennen, wären sie über die dortigen Ängste in den letzten zehn Jahren informiert und würden nicht Texte publizieren, die z. B. in Anlehnung an Umfrageerbnisse ernsthaft behaupten, 47 % der Linken seien zwar „antiisraelisch“, aber nur 3 % davon antisemitisch. Als ob die Ablehnung des jüdischen Staates Israel nicht einen Kern des heutigen Antisemitismus ausmachte. Wer gegen (einen jüdischen Staat) Israel ist, ist heutzutage natürlich ein Antisemit, da Israel der Staat der Juden ist.

 

Die Situation in Europa und Deutschland ist dramatisch und die Forschung versagt in weiten Teilen. Antisemitismus ist unschwer erkennbar, wenn man denn nur luzide untersucht und nicht nur auf der Oberfläche surft. Eine Analyse der Medien ist von großer Bedeutung.

Ein Witz, den Robert S. Wistrich bei der offiziellen Präsentation seines Meisterwerkes A Lethal Obsession am 5. Januar 2010 im Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington D. C. im Beisein des bekannten Historikers Jeffrey Herf erzählte, mag verdeutlichen, wie Antisemitismus heute in Europa häufig funktioniert. Der Witz geht so: Steht ein kleines Mädchen verlassen in der Flughafenhalle in Paris und wird von einem aggressiven Hund, einem Pitbull, attackiert. Reaktionsschnell erschießt ein zufällig vorbeikommender Mann den Hund und rettet das Mädchen. Natürlich kommen sofort viele Journalisten, machen Bilder, loben den Helden und sagen zu ihm: „Morgen werden wir in den Pariser Zeitungen mit der Schlagzeile ‚Pariser rettet Mädchen vor dem Angriff eines Hundes‘ aufmachen.“ Daraufhin der Mann: „Aber ich bin gar nicht aus Paris.“ „Okay, dann schreiben wir ‚Franzose rettet Mädchen vor dem Angriff eines Hundes‘.“ „Aber ich bin auch kein Franzose.“ „Na gut, dann schreiben wir ‚Europäer rettet Mädchen‘.“ „Aber ich bin auch kein Europäer. Ich komme aus Israel.“ Darauf dann die Journalisten unisono: „Ah, okay. Dann bringen wir morgen die Headline: ‚Israeli tötet den Hund eines Mädchens‘.“

Seit Mitte der 1980er-Jahre betonte Wistrich (wie in seinem Buch Hitler’s Apocalypse von 1985), dass der muslimische Antisemitismus eine große Gefahr ist. Dies ist empirisch nachvollziehbar und zeigt, dass in Israel und den USA dieser Sachverhalt schon weitaus früher erkannt wurde, während sich in Deutschland bis heute der allergrößte Teil der universitären Forschung und der Mainstream der Politik, des Journalismus und der politischen Aktivisten weigern, dies auch nur zu thematisieren. Wistrich war als Forscher und Stipendiat bereits in den frühen 1970er-Jahren in der Bundesrepublik und hat sich seitdem intensiv und kontinuierlich mit den Diskussionen um Antisemitismus in Deutschland beschäftigt. In Lethal Obsession bezog er sich sowohl auf die Kritik von Henryk M. Broder am linken Antizionismus in der Bundesrepublik der 1970er- und 1980er-Jahre als auch auf die Kritik am Islamismus, am Wegschauen, Duckmäusern und Plädieren für den unhinterfragten Dialog, die Broder in seinem Buch Hurra, wir kapitulieren (2006) formulierte.

Im Herbst 2014 fragte mich Robert, ob ich nicht eine Chance sehen würde, sein Buch „Der antisemitische Wahn“ von 1987 (das war die deutsche Ausgabe von „Hitler’s Apocalypse“) neu herauszugeben. Er sähe darin viele Aspekte des heutigen Antisemitismus antizipiert und wolle das Buch mit einem aktuellen Vorwort im Jahr 2015 publizieren. Natürlich sagte ich zu, das Buch herauszugeben. Bei dem oben erwähnten Treffen bei SICSA, exakt eine Woche vor seinem Tod in Rom, gab mir Robert einen Ausdruck seiner ganz frisch geschriebenen Einleitung zu diesem Band. Diese Einleitung ist ein Rückblick auf seine Forschung sowie die politischen Entwicklungen des Antisemitismus in den letzten 30 Jahren. Der Text wird im Sommer 2015 als Teil der Neuausgabe von „Der antisemitische Wahn“ in deutscher Sprache erscheinen. Robert S. Wistrichs Einleitung kann nun geradezu als eine Art wissenschaftliches und politisches Testament gelesen werden, da es einer der letzten längeren Texte ist, die er unmittelbar vor seinem Tod geschrieben hat und der ganz grundsätzlich zusammenfasst, was er unter Antisemitismusforschung verstand.

 

Es war immer eine solche Freude mit ihm – wem sonst? – über die merkwürdigen Forschungen vieler unserer Kolleg/innen zu sprechen. Seine Zustimmung wie Kritik war über viele Jahre hinweg Inspiration und von einer unbeschreiblichen Motivation geprägt. Er hatte viele Probleme mit der Mainstreamforschung, die dem Gerede oder esoterischen Kleinklein noch immer der Kritik und luziden Analyse Vorzug gab und gibt. Robert wusste das und spürte es schmerzlich. Er ließe sich mitunter auch zu Vorträgen einladen von Leuten, die er wissenschaftlich teils sehr problematisch empfand (oder zu empfinden lernte), wie er mir einmal sagte.

 

Der Kern seiner zahlreichen öffentlichen Auftritte ist folgender: Wie kein anderer verstand er es, wie zum Beispiel auf der großen Abschiedskonferenz als Professor der Hebräischen Universität im Frühsommer 2014 in Jerusalem, „to step back“, einen Schritt zurück zu gehen und sich das große Bild anzuschauen. Er hatte den Überblick und zeigte die großen Linien auf. Selten wurde das postmoderne Geschwätz vom Ende der großen Ideen und der Foucaultianismus so sehr der Unwahrheit geziehen wie in Reden und Texten von Robert Wistrich.

 

Wenn die Stadt Jerusalem „Body and Soul“ meint, wie ein Dokumentarfilm von Gloria Greenfield heißt, bei dem Robert Wistrich eine wichtige Rolle spielt, somit die städtische Verkörperung der Verbindung von Juden zum Land Israel, dann war Robert Wistrich die intellektuelle Verkörperung jüdischer Geschichte und des Zionismus.

 

Diese Geschichte des jüdischen „Empowerment“ ist es, die so zentral war für das Werk von Robert S. Wistrich. Die ruhige Art, in der er sprach, das Blicken, ob das Ungeheuerliche, das er analysierte, überhaupt als solches erkannt würde, war so faszinierend und mitreißend, ja intellektuell inspirierend. Robert wurde die letzten Jahre religiöser, wie seine Witwe Daniela in ihrer Rede erwähnte, was gleichwohl in Kontrast oder einem dialektischen Verhältnis stand zu seiner gleichsam jugendlichen Freude, mit uns im Herbst 2014 in Berlin eine ganz unkoschere Wurst mit Pommes zu essen und es im Sonnenlicht zu genießen. Seine Ironie war köstlich, auch wenn er sich auf Bildern als der fünfte Beatle hineinphotoshopte, wie man heute sagen würde.

 

Es war bewegend, wie Daniela mir auf der Shiva das Arbeitszimmer von Robert zeigte und auch private Fotografien aus seinem und zu weiten Teilen ihrem Leben.

 

Robert sprach immer wieder mal von sich als „Marathon-Man“, was Susanne Wein und ich nach fünf- oder sechsstündigen Gesprächen wie in Berlin oder New Haven (CT, USA) erleben konnten, er blühte nach stundenlangen Diskussionen noch mehr auf. Robert besaß ein sagenhaftes Erinnerungsvermögen, von Episoden aus dem Leben von Hannah Arendt – die er nicht wirklich schätzte – über den Zionisten Ben Halpern – der mal sein Nachbar war – reichte die Palette der Beziehungen.

Als Historiker des linken Umgangs mit Juden bzw. des linken Antisemitismus und der Geschichte der Juden in Europa kam Wistrich schon Mitte der 1980er Jahre zum Thema des Islamismus oder des antijüdischen und antiwestlichen Jihad. Die eminente Bedeutung seiner Analyse zumal des muslimischen Antisemitismus zeigt sich vor dem Hintergrund der üblichen Abwehrmaßnahmen innerhalb der Geschichtswissenschaft, Soziologie, Politologie, Islam- und Nahostforschung, Literaturwissenschaft, Amerikanistik und Arabistik, Irankunde und Antisemitismusforschung. Dort schwelgen viele Forscherinnen und Forscher lieber in postkolonialer und postorientalistischer Theorie und schüren antiwestliche Ressentiments, statt sich mit der Realität des mörderischen, weltweit agierenden Jihad und islamischen Antisemitismus zu befassen und Kritik zu üben.

 

In seiner deutschen Ausgabe Muslimischer Antisemitismus, zu der er mich und den Verlag Edition Critic 2011 angeregt hat, nachdem das American Jewish Committee (AJC) in Berlin sich Jahre zuvor geweigert hatte, eine Übersetzung der ursprünglich 2002 auf Englisch in USA vom dortigen AJC publizierten Broschüre anzugehen, ging Robert S. Wistrich auf die gesamte Geschichte der islamischen Judenfeindschaft seit Mohammeds Zeiten ein. Selbstredend wurden viele Aspekte nur angeschnitten, da ein knapper Text nicht über 1400 Jahre Geschichte in allen Details berücksichtigen kann. Der Schwerpunkt lag auf der Analyse des islamischen Antisemitismus seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Tagesaktuell, wenige Monate nach dem islamistisch motivierten Massenmord vom 11. September 2001 geschrieben, besitzt die Studie bis heute eine enorme Aktualität.

Entgegen stolzdeutschen Aktivisten und Publizisten, die den Islam ablehnen, aber das Hohelied der „christlich-jüdischen Wertegemeinschaft“ singen, legt Wistrich Wert darauf zu betonen, dass es im Mittelalter den Juden (als Dhimmi) unter der Herrschaft des Islam besser ging als unter dem Christentum. Ohne den christlichen Antijudaismus und Antisemitismus wäre es nicht zum deutschen Antisemitismus und zum Holocaust gekommen. Dies blenden jene, die jetzt gegen Muslime agitieren, gerne aus. Wistrich analysiert und kritisiert hingegen die enge Verwandtschaft von christlichem und islamischem Antisemitismus, wie sie auch von heutigen arabischen oder/und muslimischen Führern Christen gegenüber betont wird, um ihnen zu schmeicheln. Wistrich untersucht die historische Beziehung des Großmuftis zu den Deutschen, von Nationalsozialismus und Islamismus ebenso, wie er die heutige Gefahr eines „Islamfaschismus“ herausstellt.

 

Wistrich untersucht in Lethal Obsession eine Besonderheit des Islamismus aus Teheran: Khomeini von 1979 bis 1989, sein Nachfolger Khamenei und dann Präsident Ahmadinejad und das heutige Regime sahen und sehen sich als Anwälte der Unterdrückten und Armen der Welt. Das schiitische islamistische Regime in Iran möchte weiterhin weltweit Bündnisse mit „antiimperialistischen Kräften“ gegen Amerika, den Westen und Israel schließen. Es gibt auch eine kaum überraschende Hinwendung mancher iranischer Denker und Philosophen zum antiwestlichen Nazivordenker Martin Heidegger, wie Wistrich in Lethal Obsession bemerkt.

 

Wistrich zitierte in Lethal Obsession viele antisemitische Reden und Äußerungen Ahmadinejads, der exemplarisch für das Regime steht, dessen „Präsident“ er war, die zur Vernichtung Israels und zur Vertreibung der Juden aus dem Heiligen Land aufrufen. Sowenig Hitlers Drohung vom 30. Januar 1939, ein kommender Weltkrieg werde die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ bringen, eine leere Drohung war, sowenig sind die Drohungen der iranischen Führung „leere Drohungen“, wie Wistrich betont.

 

Deutscher und europäischer Antisemitismus beein­fluss(t)en jenen im Nahen Osten und umgekehrt, auch dank moderner Kommunikationstechnologie und Migrationsbewegungen, in beide Richtungen. 1985 in Hitler’s Apocalypse untersuchte Wistrich die Beziehung von alten Nazis und arabischen Antisemiten. Viele Deutsche gingen nach Ägypten und wurden dort freudig empfangen, sie waren ja „Experten“ für Antisemitismus, wie „der notorische Antisemit Johann von Leers“, der „ex-SS-Offizier Leopold Gleim“ oder ein anderer „ex-Nazi, Louis Heiden“.

 

Für Wistrich war die Antisemitismusforschung jenseits wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Moden von enormer Bedeutung. Die Kontinuität, mit der er sich als Wissenschaftler mit den unterschiedlichsten Facetten des Judenhasses befasste, war herausragend und ohne Vergleich. Während seit einiger Zeit Forschungsfelder wie „vergleichende Genozidforschung“, „Rassismus und Vorurteilsforschung“ oder gar „Islamophobie“ im Trend liegen und doch nur heutigen Antisemitismus und den präzedenzlosen Holocaust relativieren, war die kritische Antisemitismusforschung von Wistrich darauf bedacht, die Spezifik des Antisemitismus, dieses „längsten Hasses“, zu untersuchen.

 

In jenem letzten Vortrag am 14. Mai 2015 betonte Robert Wistrich auch die enorme Gefahr die darin liege, dass es geradezu zu einer Heilsideologie geworden sei, die Lösung des arabisch-israelischen Konflikts für den gesamten Nahen Osten bzw. die ganze Welt als Symbol des Friedens zu sehen. Er nannte das „Palästinianismus“, also die Fokussierung auf diesen einen Konflikt. Seine Analyse der tödlichen Obsession, die der Antisemitismus seit tausenden von Jahren darstellt, verdeutlicht, wie wichtig es ist, zuallererst den Judenhass zu analysieren und sich von der naiven (und antizionistischen) Vorstellung einer Welt ohne Antisemitismus abzuwenden. Sicher darf man träumen, aber Juden haben die unsagbar schmerzhafte Erfahrung gemacht, die man „Realität“ nennt. Es ginge nicht um die legitimen Rechte der Palästinenser, sondern um eine geradezu Erlösungshoffnung, die viele, allzu viele weltweit mit dem Begriff „Palästina“ verbinden würden – und sehr viele würden dazu noch ein Land meinen vom Jordan bis zum Meer und nicht einen friedlichen und vielleicht gar demokratischen Staat Palästina neben dem jüdischen Staat Israel.

 

Die Antisemitismusforschung wird nach dem Tode von Robert S. Wistrich eine andere sein, sein Tod ist ein epochaler Bruch. Das betonte nicht nur die langjährige Mitarbeiterin am Vidal Sassoon Center Martina Weisz am Tag der Beerdigung an der Hebräischen Universität in privatem Rahmen.

 

Mit Robert Wistrich verlieren die Antisemitismusforschung und die public intellectuals für Zion einen einzigartigen Leuchtturm und einen Ideengeber. Es wird keine inspirierenden Momente mehr geben, die die öffentlichen wie privaten Auftritte von Robert Solomon Wistrich prägten. Vielleicht sind es auch die Blicke und das Lächeln, die am meisten fehlen werden, da darin soviel Reflexion und Kritik wie intellektueller Charme sich Ausdruck verschaffte.

 

Wie Manfred Gerstenfeld in einem Nachruf betonte, wird das Erbe von Robert weiterleben, große Intellektuelle haben eine ungeheure Nach-Wirkung. Bei Robert ist es die bleibende Inspiration für jene, die den Kampf, wenn auch nicht mit dieser Energie und unsagbaren Power, gegen den Antisemitismus und für Zion mitfochten und in seinem Sinne weiter kämpfen bzw. es zumindest versuchen werden.

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Bekanntmachung des Todes von Prof. Robert S. Wistrich an seiner Haustüre in Jerusalem

 

May your memory be a blessing, dear Robert Solomon Wistrich, z‘‘l.

 

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Was erlauben LizasWelt? Über die Notwendigkeit einer Selbstkritik der Pro-Israel-Szene

Giovanni Trapattoni, der am 10. März 1998 die bis heute vielleicht bekannteste Rede eines Fußball-Bundesligatrainers gehalten hat, ist mit Israel nicht unbedingt in Verbindung zu bringen. Doch als Trainer war er seinerzeit aufgebracht ob der Leistung von und den Diskussionen über seine Mannschaft und ihn.

Und nun geht es hier und heute um eine Kritik und Selbstkritik der sog. Pro-Israel-Szene. Netanyahu hat zuviel Schaden angerichtet, als dass man da einfach so drüber hinweg gehen könnte, mit einer Handbewegung, die den Tisch leerräumte von halbleeren Flaschen.

 

Was ist passiert? Angesichts einer massiven und offenkundigen Wechselstimmung in Israel zog Netanyahu in den letzten Tagen vor der Wahl und am Wahltag selbst, Dienstag, den 17. März 2015, alle Register und agitierte massiv gegen alle Linken, das Zionistische Lager – und die israelischen Araber. In Videoclips seines Likud konnte man IS-Jihadisten auf einem Pick-Up-Truck sehen, die einen Israeli in einem Wagen nach dem Weg nach Jerusalem fragen; „links abbiegen“ ist die Antwort, sprich: wer links wählt, unterstützt den antisemitischen und islamistischen blutrünstigen Jihad.

 

Dann sagte Netanyahu, eine Zweistaatenlösung sei nicht mehr möglich, sie stelle keine Perspektive mehr dar – um diese Aussage in amerikanischen Medien kurz nach der Wahl wieder zu dementieren (es geht gar nicht um die exakte Wortwahl, es geht um die Message – und die kam unzweideutig weltweit so an). Somit hat er sein Ansehen endgültig beschädigt. Wer nimmt ihn jetzt noch ernst?

