Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Heute auf einem belebten Spazier- und Radweg am Neckarufer, ein ca. 30-jähriger Mann, schwarze kurze Haare, Islamisten-Vollbärtchen und eine Art weißes Nachthemd vom Hals bis fast auf den Boden, dazu Turnschuhe. Ein Islamist, eindeutig. Ein religiöser Fanatiker, einfach so, mitten in Deutschland und mit hämischem Grinsen den ganzen Tag – wir haben den 11. September.

Am 11. September 2001 flogen zwei gekaperte Passagierflugzeuge in die beiden Türme des World Trade Centers in New York City, die ich nur von Fotografien eines Großonkels, der seit den späten 1920er Jahren in den USA lebte und von den Twin Towers begeistert war, und von den Medien kannte. Ein weiteres Flugzeug flog in das Pentagon und ein viertes Flugzeug stürzte aufgrund des heroischen Widerstands der Passagiere in Pennsylvania auf freier Fläche ab. In New York starben in den beiden Türmen 3000 Menschen, sie verbrannten, wurden zerquetscht, pulverisiert, einige sprangen in den Tod.

Es war sofort klar, dass dies ein islamistischer Angriff war. Osama Bin Laden hatte so einen Angriff ja schon Ende der 1990er Jahre angekündigt. Es lief zu dieser Zeit, seit Herbst 2000, die zweite Intifada der Palästinenser gegen Israel, nachdem die Palästinenser ein weitreichendes Friedensangebot von Ehud Barak, dem israelischen Premier, unter Vermittlung von US-Präsident Bill Clinton im Sommer 2000 in Camp David aufgrund des obsessiven Antisemitismus von PLO-Führer Yasir Arafat abgelehnt hatten.

Das Thema heißt also Islamismus, Antisemitismus und Antiamerikanismus. Doch weite Teile der Linken und im Mainstream, von den Süßigkeiten verteilenden Arabern und anderen ganz zu schweigen, hatten Schadenfreude. Nicht nur in Hamburg schlürften die Linksradikalen die ganze Nacht Bin Laden Cocktails.

Im August 2011, zum 10. Jahrestag der islamistischen Kriegserklärung an den Westen, publizierte ich meine Studie „Schadenfreude. Islamforschung und Antisemitismus in Deutschland nach 9/11“.

Darin heißt es:

Nicht etwa der politische Islam, der Islamismus und Islamic Jihad gerieten in die Schusslinie, nein, die Opfer der muslimischen suicide killer kamen ins Visier. Ist es nicht frech und patriarchal, überhaupt Hochhäuser zu bauen und symbolisierten die Twin Towers nicht einen „Doppelphallus“, meinte [der Männerforscher] Klaus Theweleit, während [der Historiker und Antisemitismusforscher] Wolfgang Benz die „Arroganz der Wolkenkratzer“ geißelte, ARD-Tagesthemen Frontmann Ulrich Wickert die “gleichen Denkstrukturen” bei Usama Bin Ladin bzw. George W. Bush zu entdecken meinte und schließlich die Partei des Demokratischen Sozialismus Plakate verklebte mit dem Slogan „Sowas kommt von sowas“. Der Politikwissenschaftler Volker Heins analysiert:

„In seiner zugespitzten Form verlässt somit das neutralistische Narrativ die pazifistische Überzeugung der moralischen Gleichwertigkeit aller Gewaltopfer, indem es die vermeintlichen ‚Ursachen‘ der Terrorangriffe thematisiert, die im Verhalten der USA selbst gesehen werden. Sowohl die postkommunistische PDS als auch die rechtsradikale NPD beziehen sich auf diese Deutung. So klebte die Hamburger PDS nach den Anschlägen in den USA schadenfrohe Plakate mit dem Text ‚Sowas kommt von sowas‘. Der Mitbegründer der terroristischen Rote Armee Fraktion (RAF) und heutige NPD-Anwalt Horst Mahler feierte die Anschläge auf seiner Homepage gar als ‚Independence Day Live‘.“

Wo stehen wir heute, 21 Jahre nach 9/11? Ein kleiner Blick auf eine Tagung im Mai 2022 sagt wiederum alles:

Eine der Referentinnen auf dieser Konferenz war Nahed Samour. Sie möchte unbedingt islamistische Frauen auch als Anwältinnen oder Richterinnen sehen und schreibt 2017 auf dem Verfassungsblog:

Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates ist ein wichtiges Gut zur Herstellung von Rechtsstaatlichkeit. Nur stellen wir Neutralität nicht her, indem wir „Andere“ von entscheidenden Positionen im Justizwesen ausschließen. Die bloße Sichtbarkeit eines Merkmals nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG (Geschlecht, Religion, Rasse, u.a.) darf nicht zum Ausschluss von der Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit führen – auch und gerade nicht von Positionen in der Justiz!

