Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Antisemitismus Seite 9 von 14

Markus Lanz, das ZDF und ein anständiger Hamburger. Der sekundäre Antisemitismus des sicherlich Nicht-Antisemiten Klaus von Dohnanyi

Von Dr. Clemens Heni, 18. April 2019

Am Dienstagabend, 5. März 2019, hatte sich der gebührenfinanzierte Dampfplauderer vom Dienst, Markus Lanz, neben Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der ZEIT, den ehemaligen Bundesminister und das SPD-Urgestein Klaus von Dohnanyi zum Plausch in die nach ihm benannte Sendung im ZDF geladen. Was der Gast dabei von sich gab – und der Moderator durchgehen ließ, ohne nachzufragen, ließ tief blicken und indiziert, wie die politische Kultur in diesem neuen Deutschland funktioniert, auch ganz ohne AfD.

Für einen ganz normalen Deutschen ist Wissenschaft unnötig. Er oder sie weiß es aus eigener Anschauung ohnehin besser. Jeder gute Deutsche hat einen „gesunden Menschenverstand“, was Kritiker als ungesund oder krank dastehen lässt. Dohnanyi machte in der Sendung den Austritt der SPD aus der Reichsregierung 1930 für den Aufstieg der NSDAP verantwortlich. Widerstand habe es massenhaft in Deutschland gegeben, nach 1933, fast jeder und jede hatte einen Juden, der versteckt oder versorgt wurde, das war der Tenor des SPDlers. So klang dieser mit vollem Kalkül vorgetragene Schrei gegen die heutige Schonzeit für Juden aus dem Munde eines SPD-Vordenkers. Es müsse Schluss sein mit der Erinnerung an die „Judenvernichtung“, die Zukunft rufe, so sprach er.

Da wird der zapplige, nie den Status des pubertierenden Strebers loswerdende Lanz, der sich quasi freut wie Oskar, der seinen ehemaligen verknöcherten autoritären Schulleiter wiedertrifft und der alleine für das Wackeln mit seinen aalglatten Schuhen einen Werbevertrag einer großen Schuhfirma erhalten sollte, ganz hellhörig. Er habe jüngst ein Interview mit dem Historiker Götz Aly gelesen, der darauf abheben würde, dass „Hitler den Sozialstaat aufgebaut habe“. Hitler und Sozialstaat, da werden Deutsche ganz wuschig, das ist spannend und irgendwie doch fast verboten. Sind eventuell gar Juden im Publikum? Oder vor den TV-Geräten? Wurden die Juden von einem ganz modernen Sozialstaat ermordet? War es gar nicht böse gemeint?

Diese modernistische Pointe Alys und Lanz‘ ist eine Position der Neuen Rechten seit Jahrzehnten, namentlich von Rainer Zitelmann und Michael Prinz, die das ach-so-moderne Element des Nationalsozialismus herauskehren. Nicht der Antisemitismus, sondern der ökonomische Surplus die Deutschen habe jene dazu gebracht habe, die Juden zu vertreiben, totzuschlagen, zu denunzieren, zu deportieren, zu vergasen und zu massakrieren, wobei natürlich bei den Neuen Rechten der Holocaust ohnehin gar nicht im Fokus steht, sondern Hitler als „Revolutionär“ umarmt wird (Zitelmann).

Im Gespräch von Lanz mit Dohnanyi und Lorenzo geht es somit um Trump und AfD, die so wenig böse seien wie Hitler und die Deutschen 1933, einfach nur die „soziale“ Frage nicht richtig beantworten würden, aber es an sich gut meinen würden.

Als dann aber Giovanni di Lorenzo von der „nationalsozialistischen Ideologie“ und „einem entsetzlichen, ungeschminkten Antisemitismus“ redet, wird Dohnanyi wütet und sagt, „aber nicht in Deutschland“, „sehr viel mehr bei der Nazipartei“, „aber die war damit nicht erfolgreich“.

Die NSDAP habe also erstens keinen Kontakt zu den Deutschen gehabt und zweitens habe sie zwar irgendwie Antisemitismus in sich gehabt, aber sei damit nicht erfolgreich gewesen. Diese Exkulpation Deutschlands vom Antisemitismus ist die typische Lüge der Deutschen seit jeher. Dann fragt Lanz wie der kleine Schuljunge, immer noch der Streber, der alles wissen möchte und insgeheim schon weiß, Dohnanyi, „wieviel hat denn die Bevölkerung gewusst?“ – natürlich so gut wie gar nichts, nur das Militär wusste manches, so der SPDler. Und weil sie ja nichts wissen konnten, sind sie auch nicht schuldig.

Und dann wendet sich der ganz normale Deutsche aus Hamburg an di Lorenzo und sagt „Ich bin anderer Meinung als Sie und meine nicht, dass das ständig wiederholt werden muss“ – die Sache mit dem Antisemitismus. Er möchte nicht mehr hören, „was hinterher dann passiert ist“ – damit ist Auschwitz gemeint, das interessiert den Erinnerungsverweigerer nicht, und da klatscht das Publikum, nicht AfD frenetisch mit Getrampel oder bayerisch mit Klatschen auf die Lederhosen, sondern gediegener, ZDF-mäßiger, Hamburgerischer, auch wenn die Sendung aus Mainz kommt.

Und sofort kommt der Erste Bürgermeister a.D. und Rot=Braun-Ideologe und Shoahverharmloser auf die DDR, auch die Eltern von Merkel hätten nicht „gewusst, was alles geschah“ – also wieviel KZs es gab und wieviele Millionen Menschen in Bautzen vergast wurden etc. pp. Dieser Wahnsinn flutscht nicht nur beim ZDF und bei Lanz hinunter wie Honig.

Bereits 1995 unterstrich der nationalpolitische Vordenker Klaus von Dohnanyi, was für ein guter Deutscher er ist, als er im Stern schrieb:

Seit das deutsche Kaiserreich 1871 entstand, wuchs in Europa die Unruhe über dessen Stärke und in Deutschland mit dieser Stärke der Übermut. Aus diesem Gemisch entstand der Sprengstoff des Ersten Weltkriegs. Dieser wiederum wurde dann auf dem Hintergrund des für Deutschland unerträglichen Versailler Vertrags und einer trotzigen deutschen Unbelehrbarkeit zum Nährboden für den Nationalsozialismus. Allerdings läßt sich auch nicht bestreiten, daß Kriege in Europa nicht nur von der vereinten deutschen Nation geführt wurden, sondern zuvor über Jahrhunderte gegen die kleinen deutschen Teilstaaten, und zwar mit dem Ziel, diesen die staatliche Einheit Deutschlands unmöglich zu machen… Immer wieder war es zentrales Ziel der Politik der europäischen Großmächte, die Einheit Deutschlands notfalls auch militärisch zu blockieren… Nicht von der Wiedervereinigung, sondern von den Kommunisten wurden die Unternehmen, die ja vor 1945 genauso wettbewerbsfähig waren wie die im Westen, zerstört.“

 Das kommentierte Hermann L. Gremliza (Literatur-Konkret 1995):

 „Auch in einem großen Arschloch steckt mitunter ein exaktes Thermometer. Seit dem 3. Oktober 1990 nämlich gilt: Die deutsche Vergangenheit ist bewältigt, Erinnerungen an sie, Verbindung zwischen einst und heute sind zu unterlassen; die deutsche Geschichte hat, soweit sie nicht Vergangenheit ist, viele helle Seiten und eine dunkle; die dunkle Seite heißt DDR; deren Abschaffung war politisch, ökonomisch und vor allem sittlich geboten, die daran beteiligten Personen waren edel, hilfreich und gut.“

 Das soziale Moment ist Lanz so wichtig und da ist er ganz bei Dohnanyi. Und das trifft sich auch mit weiten Teilen der unkritischen, also typischen und Mainstream-Forschung. Die Neue Rechte, die betont, wie „modern“, also auch sozialstaatlich der NS gewesen sei, wird von sport- und fußballinteressierten Frauen wie  der Historikerin Christiane Eisenberg umworben, die in ihrer Habilitationsschrift von den ach-so-schönen Seiten der Olympiade 1936 geradezu schwärmte und das „moderne“ Element wie Liegestühle, Blumenrabatte oder ein Kino für die Sportler*innen herausstrich.

Und wieder ein SPDler, der Berliner Innen- und Sportsenator Andreas Geisel, hat nun die Idee, 2036 wieder eine Olympiade nach Berlin zu holen, hat schon damals so schön geklappt. Dieser Bezug zu Nazi-Deutschland via dem immer noch stehenden Berliner Olympiastadion ist für die ganz normalen Deutschen richtig prickelnd. Am besten kommt das, wenn keine offen als Nazis erkennbaren Personen solche Vorschläge machen, es ist viel galanter, wenn die SPD anstatt der NPD oder der AfD solche Vorschläge macht.

Dohnanyi ist viel zu alt fürs Rumzappeln wie Lanz, er promotet seinen Ehering, die Familiengeschichte und weiß sehr genau, wie man den sekundären Antisemitismus bedient und selbst generiert.

Dohnanyi verleugnet den Antisemitismus im Jahr 1928. Ja, die Deutschen hätten später, nach 1933, „sehr viel für die Juden getan, das wird völlig unterschätzt heute“. Also auch dieses Märchen, das jeder geschichtswissenschaftlichen Studie über das Leben von Juden im NS entgegensteht, ist Dohnanyi ganz wichtig. So wichtig, dass er ja bereits 1996 bei der Goldhagen-Debatte in vorderster Front gegen den jüdischen Politikwissenschaftler, der die „ganz normalen Deutschen“, „Hitlers willige Vollstrecker“ untersuchte, Front machte. Dabei wurde er auch von jüngeren Kollegen wie den Historikern Norbert Frei oder Johannes Heil tatkräftig unterstützt, wie z.B. der Historiker Martin Kött in einer Studie über „Goldhagen in der Qualitätspresse“ 1999 quellengesättigt zeigen konnte.

Man sollte vor allem nicht die Vergangenheit nach „heutigen Maßstäben“ beurteilen, so der ehemalige Hamburger Bürgermeister. Reden wir doch Tacheles: Wir „Gutmenschen“ kriegen die Vollkrise, wenn jemand Juden mit Flöhen vergleichen würde, aber 1926, als Joseph Goebbels vom „linken“ Flügel der NSDAP dies in seinem „Nazi-Sozi“ tat, da war das der Zeitgeist. Da nun mit heutigen Maßstäben zu kommen, das geht schon mal gar nicht. So denken die Dohnanyis, die für die große Masse von Deutschen sprechen.

Es ist bei all diesen Debatten typisch, dass die Deutschen Antisemitismus nicht kritisieren, sondern als „Antisemitismusvorwurf“ bezeichnen. Klaus von Dohnanyi generierte diesen Topos der armen gebeutelten Deutschen nach 1945 doch selbst – und zwar als Redner im Deutschen Bundestag zum Gedenken an die Befreiung von Auschwitz in einer Gedenkstunde am 31. Januar 1997:

Man darf aber nicht vergessen, in welch existentieller Not auch Deutschland und die Deutschen in den ersten Jahren nach Kriegsende waren.

Da ist sie, die sekundär antisemitische Redeweise, die die deutschen Täter, Mitläufer und Mittäter und Mitwisser und Wisser und Henker und Denker, Richter und Hausfrauen, BDM-Führerinnen wie Ex-Wehrmachtsgeneräle, Industriekapitäne, NSDAP-Mitglieder und Ex-Nazi-Funktionäre wie auch Antisemiten, die keine NSDAPler waren, in Schutz nimmt. Dieser Satz – „Man darf aber nicht vergessen, in welch existentieller Not auch Deutschland und die Deutschen in den ersten Jahren nach Kriegsende waren“ – kommt aus tiefstem Herzen und spricht die Wahrheit aus.

Gerade das Wort „existentielle Not“ ist verräterisch, da die Deutschen überhaupt gar nicht in existentieller Not waren, das Land war erstmal besetzt und die Alliierten verteilten später sogar Kaugummi und Schokolade und waren unterm Strich doch viel zu freundlich zu den Deutschen, namentlich die Amerikaner, die ja neue Alliierte brauchten, ab 1947/48 im Krieg, dem „kalten“, gegen den Kommunismus.

Massenhaft wurde erstmals im Januar 1979 über die TV-Serie „Holocaust“ diskutiert und da waren grade die Linken nicht sehr interessiert, wie der Politologe Andrei Markovits, der damals Fellow der Hans-Böckler-Stiftung war, schockiert bemerkte. Sogleich ging es bei den Linken darum, sich selbst als mögliches Opfer eines „Atomtodes“ zu imaginieren wie die Juden damals („atomarer Holocaust“). Der Antisemit Ernst Nolte hat dann 1985 und verschärft 1986 den Historikerstreit begonnen, indem er die Schuld bei Stalin suchte, beim Erzfeind Kommunismus und die „asiatische Tat“ als Ursache für Hitler und den Holocaust herbei fabulierte.

Damals verlor Nolte den Historikerstreit gegen Jürgen Habermas und Hans-Ulrich Wehler (erster hat das schon zuvor mit der Depotenzierung der Kritischen Theorie und Adornos, letzterer 1996 in seinen Attacken gegen Goldhagen wiedergutgemacht), aber on the long run ist er der große Sieger, noch posthum. Denn 1986 fand 1997 im „Schwarzbuch des Kommunismus“ in Frankreich und bei Joachim Gauck einen Nachfolger und mit dem Hamburger Institut für Sozialforschung und bei Ulrike Ackermann und vielen anderen ein euphorisches Publikum. Seit einigen Jahren gibt es auch ein sehr laut hörbares Echo aus den USA via der Publikation „Bloodlands“ (2010) des Historikers Timothy Snyder, preisgekrönter Schriftsteller nicht nur in Leipzig, sondern eine Ikone litauischer Geschichtspolitik.

Dann kam der 9. November 1989, als die SPD im Bundestag zu Bonn am Rhein die deutsche Hymne anstimmte und nur wenige begriffen, was passierte und aus dieser Partei austraten, wie Gremliza. Manche verrückten Kritiker wie wir Abiturienten des Frühjahrs 1989 schrieben dann Widervereinigung ohne „e“, ahnend, was sich da zusammenbraute. Seit damals wird von den braven und guten Deutschen von den „zwei Diktaturen auf deutschem Boden im 20. Jahrhundert“ gleichsam gefaselt. Rot tendiere zum Braun und vice versa, das ist die Ideologie, die jetzt von der EU aufgegriffen wird und wir bald einen gesamteuropäischen Gedenktag 23. August haben werden, der den Holocaustgedenktag ablösen wird.

Am 28. März 2018 gaben die „Platform of European Memory and Conscience“ und die Europäische Union (EU) bekannt, dass der britisch-chinesische Architekt Tszwai So den Architekturwettbewerb für ein „Gesamteuropäisches Denkmal für die Opfer des Totalitarismus“ gewonnen hat. Das wöchentliche Architects‘ Journal (AJ) aus London gab die Entscheidung freudig bekannt und machte sich somit zu einem Sprachrohr dieser in Architektur zu gießenden Ideologie des Rot = Braun. In Brüssel wird der Jean Ray Platz nach Sos Vorstellungen geplant: es sollen in Bodenplatten tausende Briefe von Opfern des „Totalitarismus“ eingelassen werden. So läuft heute Geschichtsrevisionismus und der Antisemitismus aus Erinnerungsabwehr. Das ist vollkommen Mainstream und nicht mal die paar selbst ernannten (universitären, zivilgesellschaftlichen oder NGO-mäßigen) Kritiker*innen des Antisemitismus hierzulande merken das.