Doch die übelste Aktion Netanyahus, war der Aufruf an seine Unterstützer, wählen zu gehen, da „die Araber in Massen“ zu den Wahlurnen gekarrt werden würden. Wohlgemerkt geht es hier um israelische Staatsbürger, die wählen dürfen und sollen, das Ziel der Demokratie ist ja gerade, eine möglichst hohe Wahlbeteiligung zu erreichen. Der rassistische Tonfall ist schockierend gewesen, selbst für einen israelischen Wahlkampf. Die späteren Entschuldigungen Netanyahus bei der arabisch-israelischen Bevölkerung kommen zu spät und wer will auch die noch ernst nehmen? Gerade die umgehenden Dementi nach der Wahl führten zu Kopfschütteln und Abwinken aus dem Weißen Haus. Man muss definitiv kein Fan von Obama sein, dessen Nahostpolitik und Iranpolitik unfassbar gefährlich und von Unkenntnis geprägt sind, um diese Aktionen von Netanyahu als willkommene Delegitimierung des jüdischen Staates von Seiten Obamas zu erkennen. Dazu kommt das ohnehin seit langem äußerst angespannte Verhältnis zum Weißen Haus und zu US-Präsident Obama, den Netanyahu polemisch als „Hussein Obama“ bezeichnete.

Von all dem ist in einem Blog auf LizasWelt, der stellvertretend für weite Teile der hiesigen Pro-Israel-Szene stehen mag, nicht die Rede. Dafür werden Texte wie in SpiegelOnline diffamiert, die angeblich gegen Israel gerichtet seien. Doch ein Blick gleich in den ersten auf dem Blog verlinkten Text zeigt eine zwar parteiische, aber pro-israelische Positionierung, ja paradoxerweise stellt sich die Autorin hinter das zionistische Lager. Und das soll ein Beispiel für den Antizionismus der deutschen Mainstream-Medien sein? Da lachen doch die Rebhühner.

An deutschem Antizionismus fehlt es ja nun wahrlich nicht. Aber Texte zur Wahl in Israel, die eben gerade nicht in typisch antizionistischer Manier lamentieren, dass Israels Problem die Existenz an sich sei, dass 1948 das Problem sei und nicht 1967, als antiisraelisch oder gaga zu denunzieren, schlägt einfach ins Leere. Diesmal gibt es doch einen himmelweiten Unterschied zwischen der antiisraelischen Tonlage eines Michael Lüders im Fernsehen und diesem Text auf SpiegelOnline.

Mehr noch: es geht um eine Selbstkritik auch des Zionismus, das ist ja gerade die ungemeine Stärke des Zionismus, die Reflektion auf sich selbst. Schon 1987 schrieb der Historiker Robert S. Wistrich in seinem Werk „Der antisemitische Wahn. Von Hitler bis zum heiligen Krieg gegen Israel“:

„Allein, die außerordentlichen Leistungen und Erfolge des Zionismus sind offenkundig teuer erkauft. In zunehmendem Maße den immensen inneren und äußeren Konflikten und Pressionen ausgesetzt, hat die israelische Gesellschaft einen Gutteil jener außerordentlichen moralischen und geistigen Tugenden geopfert, die die Juden sich im Laufe ihres langen Marsches durch die Diaspora bewahrt hatten. Ihr demokratischer Geist ist offensichtlich alles andere als immun gegen die Gefahren eines rechten Ultranationalismus, wie er auch in anderen Teilen der Welt mit praktisch identischen Begründungen gepflegt wird; ebensowenig ist sie immun gegen die Versuchung, Hexenjagden gegen den vermeintlichen ‚inneren Feind‘ zu veranstalten und die eigenen handfesten nationalen Interessen zu einer vom Schicksal vorgegebenen Bestimmung zu verklären. Man muß zugeben, daß die Gefahr besteht, daß bei einer weiteren Zunahme der isolationistischen und antiarabischen Tendenzen in der israelischen Gesellschaft jene von den Feinden Israels gezeichneten Zerrbilder des Zionismus zu einer alptraumhaften Realität werden könnten; es gilt daher, diese Tendenzen beizeiten zu bekämpfen.“

In diesem Zitat kann man die ganze zionistische Selbstreflektion hineinlesen, die Kenntnis ob Moses Mendelssohns jüdischer Aufklärung, die die Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70CE gerade feierte, da sie die jüdische Diaspora begründete, Judentum, staatliche Macht und Herrschaft gegeneinander stellte, Religion versus jüdische Nation als politisches Gemeinwesen. Die emeritierte Harvard-Professorin für Jiddisch und Vergleichende Literaturwissenschaft Ruth Wisse zeichnet diese Linien des (deutsch-jüdischen) Antizionismus avant la lettre und den zionistischen Aufbruch in ihrem Buch „Jews and Power“ (2007) nach. In dem Zitat von Wistrich kann man wie bei Wisse vor allem den selbstbewussten Anspruch des Zionismus entdecken, sehr wohl einen jüdischen Staat, jüdische Staatsgewalt wieder zu haben, haben zu wollen und damit so aufgeklärt, kritisch und demokratisch wie möglich umzugehen.

Als im Sommer 2014 angesichts von brutalem antisemitischen Terror einiger Palästinenser in der Westbank ebenso einige fanatische Israeli antiarabische Hetze verbreiteten und auf ähnliche Weise mordeten, gab es in Israel durch alle Teile der Gesellschaft einen Aufschrei, doch in der Pro-Israel-Szene in der Bundesrepublik blieb der Schock weitgehend aus, nur wenige wandten sich unmissverständlich gegen den offenkundigen antiarabischen Rassismus in nicht geringen Teilen der israelischen Gesellschaft. Er wird dort bekämpft von der übergroßen Mehrheit, aber er existiert. Doch die „Szene“ versagte weitgehend.

Und auch jetzt angesichts der unerträglichen Hetze (und nicht nur scharfen Kritik) gegen alle Linken, das zionistische Lager und Araber in Israel durch den Likud, das rechte Lager und Netanyahu, ist diese „Szene“ „schwach wie eine Flasche leer“.

Dabei geht es anderswo ganz anders ab: Die letzten Wahlen in Israel führen weltweit zu kontroversen Diskussionen und verlangen nach einer Selbstreflektion der sogenannten Pro-Israel-Szene in der Bundesrepublik. In pro-israelischen, zionistischen Kreisen wie in England oder Amerika, wird vehement über den Wahlkampf Benjamin Netanyahus und seine Methoden diskutiert. Der pro-israelische Journalist Jonathan Freedland schreibt, Netanyahus Wahlkampf sei eine Mischung aus „Kriegsführung und blindem Eifer“ gewesen. Freedland wurde schon 2006 von tatsächlich krassen antiisraelischen Autoren wie Steven Rose als böser Vertreter der „Israel Lobby“ kritisiert, wie der britische Soziologe und antirassistische wie pro-israelische Aktivist und Autor David Hirsh festhielt.

Für den langjährigen Autor des New Yorker, David Remnick, hat Bibi die „rassistische Karte gezogen“, ist Netanyahu kein Richard Nixon, jener konservative, republikanische US-Präsident, der die Öffnung hin zu China bewirkte, trotz oder wegen seines Antikommunismus. Doch Netanyahu könne kein Nixon werden, das hätten die letzten 20 Jahre gezeigt. Auch Remnick möchte einfach eine andere Version von Zionismus als jenen von Bibi, auch dem New Yorker kann man hier keine Agitation gegen Israel vorwerfen. Für Gil Yaron droht Israel ein „diplomatischer Tsunami“, an dem nicht nur der weltweit ohnehin ausreichend vorhanden Hass auf den Judenstaat, vielmehr auch die Politik Netanyahus mit verantwortlich sei.

Andy Friedman illustration of Benjamin Netanyahu in New Yorker March 2015

Andy Friedman illustration of Benjamin Netanyahu in New Yorker March 2015

Der Jewish Daily Forward aus New York schreibt in einem Editorial, wie schwierig es für Juden in USA und anderswo nun werde, „Israels Ideale zu verteidigen, aber nicht die eklige Rhetorik von Netanyahu“? Bibi sei „nicht der König der Juden“.

Soviel zu den internationalen pro-israelischen Stimmen, die äußerst genervt sind von Benjamin Netanyahu und dadurch doch mit keiner Silbe zu Israelgegnern werden, im Gegenteil: sie wollen den Zionismus reaktivieren, wie die Zionist Union um Isaac Herzog, der trotz der Niederlage dem Zentrum und einer „Mitte-Links“-Option eine neue Chance gibt, auch in Zukunft.

Natürlich wird die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Projekte unterstützen, die sich dem Phänomen des „Transnationalismus“ widmen. Viel schlimmer jedoch als ein Projekt, das sich positiv auf einen Staat bezieht, und dann auch noch auf den jüdischen, kann es nicht kommen, davon kann man wohl ausgehen. Die super exzellenzgeclusterten jungdeutschen Akademikerregimenter werden nie im Leben ein Projekt zur Unterstützung des „jüdischen Staates“ auch nur vorschlagen, das wäre ja ethnizistisch und eine Sünde wider die Aufklärung und Immanuel Kant.

Also ist Vorsicht immer geboten, Kritik angesagt. Doch die muss seriös sein, differenziert und nicht einäugig oder blind. Es ist einfach eine Groteske, wenn weite Teile dieser „Szene“ zusammen mit der Tageszeitung die Welt und ihrem Reporter Henryk M. Broder bis heute behaupten am 27. Januar 2015 wie die Jahre zuvor seien am Holocaust-Gedenktag über Auschwitz israelische Kampfflieger geflogen. Dabei sind noch nie an einem 27. Januar solche Flugzeuge dort geflogen, nur einmal an einem Tag im September 2003. Niemand kümmert das und die Welt ändert nicht einmal die Online-Seite wider besseres Wissen. Das nennt man dann wohl neudeutsche Professionalität, die von der Bloggerszene sekundiert wird.

Im Januar 2001 publizierte ich mit einer kleinen autonomen Gruppe eine Broschüre über den linken Antizionismus der Revolutionären Zellen (RZ). Empirisch ging es um Entebbe und die erste antisemitische Selektion von Juden durch Deutsche nach Auschwitz, durchgeführt von Wilfried Böse im Rahmen der bekannten Flugzeugentführung der RZ nach Uganda. Bei der Befreiungsaktion der israelischen Geiseln kam am 4. Juli 1976 Jonathan Netanyahu, der Kommandant der Einheit, ums Leben. Er war der ältere Bruder von Benjamin Netanyahu. Es ist wichtig daran zu erinnern.

Die Kritik an der Regierungspolitik von Benjamin Netanyahu muss möglich sein, wie seine höchst umstrittene Einladungspraxis an Litauen oder Ungarn zu den wohl weltweit größten Konferenzen gegen Antisemitismus, dem Global Forum for Combating Antisemitism. Dort habe ich 2009 wie auch 2013 zusammen mit dem Jiddisch-Experten Dovid Katz aus Litauen, Efraim Zuroff vom Simon Wiesenthal Center auf Jerusalem oder auch dem Labour-Politiker John Mann aus England gegen diese Einladungspraxis protestiert, da gerade Litauen und Ungarn derzeit zu den Ländern gehören, die den Holocaust trivialisieren und die Nazizeit gar glorifizieren als Zeit des antikommunistischen Kampfes während des Zweiten Weltkriegs. Auch das kümmert in dieser „Szene“ so gut wie niemand, dabei verstehen sich viele sehr wohl als Kritiker des Antisemitismus auch jenseits seiner antizionistischen Variante.

Nochmal aus der Rede des italienischen Meistertrainers:

 „Es gibt im Moment in diese Mannschaft, oh, einige Spieler vergessen ihnen Profi was sie sind“ –

viele, allzu viele pro-israelische Blogger (das Pro-Israel Team) in diesem Land haben das seit langem auch vergessen, auch wenn es sich hierbei um Amateure handelt, unbezahlte zumeist. Sie schreiben nicht immer schlecht, aber zunehmend seltener gut oder gar sehr gut, sie vergessen die Reflektion, sie wehren Antisemitismus gekonnt ab, und das ist wichtig; aber sie zeigen keine eleganten Spielzüge mehr und es geht keine Torgefahr von ihnen aus.

Es wäre ein Zeichen von Größe gewesen, und in England oder USA sehen wir das in den dortigen, viel größeren Pro-Israel-Szenen, dass man gerade als Zionist und Israelfreund den Rassismus und die Agitation des Likud oder Netanyahus scharf attackieren kann, und die Sehnsüchte, Ängste und Sorgen der linken, zionistischen Israeli ernst nehmen. Das österreichische Blog juedische.at schreibt:

„Es hat ihm einige Mandate eingefahren. Aber in der Welt, auch bei vielen Likud-Wählern, hat sein Ansehen gelitten.  Aus Bibi sprach da nicht der Geist Seew Jabotinskys. Der Urvater der israelischen Rechte forderte noch einen ständigen arabischen Vize neben dem jüdischen Premier. es sei denn. ein wird Araber Premier. Dann sollte ein Jude Vize sein. Netanjahus erste Umdeutungsversuche erklärten die Veränderung seiner Stellung mit veränderten Umständen. Aber 2009, als er in seiner Bar-Ilan-Rede eine Zwei-Staaten-Lösung zum Ziel machte, gab es schon Iran, Hamas-Raketen und Hisbollah. Wenn sich etwas verändert hat, dann auch die deutlich geschwächte militärische Schlagkraft aller arabischen Nachbarn.  Mit bloßen Beteuerungen, auch nicht im eloquentesten Englisch, kommt Netanjahu aus der Rolle des Kompromissverweigerers und Rassisten nicht mehr raus.“

Es gibt auch viele rechtszionistische oder nationalreligiöse Wähler/innen in Israel, die sich freuen und kein Problem haben mit Netanyahus Agitation. Und auch das kann man kritisieren, ohne mit einem Wort Israel zu denunzieren.

Es ist vielmehr anders herum, wie der Schriftsteller Amos Oz es in einem Kommentar, ja einem Hilfeschrei in der Los Angeles Times vor wenigen Wochen sagte: es geht um alles oder nichts!

Wes Bausmith Los Angeles Times March 7, 2015

Wes Bausmith Los Angeles Times March 7, 2015

Entweder Israel verabschiedet sich unzweideutig von allen „Einstaatenlösungen“ der radikalen Linken (wie Judith Butler und ihrem Fanclub etc.) und der radikalen Rechten (wie Bennett oder Caroline Glick) oder der Traum eines jüdischen Staates ist dahin. Zionismus heißt einen jüdischen Staat mit einer klaren arabischen Minderheit, einer Minderheit die exakt die gleichen Rechte hat, wie Zeev Jabotinsky es Jahre vor der Staatsgründung proklamierte und wie es der britische Politikwissenschaftler, Publizist und Herausgeber der Zeitschrift Fathom Alan Johnson in Erinnerung ruft.

Trapattoni:

„Mussen zeigen jetzt, ich will, Samstag, diese Spieler mussen zeigen mich eh … seine Fans, mussen allein die Spiel gewinnen.“

Die Wahrheit liegt auf den Blogs, nicht nur am Samstag.

Ich habe fertig.

 

 

Ganz Konkret gegen Juden

 

Deutschland ist das wahre Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die meisten Menschen haben zwischen Arbeit, Mann und Frau oder beidem, Hund oder/und Kind, IKEA oder Karstadt, Aldi oder Edeka, Tagesschau oder Heute Journal, Hart aber Herzlich Fair, Maybrit Illner oder Günter Jauch, Musikantenstadl oder Tatort, der vierten Urlaubsplanung im Jahr oder dem Reifenwechsel jedoch keine Zeit sich mit anderem als sich selbst zu beschäftigen.

Andere haben Hartz4, leben isoliert oder werden zu fanatischen Aktivisten aller Art. Manche werden kauzig und sind noch die harmloseren, gar liebenswürdigen, tragischen Gestalten, wir kennen sie aus den Studentenstädten wie Tübingen, Freiburg, Marburg oder Göttingen, aber selbst in Berlin, Leipzig, München oder Hamburg werden sie gesichtet.

Die Angepassten jedoch schnorcheln um die Wette und werden doch nie glücklich. Sie wissen das und deshalb wird auch den Kindern oder Hunden das Schnorcheln dringend empfohlen bzw. verordnet. Entweder auf den Seychellen oder doch in der Badewanne zu Hause oder dem Whirlpool bei Tante Erna in Köln.

Doch die wenigen, die sich um ein klein wenig mehr kümmern, sind meist noch kümmerlicher. Da kann man dann wählen zwischen Antisemiten aller Art in allen Parteien, vom vulgären und brutalen, islamistisch organisierten oder unorganisierten muslimischen bzw. arabischen Straßenschläger über den Brandsatzwerfer auf Synagogen hin zu den salbungsvolleren Tönen der Nobelpreisträger, Verleger und Kolumnisten, von den Kommentaren auf Stehempfängen in den Vorstadtvillen oder Townhausterrassen bei Ärzten und Anwältinnen der großen Städte bis hin zur philosemitischen, wattierten Judenfeindschaft evangelikaler Kreise und Zeitschriften, für die auch manche LizasWelt und Konkret-Autoren schreiben

– nehmen wir Stefan Frank und die Zeitschrift factum aus der Schweiz, für die er regelmässig schreibt, als Exempel, z.B. steht im Editorial von factum 2/2015: „Möge dieses factum unseren Blick lenken auf «das barmherzige Evangelium» (S. 40) und auf den, dem wir in den alltäglichen Dingen des Lebens (S. 45) wie in den grossen Sorgen ganz vertrauen dürfen: Jesus Christus“; Stefan Frank selbst insinuiert im selben Heft, der „Liberalismus“ sei „bedroht“, wenn er seine „christlichen Wurzeln vergessen“ würde –

oder katholischen Judengegnern, die das Warschauer Ghetto mit dem „Ghetto von Ramallah“ vergleichen und somit Israeli zu Nazis herbei fantasieren und die deutsche Schuld projizieren, hin zu antijudaistischen Augustinus-Jüngern (wie Leser von factum im Heft 6/2014) oder Konservativen, gläubigen Atheisten, Humanisten oder Linken, die gegen die jüdische Beschneidung hetzen (wie die FAZ, die Giordano-Bruno-Stiftung oder die Wochenzeitung jungle world). Die Auswahl ist groß, niemand kann behaupten der Antisemitismus sei nicht „facettenreich“.