Liegt da nicht die Parallele zur Afroamerikanerin Rosa Parks nahe, der es 1955 in Montgomery Alabama, USA verwehrt wurde, vorne auf den für Weiße reservierten Sitzen im Bus Platz zu nehmen und die stattdessen auf die hinteren Plätze verwiesen wurde? Rosa Parks und die muslimische Rechtsreferendarin mit Kopftuch in Hessen haben eines gemeinsam: Die Verweisung auf die hinteren Reihen erfolgt wegen ihrer Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Bei der einen, weil sie schwarz ist, bei der anderen, weil sie als muslimische Frau erkennbar ist. Es geht in diesem Fall also um nichts geringeres als das Grundrecht auf öffentliche Sichtbarkeit, das in diesem Fall durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m Art. 1 Abs. 1 GG (persönliche Identität, vgl. Rn. 22, 40) und Art. 4 Abs. 1 GG gewährleistet sein muss.

Die Autorin sieht gar nicht den kategorialen Unterschied von „Rasse“ versus „Ideologie“. Der amerikanische Rassismus basiert auf unveränderlichen äußeren Merkmalen wie der Hautfarbe. Ein Kopftuch ist kein äußeres Merkmal, es ist ein selbst gewählter Entschluss oder ein vom Vater, Mann, Bruder, Cousin, Nachbarn, der Mutter, Schwester, Schwägerin etc. aufgezwungenes Zeichen einer ideologischen Fanatisierung.

Andere Männer (oder lesbische, bisexuelle Frauen, Gott sei bei uns!) sollen die Haare nicht sehen dürfen, weil sie ihre Sexualität nicht im Griff hätten, das ist einer der reaktionären Beweggründe. Und es ist natürlich das erste und sichtbarste Zeichen nach dem Motto „Seht her, ich hab keine Individualität, ich bin eine religiöse Gläubige, eine Fanatikerin, eine Islamistin“. Das soll ja ein Kopftuch vor allem bei jüngeren Frauen ausdrücken.

Das Kopftuch ist auch Ausdruck des muslimischen Patriarchats, viel mehr sichtbarer Antifeminismus ist kaum möglich.

Diese wissenschaftlich groteske Analogie von staatlichem und gesellschaftlichem Rassismus in den USA mit einem frei gewählten islamistischen Merkmal ist bemerkenswert. Jede Muslimin, die sich verschleiert, hat ja so wenig Selbstbewusstsein, so wenig Individualität, dass sie sich hinter einer reaktionär-modernen Ideologie des Islamismus im 21. Jahrhundert versteckt. Erinnern wir uns, wie selten zum Beispiel türkische, afghanische oder nordafrikanische Frauen in den 1960 oder 1970er Jahren Kopftuch trugen, gerade auch nicht als Einwanderinnen nach Europa.

Heute trägt ein sehr großer Teil der jungen muslimischen Frauen ein Kopftuch. Es gibt aber kein „Grundrecht auf öffentliche Sichtbarkeit“ für Islamistinnen.

Und insofern zeigt es die Abgründe der politischen Kultur in diesem Land, wenn im Mai 2022 auf dieser Konferenz zwar über 9/11 gesprochen wird, aber doch in mehreren Vorträgen schon in der Ankündigung die armen Muslime als Opfer präsentiert werden („9/11 und antimuslimischer Rassismus
Referentin: Ouassima LaabichMansour, Expertin in den Themenbereichen antimuslimischer Rassismus, Rassismuskritik und Ehrenamtsmanagement“, „Der Gefährder“ im Zeitalter des Terrorismus, Referentin: Dr.‘in Nahed Samour, Humboldt Universität Berlin,
Moderation: Marlene Straub, Redakteurin beim Verfassungsblog“)
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Weite Teile der „Linken“ und der verschwörungsmythischen Querfront leugnen 9/11 als islamistischen Terrorakt gleich rundweg. Einige der Autor*innen sind Bestellerautor*innen (Mathias Bröckers vorneweg).

Im Zuge der Corona-Pandemie erhielten diese antisemitischen und verschwörungsmythischen Kreise massiven Zulauf.

Was heißt das? Es muss weiterhin um eine Analyse und Kritik des Islamismus gehen. Der Islamismus ist eine riesige Gefahr für Europa, den Nahen Osten, Afrika und Asien (Pakistan, Indonesien, Malaysia etc.). Es muss weiter um eine Analyse und Kritik der Verschwörungsmythen gehen, gerade zu 9/11. Gleichzeitig muss es um eine genauso scharfe Kritik an den Zeugen Coronas gehen, die bar jeder medizinischen Evidenz Deutschland in ein Land verwandelt haben, wo der pandemic turn herrscht, also Willkür und keine Rechtsstaatlichkeit mehr erwartet werden kann, nach den Urteilen, die das Bundesverfassungsgericht zu Corona fällte (Stichwort „Bundesnotbremse“).