Anstand ist den Dohnanyis so wichtig. Der Journalist Otto Köhler hat das festgehalten (Konkret 3/98), die Sache mit dem deutschen „Anstand“ und dem „Widerstand“, für den der Vater Dohnanyis stand. 1997 hatte Dohnanyi in der Frankfurter Paulskirche ein Loblied auf den 20. Juli singen dürfen, Köhler kommentierte:

Dohnanyi, der in seiner Ansprache mit maliziösen Bemerkungen nicht sparte –  [meinte,] Goldhagen solle doch mal erklären , ‚warum sein Manuskript von der Harvard University Press nicht zum Druck angenommen wurde‘ – fällt über den Berliner Historiker Christian Gerlach ebenso her wie über den ‚in Ton und Gemeinheit vergleichbaren Artikel‘, den der Historiker David Morley in der ‚Süddeutschen Zeitung‘ veröffentlicht hatte – im beiden Fällen handele es sich ’schlicht um perfide Diffamierungen‘ des besseren Deutschland. Gegen die er seine Argumente setzt: ‚Es ist sicher wichtig zu wissen, daß sich auch Signaturen von Treskow (sic!) auf verbrecherischen Befehlen finden; es wäre aber dann auch wichtig, darauf hinzuweisen, daß ein erfolgreicher Putsch nur aus dem aktiven Militär und nicht aus der Emigration möglich war.‘

Otto Köhler resümierte:

Aber Dohnanyi kann noch mehr: ‚Es ist auch richtig, daß jeder Offizier – auch ein Mann im Widerstand – im Krieg Schutzmaßnahmen gegen Partisanen ergreifen mußte und daß diese überall von großer Härte waren.‘ Das müsse – anstelle von ‚ehrabschneidenden Schlußfolgerungen‘ eine ‚wissenschaftliche Aufarbeitung der Fakten‘ berücksichtigen. Die Wissenschaft hat längst aufgearbeitet. Auch das Militärgeschichtliche Forschungsamt läßt keinen Zweifel daran, daß Wehrmacht und SS ihre Massenmordaktionen an jüdischen Kindern, Frauen und Männern als ‚Schutzmaßnahmen gegen Partisanen‘ tarnten. Doch mit Argumenten darf man dem Festredner nicht kommen: ‚Denn‘, so Dohnanyi, ‚die verläßlichste Quelle, auch der Solidarität des Widerstandes, war niemals irgendein theoretisches Gebäude, sondern immer menschlicher Anstand. Wenn es sein mußte, bis in den Tod. Diese Eigenschaft des menschlichen Anstandes, diesen ‚reinen Heroismus‘ ehren wir durch die Ausstellung, die wir heute eröffnen.‘ Der Herr, der da so eifrig mit dem Wort ‚Anstand‘ jonglierte, sollte, auch wenn er sonst wenig weiß, das eine Zitat doch wenigstens kennen, das zeigt, was in Deutschland aus diesem Begriff geworden ist – eine Primärtugend für Mörder. Himmler am 4. Oktober 1943 vor SS und Polizei: ‚Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen, oder wenn 1.000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Das ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.‘

Die Abwehr der Erinnerung – dazu gehört auch und vor allem das geschwätzige Reden über „damals“, startend mit Richard von Weizsäcker 1985 – ist das zentrale Thema der Deutschen nach dem 8. Mai 1945. Die Wehrmachtsausstellung 1995 hat Neonazis zu Demonstrationen und Aktionen motiviert, alte Kämpfer heulten los und viele alte „Kameraden“ zündeten ein Feuer, wie es die Deutschen seit der „Flak“ auf ihren „Flaktürmen“ nicht mehr gesehen hatten. Parallel dazu wurden Dutzende Nicht-Deutsche ermordet.

Das gab es schon lange vor 1989, Franz-Josef Degenhardt („Väterchen Franz“) sang davon schon in den 1960er Jahren bezüglich der abgestochenen Italiener, aber danach wurde es exzessiv und führte auch dank der „akzeptierenden Jugendarbeit“ zur Gründung des NSU Ende der 1990er Jahre und im Jahr 2000 zum ersten Mord an einem Migranten durch den NSU.

Im Oktober 1998 hielt der Schriftsteller Martin Walser seine Dankesrede für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Entgegen Dohnanyi, der nur ein Jahr jünger als Walser ist, zitterte er vor „Kühnheit“ und wehrte in einer antijüdischen Diktion die Erinnerung an Auschwitz ab, wie nicht einmal Nolte es vermocht hatte:

Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung.

Ein Dohnanyi lässt sich natürlich nicht einschüchtern und deshalb zitterte er auch nicht, als er in Walsers Tonlage im März 2019 bei Lanz im gleichen antisemitischen Duktus lospolterte.

Zudem bekam Walser entgegen Nolte 1986 standing ovations in der Frankfurter Paulskirche, bis auf den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, dessen Frau Ida, und Friedrich Schorlemmer. Heute ist diese Position Mainstream, das ZDF freut sich über einen Gast wie Dohnanyi, der eine Art Großvater auch für die Katrin Müller-Hohensteins ist, die gerne vom „inneren Reichsparteitag“ (2010) reden, wenn ein deutscher Fußballspieler ein Tor schießt.

Der erste Intendant des ZDF war 1962/63 Karl Holzamer, ein katholischer antihumanistischer Antisemit, der den „Rembrandtdeutschen“ (1890) Langbehn 1946 an der neu gegründeten Universität Mainz als „Mahner“ würdigte und später jungen schicken Frauen und Männern in Existentialistencafés das unchristliche Lesen, Diskutieren, Nachdenken, Rauchen, Trinken und Cool-Sein übel nahm.

Holzamer erinnerte 1985 zudem daran, wer alles in seinem Bund Neudeutschland war, so auch neben Filbinger und Barzel der Bruno Heck. Bruno Heck (1917–1989) war CDU-Bundestagsabgeordneter (1957–1976), Bundesfamilienminister, von 1967–1971 erster Generalsekretär der CDU, von 1950–52 Regierungsrat im Kultusministerium von Württemberg-Hohenzollern und von 1968–1989 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). 1983 publizierte er einen Aufsatz, in dem er in typisch sekundär antisemitischer Diktion erklärte:

Die Rebellion von 1968 hat mehr Werte zerstört als das Dritte Reich. Sie zu bewältigen, ist daher wichtiger, als ein weiteres Mal Hitler zu überwinden,

wie der Journalist Albrecht von Lucke in einer luziden Kritik an Heck festgehalten hat. Da lacht und klatscht Klaus von Dohnanyi.

2002 lud Kanzler Gerhard Schröder Walser just am 8. Mai ein und ließ ihn über Versailles fabulieren und wiederum die Deutschen als Opfer böser Mächte und der Geschichte präsentieren. 2003 heulte dann Schröder vor Rührung, wie vielleicht kein Kanzler seit 1949, als er den Film „Das Wunder von Bern“ sah, wo von Sönke Wortmann das deutsche „Wir“ gefeiert und damals die erste Strophe der Nationalhymne millionenfach gesungen wurde. Nur wenige Jahre nach Auschwitz waren „wir“ wieder „wer“. Nicht mehr die Schlächter von Sobibor oder Majdanek, nein, Fußballweltmeister, das ist ja noch besser. Außer dem Vergessen der Shoah ist den Deutschen nichts so wichtig wie die Fußballweltmeisterschaft, vor allem jene von 1954, die ersteres so begünstigte wie kein anderer Vorgang es je vermocht hätte.

Das „Sommermärchen“ von 2006 (den Dokumentarfilm dazu drehte ebenfalls Wortmann, der grüne Deutsche) schoss „dank“ Jürgen Klinsmann nicht nur die Polen ab, sondern hat geschafft, was selbst 1954 nicht konnte: schwarzrotgoldene Unterhosen und Untertassen waren nun allgegenwärtig, „der“ Deutsche kam jetzt zu sich selbst. Die jungen Leute, die weder wussten, was Abseits ist, noch, dass man nicht 7 Spieler im Laufe eine Spieles auswechseln kann oder gar das ganze Team, waren frenetisch und fanatisch („ausgelassen“, „Partypatriotismus“), sie waren stolze Deutsche, keine international interessierten Sport- und Fußballfans. Nicht die Welt war „zu Gast bei Freunden“, sondern Deutschland war Gast bei sich selbst und schrie die Erinnerung an den Holocaust so laut weg, dass man es vom Brandenburger Tor über das Holocaustmahnmal (ein Mahnmal, „zu dem man gerne gehen soll“, R. Schröder) bis zum Denkmal für Hermann den Cherusker bei Detmold hören und fühlen konnte.

Der Aufstieg der AfD (2013) und von Pegida (2014) waren die Konsequenz, wobei der Millionenbestseller von Thilo Sarrazin von 2010 (auch ein Genosse wie Schröder und Dohnanyi), „Deutschland schafft sich ab“, im Kern ein Loblied auf den „Wiederaufbau“ der 1950er Jahre und die „deutschen Tugenden“ legte und das Wort „Deutschland“ mit Genuss ausspricht.

Die Sendung von Lanz mit Dohnanyi zeigt, wie un-nötig die AfD für den Betrieb ist, sekundären Antisemitismus kann der deutsche Mainstream auch ohne die neuen Nazis im Bundestag und den Landtagen.

Der Gemeinderat von Herxheim am Berg, einer kleinen Gemeinde in Rheinland-Pfalz mit ein paar Hundert Einwohner*innen und unzähligen Weinstöcken, idyllisch gelegen, hat sich 2018 dafür ausgesprochen, eine Bronzeglocke mit der Inschrift „Alles für’s Vaterland. Adolf Hitler“, mit einem Hakenkreuz untermalt, in seiner evangelischen Kirche St. Jakob hängen zu lassen. Dieser allzu deutsche Vorgang sagt alles über die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2018 aus.

Der Auftritt von Klaus von Dohnanyi bei Markus Lanz 2019 ist das Pendant hierzu. Der Antisemitismus ist bei dumpf-deutschen Pfälzern so sehr beheimatet wie beim Hamburger sozialdemokratischen Nationalisten und Erinnerungsverweigerer und einem der beliebtesten ZDF-Vorbeter. Dohnanyi ist auch kein alter Mann, der vergessen möchte, sondern ein ganz typischer jung-deutscher unverschämter Ausdruck der Zukunft des (sekundären) Antisemitismus, der sich als dessen angebliches Gegenteil (SPD, „Widerstand“) vorstellt.

Natürlich ist Klaus von Dohnanyi ganz sicher kein Antisemit. Es gibt keine Antisemiten mehr – bis auf ein paar linke oder muslimische Spinner und „Unverbesserliche“, das wissen wir doch alle. Er treibt den sekundären Antisemitismus, den kaum jemand auch nur erkennt, geschweige denn attackiert, nur zu einem weiteren Höhepunkt und dafür lieben ihn die Deutschen, nicht nur Lanz und das Publikum im Studio.

Mit diesem Personal hat Deutschland wieder eine Zukunft – eine Zukunft für seine Vergangenheit, wie der Publizist Wolfgang Pohrt es Anfang der 1980er Jahre auf den Punkt gebracht hatte.

Wer sich hingegen mit der Wirklichkeit in Deutschland der Jahre 1928 bis 1934 beschäftigen möchte, kann zu einem kleinen Buch mit großer Wirkung und Relevanz greifen: „Antisemitismus zum Weihnachtsfest. Boykotte gegen jüdische Geschäfte 1928–1934“ von der Historikerin Hannah Ahlheim (2018). Dort wird die Bedeutung des Antisemitismus gerade schon vor 1933 exemplarisch am Beispiel jüdischer Gewerbetreibender und der Bedeutung des christlichen Weihnachtsfestes kritisch untersucht.

Davon wollen aber die normalen Deutschen nichts mehr hören. Schluss, aus, Ende, fertig. Antisemiten waren nur ganz wenige und vor allem: „nicht wir“.

Kein Antisemitismusbericht und keine „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS)“ wird diesen neuen Antisemitismus je erfassen. Er ist viel zu ubiquitär und würde jede Statistik sprengen und ad absurdum führen.

©ClemensHeni

 

Stavit Sinai und BDS oder hat das jüdische Studienwerk ELES ein Antisemitismusproblem?

Von Dr. Clemens Heni, 10. März 2019

Für Theodora W.

Eine frühere Version dieser Rezension des Buches „Weil ich hier leben will. Jüdische Stimmen zur Zukunft Deutschlands und Europas“ erschien in der Zeitschrift der Kommende Dortmund, Amosinternational, Jg. 13 (2019), Heft 1, S. 53–54. Herzlichen Dank an den Theologen und Philosophen DDr. Richard Geisen für die Herausgabe dieser Zeitschrift, seine wundervolle, politisch scharfe und kritische Arbeit über die Jahrzehnte hinweg, die ich nur ganz am Ende erleben durfte, als er mich im November 2018 zu einem Vortrag in die Kommende Dortmund einlud. Vor wenigen Tagen, im Frühjahr 2019, ging Richard Geisen in Rente. Ich wünsche ihm weiterhin viel Freude an der intellektuellen Kritik an den deutschen, unsozialen, rechten, ökologisch wie gesamtgesellschaftlich problematischen Tendenzen wie auch an den erzkatholischen Zuständen!

 

Im März 2019 kam ein Phänomen ans Tageslicht, das seit langem existierte, aber jetzt mal wieder in voller Wucht offenkundig wurde: Auch Frauen und Feministinnen können Antisemitinnen sein. Warum auch nicht? Warum sollten nur Männer Antisemiten sein können? Das mit den weiblichen antisemitischen Personen ist eine wenig überraschende Aussage (man denke an den amerikanischen Women’s March, Linda Sarsour, Tamika Mallory und Carmen Perez), aber es überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit links fühlende feministische Gruppen 2018 und 2019 die amerikanische Aktivistin Selma James einluden.

Sie war bei Veranstaltungen im Rahmen des „Frauenstreik“, einem bundesweiten Zusammenschluss von feministischen Gruppen, in Göttingen wie in Berlin eingeladen. James ist Jahrgang 1930, kämpft für die Bezahlung von Hausarbeit, was ein interessanter und bekannter Ansatz ist, vor allem jedoch war sie 2008 eine Mitbegründerin des „Jewish Anti-Zionist Network“. Deren Forderung: „Oppose Zionism and the State of Israel.“ Das ist also keine Kritik, sondern aggressive Ablehnung des Judenstaates. Selma James ist eine jüdische Gegnerin jüdischer Souveränität und des jüdischen und demokratischen Staates Israel. Sie ist also eine jüdische Antisemitin, denn ihre Ablehnung Israels und des Zionismus, wie man online lesen kann, unterscheidet sich nur darin von Islamisten, Neonazis, dem Iran oder dem deutschen Stammtisch (von bayerisch bis links-alternativ, je nach Vorliebe für Weißbier oder vegane Drinks), dass sie jüdisch ist. Sie kritisiert nicht etwa völlig zu Recht die Besatzung des Westjordanlandes oder die rechtsextreme Politik der Regierung unter Benjamin Netanyahu, nein, sie diffamiert den ganzen Zionismus seit Herzl.

Sie hat gar kein Interesse an einer Verbesserung der Situation der Palästinenser. Sie möchte Israel zerstören und den Palästinensern das ganze Land geben, das in einem bis dato einzigartigen völkerrechtlichen Beschluss 1947 geteilt wurde (UN-Teilungsbeschluss für Palästina). Es sollte einen jüdischen und einen arabischen Staat geben. Aufgrund ihres schrankenlosen Judenhasses lehnten die Araber es ab, einen eigenen Staat Seite an Seite mit dem jüdischen Israel zu bekommen. Der Ansatz von Selma James, hätte BDS Erfolg und Israel müsste das absurde „Rückkehrrecht“ der Palästinenser gewähren, würde zu einem Bürgerkrieg führen (das sehen sogar arabische Israelis hier und heute so) und die gesamte arabische und muslimische Welt gegen den Judenstaat und Juden aufwiegeln, in einem noch stärkeren Maße als seit 1948 ohnehin üblich.

Von der jüdischen Antizionistin Selma James zum Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) ist es nicht weit. Im November 2018 betonte zwar der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, anlässlich der Verleihung des DAGESH Kulturpreises, dass BDS keinen Platz in jüdischen Organisationen und Gruppen haben dürfe:

Ich bin in diesem Zusammenhang sehr glücklich darüber, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Zentralrat und dem Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk intensiver geworden ist. Eine bessere Investition als die in die Bildung begabter junger Menschen ist im Judentum doch kaum vorstellbar. Seit diesem Jahr wird ELES auch institutionell gefördert. Und für die Stipendiaten und Stipendiatinnen sind die gemeinsamen politischen Aktivitäten, gerade auch mit der Bildungsabteilung des Zentralrats, sicherlich eine Bereicherung. Sehr gerne beteiligt sich der Zentralrat auch an der Jüdischen Denkfabrik. Von diesem Think Tank werden wir sicherlich in Zukunft noch viele neue Ideen und Impulse bekommen, was es bedeuten kann, jüdisch zu sein. (…)

Jüdischsein bedeutet, sich dem jüdischen Staat verbunden zu fühlen und außerhalb Israels für die einzige Demokratie im Nahen Osten einzutreten – ungeachtet dessen, dass jeder Jude und jede Jüdin durchaus Kritik an der Politik der israelischen Regierung hat und natürlich haben darf. Wer aber zum Boykott Israels aufruft oder als Jude BDS unterstützt, hat nach nicht begriffen, dass Jüdischsein nicht bedeuten kann, sich mit den Feinden des jüdischen Volks gemein zu machen. Das gilt natürlich genauso für die Juden in der AfD.