 

Angesichts soviel offenem und subtilem Judenhass haben manche paradoxe Erleuchtungen (wie Henryk M. Broder) und sehen Flugzeuge, wo keine sind, wie am 27. Januar über der Gedenkstätte Auschwitz und wollen die Erinnerung an die Shoah einstellen, dabei gab es sie ohnehin nie in diesem Land; wieder andere stellen das Denken auf andere Weise ein und brüllen „Deutschland den Deutschen“ oder „Ami go home“ und natürlich „wir lassen uns von Tel Aviv keine Befehle erteilen“, was übrigens lustig ist, da in Tel Aviv gar keine Regierung sitzt … Verschwörungswahnsinn und Blödheit waren noch immer beste Freunde, was sie keinen Deut ungefährlicher macht, denn die Blöden haben schon zu oft in der Weltgeschichte Regie geführt.

Das islamistisch und somit antisemitisch motivierte Massaker vom 11. September 2001 im World Trade Center in New York sowie im Pentagon und den vier entführten Flugzeugen gereichte weiten Teilen der Gesellschaft zu Schadenfreude sowie der Verleugnung der jihadistischen Bedrohung.

Nicht etwa die weltweite Gefahr des Islamismus wurde zu einem wichtigen Thema der Gesellschaft, sondern die „Islamophobie“, nicht zuviel, sondern zu wenig Religion sei das Problem im Kontext dieses von religiösen Fanatikern verübten Massenmords.

Es wurden nach 9/11 Islamkonferenzen einberufen, nicht um den Islamismus zum Thema zu machen, sondern vielmehr um mehr Akzeptanz für „den“ Islam oder für Religion ganz allgemein zu promoten. Die rassistische Mordserie des NSU hat bekanntlich mit dem 11. September gar nichts zu tun, sondern ist Teil des neonazistischen Terrors gegen alle Nicht-Deutschen seit Jahrzehnten, vor allem seit der sog. Wiedervereinigung 1989/90.

Nach 9/11 raunten Teile der damaligen PDS: „sowas kommt von sowas“. Böser Kapitalismus führe zu islamistischem Massenmord. Vielmehr vulgäranalytische Kaschierung des eigenen Hasses auf Amerika und die Juden war selten. Und diese Tonlage ist bis heute zentral, wenn es um den Jihad geht.

Bernard-Henri Lévy bei einem Auftritt in Tel Aviv

Bernard-Henri Lévy bei einem Auftritt in Tel Aviv

Er wird verniedlicht, ohne Ende, es geht fast immer um die „soziale Frage“, wie Bernard-Henri Lévy in der FAZ ganz exakt kritisiert. Er regt sich sehr über die Trivialisierung des Jihad und des Massakers an Charlie Hebdo durch jene Leute auf, die immer das angebliche Elend hinter dem jihadistischen Terror vermuten und somit rationalisieren. Lévy trennt auch den Islam vom Islamismus, wenngleich er manche problematischen Figuren wie Izetbegovic zu freundlich rubriziert. Lévy ist gerade ein moderater, reflektierter Kritiker des Jihad, kein Sarrazin, kein Pegida-Anhänger und keine Necla Kelek, die vor lauter Abscheu vor dem Islam auch die Beschneidung von Juden de facto mit diffamiert.

Im Februar 2015 gibt es nun ein lautstarkes Echo auf die alte linke Trivialisierung des Jihadismus durch die Zeitschrift Konkret und ihren langjährigen Herausgeber Hermann L. Gremliza, der nun bezüglich des 11. September Frankreichs, des 7. (–9.) Januars 2015, ausrastet.

 

Detlef zum Winkel

Detlef zum Winkel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Was ist passiert? Am 18. Februar schreibt der Buchautor und langjährige Autor der linken Publikumszeitschrift Konkret, Detlef zum Winkel, über eine Kolumne des Konkret-Herausgebers Hermann L. Gremliza im Februar-Heft des Magazins:

 

„Im Februar-Heft des Magazins “Konkret” nimmt Herausgeber Hermann L. Gremliza  die Attentate vom 7. und 9. Januar in Paris zum Anlaß, die Welt nach den Schemata eines schlichten Antiimperialismus zu ordnen. In dieses Bild passt es offenbar nicht, sich deutlich an die Seite eines beschossenen Satire-Magazins zu stellen.

Als langjähriger “Konkret“-Autor habe ich eine Erwiderung verfaßt, schließe aber aus den sparsamen Auskünften der Redaktion, daß sie dort nicht gedruckt werden wird. Auch mein Appell, die bisherige Stellungnahme noch einmal zu überdenken und einen Fehler einzuräumen, fand keine Resonanz. Daher wähle ich diesen Weg, um den Text bekannt zu machen.“

 

Zentral ist folgender Vorwurf an Gremliza von zum Winkel:

 

„Zum Skandal wird es, wenn HLG die Figur des reichen Juden bemüht, um seine Abneigung gegen die „Je suis Charlie“-Solidarität zu begründen. Diese Konstruktion fällt hinter alles zurück, weshalb und wozu ich in den letzten 30 Jahren in „Konkret“ geschrieben habe. Sehen Kritiken jetzt so aus?”

 

Das Konkret-Heft im Februar 2015

Das Konkret-Heft im Februar 2015

Völlig zu Recht ist Detlef zum Winkel schockiert, ja fassungslos, was man seinem Duktus anmerkt, er ist schließlich aus der Generation Gremlizas und Konkret verbunden. Was schreibt der Konkret-Herausgeber?

 

“Und wenn man denkt, es geht nicht schlimmer, kommt von irgendwo das französische Hemdenmodel Bernard-Henri Lévy daher, der Welt vorzuführen, was für einen ideellen Fummel man im Spätherbst des Kapitalismus trägt: »Es ist an der Zeit«, schrieb er in der »FAZ«, »ein für alle Mal mit dem beschwichtigenden Gerede aufzuhören, das uns so lange schon die nützlichen Idioten eines in die Soziologie des Elends und der Verzweiflung auflösbaren Islamismus vortragen.« Wer Religion als Antwort auf die soziale Frage verstehe, sei ein nützlicher Idiot des Terrors, soll das heißen (…) Eine Woche nach Lévys Auftritt wird gemeldet, dass ein Prozent der Menschheit so viel Vermögen angehäuft hat wie die restlichen 99 Prozent der Weltbevölkerung zusammen, 92 Milliardäre mehr besitzen als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Einen Meisterdenker kann das nicht erschüttern. Er zählt zur anderen Hälfte, wenn nicht zu dem einen Prozent.“

 

Lévy ist sicher weltweit einer der bekanntesten Intellektuellen Europas und der vielleicht bekannteste Jude Frankreichs. Vor wenigen Wochen sprach er vor den Vereinten Nationen über den Kampf gegen den Antisemitismus. Der Jude Lévy trage also schicke Hemden, behaupte dass man den Islamismus verharmlose, wenn man ihn auf ein soziales Problem reduziere („Armut“) und er sei auch noch sehr, sehr reich: Vielmehr antijüdisches Ressentiment und Intellektuellenfeindlichkeit in einer sich als Freund Israels vorstellenden Zeitung hat man lange nicht gesehen! Deshalb ist der Konkret-Autor Detlef zum Winkel so schockiert.

 

Es ist die Abwehr der Kritik am Islamismus, die Leugnung, dass der Islamismus eine spezifische und eigenständige Ideologie ist und das Ressentiment gegen (reiche, gut gekleidete und natürlich mächtige) Juden, die diese Trivialisierung des Islamismus nicht mitmachen, die Gremliza so typisch für die deutschen Zustände macht.

 

So offen einen Juden zu diffamieren und mit dem jahrhundertealten Ressentiment gegen den „reichen Juden“ zu spielen, wie das Gremliza mit Lévy im Februarheft 2015 von Konkret tut, sagt alles über das ubiquitäre Ressentiment gegen die Juden in diesem Land und Europa aus. Es sagt auch viel über die Redaktion dieses Blattes aus. Welcher Konkret-Autor hat sich öffentlich von dem Heft und dieser Kolumne von Gremliza distanziert? Offenbar, so Detlef zum Winkel, wurde noch nicht mal auf sein Textangebot eingegangen, dabei ist er einer der bekanntesten und langjährigsten Autoren der Zeitschrift.

 

Wage das Hamburger Magazin Konkret es auch nur noch einmal, sich als Kritiker des Antisemitismus, als Freund von Juden oder Israel zu imaginieren, die Lachsalven werden noch weit über die Elbmündung hinaus zu hören sein. Oder es bleibt einem das Lachen im Halse stecken, denn dieser neue, linke Antisemitismus gar derjenigen, die sich als „Freunde Israels“ aufspielen, ist besonders elendig.

 

Kritische Theorie und Israel – Vortrag von Dr. Clemens Heni am 17. Februar 2015 in Berlin

Am 17. Februar 2015 hielt ich in den Räumen der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) einen Vortrag bei BAK Shalom der Linksjugend solid in Berlin (vor ca. 80-90 Leuten)  zum Thema „Kritische Theorie und Israel“, der hier anzuhören ist. Hier ist das Handout zum Vortrag:

 

Handout_Seite_1

 

 

 

 

 

Handout_Seite_2

 

Zu Beginn des Vortrags wurde ein Ausschnitt dieser Knesset-Rede von Stav Shaffir von Januar 2015 eingespielt (ca. ab Min 1:20)

Später im Vortrag wurde der Beginn dieses Films über PunkJews gezeigt:

Eine Zukunft für Berlins Vergangenheit: Olympia-Fieber 2015

Über „sportliche Nazis“ 1936, Carl Diems „Olympische Jugend“, „Opfertod“ und Friedrich Schillers „Ode an die Freude“

 

Berlin möchte seiner Vergangenheit eine Zukunft geben und im gleichen Stadion, in dem schon 1936 der Nationalsozialismus Olympische Spiele abhalten durfte, wieder fröhlich feiern. Trotz der nicht einmal ansatzweise in Frage gestellten deutschen Vorherrschaft in Europa im Jahr 2015, wird man in Berlin ganz dünnhäutig, wenn Kritik, und sei es satirische, an der so typisch Berlinerischen, ungezwungen-krampfhaft-megalomanischen Olympia-Bewerbung deutlich wird.

Screenshot Deutschlandradiokultur 11022015

 

 

Im Folgenden sei eine Stelle aus meiner Dissertation „Ein Völkischer Beobachter in der BRD“ von 2006 an der Uni Innsbruck („summa cum laude“) dokumentiert, die sich mit der Olympiade 1936 und dem heutigen Forschungsstand bezüglich Sport und NS-Ideologie befasst. In der Dissertation geht es um einen führenden Ideologen der Neuen Rechten, Henning Eichberg, und dessen Beziehung zur politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland 1970–2005. Im folgenden Abschnitt geht es um eine Kritik an der Historikerin Christiane Eisenberg und ihrer Rezeption von Eichberg und der Olympiade 1936 sowie um das dort uraufgeführte Stück „Olympische Jugend“ von Carl Diem. Ohne extra Einleitung für diesen Blog geht es medias in res:

 

(…)

 

Die Historikerin Christiane Eisenberg schließlich rezipiert Eichbergs Thingspiel-Analysen[1] in ihrer Habilitationsschrift von 1997, wo dieser als Anwalt der ›guten Seiten des Nationalsozialismus‹ gezielt herangezogen wird. Sie versucht die Bedeutung des englischen Sports für die Ausbildung bzw. Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert herauszuarbeiten. Für mich ist hier nur ihr Kulminationspunkt von Interesse: die Olympiade 1936. Eisenberg versucht dem Sport ein Eigenleben auch und gerade unter den Bedingungen eines Herrschaftssystems wie dem Nationalsozialismus, welchem damit gleichsam ein ganz normaler Platz im Pantheon der (Sport-)Geschichte gesichert werden soll, zuzugestehen.

»Für die Atmosphäre der Spiele war es darüber hinaus von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß es reichlich Gelegenheit zur internationalen Begegnung und freien Geselligkeit außerhalb der Arenen gab. Gemeint sind hier weniger die Restaurants auf dem Reichssportfeld und auch nicht die zahllosen Empfänge und Partys der Nazigrößen. Das Urteil gründet sich vielmehr darauf, daß der Großteil der männlichen Athleten in einem Olympischen Dorf untergebracht wurde, so wie es erstmals bei den vorangegangenen Spielen in Los Angeles 1932 versucht worden war (Abb. 29). Hatte das OK [Olympische Komitee C. H.] zunächst geplant, dafür eine bereits bestehende Kaserne zu renovieren, so ergab sich 1933 auf Vermittlung Walter v. Reichenaus die Chance, Neubauten zu bekommen. In der Nähe eines Truppenübungsplatzes in Döberitz/Brandenburg wurden in einem landschaftlich reizvollen Gelände 140 ›kleine Wohnhäuser‹ für das Infanterie-Lehrregiment gebaut, deren Erstbezieher 3.500 Sportler wurden. Es gab Sporthallen, ein offenes und ein überdachtes Schwimmbad, Spazierwege, Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen. Zu den Gemeinschaftsräumen gehörten eine vom Norddeutschen Lloyd bewirtschaftete Speiseanstalt mit internationaler Küche und ein Kino.«[2]

 

Eisenberg will einer neuen Sicht auf den Nationalsozialismus den Weg ebnen. In gezielter Negierung gesellschaftlicher Totalität isoliert sie Momentaufnahmen aus ihrem Kontext, um deren Allgemeingültigkeit, ja Universalität, kurz, das moderne Moment zu würdigen. Denn »Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen« sind ja eine feine Errungenschaft, in Berlin 1936 wenigstens so lobenswert wie in Los Angeles 1932, will sie suggerieren.[3] In diesem Kontext zieht Eisenberg Eichbergs Thingspiel-Publikation heran, um sie als »zurückhaltend« und »vorsichtig«[4] bezüglich der Einordnung der olympischen Spiele als »spezifisch nationalsozialistische Veranstaltung« zu bezeichnen.[5]

Ihr behagt die affirmative Darstellung Eichbergs weitaus mehr als die kritischen Reflexionen und Analysen bekannter und renommierter Sportwissenschaftler wie Hajo Bernett, Thomas Alkemeyer oder Horst Ueberhorst.[6] Auch die Untersuchungen des Politikwissenschaftlers Peter Reichel über den Schönen Schein des Dritten Reichs[7] qualifiziert Eisenberg ab:

»Diese Interpretation der Spiele vermag aus drei Gründen nicht zu überzeugen. Erstens ist das zugrundeliegende Argument methodisch fragwürdig, weil es nicht falsifizierbar ist. Wer immer das Gegenteil behauptet, daß Berlin 1936 ein Ereignis sui generis und der schöne Schein auch eine schöne Realität gewesen ist, riskiert es, als Propagandaopfer abqualifiziert zu werden.«[8]

Die Olympiade in Berlin 1936 sei ein ›Ereignis‹ ›sui generis‹ gewesen, gleichsam eine ›schöne Realität‹. Diese positivistische Abstraktion von jeglicher Gesellschaftsanalyse ist für nicht geringe Teile der Mainstream-Wissenschaft typisch. Ihre Argumentation steigert Eisenberg noch, indem sie Reichels Analyse im Reden von den vermeintlichen ontologischen Zwittern Sport und Propaganda untergehen lässt:

»Zweitens ist das Argument unergiebig, weil Sport und Propaganda wesensverwandt sind. Beide sind nach dem Prinzip der freundlichen Konkurrenz strukturiert, beide verlangen von den Akteuren eine Be-Werbung um die Gunst von Dritten (›doux commerce‹). Daß dabei geschmeichelt, poliert, dick aufgetragen, ja gelogen und betrogen wird, überrascht niemanden, weder in der Propaganda noch im Sport. Olympische Spiele sind, so gesehen, immer Illusion und schöner Schein; eben das macht ihre Faszination aus. Daraus zu folgern, daß Berlin 1936 eine um so wirksamere Werbemaßnahme für den Nationalsozialismus gewesen sein müsse, wäre jedoch kurzschlüssig. Denkbar wäre auch, daß Nutznießer der Propaganda der Sport war. Diese Möglichkeit hat jedoch noch keiner der erwähnten Autoren geprüft.«[9]

Eisenberg will sagen: So schlimm kann der Nationalsozialismus doch nicht gewesen sein, wenn ein so zentrales Moment für moderne, freizeit- und spaßorientierte Gesellschaften wie der Sport, gar ein ›Nutznießer‹ dieses politischen Systems war.

Diese eben zitierte Passage von Eisenberg ist Ausdruck eines Wandels politischer Kultur in der BRD. Ungeniert lässt sie den Nationalsozialismus, am Beispiel der Olympischen Spiele von 1936, im Kontinuum bürgerlicher Gesellschaft, die eben im Sport ›wesenhaft‹ lüge, dick auftrage und schmeichele, aufgehen. Es ist nun gerade Eichberg, dem diese Darstellung entgegenkommt. Ich sehe es nicht als Zufall an, dass Eisenberg aus der Fülle von Analysen zum Thingspiel gerade seine Arbeit heranzieht.

So wie Eichberg das Thingspiel in die Geschichte des Arbeiterweihespiels, des Agitprop-Theaters, des Sprechchorgesangs etc., sprich der Arbeiterkulturbewegung einreiht, so versucht er gezielt den Bruch, den die in der Tat nationale Revolution des Nationalsozialismus bedeutet, als Kontinuität darzustellen. Für ihn ist das Thingspiel die Konsequenz vor allem Weimarer Versuche, Theater massenwirksam zu gestalten. Dass einer der Protagonisten dieser Ideen, Ernst Toller, 1933 ins Exil gehen musste, spielt in dieser auf die Konfiguration fixierten Analyse keine Rolle.

