Von Dr. phil. Clemens Heni, 9. Juni 2021

Der Rechtsanwalt Otmar Spirk weist in einem aktuellen Text bezüglich des vorgestrigens Skandals am Amtsgericht Regensburg auf einen bestechenden juristischen Forschungstext zweier Regensburger Juristen hin, die sich bereits im Sommer 2020 angesichts von Corona mit dem grundsätzlichen Verbot der Gesichtsverhüllung zu Gericht beschäftigten. Ausgangspunkt war eine Gesetzesänderung im Jahr 2017, die sich offenbar primär auf die Gefahr von verschleierten Musliminnen bezog, aber allgemein jede Form der Verdeckung des Gesichts im Gerichtssaal zwischen Kinn und Stirn beinhaltet.

Es geht im Kern um folgende Aspekte: Darf eine Richterin entgegen der Rechtslage verlangen, dass alle Anwesenden bei einem Prozess im Gerichtssaal verschleiert sind, also Maske tragen? Darf eine Richterin selbst ohne substantielle Begründung Maske tragen? Darf eine Richterin ebenso willkürlich verlangen, dass Prozessbeteiligte einen negativen PCR-Test vorweisen müssen? Heute wollen wir uns primär mit der Rechtslage bezüglich des Verschleierns im Gerichtssaal befassen.

Die beiden Autoren Rechtsanwalt Professor Dr. Jan Bockemühl und Dr. iur. Martin Heuser (Universität Regensburg) schreiben in der Kriminalpolitischen Zeitschrift, Ausgabe 6/2020 (S. 342-348), unter Titel

„Der Rechtsstaat braucht den freien Blick ins Gesicht“ – Maskerade in der Hauptverhandlung?

Folgendes:

Das zum allgemeinen Grundsatz erhobene Verbot der Gesichtsverhüllung in § 176 Abs. 2 S. 1 GVG erstreckt sich in zeitlicher Hinsicht auf die „Sitzung“. Nach Auffassung des Gesetzgebers meint dies „die gesamte Dauer der gerichtlichen Verhandlung im Sinne des § 169 GVG vom Aufruf der Sache bis zur vollständigen Verkündung des Urteils“ und zeitlich darüber hinaus sogar auch schon „die Öffnung des Gerichtssaals“ vor der Sitzung sowie ferner die Zeit nach der Verkündung des Urteils, „die das Gericht braucht, um […] den Sitzungssaal zu verlassen“.[9]

In persönlicher Hinsicht gilt das im GVG speziell für die Gerichtsverhandlung geregelte Verbot der Gesichtsverhüllung mit den Verfahrensbeteiligten insbesondere für (ehrenamtliche) Richter, Staatsanwälte, Protokollführer, Beschuldigte, Verteidiger, Nebenkläger, Sachverständige, Zeugen, Dolmetscher und alle sonstigen Verfahrensbeteiligte, nicht aber bloße Zuschauer[10] oder etwa auch Vorführungsbeamte.

Sachlich umfasst das – gegen die Motivation des Trägers der Gesichtsverhüllung indifferente – Verbot „sämtliche Formen der Gesichtsverhüllung“.[11] In den Gesetzesmaterialien findet sich dementsprechend die folgende Definition und Abgrenzung: „Gesichtsverhüllung meint dabei die Verwendung von Textilien und anderen Gegenständen, die dazu dienen, das Gesicht oder Teile desselben zu verdecken. Erfasst sind mithin etwa Verhüllungen des Gesichts durch eine Maske, eine Burka, eine Sonnenbrille, eine Sturmhaube, einen Motorradhelm oder auch einen Verband, den eine Person zur Behandlung einer physischen Verletzung im Gesicht trägt. Nicht erfasst sind dagegen die natürliche Gesichtsbehaarung, kleinere Pflaster, Brillen mit durchsichtigem Glas oder Bedeckungen nur des Haares oder nur des Halsbereichs, die den Bereich des Gesichts, also die Fläche zwischen Stirn und Kinn, freilassen.“[12]

(…)