Jüdischsein bedeutet leider auch heute, Angst zu haben – wie vor zehn Tagen, als wir fassungslos waren über das Massaker in der Synagoge von Pittsburgh. Ein weißer Antisemit und Rechtsextremist hat elf unschuldige Menschen ermordet, nur weil sie Juden waren. Diese Tat hat uns alle erschüttert. Denn es gibt keine schrecklichere Vorstellung als die, wehrlos einem Attentäter ausgesetzt zu sein. Ein Überfall auf unsere Synagoge ist für jeden und jede von uns ein Albtraum, der niemals wahr werden darf.

Ist die Hinwendung des Zentralrats zu ELES eine vergebliche Liebesmüh? Oder gar das Füttern der eigenen Feinde, jener, die an der Abschaffung des Zentralrats und seiner Vorstellungen von Erinnerung an die Shoah, Kampf gegen jeden Antisemitismus und Unterstützung für den jüdischen und demokratischen Staat Israel mit aller Vehemenz arbeiten?

Naive Leser*innen des Buchtitels „Weil ich hier leben will. Jüdische Stimmen zur Zukunft Deutschlands und Europas“, das 2018 von Walter Homolka, Jonas Fegert und Jo Frank im Freiburger Herder Verlag herausgeben wurde, könnten denken, es sei doch schön, ein Buch von Juden zu lesen, über Juden hier und heute in diesem Land.

So ist z.B. Greta Zelener mit ihren Eltern aus Odessa am Schwarzen Meer nach Deutschland eingewandert. In ihrem Beitrag setzt sie sich für jüdische Erwachsenenbildung ein. Viele der Autor*innen des Bandes hätten eine solche in der Tat mehr als nötig. Sandra Anusiewicz-Baer beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Geschichte jüdischer Schulen vor allem seit 1993, da sich mit dem Zuzug von zehntausenden Juden aus der ehemaligen Sowjetunion deren Anzahl in der Bundesrepublik in ganz kurzer Zeit nahezu verzehnfachte (auf ca. 200.000, auch wenn offiziell nur ca. die Hälfte als Juden anerkannt und Mitglied Jüdischer Gemeinden sind, da viele nur väterlicherseits, also nicht halachisch jüdisch sind). Problematisch wird es, wenn Anusiewicz-Baer schreibt, es komme auf das jeweilige „Familiennarrativ“ an, wie die Geschichte des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und der Shoah erzählt werde.

Dadurch fällt der universell zu erinnernde Zivilisationsbruch Auschwitz in den Raum der Beliebigkeit. Das passt zum Mit-Autor Max Czollek und dessen Bestseller „Desintegriert euch“; darin behauptet er ernsthaft, viele neudeutschen (ex-sowjetischen) Juden würden sich als Sieger der Geschichte sehen und grade nicht als Nachfahren von Opfern. Das mag aus der Innenperspektive einiger weniger Überlebenden stimmen, ist aber analytisch falsch, da die Juden Opfer der Shoah wurden und nicht die Sieger des Zweiten Weltkriegs sind.

Der Kern des vorliegenden Buches besteht darin, dass sich hier junge, zumeist zwischen Anfang der 1970er und den 1990er Jahren geborene Juden (sowie Nicht-Juden oder Konvertiten wie Homolka, Jg. 1964) gegen den gesamtgesellschaftlich marginalen jüdischen Mainstream stellen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland ist ein Feindbild für viele Artikel. Warum? Weil der Zentralrat der Juden genau dafür steht, wofür die jungjüdischen Autor*innen nicht stehen: für die Erinnerung an die Shoah, für die Kritik am Antisemitismus in all seinen Formen und für die Unterstützung Israels.

Der Band kommt zum zehnjährigen Jubiläum des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks (ELES) heraus. Ca. 600 Studierende und Promovierende sind bislang vom ELES gefördert worden. Die 15 Beiträge in dem 224 Seiten dünnen Buch, inklusive dem Vorwort der Herausgeber und einer „Hinführung“ via einem Gespräch von Homolka mit einem Berliner Senator, Klaus Lederer (Die Linke), stehen laut Umschlagstext für „das jüdische Leben in Deutschland in einer ungeahnten Vielfalt. Junge Jüdinnen und Juden ergreifen das Wort“.

So schreibt Meytal Rozental: „Als Kind war es mein Traum, Botschafterin zu werden. Damals dachte ich, das sei der einzige Weg, um die Ferne zu erleben. Erst später habe ich verstanden, dass man als Botschafterin den Staat Israel repräsentieren muss. und [sic!] das kam für mich nicht infrage.“ Hier geht es nicht um die nachvollziehbare und in der Tat sehr wichtige Kritik an der gegenwärtigen Regierung unter Benjamin Netanyahu, die so rechts ist wie keine frühere Regierung Israels. Nein, hier geht es um das Repräsentieren des jüdischen und demokratischen Staates Israel an und für sich. Das abzulehnen ist antizionistischer Antisemitismus und delegitimiert Israel. Rozental zeigt sich als Fanatikerin gegen den jüdischen Nationalstaat. Sie schreibt offenbar ohne Kenntnis der Literatur zum Zionismus vor 1933 oder vor 1939: „Eine Sache, die mir sehr wichtig ist, ist die Wahrnehmung von Juden vor dem Zweiten Weltkrieg – als Universalisten, als Menschen, die mit keinem Nationalstaat verbunden sind, nicht sein können oder dürfen!“ Juden „dürfen“ demnach keinen eigenen jüdischen Staat haben. Das ist die Ideologie von Post- und Antizionisten wie Judith Butler; auch Micha Brumlik, der im Beirat von ELES sitzt, geht in diese Richtung.

Max Czollek[i] findet es unerträglich, dass die 2006 eröffnete Synagoge in München gleich im Eingangsbereich an die Shoah erinnert. Er tut so, als ob es Mainstream wäre, den Holocaust zu erinnern und sieht gar nicht die wachsende Holocausttrivialisierung – zu beobachten etwa bei Altbundespräsident Gauck, der Rot und Braun analogisiert und in antisemitischen Büchern (z.B. mit dem Titel „der rote Holocaust“) publizierte, oder bei postkolonialen (schwarzen) Autor*innen, die die Sklaverei als größeres Verbrechen imaginieren als die Shoah.

Dafür kokettiert Hannah Peaceman, die sich an Jürgen Habermas anzuschließen scheint und ihn mit der jüdischen Tradition des „Machloket L’shem Shemayim“ in Beziehung setzt, mit problematischen Ideologemen. Doch zuerst sei mit Machloket eine jüdische Tradition des Nicht-Rechthabenwollens und der Wahrheitssuche verbunden. Das hört sich interessant, aber auch hochtrabend an und das ganze Buch wie auch ihr Beitrag stehen für das exakte Gegenteil: sie wollen alle Recht haben und nach der Wahrheit sucht kaum ein Beitrag.

Die Autorin setzt gerade sich selbst und die anderen (jüdischen) Autorinnen und Autoren des Bandes wie viele andere jüdische Aktivist*innen mit dieser angeblich so bedeutsamen Tradition des Machloket in Beziehung und bezichtigt den Zentralrat wegen der Nazi-Zeit innerjüdische Widersprüche nicht zu thematisieren:

„In der Diversität der jüdischen Gemeinschaft steckt ein großes Potential für Machloket. Viele Widersprüche in einer zahlenmäßig kleinen Gemeinschaft können eine große Herausforderung darstellen. Insbesondere vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit ist die Haltung der größeren jüdischen Institutionen bis heute die, Dissens innerhalb der jüdischen Gemeinschaft möglichst nicht an die Öffentlichkeit zu tragen.“

In ihrem Beitrag kokettiert Peaceman mit der so falschen wie anstößigen Bezeichnung „Zentralrat der rassistischen Juden“ und setzt diese Diffamierung – die auf einer Attacke u.a. von Armin Langer beruht, der dem Zentralrat unterstellt, für eine „Obergrenze“ für Flüchtlinge zu sein (was falsch ist, wie der Präsident des Zentralrats, Josef Schuster, vor Monaten unterstrich) – in Beziehung zu Machloket, jener „Streitbarkeit um des Himmels Willen“.

Entgegen Langers Diffamierung ist der Zentralrat der Juden sehr kritisch gegenüber Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus: Auf einer Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Novemberpogrome vom 9. November lud die Jüdische Gemeinde alle Parteien ein und Zentralratspräsident Schuster begründete die Nicht-Einladung der antisemitischen AfD.

Auch höchst problematische Publizist*innen, die wahlweise den Antisemitismus oder Islamismus kleinreden, wie Yasemin Shooman, die z.B. Pro-BDS Veranstaltungen mit Aktivisten wie Sa’ed Atshan für das Jüdische Museum Berlin organisierte, gehören zu ihren trüben Quellen. Peaceman ist Mitbegründerin und zusammen mit Micha Brumlik, Marina Chernivsky, Max Czollek, Anna Schapiro und Lea Wohl von Hasselberg Mitherausgeberin der Zeitschrift Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart (so von Heft 3, 2018), die im hippen Neofelis Verlag erscheint, in der Shooman 2018 mit einer Attacke auf die Jüdische Gemeinde zu Berlin und deren Kritik am islamistischen Antisemitismus gedruckt wurde. Peaceman hat zusammen mit Micha Brumlik Jalta auf einer Veranstaltung in Frankfurt am Main vorgestellt.

Es gehe also den Peacemans nicht ums Rechthaben, sondern um „den Himmel“, wenn sie mit islamistischen oder antisemitischen Positionen kokettieren oder sie aktiv befördern. Die CSU wie die AfD würden beim Thema Zuwanderung auf den Zentralrat der Juden verweisen, so Peaceman, deren ganzer Ansatz, den ZdJ zu diffamieren, sich dadurch blamiert, dass Schuster wie zitiert namentlich die AfD nicht zu den Gedenkfeierlichkeiten am 9. November einlud. Sie fabuliert:

„Zeitgleich und immer wieder positioniert sich der ZdJ öffentlich und intern-institutionell eindeutig gegen die AfD und ihre Vereinnahmung. Die Gleichzeitigkeit kann verwundern.“

Man könnte so eine innerjüdische Kritik sogar dann ernst nehmen –

(ich selbst kritisiere in meiner Studie „Der Komplex Antisemitismus“ (Berlin 2018, 763 Seiten) den Zentralrat z.B. für das Zur-Verfügung-Stellen von Räumlichkeiten für eine äußerst problematische Konferenz von „Scholars for Peace in the Middle East (SPME), German Section“ im Januar 2018, wobei auch Leute teilnahmen, die zuvor dadurch aufgefallen waren, dass sie (wie Alexander Grau) die rechtsextremen Randale um Götz Kubitschek und die Identitäre Bewegung auf der Frankfurter Buchmesse 2017 verharmlost, wenn nicht mit ihnen kokettiert hatten) –

, wenn denn Peaceman nach rechts offene Positionen des Zentralrats (die es geben mag) kritisiert, aber nicht zeitgleich mit den Islamismus wie Antisemitismus befördernden oder ihn trivialisierenden muslimischen Autor*innen kooperieren würde.

So jedoch ist das alles Heuchelei und Geschwätz. Das mag zu Habermas passen, der zwar gegen Antisemitismus und die AfD ist, aber kein Problem hatte mit der jüdischen Anti-Israel-Hetzerin Judith Butler auf einem Podium zu sitzen in New York City (siehe dazu mein Buch „Kritische Theorie und Israel“ von 2014).

Es geht um eine „strategische Identitätspolitik“, wie Tobias Herzberg unterstreicht. Es geht um die muslimischen Referenzen in dem Band, so etwa um Kübra Gümüsay, die nicht nur für obsessives Kopftuchtragen steht, sondern meint, es gebe keine Alternative zur AKP in der Türkei. Herzberg zitiert sie mit der Aufforderung, „Liebe zu organisieren“.

In Heft 4 von Jalta ist dann Gümüsay gar Autorin von Jalta, es wächst zusammen, was zusammengehört. Angesichts der Großdemo #unteilbar im Oktober 2018 schrieb die Jungle World über die Mitaufruferin Gümüsay:

„Es gibt unter den Erstunterzeichnern noch weitere Gruppen und Personen, die Verbindungen in antidemokratische, autoritäre, frauenfeindliche und antisemitische Milieus haben. Die Autorin Kübra Gümüşay, ebenfalls Erstunterzeichnerin, trat 2016 auf einer Veranstaltung der Organisation Milli Görüş auf. Bei Milli Görüş handelt es sich um eine türkisch-islamistische Organi­sation, der bereits gerichtlich Gegnerschaft zur bürgerlich-demokratischen Ordnung und ein antisemitischer ­Charakter bescheinigt wurden. 2013 bekundete Gümüşay auf Twitter Zustimmung zur autoritären und antidemokratischen türkischen Regierungspartei AKP: ‚Ich sehe zurzeit keine Alternative zur AKP in der Türkei.‘“

Das sind also die Autorinnen und Kooperationspartnerinnen der jüdischen Zeitschrift Jalta. Dabei ist der Antizionismus vieler jüdischen Autor*innen ja schon krass genug und Kern dieser Besprechung und Kritik.

Für Benjamin Fischer ist Deutschland „das spannendste Projekt für die jüdische Gemeinschaft in Europa“, was exemplarisch steht für den ganzen Band. Der enorme Anstieg (quantitativ und qualitativ) von Antisemitismus in den letzten Jahren wird einfach entwirklicht: Dazu gehören namentlich die zweite Intifada im Herbst 2000, 9/11, die Hetze gegen die Beschneidung (Brit Mila) – angesichts einer Landgerichtsurteils aus Köln – von der FAZ über die Hauspostille Bahamas bis zur Giordano Bruno Stiftung im Jahr 2002, die Mavi Marmara Aktion 2010, der Krieg Israels gegen die Hamas 2014 sowie die jihadistischen Massaker in Frankreich 2015 und andernorts wie auch deren Nachwirkungen in Deutschland.

Auch Frederek Musalls Text, der den HipHop vorstellt und für ELES in Stellung bringt, ist von dem überall hörbaren Schweigen über einen Skandal im Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk überlagert.

In dem Band wird nämlich mit keinem Wort erwähnt, dass eine ELES-Stipendiatin, Stavit Sinai, als Störerin einer Veranstaltung mit einer Holocaustüberlebenden und einer israelischen Politikerin im Juni 2017 an der Humboldt-Universität Berlin beteiligt war. Die drei Hetzer*innen publizierten danach eine Selbstbezichtigung, die im Netz steht. Darin verwenden die Autor*innen den Begriff „crimes against humanity“ bezüglich Israel. Das ist Antisemitismus, eine Verharmlosung der Shoah und eine Diffamierung, Dämonisierung und Delegitimierung Israels (die drei D’s zur Kennzeichnung von heutigem Antisemitismus bezüglich Israel). Die Uni erstattete Anzeige und der Berliner Verfassungsschutz berichtete über die antijüdische Aktion:

„Bereits im Juni [2017] war die Veranstaltung einer Holocaust-Überlebenden an der Humboldt-Universität mit anti-israelischen Sprechchören massiv gestört worden. Für die beiden letztgenannten Vorfälle zeichnete die so genannte BDS-Kampagne verantwortlich. BDS steht für ‚Boycott, Divestment and Sanctions‘ und zielt auf eine kulturelle, wirtschaftliche und politische Isolation Israels ab. Die BDS-Kampagne, bei der es sich nicht um eine einheitliche Bewegung handelt, war bislang vor allem im englischsprachigen Raum aktiv. Mit ihren Forderungen nach einem uneingeschränkten Rückkehrrecht für Palästinenser und der Gleichsetzung Israels mit dem südafrikanischen Apartheid-Regime, stellen Teile von BDS das Existenzrecht Israels in Frage und unterstellen Israel in Gänze eine rassistische Prägung.“

Sinai ist als Unterstützerin der antisemitischen Boykottbewegung gegen Israel (Boycott Divestment Sanctions, BDS) bekannt, was man auch in einer BDS Resolution gegen die Uni Wien von November 2018 sehen kann.

2012 war Stavit Sinai offenkundig an einer brutalen Aktion gegen den Jüdischen Nationalfonds (JNF, Jewish National Fund) beteiligt, als sie mit einer ganzen Gruppe von Antisemiten gegen diese zionistische Einrichtung vorging, wie man auf einem Video wie einer Selbstbezichtigung (auf Hebräisch) sehen bzw. nachlesen kann.