Eisenberg treibt Eichbergs Apologie des Thingspiels auf ihre Art zu einem weiteren Kulminationspunkt: Wie soll es nach der auf internationale »Verständigungspolitik« ausgerichteten Weimarer Republik[10] möglich gewesen sein,

»daß die Olympiapropaganda nach 1933 plötzlich eine Nazifizierung der Athleten und des sportinteressierten Publikums bewirkte? Mußte nicht zuvor eine Versportlichung der Nazis erfolgt sein[11]

 

Für Eichberg zeigt sich im ›olympischen Zeremoniell‹ die Kontinuität der mit »Weihe- und Feierspiele« »zusammenhängenden Verhaltensformen« über die »Veränderungen um 1937/45« hinaus.[12] Deshalb geht er gegen Ende seines Beitrages im Thingspiel-Band auf das während der Olympiade uraufgeführte ›Weihespiel‹ »Olympische Jugend« von Carl Diem ein.[13] Die verschiedenen Bilder dieses Spiels mit über 10.000 Teilnehmern werden dargestellt und einige zentrale Stellen ausführlich zitiert. Es geht in diesem olympischen Weihespiel um »›Kampf um Ehre, Vaterland‹«[14] (im ersten Bild), was ihn bei der Analyse des dritten Bildes unter Hinzuziehung einer zeitgenössischen Darstellung ausführen lässt:

»Während sich die Mädchen zum weiten Rand der Arena zurückziehen und diesen säumen, stürmen von der Ost- und Westtreppe Tausende von Knaben in das Spielfeld, lassen die Romantik aller Jugend aufklingen, indem Jugendgruppen verschiedener Nationen um Lagerfeuer geschart Volkslieder ihrer Heimat singen«.[15]

Gerade vor dem Hintergrund Eichbergs politischer Biografie, zu denken ist an sein Zeltlager 1966 in Südfrankreich (vgl. I.5), ist die Beschreibung einer weihevollen, heimatumwobenen (jugendlichen) Zeltlager-Stimmung des Jahres 1936 im nationalsozialistischen Deutschland bezeichnend. Die Jugend sieht ihrem Selbst-Opfer ins Gesicht:

»Allen Spiels heil’ger Sinn: Vaterlands Hochgewinn. Vaterlandes höchst Gebot in der Not: Opfertod!«[16]

Eisenberg ordnet diesen Opfertod folgendermaßen ein: das Diemsche »Festspiel« werde

»in der sport- und tanzhistorischen Literatur als Verherrlichung des ›Opfertodes‹ für die nationalsozialistische ›Volksgemeinschaft‹ interpretiert – was nicht zu überzeugen vermag. Erstens gehörte die Opferrhetorik schon in der Weimarer Republik zum spezifisch deutschen Sportverständnis (…) Zweitens haben die Zeitgenossen des Jahres 1936 die Szene ohne Zweifel mit dem Ersten Weltkrieg und nicht mit dem bevorstehenden Zweiten in Verbindung gebracht.«[17]

Auch wenn sich die Historikerin Eisenberg ganz sicher ist (»ohne Zweifel«), bleibt zu betonen: die Erinnerung an die deutschen Toten des I. Weltkriegs war sehr wohl die Vorbereitung auf den II. Der ›Langemarck-Topos‹ der Jugend, des Opfers und des Nationalen[18] kommt hierbei zu olympischen Ehren. Die internationale Anerkennung der Spiele ist Zeichen des Appeasements dem nationalsozialistischen ›Aufbruch‹ gegenüber.

Wenn in einem Buch von 1933 ausgeführt wird:

»›Daraus erhellt, daß bei Ausbruch des Krieges der Zukunft die Ausbildung künftiger Langemarckkämpfer um ein mehrfaches verlängert und die Material- und Munitionsmenge für heutige Schlachten um ein Vielfaches vermehrt werden muß‹«[19],

so muss gerade eine solche Interpretation des Langemarck-Topos ernst genommen und nicht, wie bei Eisenberg, als quasi Weimarer Tradition, die zufällig 1936 wieder hervortritt, verharmlost werden. Dagegen ist die Kontinuität von ‘33 bis ‘36 zu sehen, die soeben zitierte Passage von ‘33 bekommt im Festspiel von Diem eine internationale Beachtung findende Weihe:

»So wurde im Glockenturm des Berliner Olympia-Stadions eine Gedächtnishalle für die Toten von Langemarck eingerichtet, und Carl Diems Eröffnungsspiel der Olympiade von 1936 endete mit ›Heldenkampf und Totenklage‹; eine Division des Hitlerschen Ost-Heeres bekam den Namen ›Langemarck‹«.[20]

 

Ein weiterer Kritikpunkt, ganz eng am Diemschen Spiel und seinen Protagonisten wie der Ausdruckstänzerin Mary Wigman[21] orientiert, ist folgender: es lässt sich gut zeigen, wie Wigmans Auffassung von Opfertod Diems Weihespiel in diesem Punkt inhaltlich bzw. choreographisch bereits vor ‘33 antizipiert hat, so am

»Stück ›Totenmal‹, einem Drama von Albert Talhoff, welches von Talhoff und Wigman 1930 gemeinsam inszeniert wurde, wobei Wigman die tänzerische Choreographie übernahm. Das Werk wurde zum Gedenken an die Gefallenen des 1. Weltkriegs geschrieben. (…) [Zudem] ist dieses Werk ein Prototyp nationalsozialistischer Inszenierungen, zum einen wegen des Themas (Verehrung der gefallenen Soldaten) zum anderen wegen der Form (die Inszenierung stellt eine Kombination aus Sprechchor und Bewegungschor dar).«[22]

 

Waren schon die »Tanzfestspiele 1935« eine »Propagandaveranstaltung für den deutschen Tanz nationalistischer Prägung«[23], so kulminierte das im olympischen Jahr im Weihespiel von Diem, an dem Wigman aktiv beteiligt war. Micha Berg weist auf die zentrale Bedeutung von Symbolik[24] für das nationalsozialistische Deutschland hin und zitiert den völkischen Vordenker Alfred Baeumler:

»Das Symbol gehört niemals einem Einzelnen, es gehört einer Gemeinschaft, einem Wir. Dieses Wir ist nicht ein Wir des gesinnungsmäßigen Zusammenschlusses von Persönlichkeiten, ist nicht ein nachträgliches Wir, sondern ein ursprüngliches. Im Symbol sind Einzelner und Gemeinschaft eins. (…) Das Symbol ist unerschöpflich, in ihm erkennt sich sowohl der Einzelne wie die Gemeinschaft.«[25]

 

Es ist genau diese Prädominanz, die geradezu onto-theologische Setzung eines (deutschen) Wir, welches Eichbergs politische Theorie kennzeichnet. Er versucht zwei Momente des nationalsozialistischen Deutschland für seine neu-rechte Theorie der 1970er Jahre zu koppeln: einerseits, als Wink für traditionsbewusste, ›treue, alte Kameraden‹, den Bezug zu Militarismus, Sterben, Tod und Opfer-Metaphorik, wie er nicht nur bei Euringer vorkommt, andererseits im Rekurs auf die Arbeiterbewegung und -kultur einem neu-rechten Diskurs eine Bresche zu schlagen, sowie ohne Berührungsängste gewisse Facetten linker Geschichte mitsamt deren Vokabular aufzunehmen. Sein Insistieren auf der massenhaften Spontaneität der Deutschen beim Verfassen von trivialen Thingspielen ab 1933[26] ist ein Zeichen für einen ›Aufbruch‹. Während Eichberg dem Thingspiel Mitte der 1970er Jahre seine Weihe gab, ist es spätestens heute – via Stadionspiel von 1936 – mit Eisenberg im akademischen Establishment angekommen.[27]

 

Eisenberg beharrt darauf: Diems Festspiel ende doch mit Beethovens »Schlußchor der IX. Sinfonie mit der ›Ode an die Freude‹ von Friedrich Schiller«,[28] was Ausdruck von ›Kunst‹ sei. Auch Eichberg schließt seine diesbezügliche Darstellung: es habe sich am Ende ein »goldener Glanz über alles Leben und Treiben des Alltags gebreitet.«[29] Dieser ›goldene Glanz‹ kehrt heute in Eisenbergs vor Affirmation strotzender Sprache als »zivile Sportgeselligkeit« mit »Eigenweltcharakter« in der Darstellung des Sports im Nationalsozialismus wieder.[30] Sie schließt ihre Arbeit, indem sie nicht nur dem Sport unterm NS mehr Möglichkeiten als noch in der Weimarer Republik attestiert, sondern auch, den II. Weltkrieg als »Beeinträchtigung des Wettkampfbetriebs«[31] euphemisierend, dem Nationalsozialismus bescheinigt, er habe den »Sport« zuungunsten des Turnens gewinnen lassen, was sie als »Rahmen für den Sport in der Bundesrepublik« für gut erachtet.[32]

 

 

[1] Es geht hierbei nur um den Band von Eichberg 1977 [Henning Eichberg (1977) Thing-, Fest- und Weihespiele in Nationalsozialismus, Arbeiterkultur und Olympismus. Zur Geschichte des politischen Verhaltens in der Epoche des Faschismus, in: Henning Eichberg u. a. (Hg.) (1977a), Massenspiele. NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell, Stuttgart-Bad Cannstatt (frommann-holzboog; problemata 58), S. 19–180], nicht um den Aufsatz von 1976 [Henning Eichberg (1976) Das nationalsozialistische Thingspiel. Massentheater in Faschismus und Arbeiterkultur, in: Ästhetik und Kommunikation, Jg. 7. (1976), H. 26, S. 60–69; ebenfalls auf Englisch als Henning Eichberg (1977b) The Nazi Thingspiel, in: New German Critique, No. 11, pp. 133–150].

[2] Christiane Eisenberg (1999): »English sports« und Deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939, Paderborn u. a. (Ferdinand Schöningh), S. 418.

[3] Völlig selbstverständlich, ja stolz präsentiert sich das ehemalige Gelände des olympischen Dorfes von 1936 im brandenburgischen Döberitz am Tag des offenen Denkmals im Jahr 2004, Kritik ist hier a priori ausgeblendet, vgl. die affirmative Ankündigung zum Tag des offenen Denkmals im Tagesspiegel, 11.09.2004.

[4] Eisenberg 1999: 414, Anm. 112.

[5] Ebd.: 414.

[6] Vgl. ebd., Anm. 110, Anm. 112, Anm. 113.

[7] Vgl. Reichel 1991.

[8] Eisenberg 1999: 410. Eisenbergs Einspruch erweist sich einmal mehr als Ressentiment, wenn sie an eben zitierter Stelle folgende Anm. platziert: »Dies [dass also der schöne Schein eine schöne Realität war, C. H.] haben z. B. jene ehemaligen Olympiateilnehmer erfahren, die 1986, anläßlich des 50. Jahrestags der Spiele, von der Presse um ihre Erinnerungen gebeten wurden und beharrlich die Meinung vertraten, sie hätten damals ›nur Sport‹ getrieben. Diese Zeitzeugen, die im Grunde nichts anderes taten als die Diskrepanz zwischen der politikgeschichtlichen Perspektive ›von oben‹ und der für sie maßgebenden ›von unten‹ und ›von innen‹ zu benennen, mußten sich nachsagen lassen, sie seien unbelehrbar und politisch naiv, ja ›peinlich‹ [so Hajo Bernett, C. H.]« (ebd., Anm. 96). Kritisch zu Eisenberg: »Indem Eisenberg ihren gesellschaftsgeschichtlichen Ansatz aber auf die Augenzeugenperspektive verkürzt, läuft sie Gefahr, der NS-Propaganda nachträglich auf den Leim zu gehen« (Hans Joachim Teichler (2001): Besprechung von Christiane Eisenberg (1999): »English sports« und Deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939, Paderborn u. a. (Ferdinand Schöningh), in: Sportwissenschaft, 31. Jg. (2001), Nr. 3, S. 334–342, hier S. 341).

[9] Eisenberg 1999: 410.

[10] Eisenbergs Perspektive lässt Mitgefühl mit den Opfern des Nationalsozialismus vermissen: »Der ganze Bereich Sportjournalismus, in dem sich – abgesehen vom Fehlen der jüdischen Kollegen – gegenüber der Weimarer Republik nichts Grundsätzliches geändert hatte« (ebd.: 419). Lapidar wird hier vom Kern des Nationalsozialismus, der Vernichtung der europäischen Juden und deren Vorbereitung durch soziale Exklusion, Goldhagen spricht treffend von der »Verwandlung der Juden in ›sozial Tote‹«, Goldhagen 1996: 118., abstrahiert, um von »Blumenbeeten« für Sportler während der Olympiade 1936 in Berlin zu reden.

[11] Eisenberg 1999: 411, Herv. C. H.

[12] Eichberg 1977:143. Genau diese Seite führt Eisenberg abschließend an, um Eichberg Recht zu geben in seinen Analysen. Allein schon die Zeiteinteilung »1937/45«, Eichberg meint ganz offensichtlich das vermeintliche Verebben der Thingspielbewegung 1937 und mit 1945 das Ende des Nationalsozialismus, ist eine Verharmlosung nationalsozialistischer Totalität. Dieser sehr einfache Trick Eichbergs, ein vermeintlich diskontinuierliches Moment des Nationalsozialismus hervorzuheben und zu einer Periode zu stilisieren, fällt Eisenberg entweder nicht auf oder sie affirmiert diese Sichtweise.

[13] Ebd.: 143–146.

[14] Ebd.: 144.

[15] Ebd.

[16] Ebd.: 145. Helmich stellt diesen Opfertod recht positiv dar: »Für Diem liegt in dieser Szene [der vorletzten von Olympische Jugend, C. H.], die die Olympische Flamme zum Sinnbild der Seele der Jugend werden läßt, der ›geistige Höhepunkt‹ des Spiels. Dessen eigentlicher Sinn aber erschließe sich im folgenden Bild, ›Heldenkampf und Totenklage‹«; es folgt die oben zitierte »Opfertod«-Passage, die weiter erläutert wird: »Für den Rezitator Joachim Eisenschmidt werden diese Verse wenige Jahre später zur Realität werden«, um schließlich mit dem »Anspruch der Tanzkunst« eines Rudolf von Laban die praktisch werdende Frage »Wann und wie darf ich töten« zu stellen, Helmich 1989: 209 f. In der Weimarer Republik war Laban »zum großen Guru des Ausdruckstanzes« avanciert, später konnte er die Olympische Jugend mit inszenieren, vgl. Horst Koegler (1980): Vom Ausdruckstanz zum »Bewegungschor« des deutschen Volkes: Rudolf von Laban, in: Karl Corino (Hg.) (1980): Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus, Hamburg (Hoffmann und Campe), S. 165–179, hier S. 171 bzw. S. 176.

[17] Eisenberg 1999: 427.

[18] Vgl. Uwe-K. Ketelsen (1985), ›Die Jugend von Langemarck‹. Ein poetisch-politisches Motiv der Zwischenkriegszeit, in: Thomas Koebner/Rolf-Peter Janz/Frank Trommler (Hg.) (1985): ›Mit uns zieht die neue Zeit‹. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. (Suhrkamp; edition suhrkamp), S. 68–96, hier S. 75.

[19] Zitiert nach ebd.: 83.

[20] Ebd.: 95, Anm. 62. Auch Euringer spielt mit jenem Mythos: »Wir lagen an der Somme und so, vor Ypern, Verdun, ich weiß nicht wo« (Euringer 1933: 22).

[21] Eisenberg erwähnt Wigman ebenso wie Eichberg sie als »Hauptvertreterin des modernen Ausdruckstanzes« und »Schülerin von Laban« rühmt, vgl. Eichberg 1977: 143 und Eisenberg 1999: 427 f.

[22] Micha Berg (1994): Der deutsche Ausdruckstanz und seine Annäherung an den Nationalsozialismus. Eine Literaturarbeit zum Verhältnis von Sport und Politik im nationalsozialistischen Deutschland. Wissenschaftliche Hausarbeit zur Ersten Staatsprüfung für das Amt des Studienrats, Berlin, S. 63.

[23] Ebd.

[24] Vgl. hierzu auch Horst Ueberhorst (1989): Feste, Fahnen, Feiern. Die Bedeutung politischer Symbole und Rituale im Nationalsozialismus, in: Rüdiger Voigt (Hg.) (1989): Politik der Symbole. Symbole der Politik, Opladen (Leske + Budrich), S. 157–178, hier S. 168 f. Ueberhorsts Kritik an Diems Weihespiel steht allerdings neben einer Anführung von Eichbergs Thingspiel-Band von 1977, ohne dessen Apologie gerade auch Diems Weihespiel auch nur anzusprechen; umso inkonsistenter wirkt dieser Verweis als Ueberhorst in der gleichen Anmerkung die sehr bedeutsame Kritik Hajo Bernetts am Weihespiel Diems zitiert: »›Um das blutige Hinschlachten symbolisch zu verklären, intonierten 1 500 Sänger Freude, schöner Götterfunken. Zwei Flakbatterien blendeten ihre Scheinwerfer auf … Die Reizüberflutung der magischen Lichtregie ließ jedes nachdenkliche Wort auf den Lippen ersterben. Das Läuten der Olympiaglocke suggerierte das Gefühl, einer sakralen Handlung beigewohnt zu haben‹« (Hajo Bernett (1986): Symbolik und Zeremoniell der XI. Olmypischen Spiele in Berlin 1936, zitiert nach ebd.: 178, Anm. 20). Früher hat Ueberhorst Eichberg publiziert, vgl. Henning Eichberg (1980 ii): Sport im 19. Jahrhundert. Genese einer industriellen Verhaltensform, in: Horst Ueberhorst (Hg.) (1980): Geschichte der Leibesübungen Bd. 3/1, Berlin 1980, S. 350–412.

[25] Berg 1994: 63.

[26] Es handelte sich dabei »überwiegend um dilettantische Versuche« (Eichberg 1976: 61).

[27] Christiane Eisenberg ist Professorin an der Humboldt-Universität Berlin.

[28] Eisenberg 1999: 427. Vgl. auch folgende affirmative Darstellung bei Helmich: »Nach der ›Totenklage‹ [also dem letzten Bild, C. H.] folgt, wie stets bei diesem ganz auf Kontrastwirkung der einzelnen Bilder zielenden Festspiel, ein jäher Stimmungswechsel. Angenehmere und freudenvollere Töne sollen nun angestimmt werden verkündigt das Rezitativ, das den letzten Satz von Beethovens IX. Sinfonie, den eigentlichen Anlaß und Höhepunkt der ›Olympischen Jugend‹, einleitet. Das Landes-Orchester Gau Berlin und die vereinigten Hochschul-Orchester spielen unter der Leitung von Fritz Stein, alle, insgesamt mehr als 10.000 Mitwirkende strömen noch einmal in das Stadion ein. Hinter den Außenmauern strahlen 14 Flakscheinwerfer in die Höhe, treffen zusammen und vereinigen sich zu einem Gebilde, das wie eine Domkuppel aus Licht wirkt und auch der Höhepunkt folgender Stadionfestspiele Niedeckens sein wird« (Helmich 1989: 210). Hier, und nicht erst bei den Nürnberger Reichsparteitagen, wurde erstmals der ›Lichtdom‹ in Szene gesetzt und die technische Apotheose des NS zelebriert.