Verhandelt der gesichtsverhüllte Richter nach erfolgter Beanstandung gleichwohl weiter, so ist dieser die Verteidigung wesentlich erschwerende Umstand (vgl. § 338 Nr. 8 StPO) im Übrigen geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen (§ 24 StPO). Denn wenn ein Richter dem Angeklagten in der zwischenmenschlichen Kommunikation, die letztlich über eine Verurteilung entscheidet, nicht mit freiem Gesicht gegenübertritt, erschüttert dies regelmäßig das Vertrauen in das Amt des Richters und die Integrität seines Handelns nachhaltig, da sich der Richter auf diese Weise der strafprozessualen Form der Kommunikation verweigert, während er über den Angeklagten zu Gericht sitzt.

Die Begründung für die Verhüllung der Amtsrichterin in besagtem Fall in Regensburg hört sich ungeheuerlich an und sollte in einem Rechtsstaat zu einem Aufschrei führen, wie Rechtsanwalt Otmar Spirk festhält:

Die Richterin – sie ist hinter ihrer FFP 2-Maske praktisch nicht zu erkennen – rechtfertigt sich dann im Gerichtssaal gegenüber dem Verteidiger von Brunschweiger, Rechtsanwalt Otmar Spirk:

Sie befürchte eine Ansteckung mit dem Corona-Virus: Sie habe Risikopersonen in ihrem familiären Umfeld !

Ihre eigene Hysterie oder Panik scheint diese Richterin, eine Frau Miriam Röslmeier, dazu zu verleiten, geltendes Recht nicht zu beachten oder zu umgehen. Vielleicht möchte die Richterin ihr Gesicht nicht zeigen? Jedenfalls ist die total willkürliche, irrationale Anmaßung, zum vorgeblichen Schutz eines nicht näher genannten Dritten, ALLE Menschen im Gerichtssaal quasi oder de facto zu zwingen, gegen das Gesetz zu verstoßen und sich zu verhüllen, für eine Demokratie unerträglich.

In dem Text der beiden Juristen Bockemühl und Heuser wird z.B. Folgendes zitiert:

Insbesondere in umgekehrter Richtung wird der Verteidiger gegen einen gesichtsverhüllten Richter jedoch eine Entscheidung des Gerichts gemäß § 238 Abs. 2 StPO herbeiführen, sofern der Vorsitzende seiner sitzungspolizeilichen Aufgabe der Durchsetzung des Verhüllungsverbots in Entsprechung zu § 176 Abs. 1, 2 S. 1 GVG nach vorheriger Beanstandung der Sitzungsleitung nicht nachkommen sollte. Denn insoweit sich ein Richter durch die Verhüllung seines Gesichts während der Hauptverhandlung als Repräsentant des Staates einer offenen Kommunikation mit den übrigen Verfahrensbeteiligten verweigert, liegt zugleich eine schwerwiegende Störung der Hauptverhandlung vor (§ 261 StPO).

Insofern stellt sich die Frage: Handelt die Richterin entgegen der StPO? Stört sie eine Hauptverhandlung? Es zeugt von einer ganz besonders offenkundigen Befangenheit, dass sie bei einem Prozess gegen eine Lehrerin, die aus gesundheitlichen Gründen ein Maskenbefreiungsattest hat, eine solche nicht von der Strafprozessordnung vorgesehene, ja explizit, so lese ich das, 2017 abgelehnte Verhüllung einfordert. Wie kann man von so einer Person ein seriöses, juristisch klares Urteil erwarten? Ohne Mimik und bürgerliches Auftreten im Gerichtssaal? Wie kann man die Identität der Richterin feststellen oder des Polizisten, wenn doch unter einer Maske alle gleich aussehen, zumal sitzend?