Sinai war Doktorandin an der Uni Konstanz in Geschichte und Soziologie und ist jetzt Dr. des. (Doktor designatus, d.h. sie hat ihre Arbeit noch nicht publiziert, was in der BRD notwendig ist, um den Doktortitel zu tragen). Sie war ELES-Stipendiatin und „Assoziierte“ am Selma Stern Zentrum sowie Assoziiertes Mitglied am Kollegium des Zentrums Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Dem Direktorium des Selma Stern Zentrums – Dr. Anne-Margarete Brenker, dauerhafte Vertretung von Rabbiner Prof. Walter Homolka, PhD, PhD, DHL; Prof. Dr. Liliana Ruth Feierstein, Sprecherin (2018/19); Rabbiner Prof. Walter Homolka PhD, PhD, DHL; Prof. Dr. Rainer Kampling, Stellvertretender Sprecher (2018/19); Prof. Dr. Sina Rauschenbach; Prof. Dr. Julius H. Schoeps; Prof. Dr. Kerstin Schoor; Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum; Dr. Werner Treß, dauerhafte Vertretung für Prof. Dr. Julius H. Schoeps – haben diese antijüdischen Aktivitäten Sinais offenkundig nichts ausgemacht. Es sind keine Stellungnahmen gegen Sinai bekannt. Warum auch? Warum sollte es sich von BDS und Sinai distanzieren, wenn diese doch von ELES finanziert wurde und somit koscher sei?

Viele Juden heulen natürlich sofort und lautstark auf, wenn vom jüdischen Antisemitismus gesprochen wird, wobei mehrere in diesem Direktorium gar keine Juden sind, by the way. Aber jene jüdischen „Forscher*innen“, die mit Sinai kooperieren und kooperierten, die sind zu problematisieren, solange sie sich nicht von so einer ausgesprochen aggressiven Person distanzieren, die sich ganz offensiv mit Erklärungen hinter ihren Israelhass stellt. Es geht hier – noch einmal, für die Ignoranten und Langsamblicker*innen – nicht um die berechtigte Kritik an der Politik eines Staates (so wie wir ja alle auch Neuseelandkritiker sind, gell), sondern um den Kern Israels: den Zionismus. Der wird von BDS und Stavit Siani genauso abgelehnt wie von Selma James und ihren antisemitischen (häufig: migrantischen) Freundinnen im deutschen unkritischen Feminismus (es gibt auch radikalen Feminismus, der gegen jeden Antisemitismus ist, worauf Merle Stöver hinweist).

Schließlich ist da in dem hier in Frage stehenden Sammelband der Text des „Gesamtsprechers“ der Stipendiat*innen von ELES, Yan Wissmann, der 2013 von Brasilien nach Deutschland kam. Für Wissmann waren Juden „im Ersten Weltkrieg bis zu den hervorragenden Leistungen in der Weimarer Republik“ in der „deutsch-nationalen Geschichte bis zum Zweiten Weltkrieg immer präsent und übernahmen, soweit es ging, eine mitgestaltende Rolle“. Die drei Herausgeber, der Verlag und ELES haben das nicht weglektoriert, sondern gedruckt. Jüdischer Geschichtsrevisionismus?

Wenig später schreibt Wissmann, „die 600.000 Juden, die in Deutschland gelebt haben“ (wann, lässt er im Dunkel, meint er das Jahr 1933? Da waren es ca. 500.000), hätten „nach der Auswanderung“ viel Gutes für jüdische Gemeinden geleistet. Möchte er damit sagen, alle 1933/39 in Deutschland lebenden Juden seien ausgewandert? Selbst wenn er damit auch jene Juden meint, die vor 1933 emigrierten, ist das eine perfide Zahl, weil sie die 160.000 deutschen Juden, die in der Shoah ermordet wurden, einfach verleugnet und in der „Auswanderung“ nach 1933 etwas Gutes sieht.

Fazit: Das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) promotet sich als offen, liberal und tolerant, aber schweigt zu einer aggressiven Anti-Israel und BDS-Aktivistin. ELES ist gerade Teil des Problems, wenn es um den Kampf gegen Antisemitismus, für die Erinnerung an die Shoah als präzedenzlosem Verbrechen und für die Sicherheit von Juden geht. Deutschland hat Kritik verdient und kein Rumgeschmuse von identitätsbesoffenen („Hauptsache Schnaps“, so Carmen Reichert) jungdeutschen Juden.

 

Der Rezensent ist Politikwissenschaftler, Direktor des Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA), war von 2002 bis 2005 Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) und hat 2002 den antizionistischen Antisemitismus eines migrantischen HBS-Stipendiaten skandalisiert.

 

[i] Vgl. Clemens Heni (2018): Postpubertärer Realitätsverlust oder: Warum sind die neu-deutschen Juden wie Max Czollek so beliebt?, 10. Dezember, https://www.clemensheni.net/postpubertaerer-realitaetsverlust-oder-warum-sind-die-neu-deutschen-juden-wie-max-czollek-so-beliebt/.

©ClemensHeni

Ließ sich Hitler im Alter von 6 Jahren in Paris zu „Mein Kampf“ inspirieren? Warum die Gruppe „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ ein Friedenshindernis ist

Von Dr. Clemens Heni, 5. März 2019

Die Stadt Göttingen, die Universität Göttingen und die Sparkasse Göttingen haben sich entschieden und werden der Verleihung des sog. Göttinger Friedenspreises 2019 am Samstag, den 9. März 2019 an die Gruppe „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ fernbleiben. Das ist gut so, auch wenn es eine Redakteurin des Tagesspiegel, Andrea Dernbach, anders sieht und eher ein Problem mit der Kritik am Antisemitismus zu haben scheint, denn mit der neuen Form des Antisemitismus via „Rückkehrrecht der Palästinenser“, denn das ist ein Kernpunkt der BDS-Bewegung, der die Preisträger nahe stehen.

Frieden ist ein großes Wort und wäre in Nahost gleichwohl ein Traum. Als Politikwissenschaftler und Aktivist habe ich z.B. 2007 die Nichtregierungsorganisation „Scholars for Peace in the Middle East (SPME)“ in Berlin mitgegründet. 2017 hat mich der Vorstand mit einstimmigem Beschluss ausgeschlossen, weil ich es gewagt hatte, die Unterstützung von SPME in USA für den Sexisten, Rassisten, Nationalisten und Antisemiten Donald J. Trump, den 45. Präsidenten der USA, zu kritisieren.

Die Boykottbewegung BDS gegen Israel möchte Israel nicht nur isolieren und einseitig verantwortlich machen, sondern vor allem auch das angebliche Rückkehrrecht der 1948 vertriebenen Palästinenser durchsetzen. Dabei handelt es sich um mittlerweile über 5 Millionen Menschen, die in völlig grotesker Weise als „Flüchtlinge“ rubriziert werden und gar eine eigene exklusive UN-Einrichtung für sich haben, die UNRWA.

Die deutsche Sektion der Juden für gerechten Frieden in Nahost ist Mitglied der „European Jews for a Just Peace“. Dort ist auch die französische Gruppe Mitglied („Union Juive Francaise pour la Paix“), die am 25. Februar 2019 nochmal deutlich machte, dass all die harmlosen Worte dieser ach-so-friedlichen-Juden, die angeblich Israel anerkennen und nur einen Staat Palästina Seite an Seite mit dem Israel von 1967 haben wollen, Makulatur sind oder schlicht Propaganda für die Dernbachs oder Brumliks dieser Welt: Denn die Mitglieder der französischen Sektion sagen klipp und klar, dass sie „Antizionisten“ sind und somit den Anspruch der Juden auf einen jüdischen Staat ablehnen. In der Erklärung wird einzig und allein Israel für den Nahostkonflikt verantwortlich gemacht. So wichtig es ist, die Besatzung des Westjordanlandes zu kritisieren, so falsch und verräterisch ist es, dabei den Judenhass der Araber, Islamisten und Palästinenser nicht einmal en passant zu erwähnen.

Ein Unterstützen der BDS-Bewegung sowie aktives Kooperieren durch die Gruppe „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ (wie es hier oder hier von ihnen selbst erklärt wird) ist antisemitisch, weil es nicht nur einseitig Schuld sucht und sie bei den Zionisten findet, aber nie bei den Jihadisten oder säkularen palästinensischen Judenfeinden, sondern auch, wie die Amsterdamer Erklärung von 2002 verdeutlich, mit dem Rückkehrrecht der Vertriebenen von 1948 kokettiert, ja es einfordert („the recognition by Israel of its part in the creation of the Palestinian refugee problem. Israel should recognise in principle the Palestinian right to return as a human right.”).

Floskeln, diese „Rückkehr“, die ja für fast alle gar keine Rückkehr wäre, da nur noch wenige Zehntausend tatsächlich 1948 vertriebenen (oder aus eigenen Stücken gegangen) Palästinenser*innen leben, dürfe „Israels Existenz“ nicht bedrohen, sind so wertvoll wie eine Debatte mit der AfD über Vielfalt, Demokratie und die Erinnerung an den Nationalsozialismus.

Viele Menschen, die sich einen Friedensvertrag aller arabischen Staaten mit Israel, ein Ende des islamistischen Terror- und Willkürregimes von Erdogan und der AKP in der Türkei sowie das Ende des Islamischen Republik Iran wünschen, hoffen zudem, dass Benjamin Netanyahu die kommende Wahl in Israel verliert und endlich ein wenigstens nicht rechtsextremes, ja liberales bis linksliberales (wenn auch ganz sicher nicht linkes) Koalitionsbündnis die Nachfolge antritt.

Nationalismus wie die Kooperation mit europäischen Rechtsextremisten und Holocaustrevisionisten durch die aktuelle israelische Regierung (mit der Ukraine, Litauen, Polen, Ungarn) werden in Israel, aber auch von vielen Juden in USA und Europa scharf kritisiert. Allerdings gibt es in Deutschland eine völlig realitätsferne und selbst ernannte Pro-Israel-Szene, die de facto Juden und Israel schadet, da sie extrem rechts agiert und nur nachplappert, was Netanyahu von sich gibt und linkszionistische Stimmen seit Jahren gezielt negiert und totschweigt. Das gilt auch für Einpunktbewegungen wie „Stop the Bomb“, die sich von Trump viel verspricht und in ihm nicht die größte innere Gefahr für die westliche Welt sieht, die er darstellt. Dass der Sexismus und anti-hispanische Rassismus von Trump sie nicht anwidert, verwundert nicht. Wer sich gegen den Verschleierungszwang im Iran wendet, aber Trump nicht wegen dessen „grab her by the pussy“-Sexismus attackiert, hat gar nichts kapiert und heuchelt auf unerträgliche Weise.

Wer jedoch auf der anderen, der vorgeblich guten Seite steht wie Micha Brumlik und nun in der taz die Kritiker*innen des Antisemitismus und der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden“ diffamiert und dann auch noch zusammen mit einer Person wie Jacqueline Rose (und dutzenden weiteren problematischen, den Antisemitismus diminuierenden oder fördernden Personen) Erklärungen zur Unterstützung der Juden für einen gerechten Frieden in Nahost unterschreibt, hat jegliche Seriosität, jede Wissenschaftlichkeit, jede politische Reputation verloren und kann nicht mehr ernstgenommen werden.

Denn was schreibt Rose in ihrem Buch „The Question of Zion“? Zitat:

„It was only when Wagner was not playing at the Paris opera that he [Herzl, CH] had any doubts as to the truth of his ideas. (According to one story it was the same Paris performance of Wagner, when – without knowledge or foreknowledge of each other – they were both present on the same evening, that inspired Herzl to write Der Judenstaat, and Hitler Mein Kampf)“.

Das ist nicht irgendwie eine Meinung von Rose, das ist Fanatismus und Unwissenschaftlichkeit in Potenz. Hitler habe sich also im Alter von 6 Jahren zu „Mein Kampf“ inspirieren lassen. Dass so etwas gelesen, lektoriert und gedruckt wurde, hätte das Ende des Verlags Princeton University Press bedeuten müssen – dass es das nicht tat, zeigt wie desolat „Forschung“ heute funktioniert. Dass eine Person wie Jacqueline Rose, die diesen wirklichen Schwachsinn, der nichts als antisemitisch motiviert ist – nämlich Herzl und den Zionismus mit dem größten Verbrecher der Geschichte der Menschheit in direkte Verbindung zu bringen – so formuliert hat, von einem Mann wie Brumlik (oder anderen Unterzeichnern wie Moshe Zuckermann und Moshe Zimmermann) goutiert wird, ist bezeichnend. Es ist ja keine offene Liste von Zehntausenden Namen, wo man nie weiß, was für ein Schwachkopf sich darunter mischt.

Nein, es ist eine ausgewählte Liste eines Offenen Briefes von über 90 Leuten, die alle wissen, wer Jacqueline Rose ist. („In einem offenen Brief verurteilen mehr als 90 namhafte jüdische Wissenschaftler und Intellektuelle, darunter Noam Chomsky, Eva Illouz, Alfred Grosser, Moshe Zimmermann, Judith Butler und Micha Brumlik, die Anfeindungen gegen unseren Verein und rufen die deutsche Zivilgesellschaft auf, die freie Meinungsäußerung jener zu gewährleisten, die sich gegen die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung wenden.)“

Der arabische und islamistische Antisemitismus sind eine enorme Gefahr für Juden und Israel. Die nationalistische Politik von Netanyahu hingegen ist auch problematisch und für die politische Kultur in Israel eine sehr große Belastung. Seine Kooperation mit der rassistischen Partei Otzma Yehudit, die in der Tradition der rassistischen Terrorpartei Meir Kahanes steht (die in Israel verboten wurde), ist skandalös, worauf jüngst u.a. der bekannte zionistische Publizist Yossi Klein Halevi hinwies und in scharfen Tönen Netanyahu beschuldigt, den Namen Israels durch sein Kollaborieren mit Otzma Yehudit beschmutzt zu haben.

Das Beispiel der „Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ zeigt, dass ein wachsamer Blick und Kritik an israelischen Politikern oder Parteien berechtigt ist. Doch an solcher Kritik ist die ‚Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost‘ gar nicht interessiert. Sie streitet mit ihrer Unterstützung der BDS-Bewegung an der Seite einer Organisation, die sich den Beifall der Hamas („We salute and support the influential BDS Movement“) bestimmt nicht durch ihren Einsatz für eine Zwei-Staaten-Lösung verdient hat.

Auch die palästinensische Terroristin und Ikone Leyla Khaled findet in ihrem noch weitergehenderen Kampf gegen den jüdischen und demokratischen Staat Israel BDS sehr hilfreich. Brumlik wird sagen, das seien alles Zufälle und nichts habe mit nichts zu tun, wer solche inhaltlichen Überschneidungen anspreche, sei ein Faschist oder McCarthy-Antikommunist.

Linke oder linksradikale Kritik an diesen „Jüdischen Stimmen“ entwirklicht nicht nur er. Honni soit qui mal y pense.

©ClemensHeni

Aufrechter Gang und deutscher Wald

Von Clemens Heni

Vorab

„Aufrechter Gang“ und „Wald“ ist mein Thema. Aufrechter Gang etwas allgemeiner, Wald spezieller, als deutscher Wald. Daß Wald als deutsch konnotiert wurde und wird und daß dies bestimmte politische Konsequenzen mit sich brachte bzw. bringt, soll erörtert werden. Ich versuche zu zeigen, daß es wohl nicht als beliebig oder rein zufällig der Wald ist, der als spezifisch deutsch „besetzt“ sein soll und eben nicht das Meer oder die Heide.

I Aufklärung

„Jene Speichellecker mit knechtischem Sinn machen also die Natur zu Schanden, welche nach Freiheit strebt.“ (In: Warneken 1990a: 39) In diesem Satz Carl von Nicolais von 1818, der hier, naturrechtlich begründet in dem nämlichen Sinn, daß Freiheitsstreben als quasi natürliches Anthropologicum gedacht wird, auf kultureller Ebene dem aufrechten Gang das Wort redet, kommt treffend zum Ausdruck, daß der ‚Gehdiskurs‘ eine kulturelle Variante des Aufklärungsdiskurses darstellt.

Das große Aufbegehren der bürgerlichen Klasse nach politischer Macht und wirtschaftlicher Unabhängigkeit, das in der Französischen Revolution von 1789 kulminierte, fand im kulturellen Habitus des Aufrechtgehens seinen Widerhall. Nicht knechtisch, demütig, gebückt, vor Ehrfurcht den Hut ziehend, nein stolz und selbstbewußt soll fortan durch die Straßen der Städte gegangen werden. Rangunterschiede sollten auch auf der Straße nicht mehr zu Tage treten. Selbst adlige und bürgerliche Frauen konnten in dieser Zeit allein auf die Straße, weil sie unbequeme, einen selbständigen Schritt unterdrückenden Schuhe u.a. gegen praktischere Männerschuhe bzw. neu entwickelte Damenschuhe ersetzten. Jedoch hatten diese Frauen ihren Blick nach unten zu richten, um die „Kraft, Mut und Unverzagtheit“ (Warneken 1989: 486) symbolisierende Ganghaltung ihrer Männer als spezifisch männliche, nicht anzutasten.