[29] Eichberg 1977: 146.

[30] Eisenberg 1999: 441.

[31] Ebd.

[32] Ebd.

Stolzdeutscher Kleinbürger für das „Abendland“ – Wann wurde Henryk M. Broder zu einem deutsch-nationalen, feuilletonistischen Verfechter der Spaßguerilla?

Für Eike Geisel

 

Von Clemens Heni

„Für Otto Normalvergaser ist die Welt von gestern noch in Ordnung gewesen.“ Damit ist alles über Deutschland nach 1945, das „Labyrinth des Schweigens“ – so der Titel eines aktuellen Kinofilms über die Vorgeschichte des Auschwitzprozesses – und die heutigen Retter des Abendlandes gesagt. Besser hat kein Autor die deutschen Zustände nach 1945 in einem Satz auf den Punkt gebracht.

Eike Geisel Triumph des guten Willens

 

Mit diesem Satz über „Otto Normalvergaser“ begann der Publizist Eike Geisel (1945–1997) einen Text über „Die Bauchredner der späten Geburt. Anmerkungen zu einer besonderen publizistischen Volksfürsorge“, der 1998 im Band „Triumph des guten Willens. Gute Nazis und selbsternannte Opfer. Die Nationalisierung der Erinnerung“ bei der Edition Tiamat in Berlin erschien. Geisel analysierte einen Text im Spiegel (Nr. 16/93, S. 248–256) über „Das Shoah-Business“ und die „Amerikanisierung des Holocaust“. Es ging um die Eröffnung von Holocaustgedenkstätten in USA. Wie kommen Amerikaner darauf, ein deutsches Verbrechen zu erinnern? Der Spiegel raunte, US-Präsident Jimmy Carter habe 1979 vor einem Dilemma gestanden, den Verkauf von F-15 Kampfjets nach Saudi-Arabien gegenüber den Juden in USA zu rechtfertigen. Es hätte als eine Art Entschädigung für den Deal mit den judenfeindlichen Arabern ein großes Holocaustmemorial im Herzen von Washington gegeben. Der Spiegel schrieb:

„Die Saudiaraber bekamen ihre F-15-Jets, die US-Juden das Versprechen für eine Shoah-Gedenkstätte. Zum Vorsitzenden des ‚Memorial Council‘ wurde eine allseits geachtete Persönlichkeit berufen, Elie Wiesel, Schriftsteller und Überlebender des Holocaust. Damit setzte ein Trend ein, mit dem eigentlich niemand gerechnet hatte: Die Amerikanisierung des Holocaust.“

Der Artikel fabulierte, es gebe zuviel an Holocausterinnerung, und das auch noch in USA, wo doch dort die eigenen „Leichen im Keller“ liegen würden: „Amerikaner in Vietnam: Über eine Million Tote“, „Amerikanischer Sklavenmarkt: Leichen im Keller“ und „Amerikaner gegen Indianer: Völkermord übersehen“ wie drei große Bilder auf der letzten Seite des Artikels untertitelt sind.

Insbesondere machte sich der Spiegel über den Gründer des Simon Wiesenthal Centers in Los Angeles, Rabbi Marvin Hier lustig. Der Tonfall erinnerte eher an die Nationalzeitung, wenn es hieß:

„Der entscheidende Einfall aber war, Simon Wiesenthal als Namensgeber zu gewinnen, der in den USA, gleich nach Mutter Teresa und noch vor Nelson Mandela, wie ein Heiliger verehrt wird.“

Ein Holocaustüberlebender gereicht dem deutschen Nachrichtenmagazin zu einer Witzfigur, die „heilig“ sei, da ist es nicht mehr weit zum rechtsextrem-antisemitischen Begriff der „Holocaust-Religion“, der auch von islamistischen, arabischen und anderen Israelfeinden gerne benutzt wird.

Eike Geisel analysierte:

„Anläßlich der Eröffnung zweier Museen (im Februar 1993 das ‚Museum of Tolerance – Beit Hashoah‘ in Los Angeles und Mitte April das ‚Holocaust Memorial Museum‘ in Washington), die ohne deutsche Vorarbeiten nie entstanden wären, zeigte sich das bekannte Dilemma. Man grollte den Amerikanern und der amerikanischen Judenheit. Die Museen seien antideutsch, das ‚andere Deutschland‘ werde ignoriert; die Nachkriegszeit werde ausgeblendet, die Wiedergutmachung verschwiegen. Doch statt erleichtert darüber zu sein, daß die Museen nicht zeigen, wie das ‚andere Deutschland‘ über die Juden dachte, nämlich gar nicht so sehr viel anders; statt froh zu sein, daß die Museen keine Wendehalsgalerien der Nachkriegszeit enthalten; statt von Herzen dankbar zu sein, daß es dort keine Abteilung mit dem Thema ‚Wiedergutmachung‘ gibt, wo die Pensionszahlungen an alte Nazis mit den Entschädigungen der KZ-Häftlinge verglichen werden; statt also rundum zufrieden zu sein, ignorierte das bessere Deutschland in Gestalt seines Bundespräsidenten die Einweihungsfeierlichkeiten. Zu Recht, schrieb der Spiegel, der meinte, deutsche Politiker hätten dabei mit einem ‚Spießrutenlauf‘ rechnen und sich innerlich ‚ducken‘ müssen.“

Geisel kritisierte die „jüdischen Flakhelfer“ (ein Terminus von Josef Joffe) in Deutschland wie Michael Wolffsohn oder Rafael Seligman, die sich zum Spiegel-Autor gesellten. Wolffsohn, bekannt als „Mitstreiter des Historikers Zitelmann, des historiographischen Herrenausstatters der Nazis“ und Seligman wollen wieder ein stolzes Deutschland. Die beiden sind bis heute unterwegs in Sachen deutsch-jüdischer Versöhnung oder „Normalisierung“.

„Das deutsche Judentum möchte“ Seligman „so als wäre bloß kurz die Telephonleitung unterbrochen gewesen, ‚wieder aufleben‘ lassen: ‚Voraussetzung dafür ist, daß man neben den toten auch an die lebenden Juden denkt.‘ Er meint natürlich an ihn, was diese Auskunft so sympathisch unideologisch macht.“

Geisel weiter:

„Die ‚Amerikanisierung des Holocaust‘ ist besonders schlimm, denn ‚Amerikanisierung‘ ist schon mal Übel. Kolonisierung der Köpfe hat Hochhuth dies einmal genannt und seither bewiesen, wie nötig er sie hätte.“

 ***

Dabei wurde zuletzt 2011 vom amerikanischen Gelehrten in Jüdischen Studien Alvin H. Rosenfeld in seinem Buch „The End of the Holocaust“ die Trivialisierung der Shoah wie die „Amerikanisierung des Holocaust“ scharf kritisiert, weil sie gerade zu wenig – und nicht zuviel, wie der Spiegel 1993 fantasierte – Analyse und Gedenken an das präzedenzlose Verbrechen der Shoah bietet. Vielmehr zeigte das Museum in den letzten Jahren auf Extratafeln „Beispiele“ für heutigen „Genozid“, ob nun in Darfur, Bosnien oder Ruanda. Rosenfeld zitiert eine ehemalige Direktorin für Kommunikation beim Holocaust Memorial, die ernsthaft meinte, das Museum solle „nicht zeigen, was Deutsche Juden antaten, sondern was Menschen Menschen antaten.“ Das erinnert an die Anthropologisierung der Schuld und die Rede von „dem Bösen an sich“, wie wir es zum Beispiel von Joachim Gauck oder Gert Scobel kennen.

 ***

Der Publizist Henryk M. Broder schreibt im Januar 2015:

„Wäre das Tausendjährige Reich ohne den Holocaust nur eine normale Diktatur gewesen? Wie Spanien unter Franco, Chile unter Pinochet oder Uganda unter Idi Amin – nur größer, multikultureller und internationaler? Ich glaube nicht, dass es richtig ist, ein politisches System oder ein ideologisches Konstrukt nach den Exzessen zu beurteilen, die es veranstaltet.“

Broders Eltern waren beide Holocaustüberlebende. In einer Mischung aus womöglich psychoanalytisch zu decodierender Verschiebung, Projektion und Derealisierung spielt der Angestellte des Springer-Konzerns auf der Klaviatur der Revisionisten. Was-wäre-wenn angesichts der Shoah zu intonieren ist an Perfide schwerlich zu überbieten. Es ist ein Zwang, eine Obsession. Broder kommt von der Geschichte nicht los, wie auch. Broder schreibt aber nicht für die zweite und dritte Generation von Nachkommen, er betreibt keine Introspektion für andere Kinder und Enkel von Überlebenden, sondern extrapoliert super spezifische, dramatische und tragische psychische Vorgänge für ein fast ausnahmslos „arisches“ Auditorium.

Broder diffamiert „den“ Islam und will nichts von den Verbrechen der Islamisten bloß wissen, die würden nur ablenken vom Problem dieser Religion an sich. Broder wäre gern ein Kantianer im 21. Jh. („Kritik der reinen Toleranz“) und es gereicht doch nur zu einem Sarrazianer („Deutschland schafft sich ab“).

Angesichts der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz behauptet er in der WELT, israelische Kampfjets seien auch dieses Jahr über das ehemalige Vernichtungslager geflogen, wie „jedes Jahr“. Schlecht recherchiert. Hier war wohl eher der Wunsch Vater des Gedankens, denn noch nie fand eine solche Flugshow am 27. Januar statt. Israelische Kampfjets überflogen Auschwitz überhaupt nur einmal, am 4. September 2003. Das war eine starke Aktion, die gerade die Verbindung von Gedenken und Zionismus und nicht den Gegensatz von Zionismus versus Gedenken symbolisierte, wie es Broder gerne hätte.

Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung will eine Mehrheit der Deutschen Auschwitz vergessen, 58% wollen explizit einen „Schlussstrich“, 81% die Geschichte der Shoah „hinter sich lassen“. Broder hingegen schreibt:

„Nun hat der Präsident des Zentralrates der Juden, Josef Schuster, vorgeschlagen, jede deutsche Schulklasse sollte einen Pflichtbesuch in Auschwitz ableisten. Um zu verstehen, was dort geschah und was sich nicht wiederholen darf. Der Vorschlag war gut gemeint, aber nicht hilfreich. So werden Ressentiments nicht ausgeräumt, sondern verstärkt. Kein 15-Jähriger will sich Gefühle einreden lassen, die er nicht haben kann, auch wenn ihm versichert wird, es ginge nicht um Schuld, sondern um Verantwortung.

Da inzwischen jeder dritte Deutsche der Ansicht ist, die Israelis würden den Palästinensern das antun, was die Nazis den Juden angetan haben, wäre es wohl sinnvoller, wenn jede Schulklasse Israel besuchen würde – aber eben nicht die Gedenkstätte Yad Vashem, sondern Tel Aviv mit seiner wunderbaren Strandpromenade, den vielen Bars, Cafes und Diskos.“

Was für eine absurde Gegenüberstellung. Broder geht davon aus, dass Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht, um den geht es, sich auf RTL-II-Niveau mit den angeblich schönen Seiten des Lebens befassen sollten. Warum sollten aus 15-Jährigen, die eine KZ-Gedenkstätte besuchen, Antisemiten werden? Warum weigern sich dann so viele Muslime in Europa das Thema Holocaust auch nur anzusprechen? Die sind schon Antisemiten, weil sie die Erinnerung ablehnen, nicht weil sie von den unsagbaren Verbrechen in Auschwitz gehört haben, sie wehren das als „zionistische Propaganda“ ab, „Dank“ ihrer Elternhäuser, arabischen und muslimischen Medien oder dem erinnerungsabwehrenden europäischen Mainstream.

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Ein Kernpunkt der gegenwärtigen Diskussion über die Geschichte des Zionismus, die hierzulande so gut wie nicht wahrgenommen wird, ist folgender: Israel wurde aufgrund der Geschichte und den Aktivitäten des Zionismus gegründet, nicht wegen dem Holocaust. Diese Holocaustfixierung ist gerade antizionistisch, wie die israelische Politikerin und ehemalige Knesset-Abgeordnete Einat Wilf unterstreicht. Sie spricht von einer „Leugnung des Zionismus“, wenn immer so getan wird, als ob der Holocaust zur Gründung Israel geführt habe. Damit zielt Wilf gerade auf die „wohlwollenden“ Leute, auf die Freunde Israels in Europa. Auch Broder hat diese problematische Position, wenn er schreibt:

„Machen wir ein Gedankenexperiment: Wie wäre der Zweite Weltkrieg ausgegangen, wenn die Nazis die ‚Endlösung der Judenfrage‘ nicht zu einem Kriegsziel erklärt hätten? Wenn die Wannseekonferenz nicht stattgefunden hätte, der Holocaust nicht passiert wäre? Es ist reine Spekulation, aber einiges spricht dafür, dass die Nazis vermutlich den Krieg gewonnen hätten. Die Organisation der ‚Endlösung‘ hat sehr viele Kräfte und Ressourcen gebunden, die militärisch nicht eingesetzt werden konnten. (…) Im Zuge der Kampfhandlungen wären viele Millionen Menschen ums Leben gekommen, aber der industrielle Massenmord an den Juden hätte nicht stattgefunden. Es wäre natürlich für die Juden besser und für die Deutschen gesünder gewesen, weil sie heute ein Trauma weniger hätten. Wahrscheinlich wäre auch Israel nicht gegründet worden, weil die Welt den Juden gegenüber keine Schuldgefühle gehabt hätte. Palästina wäre eine syrische Provinz, kein Paradies auf Erden, aber auch kein Konfliktherd, der den Weltfrieden bedroht.“

Exakt diese Argumentation ist es, die Einat Wilf kritisiert. Broder meint, Israel sei eine Gründung aus „Schuldgefühlen“ der Welt, doch warum sollte die Sowjetunion, die als einer der ersten Staaten Israel akzeptierte, noch vor den USA, „Schuldgefühle“ gehabt haben, war es doch die Rote Armee die Nazi-Deutschland besiegte und viele KZs befreite? In der Roten Armee kämpften ca. 500.000 Juden, was den Antisemitismus Stalins mit keiner Silbe verharmlost.

Die Gründung Israels hat viele Faktoren, einer mag ein innerimperialistischer Kampf der Großmächte gewesen sein, daher auch die Anerkennung der UdSSR, die wenig später stramm antizionistisch wurde, ohne dass Amerika sehr pro-israelisch gewesen wäre in den 1950 und frühen 1960er Jahren, man denke nur an den Besuch der Muslimbrüder im Weißen Haus bei US-Präsident Eisenhower im September 1953 (Said Ramadan, der später im Adenauer-Deutschland studierte und den Islamismus in der BRD mit entwickelte), wie der Journalist Ian Johnson herausgearbeitet hat („A Mosque in Munich“). Doch vor allem die jahrzehntelange politische Arbeit, die Besiedelung und später die militärischen Kämpfe der Zionisten im Mandatsgebiet Palästina sind von enormer Bedeutung, ja der entscheidende Faktor, dass Israel gegründet werden konnte. In der Shoah wurden sechs Millionen Juden ermordet, die Zionisten in Palästina verloren viele Hunderttausend, wenn nicht Millionen mögliche Mitkämpfer für den Staat Israel, wie Einat Wilf und andere heutige Zionisten wie Professorin Anita Shapira aus Tel Aviv seit Jahren betonen. Israel wurde also nicht wegen sondern trotz dem Holocaust gegründet.

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Natürlich kann man den Islam komplett ablehnen, wie andere Glaubens- oder Wahngebäude auch (Christentum, Judentum, Buddhismus, Naturreligionen, Paganismus, Esoterik, Astrologie, Schamanismus etc. etc.). Und, ja, der Islam ist die bei weitem problematischste weil politischste Religion heutzutage, von Scharia über suicide bombing, Köpfen und Auspeitschen von Nonkonformisten reicht die unendliche Palette islamistischer Gewalt, von den legalen Formen auch im Westen wie dem „Islamic Banking“, das Geldanlagen in Glücksspiel, Alkohol oder Pornographie verpönt, nicht zu schweigen.

Doch Broder, der nun der Wortführer vieler Kompanien der Verteidiger des Abendlandes ist, befasst sich fast nur noch mit „dem“ Islam. Die analytische und islamwissenschaftliche Trennung von Islam als Glaube und Islamismus als Ideologie ignoriert er. Um von „dem“ Islam als neuem Hauptfeind des Westens reden zu können, braucht es die Abwehr oder zumindest Trivialisierung der Erinnerung an die deutsche Schuld. Denn die würde jederzeit und für immer anzeigen, dass Deutschland die schlimmsten Verbrechen der Menschheit begangen hat und nicht „der“ Islam.

Wer ganz allgemein „den“ Islam diffamiert und nicht den Islamismus kritisiert, hat in Deutschland Erfolg. Und so wird dieses Land weiter den Islamisten freie Fahrt geben, gerade aufgrund des Massakers an der Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris am 7. Januar 2015 und den Morden an Polizisten und Juden an den beiden darauffolgenden Tagen, dem 11. September Frankreichs. Interreligiöser Dialog wird als Medizin verabreicht oder völkisches Deutschtum und christliches Abendland wie in Dresden, dabei wäre weltweit eine Distanz zu Religion, ein neuer Antifaschismus, Aufklärung und eine Stärkung des Denkens und der individuellen Urteilskraft angesagt. Frankreich könnte da federführend sein, doch der Antizionismus, Kosmopolitismus und die massive islamistische Präsenz im Land stehen dem vermutlich entgegen.