Die Richterin möchte allen Ernstes ein privates (!) Problem, das sie angeblich hat (!), anführen, um andere Menschen zu zwingen (!), sich zu verhüllen. Das hat mit einem Rechtsstaat nichts mehr zu tun, so auch die beiden Regensburger Autoren:

Lediglich in diesem tatbestandlich vorgegebenen Rahmen können dann gesundheitliche Gründe des Maskenträgers in der Ermessensausübung des Vorsitzenden zum Tragen kommen. Die ausnahmsweise Gestattung zum Tragen eines MNB setzt damit nicht nur tatbestandlich voraus, dass weder Identitätsfeststellung noch Beweiswürdigung ein unverhülltes Gesicht notwendig machen, sondern auf Seiten der Rechtsfolgen darüber hinaus auch, dass die gesundheitlichen Gründe das allgemeine Erfordernis einer offenen Verhandlungsführung überwiegen.[29]„Der Anwendungsbereich für derartige eng auszulegende Ausnahmen dürfte in der Praxis kaum relevant sein, weil die Wahrheitserforschungspflicht regelmäßig vorgeht.“[30] Die bloße Berufung auf einen „virusbedingte[n] Ausnahmezustand“ reicht folglich nicht aus,[31] weil eine – ohne die erforderliche Glaubhaftmachung einer konkreten Gesundheitsgefährdung – lediglich abstrakt behauptete Gesundheitsgefahr die strafprozessuale Wahrheitserforschungspflicht in einem konkreten Fall gewiss nicht überwiegt.

Es kann theoretisch individuelle Ausnahmen von der Regel des Nicht-Verschleierns geben, aber hier wird ja von der Richterin jede Person (!) im Gerichtssaal de facto gezwungen, sich zu verschleiern. Dabei könnte sich die angeblich gefährdete Person im Umfeld (!) der Richterin längst geimpft haben lassen. Auch die Richterin hätte sich impfen lassen können, wenn sie täglich vor dem Frühstück in Panik badet. Wenn sie nicht an die Wirkung der Impfung glaubt, sollte sie das Herrn Söder sagen oder dem Gerichtspräsidenten.

Was würde ein ehemaliger bayerischer Justizminister zu Richterin Röslmeier sagen? Die Kriminalpolitische Zeitschrift schreibt:

Sehr anschaulich hat das Erfordernis einer offenen Kommunikation für den Gerichtsprozess auch der damalige Bayerische Justizminister Winfried Bausback in einer Plenardebatte des Bundesrates zum Entwurf eines „Gesetzes zum Verbot der Gesichtsverhüllung während der Gerichtsverhandlung“ geschildert: „Kolleginnen und Kollegen, machen Sie einmal die Probe aufs Exempel! Überlegen Sie sich, wie es gewirkt hätte, wenn Kollege Biesenbach mit einem […] Tuch hier vor Ihnen gestanden hätte und Sie sich weder von seiner Mimik noch von seiner Gestik ein Bild hätten machen können. Noch viel mehr gilt dies vor Gericht, wo es um die akribische, gewissenhafte Suche nach Wahrheit geht. […] Wie soll ein Gericht im Falle einer Verschleierung beurteilen, ob die Zeugin plötzlich rot oder ganz blass wird, ob sie zu schwitzen beginnt oder unsicher in die Richtung eines Dritten blickt? Wie soll das Gericht ein gerechtes Urteil fällen, wenn es seine Erkenntnisse nicht auf Zeugen stützen kann, die es von Angesicht zu Angesicht gesehen und erlebt hat, weshalb es auch keinen Eindruck von der Glaubwürdigkeit hat? Unsere Richterinnen und Richter benötigen und wünschen sich deshalb das ausdrückliche Verbot der Gesichtsverhüllung in Gerichtsverhandlungen.“[25]

Eine Ausnahme vom Verbot der Gesichtsverhüllung während der Gerichtsverhandlung, z.B. die Gestattung zum Tragen eines MNB „in Zeiten von Corona“, ist daher allenfalls in geprüften und glaubhaft gemachten Einzelfällen möglich. Die Verhüllung des Gesichts von Verfahrensbeteiligten einer Gerichtsverhandlung kann mit der gesetzlichen Regelung des § 176 Abs. 2 GVG nämlich niemals die Regel, sondern stets nur die Ausnahme sein.[26]

Die Lage ist also recht einfach: Wenn Amtsrichterin Miriam Röslmeier Angst und Panik hat, ihren Beruf auszuüben, dann soll sie sich beurlauben lassen oder im HomeOffice arbeiten, wie das Millionen von Menschen mit panikzerfurchten Gesichtern tun. Dann übernehmen eben Kolleg*innen, die Risiken rational einschätzen können und die eine womöglich bessere Kenntnis der Bedeutung der Kommunikation im Gerichtssaal besitzen, ihre Fälle. So einfach ist das.