II. Die Eiche. Deutsch

„Der Eichbaum wurde zum Sinnbild eines jeden Mannes, der sich nach Freiheit, Einheit und Stärke sehnt.“ (Hürlimann 1987: 63) So heißt es in Anlehnung an Friedrich Gottlob Klopstock (1724–1803), der als „erster die Eiche mit dem vaterländischen Gedanken in Verbindung brachte“ (Ebd.: 62): „Alle … waren voll gesunden Lebens, wie eine Versammlung der Bürger einer großen Republik standen sie da, alle voll Selbstgefühls und eigenen Sinnes, doch nur eine Absicht“. (In: ebd., 63) Der Romantiker Clemens Brentano verstand diese Worte 1802 in republikanischer Absicht. Jedoch: „Gegen Spätaufklärung und Rationalismus (…) knüpft die Romantik an die mystische Frömmigkeit des Pietismus (…) an“ (Kabisch 1985: 19) Ging es im aufklärerischen Sinne um das Hinterfragen und kritische Reflektieren, so scheint mir hier mystische Verklärung, als lyrisches Mittel zugegebenermaßen, am Werk zu sein. So geht es bei Brentano hier auch nicht um Menschen, denn seine Bürger sind alle groß und geradlinig: er spricht von Eichen. Das sogenannte Heilige Römische Reich war 1806 endgültig zusammengebrochen. Napoleon hatte gesiegt.

Aber: „Alles Große muß im Tod bestehen. Und ihr habt bestanden. Unter allen grünt ihr frisch und kühn mit starkem Mut (…) Schönes Bild von alter deutscher Treue.“ (In ebd.: 64) Diesmal ist es offensichtlich, Theodor Körner (1791–1813) meint die Eichen, die Mut, Kühnheit, Treue und Beständigkeit verkörperten. „Wachse Du Freiheit der deutschen Eichen, wachse empor über unsere Leiden“ (ebd.) stand es auch sinnig auf Körners Grabstein. „Die Eiche, der charakterstarke reckenhafte Baum aus alten Zeiten, war ihr Vorbild, ihr Seelenbaum, Gefährte all derer, die opferbereit und gotterfüllt den heiligen Kampf fürs Vaterland aufnahmen.“ (Ebd.) Wenn etwas gotterfüllt, heilig, nebulös vaterländisch genannt wird, wird nicht mehr reflektiert, dann werden mystische Einheiten konstruiert, die als ‚natürliche‘ kulturelle Werte ausgegeben werden. Wo also schlägt der emanzipative Gehalt des aufrechten Gangs der Aufklärungszeit um in die 30–40 Meter hohe Einbahnstraße der ‚deutschen Eiche‘? Oder treffen sie symbiotisch zusammen, zu einer festen, gar schlagenden Verbindung? Wo bleibt dann Aufklärung?

III „Preußische Kinderstube“

„Im Frühjahr 1911 stirbt Daniel Paul Schreber, während eines dritten Aufenthalts im Irrenhaus. (…) „Die Haltung und der Gang sind starr, die Bewegungen steif und eckig“, überliefern die Krankenblätter, „Patient ist einigen Stunden außer Bett, sitzt dann in derselben Haltung ½ bis 1 Stunde starr da, um plötzlich mit eckigen Bewegungen sich zu erheben und im Zimmer auf und ab zu gehen.“ (Langenbach 1988: 12)

Daniel Paul Schreber war der Sohn von Daniel Gottlob Moritz Schreber, von Beruf Orthopäde und ärztlicher Pädagoge. Dessen Bücher erhielten große Resonanz, sein Hauptwerk „Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit durch naturgetreue und gleichmäßige Förderung normaler Körperbildung, lebenstüchtiger Gesundheit und geistiger Veredelung und insbesondere durch möglichste Benutzung specieller Erziehungsmittel“ erzielte weit über 20 Auflagen (1858 ff.). Danach muß verhindert werden, daß die Schultern nach vorne fallen – Kopfhalter gegen das Herunterhängen oder gar Schiefhalten des Kopfes, Geradhalter am Tisch garantieren absolut aufrechte Haltung, desweiteren geht es ihm um „das feste und straffe Aufsetzen und Auswärtsstellen der Füsse“ (D.G.M. Schreber 1858: 198–209).

Ziel ist „… die edlen Keime der menschlichen Natur spriessen in ihrer Reinheit fast von selbst hervor, wenn die unedlen (das Unkraut) rechtzeitig verfolgt und ausgerottet werden“ (ebd.: 104). „Die Verneinung der Sexualität tötet bloß den körperlichen Menschen und ihn nur, um dem geistigen erst das volle Dasein zu geben.“ (In Langenbach 1988: 15) Weswegen Schreber auch das Festbinden der Kinder ans Bett empfiehlt, der präventiven Verhinderung etwaiger ‚Erregungen‘. Hier wird getötet, Schreber selbst erkennt dies und verteidigt es, nur weswegen?

Wie hat nun Daniel Paul Schreber selbst sein Aufwachsen, die Erziehungsmethoden seines Vaters empfunden? „‘Keine kleinste Bewegung!‘, lautete das oft gegen mich wiederholte Stichwort‘“, und er schließt daraus, „‘daß Gott mit lebenden Menschen (…) nicht umzugehen wußte, sondern nur den Verkehr mit Leichen (…) gewöhnt war.‘“ (Langenbach 1988: 14) Genau dieser Zusammenhang von aufrechtem Gehorsam und Tod werde ich weiter unter nochmal von anderer Seite beleuchten.

IV Wald als Heer

Nun stellt sich die Frage, was haben aufrechter Gang bzw. die Erziehung zu demselben, mit dem Wald zu tun? Wie sich die kulturelle Vermittlung von Natur, explizit des Waldes, äußern kann, soll am Beispiel des I. Weltkrieges gezeigt werden, denn: „Erst in der unmittelbaren Vorbereitung des Krieges wurde der Wald zu einem Inbegriff deutscher Art, die hartnäckig gegen westliche Zivilisation und die Gefahr aus dem Osten verteidigt werden mußte. Es bezeichnet den geistigen Zustand Deutschlands dieser Jahre, dass Ludwig Ganghofer, der Lieblingsschriftsteller des Kaisers, auch zum bevorzugten Kriegsberichterstatter avancierte…“ (Rothe 1987: 69). Jetzt war Standhaftigkeit gefordert! Helden brauchte das Land. Da jedoch die alten deutschen Helden, die Eichen, nicht schießen können, mußte die – männliche – Jugend ran. „Wohl durfte der eigentliche Zweck dieser Übungen, die Erziehung zur Wehrhaftigkeit, nicht laut werden; aber die jugendlichen Gemüter ahnten, wie Jahn sagt, verschwiegen, was sie zu erstreben berufen waren.“ (Meyers … 1908: 148) Gemeint sind die ‚körperlichen Fertigkeiten‘, die Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852), genannt Turnvater, seinen Schülern beibrachte.

100 Jahre später traf sich die deutsche Jugend zum XII deutschen Sportfest. „Das Treffen auf dem Hohen Meißner 1913 war der Höhepunkt dieser Bewegung unter der bürgerlichen deutschen Jugend. Man hatte diesen Berg ausgewählt, weil er in Deutschlands Mitte lag, aber auch weil in seiner Umgebung die Brüder Grimm nach Märchen gesucht hatten: er war der Berg eines Märchenwaldes. Bei diesem Treffen entschied sich unmißverständlich, daß der größte Teil der Versammelten bereit sei, wenn das Vaterland riefe.“ (Rothe 1987: 72, Herv. CH) Eine tolle Mischung: Die kraftstrotzende deutsche Turnerjugend, der sagenumwobene Ort des Märchenwaldes und der Nationalismus. „Eine Reihe engumschlungener Knaben wird von zwei päderastischen Übervätern vom Kampfplatz in die Stadt zurückgeführt; angesichts dieser innigen Harmonie von Jugendlichkeit und männlicher Autorität kein Wunder, daß die Bürger freudig ihre Zylinder schwenkten.“ (Rothe 1987: 72)

Hatte Theodor Körner knapp 100 Jahre zuvor noch enttäuscht feststellen müssen: „Deutsches Volk, du herrlichstes von allen, Deine Eichen stehn, Du bist gefallen!“ (Hürlimann 1987: 64), so steht jetzt auch das Volk stramm fürs Vaterland. „Denn nicht das Leben an sich, sondern ein reines, würdiges und ehrenhaftes Leben ist das Ziel des Strebens, für das, wenn es gälte, der edle Mensch das Leben selbst mit Freudigkeit opfern würde.“ (D.G.M. Schreber 1858: 289)

Und dieses Streben bzw. Sterben erfordert Gehorsam. Einen Gehorsam, wie ihn Friedrich Nicolai 1785 in seinem radikal-aufklärerischen, ja schönsten anarchistischen Sinn kritisiert hätte: „Wer noch nicht so weit ist, um zu wissen, daß die allgemeinen Kniebeugen und die militärischen Ehrenbezeugungen, (…) eigentlich der verderblichen Macht der Hierarchie zu Ehren geschehen; der ist noch sehr weit zurück.“ (In Warneken 1990: 40)

Doch der preußische Untertanengeist, der den Kindern auf erzieherischer Ebene mit D.G.M. Schreber entgegenschlug, hatte ganze Arbeit geleistet. Um aus der „Knetmasse Mensch“ in einem „Mortifikationsprozeß“ Soldaten zu machen (Planert 1990: 78) ist folgendes vonnöten: „‘Kadavergehorsam‘ heißt treffend der Terminus jener Technik, mit der das Militär seine Rekruten zunächst einmal selbst zu Leichen zurichtet, bevor es sie in den Krieg und andere Kadaver herstellen läßt“ (Langenbach 1988: 14).

Um eben diese verhängnisvolle Gemeinschaft von (diesem) aufrechten Gang und deutschem Wald geht es mir. Der königlich-preußische Forstmeister R. Düesberg hat dies in seinem 1910 erschienenen Buch „Der Wald als Erzieher“ vorgezeichnet: „Die Ordnung des Waldes und der Gesellschaft erinnerte ihn insbesondere an die des Heeres und er träumte bereits von der Erkämpfung neuen Siedlungslandes in den von der polnischen Bevölkerung durch zwangsweise Umsiedlung nach Südamerika menschenleer gemachten Land im Osten durch unsere junge Mannschaft.“ (Linse 1990: 343) Die ‚Ordnung‘ des Waldes politisch zu transformieren bzw. naturalistisch kurzzuschließen war eine deutsche Kulturleistung. „Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald.“

Elias Canetti gibt gleich noch, in komprimierter Form, die Gründe dieser vielleicht einzigartigen Symbiose von aufrechtem Gang und – deutschem – Wald an: „Seine Standhaftigkeit hat viel von derselben Tugend des Kriegers. Die Rinden, die einem erst wie Panzer erscheinen möchten, gleichen im Wald, wo so viele Bäume derselben Art beisammen sind, mehr den Uniformen einer Heeresabteilung. (…) Das Schroffe und Gerade der Bäume nahm er [der Deutsche] sich selber zur Regel (…) Im Wald standen schon die anderen bereit, die treu und wahr und aufrecht waren, wie er sein wollte, einer wie der andere, weil jeder gerade wächst, und doch ganz verschieden an Höhe und Stärke (…) In hundert Liedern und Gedichten nahm er sie auf und der Wald, der in ihnen vorkam, hieß oft – deutsch –.“ (Canetti 1960: 190 f.)

V „Abendland als Waldland“ (Francé 1943: 227)

Der populärwissenschaftliche Biologe Raoul H. Francé stellte dar, wie er sich den Wald vorstellt: „Ein Wald ist für uns Deutsche nicht ein beliebiges Stück Natur, sondern er ist jene Umwelt, ohne die wir auf die Dauer nicht leben möchten. Wohl gibt es menschliche Siedlungen in Steppen, ja sogar solche in Wüsten, man denke da nur an Kairo oder Mekka. Aber keine davon ist eine Wohnstätte unserer Rasse, und keine solche wurde von europäischer Kultur erbaut und erhalten. Wo wir Weiße uns angesiedelt haben in der Neuen Welt, in Afrika oder Australien, und Städte von europäischer Kultur eingerichtet haben, da fehlte nirgend ringsherum der Wald und sein Klima, ohne das namentlich der germanische Mensch nun einmal nicht leben mag“ (Ebd.: 225)

Das ist knallharte Verteidigung des Imperialismus, auch des von Europa ausgegangenen Öko-Imperialismus und Rassismus, denn: „Darum hängt die deutsche Seele so mit allen Fasern auch in ihrem deutschen Wald. Er ist ihre wahre geistige Heimat und der lebendige Zauberbrunnen, in dem sie sich immer wieder gesundbadet, wenn fremder Ungeist und ihrem Wesen zuwidere Verführung sie auf andere Bahnen lenken wollen. Was unser Geschlecht als Erneuerung des Reiches soeben erlebt ist nichts anderes, als wieder einmal das Abschütteln des Fremden und des Sich-wieder-Findens aus dem Geiste der Heimat und unseres Volkstums. Und so lange [ist] unser Volk auch gesund und zu jedem Aufstieg und jeder Erneuerung fähig“ (ebd.: 227 f.)

Seine Ideologie von „Volksgemeinschaft“, die biologistisch vom angeblichen Leben im Wald abgeleitet wurde, hatte Francé vor allem in seinem Buch „Ewiger Wald“ von 1922 dargelegt. Im Wald gibt es danach eine „Stufenleiter sozialer Organisation“. Dazu eine „Waldmoral“ und das bedeutet in letzter Konsequenz: „Jawohl, auch Krieg. Im richtigen Moment zuschlagen, denen, die Böses tun, das Lebenslicht ausblasen, seinen Nächsten nicht lieben, sondern prüfen, ob er es verdient, geliebt zu werden, Mitleid von dem Verstand abhängig machen, um einen Schädling unschädlich zu machen; alles das gehört auch zur Harmonie.“ (In Linse 1990: 344) Harmonie heißt kollektive Zwangsmoral. „Der Kampf gegen die ‚Ausländer‘ unter den Bäumen bildet ein eigenes Kapitel der deutschen Waldideologie!“ (ebd.).

VI Ewiger Wald

Schließlich kulminiert solche Volks- und Waldideologie im deutschen Faschismus. Unter Bezug auf Francés Buch ‚Ewiger Wald‘ wurde 1936 der gleichnamige Film uraufgeführt. Es geht um das Gleichnis der Ewigkeit von Wald und Volk, anhand von Tausenden Jahren Geschichte bis zum Nationalsozialismus. Hier nur einzelne Ausschnitte, die für sich sprechen: „Dass die Natur euch lehrt, im ‚Stirb‘ und im ‚Werde‘, Volk, dir, das sucht, kämpft und ringt, das unvergängliche Reich zu bauen, ist gewidmet dies Lied: Ewiger Wald, ewiges Volk, es lebt der Baum wie du und ich, er strebt zum Raum wie du und ich, sein ‚Stirb‘ und ‚Werde‘ webt die Zeit, Volk steht wie Wald in Ewigkeit.“ (In Linse 1993: 60) So wird auch der germanische Wald-Mythos des Entstehens der Menschen aus der Vereinigung von Esche und Ulme reproduziert und Analogien von gotischer Kunst, die immerzu dem Licht zu streben und dem ‚Waldesdom‘, der in Vollendung als in Reih und Glied gepflanztes Heer erscheint. (Vgl. Linse 1993: 61).

„Die Haltungserziehung im deutschen Faschismus“ (vgl. Warneken 1990c: 72) ist wohl das bislang Brutalste, was mit dem ‚Prinzip Aufrecht‘ gemacht wurde. Das geradezu militärische Wachen über die richtige, sprich „den Deutschen des III. Reichs würdige“ Haltung ist Charakter-Kontrolle, und somit wurden im Alltag „faschistische Ideale – dynamischer, aufwärtsstrebender Habitus, ein die „reinrassig-nordische“ Herkunft symbolisierender Gang – von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung reproduziert.