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Auf einige der genannten Ideologeme bei Broder aufmerksam geworden, schrieb mir eine Facebook-Freundin, Eva Horvath-Bentz:

„Broder arbeitet mit voller Kraft daran Deutsche und Juden zusammenzuführen, weil er sich in Deutschland wohlfühlt, nur der Holocaust stört ihn noch manchmal ein wenig. Daher der Wunsch, der Holocaust hätte nicht stattgefunden und Deutschland hätte den Krieg gewonnen. In dieser Konstellation wäre er dann ohne Hindernisse ein glücklicher, deutscher Kleinbürger mit großem Bauch.“

Zudem und verschärfend bedient Broder das Franz-Josef-Strauß-Syndrom: Die Antifa sei die heutige SA. Broder und seine Kolleginnen und Kollegen auf der Webseite Achgut regen sich seit Wochen maßlos über Kritik an den nationalistischen und völkischen Massenaufmärschen von Pegida und ihren Ablegern auf. Broder schreibt:

„Mitten in der Menge eine junge Frau mit Wollmütze, die ein pinkfarbenes Plakat an einer Holzlatte in die Höhe hält. Darauf steht: ‚Menschenrechte statt rechte Menschen‘. Ich würde gerne auf die Frau zugehen und sie fragen: ‚Was soll denn mit den rechten Menschen passieren? Wollen wir sie umbringen, einsperren, ausbürgern?‘“

Angesichts von NSU-Morden, ca. 700 weiteren Morden von Rechtsextremisten und Neonazis seit 1989, solche grotesken Mordfantasien harmlosen, antifaschistischen oder zumindest Anti-Pegida-Aktivistinnen zu unterstellen, zeigt ein Syndrom an und ist Resultat eines Realitätsverlustes. Während Broder 1978 noch die „neuen Nazis“ im Blick hatte ist er heute ob Pegida ganz verzückt. Aus einem Kritiker des Antisemitismus („Der ewige Antisemit“, 1986) in der BRD wird ein stolzdeutscher Kleinbürger im Kampf für das „Abendland“.

Dazu kommt seit Jahren ein gezielt gegen Frauen und „Gendermainstreaming“ gerichteter, regelrechter Hass vieler Konservativer wie der Achse des Guten. Die reaktionäre Ideologie zeigt sich in Texten, in denen Broder Sexisten wie Brüderle in Altherrenmanier ein Kavaliersdelikt attestiert und keine elende patriarchale Grenzüberschreitung, wie sie tagtäglich passiert.

Mit guten Gründen hat selbst ein Mitbegründer des Autorenblogs „Achgut“, Michael Miersch, die Redaktion im Januar 2015 verlassen:

„Das politische Spektrum in Deutschland verengt sich auf zwei Pole: Die, die ein Problem mit dem Islam abstreiten und am ‚Elefanten im Zimmer‘ vorbei gucken. Und die, deren Antwort auf die islamische Herausforderung lautet: Scharen wir uns um Kreuz und Fahne und verteidigen wir unsere deutsche Identität. Liberale und differenzierte Positionen werden davon überrollt.“

Zum Ausstieg von Miersch schreibt Christian Bommarius in der Frankfurter Rundschau („An das deutsch-nationale Pöbel-Pack“):

„Vor allem in Broder finden Gauland, Adam und Pegida den entschlossensten Verteidiger. Als der nach eigenem Geständnis ‚geschmierte‘ Journalist Udo Ulfkotte (…) kürzlich die Pegida-Demonstranten in Dresden mit der Nachricht erschütterte, in Deutschland würden jetzt schon die Friedhöfe islamisiert, schloss er seine Rede mit einem ‚herzlichen Dank an Henryk M. Broder‘. Den hat er verdient.“

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Broder, der symptomatisch steht für eine Tendenz, erweckt den Eindruck, die gesamte sogenannte Pro-Israel-Szene mache sich lustig über jegliches Auschwitzgedenken, dass sie konservativ („Ich wähle Merkel“) bis extrem rechts („Ich wähle AfD“), gegen political correctness, misogyn, anti-links, Pegida-freundlich, völlig unverschämt neoliberal-kapitalistisch, anti-ökologisch und Anti-Islam sei. Das schadet sowohl Israel, dem Eingedenken der Geschichte und Gegenwart des Zionismus (die sehr stark mit dem Sozialismus verbunden ist und nicht zufällig heißt es im gegenwärtigen israelischen Wahlkampf „zionistisches Lager“ von Herzog/Livni u.a. gegen das „rechte Lager“ von Netanyahu, Bennett, Lieberman etc.) wie der Erinnerung an die Shoah. Es entsteht der Eindruck eines entweder-oder: Entweder die Shoah wird erinnert oder man ist für Israel. Jegliches Differenzierungsvermögen wird negiert.

Ja, viele Deutsche sind glühende Antizionisten und erinnern die Shoah (oder tun zumindest so), meinen, sie seien damit projüdisch. Der Zentralrat der Juden, jüdische Gemeinden und einige andere versuchen allerdings seit Jahren auf angemessene Weise den präzedenzlosen deutschen Verbrechen zu gedenken und sind proisraelisch. Darunter sind etliche der wenigen noch Lebenden der ersten Generation und ihre Nachkommen. Im Gegensatz zu Broder ist der Zentralrat der Juden auf der Höhe der Zeit, wenn er vor dem extrem rechten und nicht nur bei organisierten Neonazis beliebten großen Polit-Blog Politically Incorrect (PI) warnt. Ein vulgärer Ton, eine Hetze und eine Diffamierung aller Nicht-Deutschen im Allgemeinen und Muslimen im Speziellen, aber auch eine Agitation gegen die jüdische Beschneidung ist bei PI online zu finden.

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Broder stellt den Zionismus der Erinnerung an die Shoah gegenüber, fast wie ein Besessener publiziert er zu „Auschwitz vergessen“, was keine Polemik und keine Ironie, sondern Programm ist – und somit rennt er offene Schiebetüren im neuen deutschen Salon ein. Die Deutschen sind schuld, dass Broder Auschwitz nicht vergessen kann. Allerdings scheint er nicht zu begreifen, dass die Deutschen Auschwitz permanent vergessen, da das Thema für sie ein „Stimmungskrepierer“ auf Partys ist (Matthias Matussek) und Broder ihnen heute dazu Schützenhilfe leistet.

Bereits 2006 publizierte ich Folgendes:

„Ich bin nicht tief traumatisiert, denn ich denke nicht oft an die deutsche Schuld und an den Holocaust“ sagt Matussek, er kämpft wie Walser und Konsorten gegen die „moralische Keule“. Das sind die Töne des nationalen Apriori.

Seit dem deutschen Fußball-WM-Jahr und exzessiv im Jahr 2014 gibt es nur noch Deutsche, wer nicht schwarzrotgoldene Tischdeckchen hat oder häkelt und farblich passende Socken oder Slips trägt wird angeschrien und dann toben der Mob und die Elite unisono, wobei viele Migranten eine sehr gute deutsch-nationale Rolle spielen. Selbst Israeli lieben die Deutschen, sie leben ja auch weit genug weg vom Land im WM-Wahnzustand. Ohne diesen WM-Wahnsinn seit Jahren wären Pegida & Co. undenkbar.

Matussek, ein Prototyp des stolzen Deutschen, lacht sich schief, dass seinem Kumpel Broder das Vergessen nicht so gut gelingt. Diesen Unterschied ums Ganze, Sohn ganz normaler („ordinary“) Deutscher oder Sohn von Auschwitz- und Holocaustüberlebenden zu sein, wischt der Katholik vom Tisch, ja er bemerkt ihn gar nicht. So sind sie, die Deutschen. Und für die ganz Tumben wie für die Bologna-mäßigen 21-jährigen Doktoranden, die spätestens jetzt ihren Blutdruck nicht mehr regulieren können: „die“ Deutschen ist logisch eine Übertreibung, selbst wenn es bis auf zwei oder drei alle wären, wäre es falsch. Es geht nicht um eine Ontologisierung eines üblen Volkes, sondern um eine „Übertreibung in Richtung Wahrheit“ (Günther Anders).

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Der oben zitierte Spiegel-Autor von 1993 („Shoah-Business“), der von Eike Geisel in seine Einzelteile zerlegt wurde, war niemand anderes als sein alter Freund und Weggefährte Henryk M. Broder. Geisel konnte es selbst nicht glauben, dass Broder so einen Text geschrieben haben könnte und unterstellte, Broder wollte dem Spiegel einen rechten Text unterschieben um die Redaktion spaßguerillamäßig aufs Glatteis zu führen.

Geisel schrieb:

„Was aber, wenn Broder den Spiegel nicht als Zentralorgan des Chauvinismus entlarven wollte, der Text tatsächlich und entgegen allen Beteuerungen von Freunden doch von ihm selbst stammt? Wenn er selbst den ‚Holocaust-Rausch‘ der USA im Zustand eigener hochgradiger Sturzbetroffenheit entdeckt haben sollte? Was dann? Das wäre ein weiteres Beispiel finaler Déformation professionelle, wie etwa im Fall der Löwenforscherin, die schließlich von ihrem Untersuchungsobjekt aufgefressen wurde. Dann hätte ihn das Syndrom, dem seine jahrelange Aufmerksamkeit galt, am Ende verschluckt.“

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Auschwitz, 27. Januar 1945

Am 27. Januar 2015 wird in Auschwitz der 70. Jahrestag der Befreiung durch die Rote Armee der Sowjetunion (UdSSR) begangen. Während die Befreier von Auschwitz nicht vertreten sein werden, jedenfalls nicht mit dem russischen Staatspräsidenten Putin, wird die Täternation dabei sein. In einer aufgeheizten Stimmung in Europa und dem Westen wird so getan, als ob „Steven Spielberg oder die Amerikaner“ Auschwitz befreit hätten, wie es der Journalist und ZEIT-Korrespondent in Berlin Mark Schieritz auf Phönix im Fernsehen überspitzt auf den Punkt brachte und einforderte, doch gerade jetzt die Rolle Russlands bzw. der Sowjetunion zu würdigen bei der Niederschlagung Nazi-Deutschlands und der Befreiung von Auschwitz-Birkenau.

Götz Aly wiederum, das getätschelte enfant terrible der deutschen Mainstream-Geschichtswissenschaft, tut so als ob ihn die Nicht-Einladung Putins stören würde, dabei hat doch Aly durch seine eigene Forschung seit Jahrzehnten einer Ökonomisierung des Holocaust das Wort geredet („Vordenker der Vernichtung“), 2008 rot und braun analogisiert, Kritik am Springer-Konzern 1968 mit der Bücherverbrennung 1933 gleichgesetzt und somit geholfen, das antikommunistische und die Shoah trivialisierende Feld vorzubereiten, das heute gegen „die Russen“ zurückschießt.

Dabei ist dieser Jahrestag US-Präsident Barack Obama völlig wurscht, er hatte den Termin nicht eingeplant (woher hätte er von diesem für ihn x-beliebigen x-ten Jahrestag auch vorab wissen sollen?) und ist in Indien. Nach einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung wollen 81% der Deutschen nichts mehr vom Holocaust hören, den Blick in die schwarzrotgoldene Zukunft gerichtet.

Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) wird beim Gedenken in Auschwitz durch zwei ehemalige DDR-Bürger vertreten. Nachdem es mit dem „Triumph des Willens“ nicht in jeder Hinsicht klappte, siegt heute der „Triumph des guten Willens“ (Eike Geisel) auf allen Kanälen, die „Nationalisierung der Erinnerung“ hat oberste kulturindustrielle Priorität.[1]

Bundespräsident Gaucks Behauptung, die ganz normalen Deutschen hätten 1945 als „Befreiung“[2] verstanden, widerlegt er in seiner Autobiografie 2009 hingegen selbst: dort beschreibt er, wie er zu Weihnachten 1944 vom „Weihnachtsmann“ einen hölzernen Panzer bekommen hat, weil er „ohne zu haspeln“ ein Gedicht aufsagen konnte.[3] Seine Eltern fürchteten die Rote Armee und die Sowjets („Russen“) und sehnten keineswegs eine Befreiung – von was, dem antisemitischen, völkischen, nationalsozialistischen Selbst? – herbei. Gauck setzt nicht nur obsessiv und mit System die DDR mit dem Nationalsozialismus gleich, nein: er fantasiert zudem, die Nazis seien ganz wenige böse Leute gewesen, die das ‚deutsche Volk‘ beherrscht hätten.

Der Bundespräsident steht im Trend einer neuen, zukunftsträchtigen Verharmlosung des Holocaust. In seinen längst bekannten und dokumentierten Reden und Publikationen diminuiert Gauck den Holocaust gleich mehrfach: Er setzt den Nationalsozialismus mit der DDR gleich und banalisiert dadurch ersteren zu einem bloßen ‚Unrechtsregime‘; er unterstellt Kritikern, welche die Shoah in ihrer Präzedenzlosigkeit und Einzigartigkeit analysieren, einen „psychischen Gewinn“, womit die modernen Gottlosen ein ‚inneres Loch‘ stopften. Gauck ist als politischer Aktivist bei der Veröffentlichung des „Schwarzbuchs des Kommunismus“ (1998)[4], der „Prager Deklaration“ (2008) und der Initiative „23. August 1939“ (2009) an vorderster Front mit dabei. Angesichts der „Prager Deklaration“ und der Gleichsetzung von rot und braun sprechen Experten in Jüdischen Studien wie Alvin H. Rosenfeld aus USA vom „Ende des Holocaust“[5], was auch die kulturindustrielle Verkitschung Anne Franks betrifft und viele weitere Facetten der Trivialisierung und Universalisierung der Shoah.

In Auschwitz wurden ca. 1,3 Millionen Menschen industriell vernichtet, darunter ca. 1,1 Millionen Juden. Die Opfer des präzedenzloses, nie dagewesenen Verbrechens, werden durch Gauck geradezu verhöhnt, wenn dieser Mann davon redet, jene, die gerade den präzedenzlosen Charakter der Shoah betonten, würden das als „psychischen Gewinn“ in einer gottlosen Welt verbuchen.[6]

Man kann also super stolzdeutsch den „Antikommunismus“ hochleben lassen und de facto die Präzedenzlosigkeit von Auschwitz und die Alleinschuld des Nationalsozialismus am Zweiten Weltkrieg zerreden – ja, zerreden – wenn man es nur wirklich will. Und Richard Herzinger will es und tut es und Springer freut es. Damit entwirklicht Herzinger die historische Leistung der Roten Armee, am 27. Januar 1945 das KZ und Vernichtungslager Auschwitz befreit zu haben. Für ihn ist die Betonung der Leistung der Roten Armee reine Propaganda der Kommunisten, da Stalin schon vor der Shoah ähnlich schlimme Verbrechen begangen habe. Herzinger schreibt im Geiste von Ernst Nolte und natürlich dessen Enkel/Sohn Timothy Snyder (Yale), dem Bestsellerautor von „Bloodlands“, einem Gebiet mit über 14 Millionen Toten zwischen 1932 und 1945, das Snyder erfindet, um die Einzigartigkeit des Holocaust zu leugnen bzw. zu trivialisieren.

Es gibt ein Denkmal in Israel, das in Gedenken an die heroische Leistung der Roten Armee und der jüdischen Soldaten in der Roten Armee errichtet und 2012 eingeweiht wurde:

“This is an opportunity to thank the Red Army,” said Peres. “Had it not defeated the Nazi beast then it is doubtful we would be standing here today. In World War II the Soviet Union prevented the world from surrendering.”

Memorial für die Rote Armee in Netanya, Israel, 2012

Zum obsessiven Antikommunismus der Liberalen, Bürgerlichen, Konservativen und Reaktionäre kommt jedoch noch ein Element hinzu. Die Kritik am Islamismus und seiner Pro-Nazi-Geschichte ist bedeutsam, gerade in Zeiten des Jihad, des muslimischen Antisemitismus und des Islamischen Staates (IS). Doch man kann es auch unwissenschaftlich und politisch grotesk machen. Und dann geht es um Geschichtsklitterung und die Stilisierung des Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husaini, zum Obernazi, der Hitler erst zum Holocaust inspirieren musste. So schreiben die Nahostforscher Barry Rubin (1950–2014) und Wolfgang G. Schwanitz 2014 in einem Buch bei dem renommierten Verlag Yale University Press, es sei für Hitler bis zum Besuch von al-Hussaini am 28. November 1941 nicht klar gewesen, ob die Juden nur abgeschoben oder vernichtet werden sollten:

„But there was another consequence of the al-Husaini-Hitler meeting [28. Nov 1941, d.V.] to cement their alliance. A few hours after seeing the grand mufti Hitler ordered invitations sent for a conference to be held at a villa on Lake Wannsee. The meeting’s purpose was to plan the comprehensive extermination of all Europe’s Jews. Considerations of Muslim and Arab alliances, of course, were by no means the sole factor in a decision that grew from Hitler’s own anti-Semitic obsession. But until that moment the German dictator had left open the chance that expulsion might be an alternative to extermination.”[7]

Die beiden Autoren ignorieren großzügig nahezu die gesamte Holocaust- und Antisemitismusforschung, man denke nur an Hans Safrians Studien über Eichmann[8], Daniel J. Goldhagens Doktorarbeit über „Hitler’s Willing Executioners“ mit ihrem zentralen Satz „No Germans – No Holocaust“[9], oder Jochen Böhlers Dissertation „Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939“, in der er z.B. anhand von Bundesarchivakten Einträge von deutschen Soldaten dokumentiert, die in antisemitischer Diktion ihre Eindrücke beim Einmarsch in Polen 1939 zum Ausdruck brachten.[10] Auf diesem antisemitischen Feld baute später der Vernichtungskrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion und die Juden ab Juni 1941 („Unternehmen Barbarossa“) auf.

Doch nun wie Rubin und Schwanitz den Großmufti al-Husaini, ein ausgewiesener Antisemit und Freund Hitlers, als Stichwortgeber für die „Endlösung“ herbei zu fantasieren, das entbehrt jeder Grundlage und desavouiert sowohl die Holocaust- wie die Islamismusforschung.