Für eine linke Kritik bleibt viel zu tun.

Die Opfer vom 11. September 2001 sind die Opfer des Jihad. Viele der Reaktionen auf 9/11 wie der Krieg im Irak oder in Afghanistan, waren selbst wiederum katastrophale Ereignisse, die anfangs logisch gerechtfertigt waren, da klar war, dass die Täter auch aus Nahost kamen. Aber die Krieg führten dann primär zu Hunderttausenden Toten und zu einem bis heute währenden Bürgerkrieg im Irak und in Afghanistan, von der Zerstörung Syriens nicht zu schweigen. Der Iran baut weiter an der Möglichkeit, eine Atombombe herstellen zu können und wird doch nicht diplomatisch isoliert. Wenn man das mit den schlicht unfassbaren Sanktionen gegen Russland vergleicht, die Deutschland und Europa in eine tiefe Rezession und an den Rand eines Energiezusammenbruchs bringen könnten, dann sieht man, was wirklich zählt: Russenhass und eine Umschreibung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs anstatt Kritik am Islamismus und Kampf dem Jihad, Kampf gegen Saudi-Arabien, Katar und Iran gleichermaßen.

Im Resümee meiner Studie „Schadenfreude“ heißt es 2011 – und diese Worte sind auch 2022 so was von aktuell:

Die typischen Verharmlosungen des Antisemitismus als ›Protest‹ gegen eine gewisse ›Politik‹, die Frage nach dem cui bono einer kritischen Antisemitismusforschung, die Antisemitismus sui generis analysiert und nicht als ›soziales Problem‹ herunterdekliniert oder in der Geschichte des Rassismus aufgehen lässt, müssen als das bezeichnet werden, was sie sind: gewundene Affirmation. Der Holocaust-Historiker Omer Bartov hat das auf den Punkt gebracht:

»Hitler hat der Menschheit eine wichtige Lektion erteilt: Wenn du einen Nazi siehst, einen Faschisten oder einen Antisemiten, dann mußt du sagen, was du siehst. Wenn du etwas rechtfertigen oder entschuldigen willst, dann beschreibe genau, was du damit herunterspielst. Wenn eine britische Zeitung einen antisemitischen Cartoon veröffentlicht, muß man ihn antisemitisch nennen. Wenn die Anschläge auf die Zwillingstürme in New York durch antisemitische Motive begründet waren, sollte man es sagen. Wenn ein malaysischer Ministerpräsident antisemitische Ansichten äußert, darf man nicht versuchen, das Unentschuldbare zu entschuldigen. Wenn eine selbsternannte Befreiungsorganisation die Vernichtung des jüdischen Staates verlangt, darf man nicht so tun, als verlange sie etwas anderes. Wo die  Klarheit aufhört, da beginnt die Mittäterschaft.«[1]

 

Weiteste Teile der deutschen Islamwissenschaft und Nahostforschung wie die Zeitschrift Die Welt des Islams haben diese Lektion nicht gelernt. Es gibt öffentliche Aufrufe zum Judenmord wie vom Iran, der Hamas, der Hizbollah und vieler anderer Organisationen, von Muftis wie Yusuf al-Qaradawi, deutsch-türkischen Internetbenutzern wie in Facebook kurz nach der Gaza-Krise um die Blockade des Gazastreifens und die Attacke der „Mavi Marmara“ am 31. Mai 2010, sowie auf Demonstrationen und Aktionen von Islamisten, Linken, Rechten und ‚ganz normalen‘ Leuten weltweit. Dieser in seiner weltweiten, quantitativen wie qualitativen Weise neue Antisemitismus seit der zweiten Intifada und vor allem dem 11. September 2001 hätte die Islam- und Nahostwissenschaften umgehend klar werden lassen müssen, dass eine Kritik des islamischen Jihad, des muslimischen Antisemitismus, der Islamisierung Europas, der Einführung der Scharia und anderer Facetten des politischen Islam auf der Tagesordnung steht.

Das Gegenteil ist bislang passiert: die Kritik am Jihad wird marginalisiert, Antizionismus produziert und toleriert, Israel isoliert, auch eine Islamisierung des Westens willentlich hingenommen oder in Erwägung gezogen (Stichwort: Scharia als Teil des Rechtssystems in USA, England, Deutschland etc.).

 

[1] Omer Bartov (2004): Der alte und der neue Antisemitismus, in: Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Nathan Sznaider (Hg.), Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 19-43, hier S. 43.