Die Beziehung zum deutschen Wald kommt auch nicht zu kurz, sie ist geradezu Sinnbild: „Das im Faschismus oft bemühte Bild und Vorbild der Eiche ist ebenso erhebend wie bedrohlich: Sie beugt sich nicht und sie weicht nicht – sie kann es gar nicht, es bleibt ihr nur übrig, im letzten Sturm ihr Germanenschicksal mit Haltung zu ertragen.“ (Warneken 1990c: 73)

Kleiner Exkurs, speziell für dieses Seminar

Da ich selbst, wie die meisten von uns, gern im Wald bin, in welcher Form auch immer, möchte ich aufgrund dieser irgendwie affirmativen Beziehung zu Wäldern ungern mit jenem Mann in einen Topf geworfen werden, der auch oft in den Wald ging, der aber vielmehr selbst als ‚inkarnierter Holzweg‘ charakterisiert werden kann: „Wenn in tiefer Winternacht ein wilder Schneesturm mit seinen Stößen um die Hütte rast und alles verhängt und verhüllt, dann ist die hohe Zeit der Philosophie. Ihr Fragen muß dann einfach und wesentlich werden … Neulich [1933] bekam ich den zweiten Ruf an die Universität Berlin. Bei einer solchen Gelegenheit ziehe ich mich aus der Stadt auf die Hütte zurück. Ich höre, was die Berge und Wälder und Bauernhöfe sagen. Ich komme dabei zu meinem alten Freund, einem fünfundsiebzigen Bauern… er schiebt langsam den sicheren Blick seiner klaren Augen in den meinen, hält den Mund straff geschlossen, liegt mir seine treuebedächtige Hand auf die Schulter und – schüttelt kaum merklich den Kopf. Das will sagen: unerbittlich Nein.“ (Heidegger, in: Groepler 1988: 58)

„Verwurzelt wie Bäume, sangen die Nazis, verteidigen Soldaten die Heimat.“ (Graf/Graf 1987: 79) Unerbittlich. Martin Heidegger (1889–1976) wurde Parteigenosse der NSDAP, Nummer 312 589, Gau Baden. Über seine „verwurzelte“ Philosophie schreibt einer, der als linksradikaler ‚Gelegenheitsphilosoph‘ (Anders über Anders) von rechts und links gleichermaßen links liegen gelassen wurde, einer der 1933 als Jude aus Deutschland fliehen mußte, während Heidegger sich im Breisgau den metaphysischen Tiefen seiner Schneesturmphilosophie widmete, Günther Anders sagt: „Wie eng wirkt Heideggers Bodenstämmigkeit! (…) Und wie charakteristisch, daß gerade er, der Nichtglobale, auf den stursten Nationalismus, auf den Hitlers, hereingefallen ist.“ (Anders 1982: 319)

Was bleibt? Antifa statt romantische Waldideologie und ARD-Kuschelstunden mit der Neuen Rechten

Oben stehender Text war eine Grundseminarsarbeit, ein Referat von mir in Empirische Kulturwissenschaft (EKW) an der Uni Tübingen vom 16. Februar 1994 im Wintersemester 1993/94 bei „Professor Doktor Konrad Köstlin“. Damals natürlich mit einer Schreibmaschine (wahlweise einer ca. 20kg schweren Adler oder einer leichteren Reiseschreibmaschine) getippt, nun für die Publikation mit dem Computer abgeschrieben.

Natürlich war das nur die Arbeit eines 24jährigen Studenten, der noch vom „deutschen Faschismus“ sprach, wo „Nationalsozialismus“ treffender gewesen wäre oder der Heidegger im Anschluss an (einen der allerfrühesten Kritiker Heideggers) Günther Anders offenbar eher unterstellte, auf Hitler „hereingefallen“ zu sein, dabei war Heidegger ein glühender Antisemit schon lange vor 1933 und bevor Hitler irgendeine Rolle für die Nazis spielte.

Gleichwohl sind für die Politikwissenschaft, die Kulturwissenschaft wie die Pädagogik und die interessierte Öffentlichkeit womöglich Aspekte in diesem kurzen Referat, die auch 25 Jahre später noch von einiger Relevanz sind:

Angesichts der „Salonfähigkeit der Neuen Rechten“ seit vielen Jahren und dem Einzug einer rechtsextremen Partei in alle Landtage und den Bundestag sowie das Hofieren dieser neu-rechten Ideologeme durch das Fernsehen, namentlich durch das Einladen von antisemitischen Agitatoren wie Alexander Gauland, der das erinnerungsabwehrende und sekundär antisemitische Unwort vom „Vogelschiss“ für die Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust verwendet, in jede x-beliebige völkische Quasselstunde im gebührenfinanzierten oder privaten Fernsehen oder Rundfunk (die jeweils nur funktionieren, weil es Mittäter*innen gibt, die den Neuen Rechten zur Seite stehen und sie hoffähig machen, von Katja Kipping über Sahra Wagenknecht (Linkspartei) bis zu den neu-rechten Medien „Tichys Einblick“ oder der „Achse des Guten“), wird deutlich, wie wichtig eine Kritik an der deutschen Ideologie der Romantik, von Clemens Brentano und Theodor Körner bis Friedrich Ludwig Jahn ist.

Namentlich die Ausmerzungspädagogik und Unkrautvernichtungs-Datschen-Mentalität der Schrebergartendeutschen harrt weiter ihrer Kritik.

Die AfD wie Rüdiger Safranski sind stolz auf die deutsche Romantik und Heidegger, die deutschen Recken, den deutschen Wald und die deutsche Geschichte insgesamt. Da sich die deutsche Eiche wie die AfD nicht (ver)biegen, können sie nur fallen – oder müssen gefällt werden.

Doch solange Spiegel Online Fatzkes lieber „Nazis rein“ faseln (Jan Fleischhauer) oder Sandra Maischberger jeden demokratischen Anstand vermissen lässt und sich weder für ihre Mittäter*innenschaft im Promoten der AfD vor deren Einzug in den Deutschen Bundestag schämt, noch heutzutage klare Kante gegen die Neue Rechte zeigt, hingegen Alexander Gauland oder jede/n x-beliebige/n andere/n neu-rechte oder/und AfD-Agitator*in weiterhin einlädt und somit auch klammheimlich schreiend antifaschistische ZDF-Journalistinnen („Nazis raus!“) zum virtuellen Abschuss freigegeben werden, Antisemitismus weiter salonfähig gemacht wird und die Warnungen der Holocaustüberlebenden Charlotte Knobloch in den Wind geschlagen werden und am gleichen Tag (gestern) abends die AfD wieder in der ARD einem Millionenpublikum als ganz normale Partei präsentiert wird, ja solange zudem die Freundin des „Inneren Reichsparteitag“ im ZDF (Katrin Müller-Hohenstein) weiter ihren Job machen darf, solange wird die deutsche Eiche weiter gegossen und wächst in ungeahnte Höhen, wie wir es im 20. Jahrhundert schon einmal erlebt haben.

Zyniker werden wie immer gar nichts tun oder darauf warten, dass der Klimawandel der deutschen Eiche ohnehin den Garaus machen wird, aber die Neue Rechte, der Rassismus, der mörderische (heute namentlich: Austeritäts-) Kapitalismus des survival of the fittest, die patriarchale Gewaltgeilheit wie auch und vor allem der Antisemitismus im 21. Jahrhundert wie die vulgärste Erinnerungsabwehr via AfD (und nie zu vergessen: der Antizionismus des Iran und seiner sunnitischen wie postzionistischen, auch jüdischen Fans) können auch in der Wüste, der Steppe, in sibirischen Kälteregionen, im Regenwald oder natürlich im klimawandelresistenteren Birkenmischwald oder einem Stadtwald mit Küstentannen gedeihen, solange sich keine massive Antifa-Bewegung bildet, die ihr ein Ende bereitet.

Literatur

Anders, Günther (1982): Ketzereien, München: C.H. Beck

Burkhard, M. (1990): „Zur Geradheit verkrümmt“, in: Der aufrechte Gang, Tübingen: TVV, S. 53–60

Canetti, Elias (1960): Masse und Macht, Düsseldorf

Francé, Raoul H. (1943): Leben und Wunder des Deutschen Waldes, Berlin

Graf, V./Graf, W. (1987): Auf dem Waldlehrpfad, in Weyergraf, B. (Hg.), Waldungen, Berlin, S. 74–81

Groepler, E. (1988): Parteigenosse, in: Konkret 1/88, S. 56–58

Hacks, Peter (1989): Die Romantik von Reich und Rasse, in: Konkret 10/1989, S. 94–98

Hürlimann, A. (1987): Die Eiche, heiliger Baum deutscher Nation, in: Weyergraf, B. (Hg.), Waldungen, Berlin:, S. 62–68

Kabisch, E.M. (1985): Literaturgeschichte kurzgefasst, Stuttgart

Langenbach, Jürgen (1988): Preußische Kinderstube, in: Forvm (kulturelle Freiheit/Politische Gleichheit/Solidarische Arbeit), Wien, 35. Jg., Jan/Febr, S. 12–16

Linse, Ulrich (1990): Der Deutsche Wald als Kampfplatz politischer Ideen, in: Revue d’Allemagne 22, S. 339–350

— Ders. (1993): Der Film „Ewiger Wald“, in: Zeitschrift für Pädagogik, 31. Beiheft, S. 57–76

Meyers Großes Konversationslexikon, 6. Aufl., 10. Band, Leipzig/Wien 1908

Planert, Ute (1990): Wie man aus Menschen Soldaten macht, in: Der aufrechte Gang, Tübingen: TVV, S. 78–87

Rothe, F. (1987): Deutscher Wald um 1900, in: Weyergraf, Bernd (Hg.), Waldungen, Berlin, S. 69–73

Schreber, Daniel Gottlob Moritz (1858): Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit durch naturgetreue und gleichmäßige Förderung normaler Körperbildung, lebenstüchtiger Gesundheit und geistiger Veredelung und insbesondere durch möglichste Benutzung specieller Erziehungsmittel, Leipzig: Fleischer

Warneken, Bernd Jürgen (1989): Bürgerliche Gehhaltung in der Epoche der Französischen Revolution, in: Zeitschrift für Volkskunde, 85. Jg., S. 177–187

— Ders. (1990a): Bürgerliche Emanzipation und aufrechter Gang, in: Argument 179, S. 39–52

— Ders. (1990b): Biegsame Hofkunst und aufrechter Gang, in: Aufrechter Gang, Tübingen: TVV, S. 11–23

— Ders. (1990c): Rechtwinklig an Leib und Seele, in: Aufrechter Gang, Tübingen: TVV, S. 72–77

©ClemensHeni

Ein finnischer Fußballer mit Anstand, ein vulgärer Bayern-Star und eine lächelnde Professorin der FU Berlin in Teheran

Von Dr. phil. Clemens Heni, 9. Januar 2019

Im Januar 2019 weigert sich der finnische Fußball-Nationalspieler Riku Riski zu einem Trainingslager der finnischen Nationalmannschaft nach Katar zu fliegen. Das ist ein herausragendes, ja fast einzigartiges Beispiel für einen selbst denkenden Leistungssportler und für Kritik an einem menschenverachtenden Regime. Riski riskiert damit seine weitere Karriere in der Nationalmannschaft. Er zeigt Anstand und ist angewidert von den vielen Toten, die schon jetzt auf den unsäglichen Baustellen zur geplanten Fußball WM 2022 unter den Augen der fußballgeilen westlichen Welt in Katar zu beklagen sind. Von der Korruption in der FIFA, den TV-Werbeverträgen der kapitalistischen Welt, der Ignoranz der kulturindustriell verblödeten Massen zu sich zu-Tode-arbeitenden asiatischen Arbeitern in Katar ist es nur ein Mausklick.

Der Autor der Zeitung Freitag, Timo al-Faroog, ist ganz begeistert über kopftuchtragende Frauen in Schweden, wie er nach Ankunft eines Fluges mit dem „garantiert judenreinen Unternehmen Qatar Airways von Doha“ in Stockholm schrieb, wie das Blog tw24 sarkastisch kommentiert. Katar is also en vogue.

Es wundert daher nicht, dass dem FC Bayern München diese Baustellen-Toten nichts ausmachen und er auch dieses Jahr in der islamistischen, mörderischen BaustellenHölle von Katar sein Trainingslager bezieht. München hat auch einen Franck Ribéry, der zusammen mit seiner Frau einem Sohn den Namen „Saif al-Islam“ oder auf Deutsch „Schwert des Islam“ gab (was unter Kindesmisshandlung fallen sollte). Angesichts von Kritik an seinem Verzehr von einem goldblattverzierten Steak für 1200€ in einem Restaurant pöbelt er auf vulgärste Weise, betont auch hier seine fanatische muslimische Religiosität und zeigt auf unfassbare Art und Weise, was für Vergewaltigungsfantasien er hat (Ribéry schrieb auf Twitter auf Französisch, Übersetzung und Text von n-tv):

„‘Beginnen wir mit den Neidern und Hatern, die durch ein löchriges Kondom entstanden sein müssen: F**** eure Mütter, eure Großmütter und euren gesamten Stammbaum.‘ Er schulde den Menschen überhaupt nichts, schrieb er weiter und fügte an, dass er seinen Erfolg vor allem Gott, sich selbst und seinen Vertrauten, die an ihn geglaubt haben, zu verdanken habe“.

Der Bayern-„Star“ zeigt sich als Wiederholungstäter (vor Jahren hatte er mit einer minderjährigen Prostituierten Sex, in Frankreich darf er laut einem Gerichtsurteil als „Abschaum“ bezeichnet werden). Dass ein solcher Typ wöchentlich im Fernsehen zu sehen ist und weder die Fans des FC Bayern Anstand haben und seinen Rauswurf fordern mit hunderten Transparenten vor jedem Spiel, verwundert nicht und schockiert doch. Auch die ARD Sportschau oder das ZDF Sportstudio zeigen Bilder dieses Typen weiterhin einfach so.

Niemand hat den Anstand oder Mut, Auftritte von Franck Ribéry zu zensieren, weil Männer mit solchen Gewaltfantasien nichts in der Öffentlichkeit, schon gleich gar nicht im Massenmedium Fernsehen, im Internet oder im Stadion zu suchen haben.

Blick zurück in den Februar 2018. Anfang Februar 2018 erhielt die Professorin für Arabistik an der Freien Universität Berlin, Regula Forster, den Preis für das „Buch des Jahres“ der Islamischen Republik Iran. Die Tehran Times war ganz begeistert und zeigt die lachende verschleierte Forster und den schelmisch grinsenden Hasan Rouhani, den iranischen Präsidenten, der einen großen Coup gelandet hat.

Die Freie Universität war stolz wie selten und postete ein Bild der Preisübergabe auf der offiziellen Seite der FU Berlin auf Englisch und Deutsch.

Screenshot

Was sagt Amnesty International über den Iran 2017/18?

„Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen, wie häusliche Gewalt und Früh- und Zwangsverheiratungen, waren weit verbreitet und wurden nicht geahndet. Geschlechtsspezifische Gewalt war weiterhin nicht strafbar. Ein entsprechender Gesetzentwurf war seit 2012 anhängig. Das gesetzliche Heiratsalter für Mädchen lag nach wie vor bei 13 Jahren. Väter und Großväter konnten bei Gericht eine Erlaubnis einholen, wenn sie Mädchen noch früher verheiraten wollten.

Der Wächterrat ließ keine der 137 Frauen, die bei der Präsidentschaftswahl antreten wollten, für eine Kandidatur zu. Nach der Wahl berief Präsident Rohani keine Frau in sein Kabinett, trotz entsprechender Forderungen aus der Zivilgesellschaft.

Aufgrund des gesetzlichen Zwangs, ein Kopftuch (Hidschab) zu tragen, standen Frauen im Visier von Polizei und paramilitärischen Kräften. Sie wurden schikaniert und festgenommen, wenn Haarsträhnen unter ihrem Kopftuch hervorschauten, wenn sie stark geschminkt waren oder enganliegende Kleidung trugen. Frauen, die sich gegen die Kopftuchpflicht einsetzten, wurden Opfer staatlich unterstützter Verleumdungskampagnen.“

Es ist also wie ein Hohn auf die Frauen im Iran, wenn Regula Forster dort einen Preis empfängt. Mehr noch:

„Gerichte verhängten in zahlreichen Fällen Amputationsstrafen, die vom Obersten Gerichtshof bestätigt wurden. Im April amputierte man Hamid Moinee in Schiraz (Provinz Fars) eine Hand und richtete ihn zehn Tage später hin. Er war wegen Mordes und Raubes schuldig gesprochen worden. Es gab mindestens vier weitere Amputationen wegen Raubes. Die Behörden vollstreckten auch erniedrigende Strafen. So wurden im April 2017 drei Männer, denen Entführung und andere Straftaten vorgeworfen wurden, durch die Straßen von Dehloran (Provinz Ilam) getrieben. Ihre Hände waren gefesselt, und sie trugen Wasserkannen um den Hals, die zur Toilettenspülung benutzt wurden. Im Juli wurden acht Männer in Pakdasht (Provinz Teheran) auf ähnliche Weise gedemütigt. Im Mai 2017 verurteilte ein Strafgericht in der Hauptstadt Teheran eine Frau wegen einer außerehelichen Beziehung zu zwei Jahren Leichenwaschung und 74 Peitschenhieben. Der Mann wurde zu 99 Peitschenhieben verurteilt.“

2017 gab es über 507 Hinrichtungen im Iran. In Deutschland ist die Todesstrafe verpönt.