Bedeutend und von herausgehobenem Interesse sind hingegen die Erkenntnisse der jüngsten kritischen Antisemitismusforschung. In ihrer Studie „Antisemitismus im Reichstag. Judenfeindliche Sprache in Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik“ analysiert die Historikerin Susanne Wein[11] erstmals die Protokolle der Reichstagsdebatten, bettet sie in die politische Kultur der Zeit ein und zeigt wie offen und auch codiert der Antisemitismus in der Weimarer Republik von rechts bis links und der Mitte war. Sie schreibt über Zeitungsberichte bezüglich eines der großen Skandale der Republik, den „Barmatskandal“ Ende 1924/1925, und die antisemitischen Implikationen:

 

„Die Artikel der Barmatskandalisierung verwenden das physiognomische antisemitische Stigma der großen Nase nicht explizit, doch z.B. der Satz ‚Kutisker […] riecht herum‘ zentriert auf das Olfaktorische und degradiert die Person wiederum zu einem Tier, das herumschnüffelt. Die Bildsprache rekurriert demnach neben dem vorherrschenden Bezug auf die Botanik auch auf identifizierende Metaphern aus der Zoologie. Drittens steckt Gestank im Bild des kranken Volkskörpers. Dieser hat je nach Dramatisierung des jeweiligen Artikels eine eiternde Stelle oder ist mit Eiterbeulen übersät und entsprechend gering werden die Heilungschancen eingeschätzt, wobei in jedem Fall sofort reagiert werden muss. Alle Artikel dieser Art beinhalten den dringenden Aufruf zum Handeln, um die Krankheit zu bekämpfen, bevor es zu spät ist und die drastischen Bilder greifen auf Vernichtungsvokabular zurück. Der korrumpierende ‚(ost-)jüdische‘ Kapitalist wird vermischt mit dem Bild des ‚fremden Ostjuden‘, der Seuchen einschleppe. Beide Figuren ‚hängen‘ am bereits durch den Krieg geschwächten deutschen Volkskörper und ‚saugen ihn aus‘. Dieses aggressiv-antisemitische Bild aus der Medizin, das ‚den Juden‘ als Erreger und Überträger von Krankheiten entmenschlicht und ihn zum lebensunwerten Parasiten macht, bewegte sich noch auf der verbalen Ebene, hatte jedoch eine Kompatibilität zur künftigen nationalsozialistischen Tat.“[12]

 

Diese Analyse ist entscheidend, um die Vorgeschichte von Auschwitz und der Shoah besser verstehen zu können. Das erklärt nicht Auschwitz, aber den Weg dahin.

Auch Forschungen über den auf die Vernichtung der Juden zielenden Antisemitismus eines Achim von Arnim in seiner Rede „Über die Kennzeichen des Judentums“, den er vor der „Christlich-deutschen Tischgesellschaft“ im Frühjahr 1811 gehalten hat, der von dem Literaturwissenschaftler Heinz Härtl als der „schlimmste antisemitische Text der deutschen Romantik“ bezeichnet wurde, worauf die Historikerin Susanna Moßmann hinweist, sind von enormer Relevanz.[13]

Hier zeigte sich das christliche deutsche „Abendland“ und jeder einzelne Teilnehmer und jede einzelne Teilnehmerin oder Sympathisant und kuschelnder, sie „ernst“ nehmender Gesprächspartner der völkischen PEGIDA (und verwandter)-Aufmärsche und des Extremismus der Mitte ist in Haftung zu nehmen für diese antisemitische Tradition im Geschwätz vom schönen deutschen „Abendland“. Und jene Anti-PEGIDAisten, die ihren Judenhass als Antizionismus kaschieren, sind die andere Seite des gleichen, heutigen Deutschlands. Verschwörungswahnsinnige agitieren immer häufiger auch offen gegen Juden, Geldwirtschaft oder das „Finanzkapital“.

Das sind nur einige Aspekte, die angesichts der 70. Wiederkehr der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz in den Blick zu nehmen wären.

Von einigen wenigen Forscherinnen abgesehen, sind es heute fast nur noch Satiriker, die in der Lage sind und die den Mut haben, die Realität in Worte zu fassen, hier die Satire-Redaktion von SpiegelOnline:

„Bundespräsident Gauck wird dagegen selbstverständlich bei der Gedenkveranstaltung vertreten sein. Schließlich waren es deutsche Soldaten, die sich den Okkupanten heroisch entgegenwarfen. Außerdem wären Auschwitz und somit auch alle damit verbundenen Feierlichkeiten ohne Deutschland niemals möglich gewesen.“

 

[1] Eike Geisel (1998): Triumph des guten Willens. Gute Nazis und selbsternannte Opfer. Die Nationalisierung der Erinnerung. Hg. von Klaus Bittermann, Berlin: Edition Tiamat.

[2] Joachim Gauck (2005a): Schuld und Schuldverarbeitung in Übergangsgesellschaften, in: Rektor der Universität Augsburg (Hg.) (2006), Gesellschaftspolitisches Engagement auf der Basis christlichen Glaubens. Laudationes und Festvorträge aus Anlass der Ehrenpromotionen von Prof. Dr. Andrea Riccardi und Dr. h.c. Joachim Gauck am 17. Juni 2005 an der Katholisch-Theologischen und an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg, Augsburg: Selbstverlag, 45–58, 52.

[3] Joachim Gauck (2009): Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen, in Zusammenarbeit mit Helga Hirsch, München: Siedler, 21: „Weihnachten 1944 bestand ich meinen ersten öffentlichen Auftritt auf einer wahrscheinlich von der nationalsozialistischen Frauenschaft veranstalteten Weihnachtsfeier. Ich vermochte ein ganzes Weihnachtsgedicht aufzusagen, ohne mich zu verhaspeln und ohne zu stocken: ‚Von drauß, vom Walde komm ich her…‘ Der Weihnachtsmann war so gerührt, dass er versprach, nach der Feier noch bei mir zu Hause vorbeizukommen und mir ein spezielles Geschenk zu übergeben. Er hielt sein Versprechen: Ich bekam einen weiteren Panzer aus Holz.“ Wer sich im Alter so scheinbar wehmütig an die nazistischen Kriegszeiten erinnert, hat keine Distanz zur deutschen Geschichte. Denn das Narrativ wird nicht beispielsweise mit einer Reflexion gebrochen, was vierjährige jüdische Jungen und Mädchen zur gleichen Zeit erleben mussten.

[4] Stéphane Courtois (Hg.) (1997)/1998: Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. Mit dem Kapitel „Die Aufarbeitung des Sozialismus in der DDR“ von Joachim Gauck und Ehrhardt Neubert, München/Zürich: Piper. Die Originalausgabe erschien 1997 in Paris bei der Editions Robert Laffont; Joachim Gauck (1998): Vom schwierigen Umgang mit der Wahrnehmung, in: Courtois (Hg.), 885–894.

[5] Alvin H. Rosenfeld (2011): The End of the Holocaust: Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press.

[6] „Unübersehbar gibt es eine Tendenz der Entweltlichung des Holocaust. Das geschieht dann, wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird, die letztlich dem Verstehen und der Analyse entzogen ist. Offensichtlich suchen bestimmte Milieus postreligiöser Gesellschaften nach der Dimension der Absolutheit, nach dem Element des Erschauerns vor dem Unsagbaren. Da dem Nichtreligiösen das Summum Bonum – Gott – fehlt, tritt an dessen Stelle das absolute Böse, das den Betrachter erschauern lässt. Das ist paradoxerweise ein psychischer Gewinn, der zudem noch einen weiteren Vorteil hat: Wer das Koordinatensystem religiöser Sinngebung verloren hat und unter einer gewissen Orientierungslosigkeit der Moderne litt, der gewann mit der Orientierung auf den Holocaust so etwas wie einen negativen Tiefpunkt, auf dem – so die unbewusste Hoffnung – so etwas wie ein Koordinatensystem errichtet werden konnte. Das aber wirkt ‚tröstlich‘ angesichts einer verstörend ungeordneten Moderne. Würde der Holocaust aber in einer unheiligen Sakralität auf eine quasi-religiöse Ebene entschwinden, wäre er vom Betrachter nur noch zu verdammen und zu verfluchen, nicht aber zu analysieren, zu erkennen und zu beschreiben.“ (Joachim Gauck (2006): Welche Erinnerungen braucht Europa?, http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/downloads/Stiftungsvortrag_Gauck_fuer_Internet.pdf (eingesehen am 25. Januar 2015, S. 14f.)).

[7] Barry Rubin & Wolfgang G. Schwanitz (2014): Nazis, Islamists, and the Making of the Modern Middle East, New Haven: Yale University Press, ohne Seitenangabe (E-Book). Nun: Der Holocaust war Ende November 1941 längst im Gang, wie in der Ukraine in Babi Yar, unweit von Kiew, wo am 29./30. September 1941 in einem der größten Massaker der Shoah über 30.000 Juden ermordet wurden. In Litauen gab es Pogrome an den Juden noch bevor die Wehrmacht nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 überall angekommen war, wie erwähnt sind auch Morde an Juden im Zuge des Überfalls auf Polen 1939 Teil des Holocaust. Im Februar 2014 hat David Mikics den Autoren wegen dieser These, der Mufti habe Hitler quasi die Idee zur „Endlösung“ und zur Wannseekonferenz gegeben, scharf kritisiert. Schwanitz‘ Replik entkräftet die Kritik überhaupt nicht.

[8] Hans Safrian (1993)/1997: Eichmann und seine Gehilfen, Frankfurt a.M.: Fischer.

[9] Daniel Jonah Goldhagen (1996): Hitlers willige Vollstrecker: ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin: Siedler.

[10] Jochen Böhler (2006): Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a.M.: Fischer, 46–48.

[11] Susanne Wein (2014): Antisemitismus im Reichstag. Judenfeindliche Sprache in Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang (Zivilisationen & Geschichte, hg. von Ina Ulrike Paul und Uwe Puschner, Band 30; zgl. Diss. FU Berlin 2012).

[12] Wein 2014, 197.

[13] Susanna Moßmann (1996): Das Fremde ausscheiden. Antisemitismus und Nationalbewußtsein bei Ludwig Achim von Arnim und in der »Christlich-deutschen Tischgesellschaft«, in: Hans Peter Herrmann/Hans-Martin Blitz/Dies. (1996): Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/Main: Suhrkamp Taschenbuch, S. 123–159, 152.

 

 

Technik und Vernichtung im Nationalsozialismus – Handout vom 30.01.1992, Uni Tübingen

Dokumente über Auschwitz und die Shoah zu lesen ist unerträglich. Im Wintersemester 1991/92 gab es an der Uni Tübingen im Historischen Seminar eine Übung „Der Nationalsozialismus und Probleme seine Interpretation“ bei Dr. Hans-Otto Binder.

Am 30. Januar 1992 hielt ich ein Referat über „Technik und Macht im Nationalsozialismus“, dessen Handout ich hier dokumentiere. Grundlage für das Referat waren vor allem die autobiographischen Aufzeichnungen von Rudolf Höss, „Kommandant in Auschwitz“.

Rückblickend fallen einige Aspekte auf, hier seien nur zwei angesprochen:

Antisemitismus kam nur am Rande zur Sprache, als „Bosheit der wirklich Bösen“ (Günther Anders), doch nicht als konstitutives Element der nationalsozialistischen deutschen Volksgemeinschaft. Das kam dann ab April/August 1996 mit Daniel J. Goldhagens „Hitler’s Willing Executioner’s“ ins Zentrum der Debatte.

Andererseits wurden in dem Referat Aspekte moderner Vergesellschaftung, deutscher mithin, angesprochen, die zu thematisieren weiterhin von Relevanz ist, wenn man über Auschwitz spricht. Auch Schrebergärten, italienischer Faschismus wie preußischer „Kadavergehorsam“ wurden thematisiert.

WiSe 91 92 30011992 Referat zu Technik und Macht im NationalsozialismusWiSe 91 92 30011992 Handout Seite 2

Eine, die es „geschafft“ hat – Die pro-iranische Soziologin Naika Foroutan und die „jüdische Lobby“ in Amerika

 

„Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.“

Albert Einstein

 

 

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

 

Für die Soziologin Naika Foroutan war der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon ein „Staatsterrorist“, der frühere iranische Präsident Khatami, der von Israel als einem „krebshaften Tumor“ spricht, ein wundervolles Zeichen für einen „Kulturdialog“ des Islams mit dem Westen. Der 11. September wird von Foroutan rationalisiert, da die „Erniedrigung der Palästinenser“ Movens gewesen sei. So steht es in ihrer Dissertation von 2004. 2010 pushte Maybrit Illner die Agitatorin, Anfang Januar 2015 kam die „Expertin“ Foroutan zusammen mit ihrem Kollegen Andreas Zick in der Hauptausgabe der Tagesschau zu Wort, da sie sich gegen den Rassismus und Nationalismus von PEGIDA wende. Doch Andreas Zick von der Amadeu Antonio Stiftung scheint gar nicht zu wissen, mit wem er es bei Foroutan zu tun hat. Auf der Homepage zum 50jährigen Jubiläum der deutsch-israelischen Beziehungen wird Foroutan auch publiziert. Foroutans Doktorvater an der Universität Göttingen, der bekannte Politologe Bassam Tibi, scheint ihre Arbeit womöglich nicht en detail gelesen zu haben. Oder teilt er ihre Ideologie?

 

Das Beispiel der Soziologin Naika Foroutan, stellvertretende Leiterin des angesagten Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung an der Humboldt Universität (HU) Berlin, kann exemplarisch zeigen, dass gerade auch Migranten, die es „schaffen“, die sehr gut gebildet sind und einen tollen Job im Mainstream der Gesellschaft haben, politisch zu kritisieren sind wie alle anderen, die es „schaffen“.

Damit soll der Fokus verschoben werden: es geht nicht immer nur um jene, die als „Versager“ oder Vertreter eines „Terrors der Verlierer“ (Der Spiegel) dastehen, wie Kämpfer des Islamischen Staates (IS) oder die Jihadisten von Paris. Denn als „Versager“ werden jene von den großen Medien und im Diskurs gesehen. Es gilt aber ebenso einen Blick auf die Sieger zu wagen. Technische Teile für Atombomben in Iran werden von jenen Ingenieuren entwickelt, die es „geschafft“ haben und nicht von „Versagern“ oder „Verlierern“, wobei zivilisationskritisch „Versager“ ein ganz problematischer Begriff ist. Eher ginge es um jene, die nicht ganz mitgekommen sind mit dem Fortschritt oder dem Leben, aus welchen Gründen auch immer. Doch das wäre ein eigenes großes Sujet, das hier nicht vertieft werden kann. Jihadisten haben die Wahl zwischen Töten und Nicht-Töten und es ist eine bewusste Entscheidung für das Töten der „Ungläubigen“ oder vom Glauben „Abgefallenen“ etc.

 

Grob gesagt geht es um Folgendes, der Journalist Michael Miersch hat das am 20. Januar 2015 in seinem Abschiedsschreiben an die Leserinnen und Leser und vor allem seine beiden Ex-Kollegen des Autorenblogs Achgut (Henryk M. Broder und Dirk Maxeiner), den er selbst mit gegründet hat vor fast 11 Jahren, so in Worte gefasst:

„Das politische Spektrum in Deutschland verengt sich auf zwei Pole: Die, die ein Problem mit dem Islam abstreiten und am ‚Elefanten im Zimmer‘ vorbei gucken. Und die, deren Antwort auf die islamische Herausforderung lautet: Scharen wir uns um Kreuz und Fahne und verteidigen wir unsere deutsche Identität.“

Erste Position trifft auf Naika Foroutan zu und viele andere, letztere auf Mierschs Kollegen Henryk M. Broder und dessen Umfeld.

 

Mehr noch: Naika Foroutan ist eine Kritikerin von Thilo Sarrazin und das könnte sie ja zu einer sympathischen Zeitgenossin machen. Sie tut jedoch so, als ob „der Islam“ oder „die Muslime“ das Hauptthema von Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ seien. Wer das Buch gelesen hat, weiß jedoch, dass es nur am Rande um Muslime geht. Doch nicht nur ihre „Zahlenspiele“ zeigen ihre Konfusion an, vielmehr merkt sie gar nicht, dass es bei Sarrazin um Stolz auf Deutschland geht, um die Ex-Nazi-Bürokraten, die in den 1950er Jahren das Land wieder „aufbauten“. Sarrazin hasst Menschen, die HartzIV beziehen und diffamiert nicht-promovierte wie promovierte Sozialhilfebezieher, wenn diese sich beschweren über zu wenig Heizgeld, möge doch ein zweiter Pulli reichen. Um den Islam geht es im Millionenbestseller des Möchtegern SPD-Stars „Deutschland schafft sich ab“ nur am Rande. Dafür hantiert Sarrazin mit dem philosemitischen Antisemitismus und findet Juden ganz besonders super schlau. Und Intelligenz sei vererbbar etc. Das ganze gegenaufklärerische Programm wird ausgebreitet, auf sprachlich ziemlich desolatem Niveau.

Foroutan wiederum ist stolz auf viele Türken mit Abitur. Bildung ist auch wichtig, ja. Ein unterbelichteter Aspekt ist jedoch: sind nicht gerade die gebildeten Leute, ob nun „biodeutsch“ oder nicht, das Problem, wenn es um Antisemitismus, Antiamerikanismus und die Verharmlosung des Islamismus geht?