Nochmal die beiden Juristen in ihrem wegweisenden Fachartikel:

cc) Richter und Staatsanwälte
Durch die speziellere Regelung des § 176 Abs. 2 GVG werden für die Zeit der Hauptverhandlung die für (ehrenamtliche) Richter und Staatsanwälte allgemein ohnehin schon geltenden Verhüllungsverbote[42] mitsamt ihren Ausnahmetatbeständen verdrängt. Eine MNB zum Schutz vor Infektionskrankheiten[43] darf folglich auch von diesem Personenkreis während der Hauptverhandlung nicht unter Berufung auf individuelle gesundheitliche Gründe getragen werden. Denn auch insoweit fehlt es jedenfalls im Rahmen der nach § 176 Abs. 2 S. 2 GVG zu treffenden Ermessensentscheidung am Überwiegen dieser Gründe, nachdem eine MNB nicht dem Selbst-, sondern lediglich dem Fremdschutz dient. Im Übrigen dürften aber regelmäßig auch schon die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Ausnahmevorschrift nicht gegeben sein. Letztlich würde die Gesichtsverhüllung bei dem betroffenen Personenkreis die Verteidigung durch die damit bewirkte Störung der Hauptverhandlung in einem wesentlichen Punkt beschränken.[44] „Schließlich setzt auch eine effektive Verteidigung des Angeklagten in gewissem Maß voraus, die Reaktion der Berufs- und Laienrichter auf bestimmte Prozessvorgänge an deren Mienenspiel ermessen zu können. […] Die Vorstellung, der Angeklagte würde einer Richterbank aus vermummten Personen gegenübersitzen, die […] völlig anonym Recht sprechen, erschiene geradezu beängstigend.“[45] Um nicht zu sagen, kafkaesk. Denn: „Die Kommunikation ‚von Angesicht zu Angesicht‘ ist ein zentrales Element im rechtstaatlichen Gerichtsverfahren auch dann, wenn der Sachverhalt vollständig aufgeklärt ist und nur noch Rechtsfragen zu erörtern sind.“[46]

Der Schlussabsatz ist besonders bedeutsam und hat eine schöne demokratische, ja antifaschistische Diktion: „Wehret den Anfängen“:

IV. Strafverteidigung mit offenem Visier

Die vorstehenden Überlegungen zeigen, dass die mitunter wohl aus überbordender Angst und teils auch aus Hysterie ergriffenen Schutzmaßnahmen gegen SARS‑CoV‑2/COVID‑19 bereits jetzt eine Erosion des Strafverfahrens sowie der Gerichtsverfassung zur Folge haben. Denn jedenfalls noch Ende letzten Jahres – 2019 – erschien es dem Gesetzgeber offenbar völlig undenkbar, dass eine strafprozessuale Hauptverhandlung lege artis unter vermummten Verfahrensbeteiligten geführt werden könnte. Strafverteidigung mit offenem Visier kann daher in diesen Tagen nicht nur eine engagierte Verteidigung des Beschuldigten, sondern auch eine solche der Grundfesten unseres Strafverfahrens sowie der Gerichtsverfassung leisten, und zwar, indem sie contra legem prozessierende Spruchkörper gelegentlich an noch immer geltendes Prozessrecht erinnert. Dabei bleibt jedoch abzuwarten, ob sich der Gesetzgeber dem Erfordernis einer offenen Verhandlungskultur im Strafprozess nicht doch noch „pandemiebedingt“ – bei nächstbester sich ihm bietender Gelegenheit einer allfälligen „Modernisierung“ – kurzerhand entledigt. In diesem Sinne gilt: Wehret den Anfängen!