Was sagt Forster ihren Kindern, mit denen sie so peinlich wirbt auf der Seite der FU, so als ob es irgend eine Bedeutung hätte, ob eine Wissenschaftlerin oder Arabistin Kinder hat oder nicht? Da lacht also Regula Forster herzlich in Teheran und empfängt als Arabistin einen Preis des Iran. Auch der Antisemitismus von Rouhani stört sie demnach überhaupt nicht, denn Rouhani ist berüchtigt, Israel wiederholt als „Krebsgeschwür“ bezeichnet zu haben.

Es ist ein weiterer Tiefpunkt der Wissenschaft in der Bundesrepublik, dass eine führende Universität wie die FU Berlin die Verleihung eines Preises aus den blutbeschmierten Händen des Iran an eine Forscherin nicht nur hinnimmt, sondern feiert.

Auch jene Kolleginnen und Kollegen, die in der Habilitationskommission für das nun vom islamistischen Regime in Teheran gepriesene Buch saßen, haben sich meiner Kenntnis nach weder von Regula Forster noch ihrem skandalösen Auftritt bei Rouhani distanziert:

„Gudrun Krämer, Birgit Krawietz, Renate Jacobi, Gotthard Strohmaier, Almut-Barbara Renger, Uwe Puschner, Montserrat Rabadán, Victoria Mummelthei“.

Forsters Arbeit handelt vom „Dialog“ in arabischen Quellen zumal des Mittelalters – „Wissensvermittlung im Gespräch. Eine Studie zu klassisch-arabischen Dialogen“ (Leiden/Boston: Brill, 2017). Wie zynisch muss eine Forscherin sein, die ein autoritäres Regime, das gegen Dialog ist und zumal westliche Forschung diffamiert und höchstens als notwendig für den Bau einer Atombombe anwendet, hofiert?

Forster tut so, als sei sie für den Dialog, ob das nun die von ihr untersuchten arabischen Quellen hergeben, steht auf einem anderen Blatt. Doch so zu tun, als ob frau offen, tolerant, gar wissenschaftsfreundlich sei, und dann in ein hardcore antiintellektuelles, autoritär-faschistoides, religiös fanatisches, islamistisches, freie Wissenschaft bekämpfendes, frauenverachtendes, antisemitisches und den Dialog mit den Gegnerinnen und Gegnern des Jihad im Iran und außerhalb des Iran nicht nur nicht suchendes, sondern Kritiker*innen einsperrendes, folterndes und ermordendes Regime zu fahren und sich selbst zu verschleiern, also zu islamisieren – das ist an Zynismus und brutalem Verhalten schwerlich zu überbieten.

Aber das ist Mainstream an europäischen Universitäten, Regula Forster ist ja weiterhin völlig anerkannt – und das ist der Skandal. Was sagen die Studierenden an der FU dazu, jedenfalls jene Arabistik-Studierenden, die keine Islamist*innen sind? Was sagen Pädagogik-Studentinnen dazu, wenn sie wissen, dass Frauen im Iran nur unter Lebensgefahr ohne Schleier herumlaufen können?

Namentlich Gudrun Krämers pro-islamistische Ideologie habe ich am Beispiel ihrer Rezeption eines führenden sunnitischen Agitatoren, der besonders aggressiv antisemitisch ist, Yusuf Al-Qaradawi, schon vor Jahren analysiert und kritisiert.

Es wundert nicht, dass Forster, die auch an der Birzeit Universität im Westjordanland war (die keine Juden oder jüdische Israelis einstellt, nicht mal Kritiker*innen der Besatzung der Westbank) und offenkundig eine Nähe zu antiisraelischen Kaderschmieden sucht, keine Kritik erfährt, immerhin ist Krämer eine sehr bekannte, ebenfalls preisgekrönte Professorin der FU Berlin.

Was lernen wir daraus? Der finnische Fußballer Riku Riski ist geradezu ein Held, obwohl er doch nur das Allerselbstverständlichste getan hat: Er hat gezeigt, dass er Anstand hat und Menschenrechtsverletzungen nicht einfach so weglächelt. Er ist angewidert von den Hunderten Toten auf den Baustellen in Katar.

Er hat womöglich auch eine Distanz zur Ideologie eines islamistischen Landes wie Katar, wo Yusuf al-Qaradawi seit Jahrzehnten ungestört seine Hetze verbreiten konnte und kann und von deutschen Islamforscherinnen ganz entzückt als „Global Mufti“ und quasi Popstar gefeiert wird (vor Jahren dankte al-Qaradawi Hitler für den Holocaust; Bettina Gräf, eine Schülerin von Gudrun Krämer, hat kurz vor Weihnachten 2005 ihren Helden al-Qaradawi in Doha, der Hauptstadt Katars, getroffen).

Was ist ein Land wie der Iran wert, wo an keiner einzigen Universität in Philosophie, Pädagogik oder einem anderen geistes- oder sozialwissenschaftlichen Studienfach ein Kurs über „Nietzsches Kritik am Christentum, am deutschen Antisemitismus und an Theodor Fritsch[i] mit Bezug zur Kritik am Antisemitismus der Islamischen Republik Iran“ angeboten werden kann? Was hält Forster von der Freiheit der Wissenschaft? Warum hofiert sie ein Land, das diese Freiheit mit Füßen tritt?

Die wenigsten Wissenschaftler*innen oder Fußballer haben Anstand und würden ihre Karriere wegen der Kritik an einem menschenverachtenden Regime aufs Spiel setzen, Kritik üben und sich dissident verhalten. Riku Riski ist eine rühmliche Ausnahme.

 

[i] Siehe dazu Christian Niemeyer, „Auf die Schiffe, Ihr Philosophen!“ Friedrich Nietzsche und die Abgründe des Geistes (Freiburg: Karl Alber, erscheint Frühjahr 2019).

©ClemensHeni

Von Walser (1998) bis Özdemir (2018): Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Uni Tübingen, die „Rede des Jahres“, deutscher Antisemitismus und Nationalismus

Von Dr. Clemens Heni, 13. Dezember 2018

Der Autor war vom Sommersemester 1991 bis einschließlich dem Sommersemester 1996 Student an der Uni Tübingen (Philosophie, Geschichte, Empirische Kulturwissensschaft (EKW) und Politikwissenschaft) und wohnte u.a. im Annette Kade Wohnheim (sehr günstig auf 8,95 qm, plus 1qm Vorraum mit Waschbecken und einem weiteren Bücherzimmer mit 1qm), schräg gegenüber des Instituts für Politikwissenschaft, wo der alte Nazi (SS-Mann) Theodor Eschenburg noch ein Arbeitszimmer hatte. 1996 während der Goldhagen-Debatte meinte eine Kommilitonin, die „rote Uni Bremen“ sei doch wohl besser für ihn und für die Uni Tübingen sei das auch besser. Und so kam es 😉

 

Im Dezember 2018 gab eine Jury des Seminars für Allgemeine Rhetorik der Eberhard Karls Universität Tübingen bekannt, dass die von ihr verliehene Auszeichnung für die „Rede des Jahres“ 2018 an den Politiker Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) geht.[i] Seine Rede im Bundestag am 22. Februar 2018 habe sich mit „ciceronianischer Wucht“ gegen die Alternative für Deutschland (AfD) und deren Agitation im Bundestag gewandt.

Doch Özdemir hat in dieser Rede gerade nicht nur die Neuen Rechten oder die neuen Nazis im Bundestag attackiert, sondern vor allem selbst massiv nationalistische und verschwörungsmythische Topoi gesetzt. Das hatte ich als Teil eines längeren Textes am 7. März 2018 analysiert, unten gebe ich jenen Abschnitt des Textes wieder, der sich mit Özdemir befasst.

Übrigens wird diese anmaßende Auszeichnung einer „Rede des Jahres“ seit 20 Jahren verliehen. Erster Preisträger war Martin Walser mit seiner berüchtigten Paulskirchenrede, die als eine der antisemitischsten Reden in die Geschichte der Bundesrepublik einging.[ii]

Die Jury (Prof. Dr. Gert Ueding) sagte damals über Walsers Rede:

Zur „Rede des Jahres 1998“ hat das Institut für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen Martin Walsers Frankfurter Friedenspreisrede gewählt, weil sie in der Tradition der großen humanistischen Beredsamkeit in Deutschland für die ideologisch verfestigten Meinungsschranken unserer Mediengesellschaft die Augen öffnet, sich gegen das organisierte Zerrbild von Gewissen, Moral, Schuldbewußtsein wehrt, das in Grausamkeit gegen die Opfer umschlägt, und schließlich für Vertrauen und Hoffnung in die Zukunft plädiert, ohne die Kraft zur Trauer zu schwächen.

Martin Walser hat mit selbstkritischen und ironischen Untertönen den Meinungsbetrieb in seiner manchmal gutgläubigen, doch meist zynischen Doppelbödigkeit aufgedeckt und als Instrument der ideologischen Macht­ausübung, als profitables Mediengeschäft und intellektuelle Inszenierung erkennbar gemacht. Die maßlose und hämische Kritik an dieser in rhetorischem Ethos, schlüssiger Argumentation und leidenschaftlichem Engagement für eine menschenwürdige Zukunft vorbildlichen Rede bestätigt deren Thesen so eindrucksvoll wie bedrückend.“

 

Entgegen Uedings und der Uni Tübingens hoher Meinung von Martin Walser gab es auch seriöse und kritische, gegen den Antisemitismus gerichtete Analysen wie jene in der Doktorarbeit des Politologen Lars Rensmann:

„Auschwitz gerät von der Chiffre für das unvorstellbare Verbrechen zur bloßen intellektuellen ‚Vorhaltung‘ gegenüber den Deutschen: ‚Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird.‘ Nicht der Holocaust, die Grausamkeit gegenüber Juden, sondern, im Gegenteil, ein an den Deutschen verübter ‚grausame[r] Erinnerungsdienst‘ der ‚Intellektuellen‘, die den Terror erinnern, wird als Gewalt projiziert; die Erinnerung an den Schrecken an sich wird von Walser abgewehrt.“[iii]

Rensmann resümiert:

„Nach den ‚Walser-Debatten‘ lässt sich jedoch begründet eine zunehmend erodierende Grenzziehung im politischen Diskurs gegenüber erinnerungsabwehrenden Formen des Antisemitismus als ‚legitime Meinungsäußerung‘ befürchten. Seit der Walser-Debatte glauben die antisemitischen Briefeschreiber in der Bundesrepublik kaum mehr anonym bleiben zu müssen, weil sie, nicht ganz zu unrecht, ihre Ansichten und Drohungen wieder für salonfähig oder zumindest für legitim und akzeptabel halten. Das antisemitische Judenbild, das Walser wie auch [Rudolf] Augstein und andere in der politischen Öffentlichkeit rehabilitieren und am Leben erhalten, stößt gesellschaftlich zumindest kaum auf energische Ablehnung. Die Diskussion bezeugt insofern bisher einen ersten Höhepunkt affektiver, gegen Juden gerichteter öffentlicher Tabubrüche in der politischen Kultur der ‚Berliner Republik‘, dessen Folgen und Effekte nachwirken und in den nachkommenden Debatten Widerhall finden.“[iv]

Wenn Özdemir seinen nationalistischen Eifer vom Februar 2018 wieder gutmachen möchte, könnte er nun diese Auszeichnung ablehnen. Das wird Özdemir aber ganz sicher nicht tun, dafür ist er viel zu stolz auf dieses Land.

Cem Özdemir und die „gute“ Heimat, 2018

Es gibt kaum einen besseren Indikator für die politische Kultur in diesem Land, wenige Monate nach dem Einzug der rechtsextremen AfD in den Deutschen Bundestag, als die Rede des Grünen Cem Özdemir in jenem Parlament am 22. Februar 2018 und die überschwängliche Begeisterung derer, die sich im Anti-AfD-Lager befinden. Aufhänger für die neuen Nazis im Bundestag waren vorgeblich „antideutsche“ Texte des Journalisten Deniz Yücel, der dank des Einsatzes der Bundesregierung aus dem Gefängnis in der Türkei entlassen wurde. Zu Recht attackierte Özdemir in seiner Wutrede am 22. Februar 2018[v] die AfD als „Rassisten“, attackierte lautstark die rassistische Hetze gegen ihn, den die AfD am liebsten „abschieben“ wolle, während er aber natürlich ein Deutscher aus „Bad Urach“ ist. Das ist alles sehr gut und treffend. Özdemir sagte aber auch:

„Wie kann jemand, der Deutschland, der unsere gemeinsame Heimat so verachtet, wie Sie es tun, darüber bestimmen, wer Deutscher ist und wer nicht Deutscher ist? (…) Sie verachten alles, wofür dieses Land in der ganzen Welt geachtet und respektiert wird. Dazu gehört beispielsweise unsere Erinnerungskultur, auf die ich als Bürger dieses Landes stolz bin. (…) Dazu gehört – das muss ich schon einmal sagen; da fühle ich mich auch als Fußballfan persönlich angesprochen – unsere großartige Nationalmannschaft. Wenn Sie ehrlich sind: Sie drücken doch den Russen die Daumen und nicht unserer deutschen Nationalmannschaft. Geben Sie es doch zu!“

Was macht Özdemir mit jenen Antifas oder Antideutschen, die „unsere Heimat“ tatsächlich verachten? Sind Antifas oder Antideutsche keine Menschen? Der Logik zufolge verabscheut Özdemir Kritik an den deutschen Zuständen so sehr, wie das die AfD verabscheut und er kategorisiert völlig realitätsblind die AfD in das Lager der Heimatfeinde.

Gerade den aggressivsten Nationalisten, die jemals in solch einer Fraktionsstärke im Bundestag gesessen haben, vorzuwerfen, nicht deutsch-national genug zu sein, ist völliger Blödsinn. Es ist eine absurde Idee und wird exakt auf jene zurückschlagen, mit schwarzrotgoldenem Fanatismus, wie wir ihn namentlich und verschärft seit dem ach-so-zarten „Sommermärchen“ 2006 alle zwei Jahre erleben, die eben tatsächlich nicht für dieses Land mitfiebern, sondern für seine sportlichen Konkurrenten zum Beispiel, oder denen das schnuppe ist. Und das Argument, quasi „Volksverräter“ zu sein, kann bei Nazis nur dazu führen, dass bei nächster Gelegenheit die Anti-AfDler mal wieder als solche bezeichnet werden. Heimat ist auch für Neonazis von allerhöchster Bedeutung.[vi]

Selbstredend hat Özdemir recht, wenn er sich gegen die Hetze gegen das Holocaustmahnmal aus dem Munde von Björn Höcke wendet, was aber wiederum gar nichts darüber aussagt, was für eine stolzdeutsche Ideologie in diesem Mahnmal, zu dem man „gerne gehen soll“ (Gerhard Schröder), und wieviel Degussa-Material darin steckt.

Warum Stolz auf die deutsche Erinnerungskultur? Eine „Kultur“, die es gar nicht ohne die sechs Millionen von Deutschen ermordeten Juden geben könnte?

Stolz zudem auf die Verdrängung der deutschen Verbrechen bis in die 1980er Jahre hinein und dann das unerträgliche Eingemeinden der jüdischen Opfer mit SS-Tätern in Bitburg durch Bundeskanzler Helmut Kohl und später die Trivialisierung des Holocaust durch Typen wie den späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck, der den Kommunismus wie den Nationalsozialismus als ähnlich schrecklich empfindet und Beiträge in den Holocaust verharmlosenden Büchern wie „Roter Holocaust“ (Herausgeber war der Historiker Horst Möller, 1998) publizierte und 2008 die aus dem gleichen totalitarismustheoretischen und Auschwitz nivellierenden Eichenholz geschnitzte Prager Deklaration unterschrieb? Stolz auf ein Land, das derzeit Phänomene erlebt wie Dorfbevölkerungen in Rheinland-Pfalz oder in Niedersachsen, die mit Hitlerglocken oder Nazi-Glocken in ihren Kirchen kein Problem haben, ja stolz auf die lange Tradition sind?