 

Sind nicht viele mit Abitur wie Hochschuldozenten im Bereich Islamwissenschaft gerade Teil des Problems? 2010 rezensierte ich Sarrazins Buch für die Zeitschrift „Tribüne“ und schrieb:

„Es geht Sarrazin um Deutschland, nicht um Islamismus. Ginge es ihm um letzteren, dann würde er die herrschende Elite an Unis, Think Tanks, in der Politik, den Medien etc. angreifen müssen. Es geht dem Sozialdemokraten um die bessere Verwertung der Menschen im System. Nur wer arbeitet, soll auch essen, ein Spruch, den wir aus der deutschen Geschichte allzu gut kennen. Was letztlich in den Fabriken, den Call-Centern, den Bürovielzweckgebäuden und easy-listening-Großraumbüros so produziert wird, die Ware, ist völlig egal. Kritik ist notwendig, nicht Lob fürs deutsche Gymnasium, dem diejenigen die für die nationale wie Weltlage mit verantwortlich sind, jene die mit Iran Geschäfte machen, den Jihad gewähren lassen und Antisemitismus auf unterschiedlichster Stufe und in vielfältigster Form produzieren oder verharmlosen, entspringen. (…) Das Buch von Sarrazin hat gar nicht die Intention Jihadismus und Islamismus zu kritisieren, das ist nur ein kleines Nebenprodukt in einem seiner Kapitel. Dies haben offenbar weder Verteidiger noch Gegner verstanden. Es geht ums Kinderkriegen, um die deutsche Volksgemeinschaft der Intelligenten. Es geht um störungsfreien Betrieb im sozialdemokratischen Musterland. Es geht um Hierarchie, stolze Traditionen, um Ethno-Nationalismus und um ‚Wanderers Nachtlied‘, nicht um Reflexion und Kritik an Islamophilie, Antisemitismus und deutschen Traditionen, die zur deutsch-islamischen Liebe von Hitler und dem Mufti führten.“

Das wäre also eine Kritik an Sarrazin, die sich nicht auf Zahlenspiele oder Statistiken kapriziert, wie Foroutan es tut. Sie und ihre sechs Kolleginnen und Kollegen, die im Dezember 2010 eine Broschüre über Sarrazin publizierten, gehen mit keinem Wort auf den Antisemitismus und verwandte Ideologeme bei Sarrazin ein. Sie haben nicht bemerkt, dass Sarrazin in der Einleitung seines Buches den Islam nicht einmal touchiert, da er für seine Agitationsschrift nicht zentral ist. Unterm Strich sind beide stolz auf Deutschland, Sarrazin in der völkischen Variante, Foroutan in der den Jihad trivialisierenden Variante. Foroutan schreibt 2011 in einer Projektbeschreibung für ihr „Heymat“-Projekt an der Humboldt-Universität Berlin:

„Während internationale Konfliktereignisse wie der 11. September, der Afghanistan-Konflikt, der Irak- oder der Libanon-Krieg, samt der täglichen Berichterstattung über Terroranschläge islamistischer Fanatiker, die außenpolitische Ebene dominieren, findet auf der nationalen Ebene eine schleichende gesellschaftliche Vergiftung statt. Begriffe wie Parallelgesellschaft, Home-Grown-Terrorism, Hassprediger, Zwangsehe und Ehrenmord überlagern die Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft zum Thema Islam und führen zu ansteigender Islamophobie und anti-muslimischem Rassismus.“

Sorge vor jihadistischer Gewalt hört sich irgendwie anders an.

In einer 2011 erschienenen Festschrift für Bassam Tibi schreibt die Autorin:

„Zu der Angst vor einem ‚Zivilisationsfeind‘ Islam gesellt sich die These der Bedrohung durch ‚Schurkenstaaten‘ wie z.B. Iran als Legitimation erneuter weltweiter Verteidigungs- und Aufrüstungsbereitschaft.“

Foroutans Dissertation aus dem Jahr 2004 – Kulturdialoge zwischen dem Westen und der islamischen Welt. Eine Strategie zur Regulierung von Zivilisationskonflikten – deutet bereits an, in was für eine problematische Richtung ihre Forschung geht. Foroutan geht von der zentralen Bedeutung von „Kultur“ für die ganze Welt aus und schreibt angesichts des War on Terror, den sie ablehnt:

„Kulturdialog wird der regulative Grundsatz der post-bipolaren Weltordnung sein, trotz anachronistischer Überlebenskämpfe der neokonservativen Politik oder gerade deswegen.“

So beendet Foroutan ihre Arbeit und plädiert für den „Kulturdialog“, so als ob al-Qaida, die führende jihadistische Kraft im Jahr 2004, als die Studie beendet bzw. publiziert wurde, an einem solchen Dialog Interesse hätte. Und was für einen essentialistischen oder kulturrelativistischen Kulturbegriff hat die Autorin? Sie benutzt den schwammigen Begriff „Dialog“ nur dafür, auf alle Fälle eine militärische Antwort auf jihadistischen Massenmord zu verhindern. Für die Autorin sind Muslime und der Islam im Fokus des Westens und sie möchte keinen Krieg gegen den Jihad, sondern interzivilisatorischen Dialog, einen Dialog zwischen den Zivilisationen, vor allem der muslimischen mit dem Rest der Welt – als ob der Jihad oder Islamismus eine Kultur unter anderen sei und nicht der Feind jedes Dialogs, was vor allem für die Islamische Republik Iran gilt, die Foroutan wiederum besonders am Herzen liegt.

 

Tibis Schülerin verharmlost und rationalisiert die Terrorangriffe auf Amerika vom 11. September 2001 in vielerlei Hinsicht und sucht permanent Gründe für den „islamischen Fundamentalismus“. Dabei verwechselt sie auch Hass auf den Westen mit aufklärerischer Kritik aus dem Westen am Westen und schreibt:

„So argumentierten fundamentalistische Denker des Islam wie Seyyed Qutb oder Hassan al Turabi, sie wollten von der liberalen Regierungsform, wie sie der Westen propagiert abweichen. Sie sahen die liberale Regierungsform des Westens als gescheitert an, da sich nach Ihrer Ansicht die moderne westliche Gesellschaft offensichtlich in einer Krise befindet. Hier finden sich Parallelen zu Ideen der französischen Existentialisten, ebenso wie zu Vorstellungen deutscher Philosophen, wie Horkheimer oder Heidegger.“

Die Nachwuchsforscherin setzt islamistische, antisemitische Vordenker des weltweiten Jihad wie Sayyid Qutb und Nazis wie Martin Heidegger mit einem Dialektiker und kritischen Theoretiker wie Max Horkheimer gleich. Das ist an Perfidie schwer zu überbieten: Nur zufällig – weil er rechtzeitig fliehen konnte – überlebte der Jude Horkheimer den Holocaust. Man merkt auch wie wenig wissenschaftliche Ahnung sie von der Kritischen Theorie hat, die den Westen und die Aufklärung in der Kritik verteidigte, während Heidegger oder Qutb antiwestliche Hetzer waren.

 

Es kommt noch heftiger. Foroutan rechtfertigt den Antizionismus der arabischen Welt und fantasiert in ihrer Dissertation von einer „jüdischen Lobby“, die die USA dazu gebracht habe, im September 2001, vor 9/11, die so genannte UN-Antirassismuskonferenz im südafrikanischen Durban zu boykottieren. Foroutan schreibt in ihrer Doktorarbeit:

„Hier drängt sich für die islamische Welt, die in der Palästinafrage sehr sensibilisiert ist, die Frage auf, welche Macht die jüdische Lobby in den USA tatsächlich hat, wenn sie die Supermacht dazu bringen kann, eine Teilnahme an einer UN-Konferenz abzusagen, weil Israel dort kritisiert werden sollte.“

Wer von der „jüdischen Lobby“ und der imaginierten Macht der Juden daher redet, bedient eine typisch antisemitische Denkfigur. „Der“ Jude stecke hinter Amerika, wie es schon die Nazi-Propaganda sah, man denke nur an Johann von Leers Hetzschrift „Kräfte hinter Roosevelt“ von 1940. Für Naika Foroutan scheint es denkunmöglich, dass sich Politiker aus eigenen Stücken gegen antirassistisch verkleideten Antisemitismus wie auf der Durban-Konferenz wenden. Es muss schon die „jüdische Lobby“ dahinter stehen. Foroutan versteckt sich dabei hinter dem Ausdruck „islamische Welt“, womit sie wiederum essentialistisch die gesamte islamische Welt als pro-palästinensisch, antiamerikanisch und antiisraelisch präsentiert. „Die“ islamische Welt würde von der „jüdischen Lobby“ schwadronieren. Damit homogenisiert sie gerade „die“ islamische Welt, eine Homogenisierung, die sie sonst liebend gern den Islamismuskritikern unterstellt.

 

Kein Wunder, dass Foroutan den Massenmord von 9/11 rationalisiert – wohlgemerkt, so steht es nicht etwa auf einem Blog, sondern in der von Bassam Tibi angenommenen und mit einem überschwänglichen Vorwort gewürdigten Dissertation von Foroutan:

„Noch schmerzlicher mussten die USA diese Erfahrung jedoch am 11. September 2001 machen, als die Terrorakte der islamischen Fundamentalisten das Land heimsuchten. Nicht nur in der islamischen Welt wurde dabei eine direkte Verbindung zu der Erniedrigung der Palästinenser durch den Staatsterror Scharons in Israel hergestellt, auch in Europa und den USA wurde ein solcher Zusammenhang erkannt.“

Sie bezieht sich in ihrer Studie mehrfach auf Muhammad Khatami, den zum Zeitpunkt ihrer Dissertation amtierenden iranischen Präsidenten:

„Auch Kofi Annan und der iranische Staatspräsident Mohammad Chatami gelten auf internationaler Ebene als Wortführer des Dialogs zwischen den Zivilisationen. Der Begriff Kulturdialog bleibt in diesen Werken immer ein moralischer, normativer Begriff, was mit dem folgenden Zitat Chatamis verdeutlich wird.“

Diese Lobhudelei eines Islamisten wie Khatami gereicht zum Doktortitel einer deutschen Universität. Sie erwähnt den Antisemitismus Khatamis nicht. Unter seiner Präsidentschaft gewährte Teheran „nicht nur [Jürgen, d.V.] Graf Asyl, sondern auch Wolfgang Frölick [Fröhlich, d.V.], einem österreichischen Ingenieur, der vor Gericht unter Eid aussagte, dass Zyklon-B nicht zum Töten von Menschen benutzt werden konnte“, wie der Islamforscher George Michael in der Fachzeitschrift Middle East Quarterly 2007 schrieb.

 

Im Dezember 2000 nannte Khatami Israel einen zu beseitigenden „krebshaften Tumor“, und am 24. Oktober 2000 hatte Khatami im iranischen Staatsfernsehen erklärt, die islamische Welt solle sich auf eine harte Konfrontation mit dem „zionistischen Regime“ einstellen. 2011 spricht Foroutan nicht etwa vom Jihad und der Gefahr des Islamismus für Juden oder den Westen, nein, die Muslime seien die armen Opfer einer „zivilisatorischen Abgrenzungsrhetorik“.

 

Foroutans Doktorarbeit wurde prämiert, was als Resultat einer politischen Kultur des Antiamerikanismus und Antizionismus sowie einer Abwehr von Kritik am Islamismus nach 9/11 nicht verwundert:

„02/2006 Preisträgerin des Friedrich-Christoph-Dahlmann-Preises 2006, verliehen von der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Georg-August-Universität-Göttingen für die beste Dissertation 2005. 11/2005 Preisträgerin des Forschungspreises 2005 für Auswärtige Kulturpolitik der Alexander Rave Stiftung, verliehen vom Institut für Auslandbeziehungen ifa.“

 

Sie derealisiert jeglichen Aufruf zum Mord an den ‚Ungläubigen‘ von Seiten des Iran, der Islamisten und Jihadisten, wenn sie 2011 schreibt:

„Im Westen gilt die viel verbreitete Meinung, dass der Krieg der Islamisten gegen die Werte der westlichen Welt gerichtet sei, sprich gegen Pluralismus, Demokratie, Freiheit und offene Gesellschaften. In der islamischen Welt ist man vielfach der Überzeugung, der Terror richte sich gegen Fremdherrschaft, Korruption, versteckte Kriegstreiberei, Unterstützung diktatorischer Regime, Ausbeutung der islamischen Länder aus machtpolitischen und energiepolitischen Motiven und zer­fallende moralische Strukturen – daher distanzieren sich viele Muslime auch nicht so eindeutig von den Terroranschlägen.“

Damit rechtfertigt die Forscherin die klammheimliche und auch offene Schadenfreude zahlreicher Muslime über 9/11. Die Liebe zum Islam und zum Tod, die Mohammed Atta und seine jihadistischen Freunde motivierte, schockiert Foroutan anscheinend nicht. Sie rationalisiert den Islamismus und den Jihadismus, das heißt: Sie sucht rationale Gründe für das irrationale Morden. Sie möchte verstehen, wo nichts zu verstehen ist. Gegen welche „Fremdherrschaft“ richteten sich die Jihadisten in Paris im Januar 2015, die die Redaktion von Charlie Hebdo massakrierten und Juden in einem jüdischen Supermarkt ermordeten?

 

Für ihre den Jihad trivialisierenden, entwirklichenden, als Phänomen sui generis leugnenden und den antizionistischen Antisemitismus fördernden Einsatz wird Foroutan nun (im September 2014) auf der Homepage der Israelischen Botschaft in der Bundesrepublik, dem israelischen Außenministerium, der Deutschen Botschaft Tel Aviv, dem Auswärtigen Amt und dem Goethe Institut anlässlich des 50. Jahrestages des Beginns der deutsch-israelischen diplomatischen Beziehungen publiziert. Dort ist sie ganz euphorisch ob des (anscheinend) extrem hohen Anteils der Kleinkinder unter sechs Jahren in Frankfurt am Main mit einem migrantischen Familienhintergrund. Sie fordert einen neuen deutschen Nationalismus („Der lange Weg zum neuen deutschen Wir“), der gerade auf den migrantischen Anteil setzt. Sie ist auf ihr Herkunftsland Iran so stolz wie auf Deutschland; Amerika und Israel mag sie dagegen gar nicht, zumindest nicht, solange sie den Jihad bekämpfen (George W. Bush, Ariel Scharon).

 

Mit ihrem Hype um Fußball und das WM-Jahr 2006 macht sich Naika Foroutan gerade gemein mit dem deutschen rassistischen Mainstream, somit hat sie geholfen PEGIDA Mainstream werden zu lassen mit ihren schwarzrotgoldenen Fahnenmeeren, die direkt vom Sommer 2006, den Foroutan so liebt, herrühren. Nicht der Hauch einer Analyse oder Kritik am sekundären Antisemitismus, der mit deutschem Nationalismus immer einhergeht. Foroutan bejaht das nationale Apriori des Sommers 2006, ganz ähnlich wie Matthias Matussek, der Schriftsteller Georg Klein oder fast alle andere Deutschen.

 

Der Kern von Naika Foroutans Ideologie jedoch ist die Abwehr der Islam- und Islamismuskritik, ihr Verhöhnen der Opfer des 11. September 2001 und ihr Ressentiment gegen Ariel Scharon und die israelische Abwehr des Judenhasses. Auch hier, beim Antiamerikanismus und Israelhass, hat Naika Foroutan bei PEGIDA viele Gesinnungsgenossen. Foroutans Rede von der „jüdischen Lobby“ schließlich zeigt, wie verbreitet Antisemitismus im deutschen Mainstream an den Universitäten ist. Er wird einfach goutiert.

 

Das sind wahrlich gute Gründe für die Israelische Botschaft in Deutschland sowie das Auswärtige Amt Naika Foroutan als gelungenes Beispiel für Integration zu nehmen und ihr im 50. Jahr der deutsch-israelischen Beziehungen eine Plattform zu bieten.

 

 

 

Der Verfasser promovierte 2006 an der Universität Innsbruck mit einer Arbeit unter dem Titel „Ein völkischer Beobachter in der BRD. Die Salonfähigkeit neu-rechter Ideologeme am Beispiel Henning Eichberg.“ (Gutachter: Prof. Dr. Anton Pelinka, Prof. Dr. Andrei S. Markovits.)

Vortrag Islamwissenschaft und Jüdische Studien – Wie stehen sie zu Israel? TU Darmstadt, 11.6.2014

Vortrag von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor des Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA) an der Technischen Universität Darmstadt, Ringvorlesung Wissenschaftskritik:

Islamwissenschaft und Jüdische Studien in Deutschland – »wie stehen sie zu Israel?«

Mittwoch, 11. Juni 2014 – 18:30 bis 20:30, Ort: Schlosskeller

Der Vortrag kann hier angehört werden.

Timeline:

Intro: FAZ und das Haus der Kulturen der Welt, Teil 1

Teil 1: Islamwissenschaft

 

1:00 Schadenfreude an 9/11

2:45 Gudrun Krämer, Professor für Islamwissenschaft, FU Berlin; in ihrer Dissertation (1982) diffamiert sie Kritik am ägyptischem (nazistischen) Antisemitismus der 1950er Jahre

5:03 Wochenzeitung jungle world promotet etwas vorschnell die Islamforscher Peter Wien und René Wildangel

9:00 „Mythos pro-faschistischer Araber“ und der „dämonisierte Großmufti“

11:09 Bettina Gräf: Yusuf al-Qaradawi

14:40 Barbara Freyer-Stowasser: Yusuf al-Qaradawi, Frauen, Gleichberechtigung und suicide bombing ohne Zustimmung von Vater/Ehemann und gar ohne Kopftuch

20.:08 Kritik an einer direkten Linie vom Koran zu Hitler/Eine Werbekampagne in USA

22:58 FAZ und das Haus der Kulturen der Welt, Teil 2: Bernd M. Scherer und das Haus der Kulturen der Welt in Berlin promoten ein Buch über al-Qaradawi: der »Global Mufti«

23:45 Der Islamwissenschaftler Peter Heine, Humboldt-Universität (HU) Berlin, und der „Kinderarzt“ und PFLP-Terrorist George Habash

28:16 Rüdiger Lohlker (Wien) und die Medien zu Israel als „Kindermörder“

33:40 Kritik an Götz Nordbruch – gibt es „Teilzeit-Nazis“?

 

Teil 2: Jüdische Studien

 

36:45 Professor Alvin Rosenfeld: progressive Juden und der neue Antisemitismus

38:50 Stefanie Schüler-Springorum und Jüdische Studien in Berlin und Brandenburg

40:20 Brian Klug im Jüdischen Museum Berlin

41:13 Deutscher Historikertag 2010 und Binationalismus für Israel/Palästina

42:30 Gershom Scholem: von der Hoffnung der Gruppe Brit Schalom auf ein binationales Zusammenleben mit den Arabern hin zum politischen, bewaffneten Zionisten auf den Dächern von Jerusalem 1936ff.

44:44 Teilungspläne für das Mandatsgebiet Palästina 1937/47

45:55 Bedeutung der Archäologie für Israel

46:30 Abbas und die PA leugnen historische Existenz der Juden im Land Israel

47:10 Dan Diner und die binationale Ideologie, 1980

48:17 „zionistische Gesetze abschaffen“ (Diner, 1980)

49:49 „Gesamtpalästina“

51:00 Prof. Christian Wiese im Leo Baeck Institute Yearbook und sein Bezug auf Jacqueline Rose

53:38 Jacqueline Roses antisemitische Fantasien: Hitler sei spätestens im Mai 1895 während eines Konzerts mit Richard Wagner-Musik in Paris dazu „inspiriert worden, Mein Kampf zu schreiben“ und Herzl dazu, „Der Judenstaat“ zu schreiben

56:40 Raphael Gross publiziert Christian Wiese

57:16 Robert S. Wistrich und die internationale Kritik an Jacqueline Rose

 

 

 

 

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