Das sind nur einige wenige Elemente der Kritik, warum Özdemir einen großen Fehler begeht, wenn er ernsthaft meint, Nazis rechts überholen zu können mit noch mehr Stolz auf Deutschland und namentlich auf dessen „So geh’n die Deutschen“[vii] -Fußballnationalmannschaft (2014). Das „Sommermärchen“ 2006 war absolut grundlegend für den schwarzrotgoldenen Wahnsinn von Pegida im Oktober 2014 bis zum Einzug der AfD in den Bundestag und bis heute.[viii] Dabei hatte es so wundervolle Momente wie das Vorrundenaus der Deutschen bei der WM 2018 zuvor bei Fußballweltmeisterschaften eher selten gegeben.

Das Bittere, das so gut wie niemandem auffällt, an Özdemirs Vorwurf an die Nazis, doch nicht deutsch genug zu sein, hat wiederum Pohrt schon am Beispiel eines Textes vom 14.5.1982 in der taz untersucht, dessen Autor Hilmar Zschach die Nazivergangenheit des schleswig-holsteinischen Landtagspräsidenten Helmut Lembke erwähnt, aber das als untypisch für die feschen Schleswig-Holsteiner abtut. Pohrt kommentierte:

„Die gemeinsame völkisch-nationalistische Basis bringt Linke und Rechte dazu, einander undeutsche Umtriebe vorzuwerfen. So irrational, wie die Kontroverse dann geworden ist, so mörderisch sind auch ihre potentiellen Konsequenzen. Es geht eigentlich darum, den Volkskörper von volksfremden Elementen zu säubern, damit endlich das andere, das wahre Deutschland erscheine. Unter dieser Voraussetzung ist es gleichgültig, ob die ‚Antifaschisten‘ oder die Faschisten gewinnen, denn die Verlierer werden allemal Leute sein, die keine Lust haben, sich Deutsche zu nennen.“[ix]

 

[i] „Mit seinem Debattenbeitrag hat Özdemir gezeigt, wie wirksam und kraftvoll eine Parlamentsrede sein kann, wenn ein Redner mit Überzeugung und Leidenschaft antritt – ein herausragendes Beispiel dafür, wie man den Populisten im Parlament die Stirn bieten kann. Jury: Simon Drescher, Pia Engel, Dr. Gregor Kalivoda, Rebecca Kiderlen, Prof. Dr. Joachim Knape, Sebastian König, Prof. Dr. Olaf Kramer, Viktorija Romascenko, Oliver Schaub, Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr. Thomas Zinsmaier. Im Jahr 2018 war mit Oliver Schaub erstmals auch ein von den Studierenden bestimmtes studentisches Mitglied Teil der Jury“, http://www.rhetorik.uni-tuebingen.de/portfolio/rede-des-jahres/.

[ii] Joachim Rohloff (1999): Ich bin das Volk. Martin Walser, Auschwitz und die Berliner Republik, Hamburg: KVV Konkret (Konkret Texte 21); Lars Rensmann (2004): Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 356–414;

[iii] Rensmann 2004, S. 364.

[iv] Ebd., S. 414.

[v] http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19014.pdf.

[vi] Zur Kritik siehe z.B. Lucius Teidelbaum (2018): Kritische Heimatkunde, 05.03.2018, http://emafrie.de/kritische-heimatkunde/.

[vii] https://www.youtube.com/watch?v=6lcaRA4sr4o.

[viii] Clemens Heni (2017a): Sommermärchen bereitete der AfD den Boden, Frankfurter Rundschau, 16./17. Dezember 2017, online: http://www.fr.de/kultur/antisemitismus-sommermaerchen-bereitete-der-afd-den-boden-a-1409276.

[ix] Wolfgang Pohrt (1982): Endstation. Über die Wiedergeburt der Nation. Pamphlete und Essays, Berlin: Rotbuch Verlag, 127 f., Fußnote 4.

©ClemensHeni

Gespräche über „Der Komplex Antisemitismus“ im Radio von WDR 5 und WDR 3

Das Radio hat mich jüngst wieder eingeladen und mit mir über mein neues BuchDer Komplex Antisemitismus“ gesprochen.

Am Montag, 3. Dezember 2018, sprach die Moderatorin Stefanie Junker mit mir in Ihrer Sendung „Scala – Hintergrund Kultur“, die Sendung lief von 14:05 bis 15 Uhr:

Der Komplex Antisemitismus

WDR 5 Scala – Hintergrund Kultur | 03.12.2018 | 10:23 Min.

Die neue Studie des Antisemitismusforschers Clemens Heni untersucht an neuen Beispielen, wie sich das destruktive alte Muster durch unser gesellschaftliches Leben zieht. „Dumpf und gebildet, christlich, muslimisch, „lechts, rinks“, postkolonial, romantisch, patriotisch: Deutsch“.

 

Am nächsten Tag, 4. Dezember 2018, sprach ich bereits ab 8:05 Uhr in der Sendung Mosaik von WDR 5 mit dem Moderator Raoul Mörchen:

„Der Komplex Antisemitismus“

WDR 3 Mosaik | 04.12.2018 | 10:31 Min.

„Dumpf und gebildet, christlich, muslimisch, lechts, rinks, postkolonial, romantisch, patriotisch, deutsch“ – so beschreibt Clemens Heni den „Komplex Antisemitismus“ in seinem neuen Grundlagenwerk.

 

Herzlichen Dank für die Einladung an den WDR und an die Redakteurinnen und die Moderator*innen!

Liebende in New York City oder: Gegen das stolzdeutsche Nationalmannschaftsgeschwafel von der „Heimat“ – von Edgar Reitz über Robert Habeck zu Cem Özdemir: die Antiquiertheit von Ernst Bloch …

Von Dr. Clemens Heni, 7. März 2018

Update, 13.12.2018 (Zudem teilweise neu publiziert hier)

Alle sind ganz ergriffen und wollen dabei sein, wenn es um das deutsche Wort seit den späten 1970er Jahren schlechthin geht: Heimat. Niemand wollte und will sich das Wort und das Gefühl für Deutschland von den „Bösen“ (Nazis, Juden, Amerikaner) wegnehmen lassen. Es läuft also ein Wettkampf der guten Deutschen, die besser sein wollen als die Alternative für Deutschland (AfD). Dass es überhaupt um Deutschland geht, das ist als nationales Apriori gesetzt. Von Edgar Reitz über Martin Walser[1] zu Norbert Lammert: alle sind sie stolz auf die Leistungen dieses Landes.

Edgar Reitz: Heimat, 1984

Das Wort Heimat ist nicht übersetzbar und wurde im Herbst 1984 durch die monumentale Fernsehserie „Heimat“ von Edgar Reitz – es geht um das Leben zwischen 1918 und 1982 in einem Dorf im Hunsrück, Rheinland-Pfalz – zu dem Stichwort neudeutscher Ideologie schlechthin:

„Nach der Terroristenverfolgung im Deutschen Herbst 1977, die eine volksgemeinschaftliche Dimension hatte und gefährliche Topoi wie ‚Sumpf‘ oder ‚Sympathisant‘, dem gerade nichts ‚nachgewiesen werden kann, und der deshalb schuldig ist‘, generierte, wird diese Formierung nach innen nun offenbar festgezurrt. (…) Das Schweigen sollte endlich gebrochen werden – jedoch nicht das über die deutschen Vernichtungsaktionen während des Nationalsozialismus oder jenes über das ‚zugedeckte‘ Wissen um Arisierungen in der Nachbarschaft, nein: Nationalismus – die nationale Frage‘ – sei zu Unrecht ‚zugedeckt‘ gewesen und müsse nun auf die nationale Tagesordnung der BRD. Deutschland kurz vor dem ‚Ende der Schonzeit‘, dem ‚Ende des Schonbezirks‘  für Juden oder gar schon mittendrin? Die die Erinnerung an die jüdischen Opfer des deutschen Vernichtungswahns bewahrende und überhaupt erstmalig massenhaft ins Bewusstsein bringende vierteilige TV-Serie Holocaust [vom Januar 1979] konnte nicht verhindern, dass die wenige Monate zuvor, als schon kräftig über die mögliche Ausstrahlung von Holocaust im deutschen Fernsehen gestritten wurde [was zur Folge hatte, dass die Serie nicht im Ersten, sondern nur in den Dritten Programmen der ARD lief], aufs deutsche (Bildungs-) Tableau gesetzte ‚deutsche Frage‘ weiterhin die politische Kultur nachhaltiger prägen sollte als das vorübergehende Reden über Holocaust. Der national orientierte Filmregisseur Edgar Reitz erklärte, dass gerade diese Serie ihn zu einem deutschen Film, ‚Heimat‘, bewogen habe, alles ‚made in germany‘:

‚Der tiefste Enteignungsvorgang, der passiert, ist die Enteignung des Menschen von seiner eigenen Geschichte. Die Amerikaner haben mit Holocaust uns Geschichte weggenommen.‘“[2]

Auf diesem Heimatdiskurs basieren alle seitherigen. Die ach-so-anständigen Deutschen – bei Lammert ist es Richard von Weizsäcker[3] – hat der Publizist Eike Geisel 1994 in einer Kritik an Kurt Schumachers (erster Vorsitzender der SPD nach 1945) pro-deutscher Ideologie von 1946 im Visier:

„In Deutschland war es nicht einmal nötig, ‚die wirklich Schuldigen vor dem Zorn der Leute zu schützen‘, wie Hannah Arendt 1950 in einem Bericht über die Nachwirkungen der Naziherrschaft notierte. ‚Diesen Zorn gibt es nämlich heute gar nicht, und offensichtlich war er auch nie vorhanden.‘ Zu dieser Zeit hatten die Sozialdemokraten das Wirtschaftswunder noch vor, ein anderes Wunder aber bereits hinter sich, nämlich ‚das eine große Wunder, daß nach zwölf Jahren Diktatur noch so viele Menschen anständig geblieben sind‘ (Kurt Schumacher 1946).“[4]

Cem Özdemir und die „gute“ Heimat, 2018

Sprung ins Jahr 2018, von der BRD ins neue Deutschland: Es gibt kaum einen besseren Indikator für die politische Kultur in diesem Land, wenige Monate nach dem Einzug der rechtsextremen AfD in den Deutschen Bundestag, als die Rede des Grünen Cem Özdemir in jenem Parlament am 22. Februar 2018 und die überschwängliche Begeisterung derer, die sich im Anti-AfD-Lager befinden. Aufhänger für die neuen Nazis im Bundestag waren vorgeblich „antideutsche“ Texte des Journalisten Deniz Yücel, der dank des Einsatzes der Bundesregierung aus dem Gefängnis in der Türkei entlassen wurde. Zu Recht attackierte Özdemir in seiner Wutrede am 22. Februar 2018[5] die AfD als „Rassisten“, attackierte lautstark die rassistische Hetze gegen ihn, den die AfD am liebsten „abschieben“ wolle, während er aber natürlich ein Deutscher aus „Bad Urach“ ist. Das ist alles sehr gut und treffend. Özdemir sagte aber auch:

„Wie kann jemand, der Deutschland, der unsere gemeinsame Heimat so verachtet, wie Sie es tun, darüber bestimmen, wer Deutscher ist und wer nicht Deutscher ist? (…) Sie verachten alles, wofür dieses Land in der ganzen Welt geachtet und respektiert wird. Dazu gehört beispielsweise unsere Erinnerungskultur, auf die ich als Bürger dieses Landes stolz bin. (…) Dazu gehört – das muss ich schon einmal sagen; da fühle ich mich auch als Fußballfan persönlich angesprochen – unsere großartige Nationalmannschaft. Wenn Sie ehrlich sind: Sie drücken doch den Russen die Daumen und nicht unserer deutschen Nationalmannschaft. Geben Sie es doch zu!“

Gerade den aggressivsten Nationalisten, die jemals in solch einer Fraktionsstärke im Bundestag gesessen haben, vorzuwerfen, nicht deutsch-national genug zu sein, ist völliger Blödsinn. Es ist eine absurde Idee und wird exakt auf jene zurückschlagen, mit schwarzrotgoldenem Fanatismus, wie wir ihn namentlich und verschärft seit dem ach-so-zarten „Sommermärchen“ 2006 alle zwei Jahre erleben, die eben tatsächlich nicht für dieses Land mitfiebern, sondern für seine sportlichen Konkurrenten zum Beispiel, oder denen das schnuppe ist. Und das Argument, quasi „Volksverräter“ zu sein, kann bei Nazis nur dazu führen, dass bei nächster Gelegenheit die Anti-AfDler mal wieder als solche bezeichnet werden. Heimat ist auch für Neonazis von allerhöchster Bedeutung.[6]

Selbstredend hat Özdemir recht, wenn er sich gegen die Hetze gegen das Holocaustmahnmal aus dem Munde von Björn Höcke wendet, was aber wiederum gar nichts darüber aussagt, was für eine stolzdeutsche Ideologie in diesem Mahnmal, zu dem man „gerne gehen soll“ (Gerhard Schröder), und wieviel Degussa-Material darin steckt.

Warum Stolz auf die deutsche Erinnerungskultur? Eine „Kultur“, die es gar nicht ohne die sechs Millionen von Deutschen ermordeten Juden geben könnte?

Stolz zudem auf die Verdrängung der deutschen Verbrechen bis in die 1980er Jahre hinein und dann das unerträgliche Eingemeinden der jüdischen Opfer mit SS-Tätern in Bitburg durch Bundeskanzler Helmut Kohl und später die Trivialisierung des Holocaust durch Typen wie den späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck, der den Kommunismus wie den Nationalsozialismus als ähnlich schrecklich empfindet und Beiträge in den Holocaust verharmlosenden Büchern wie „Roter Holocaust“ (Herausgeber war der Historiker Horst Möller, 1998) publizierte und 2008 die aus dem gleichen totalitarismustheoretischen und Auschwitz nivellierenden Eichenholz geschnitzte Prager Deklaration unterschrieb? Stolz auf ein Land, das derzeit Phänomene erlebt wie Dorfbevölkerungen in Rheinland-Pfalz oder in Niedersachsen, die mit Hitlerglocken oder Nazi-Glocken in ihren Kirchen kein Problem haben, ja stolz auf die lange Tradition sind?

Das sind nur einige wenige Elemente der Kritik, warum Özdemir einen großen Fehler begeht, wenn er ernsthaft meint, Nazis rechts überholen zu können mit noch mehr Stolz auf Deutschland und namentlich auf dessen „So geh’n die Deutschen“[7]-Fußballnationalmannschaft (2014). Das „Sommermärchen“ 2006 war absolut grundlegend für den schwarzrotgoldenen Wahnsinn von Pegida im Oktober 2014 bis zum Einzug der AfD in den Bundestag und bis heute.[8]

Das Bittere, das so gut wie niemandem auffällt, an Özdemirs Vorwurf an die Nazis, doch nicht deutsch genug zu sein, hat wiederum Pohrt schon am Beispiel eines Textes vom 14.5.1982 in der taz untersucht, dessen Autor Hilmar Zschach die Nazivergangenheit des schleswig-holsteinischen Landtagspräsidenten Helmut Lembke erwähnt, aber das als untypisch für die feschen Schleswig-Holsteiner abtut. Pohrt kommentierte:

„Die gemeinsame völkisch-nationalistische Basis bringt Linke und Rechte dazu, einander undeutsche Umtriebe vorzuwerfen. So irrational, wie die Kontroverse dann geworden ist, so mörderisch sind auch ihre potentiellen Konsequenzen. Es geht eigentlich darum, den Volkskörper von volksfremden Elementen zu säubern, damit endlich das andere, das wahre Deutschland erscheine. Unter dieser Voraussetzung ist es gleichgültig, ob die ‚Antifaschisten‘ oder die Faschisten gewinnen, denn die Verlierer werden allemal Leute sein, die keine Lust haben, sich Deutsche zu nennen.“[9]

Das zeigte sich dann auch bei einem Plattdeutsch redenden Bundestagsabgeordneten im Februar 2018, der die Lacher auf seiner Seite hatte und der AfD zu wenig Deutsch-Sein vorwarf, weil sie die deutsche Sprache in der Verfassung verankert wissen will. Was der MdB nicht sagte: auch unter den Nazis war der Stolz auf die Mundarten enorm, gerade als Teil des ‚Volkskörpers‘. Gab es nicht beim Film „Triumph des Willens“ von Leni Riefenstahl einen Einzug der Regionen (und somit auch der Dialekte)?[10]

Das alles wird die AfD sicher bei nächster Gelegenheit hervorkramen, denn zu wenig Deutsch-Sein wird sie sich nicht vorwerfen lassen, on the long run.

Robert Habeck, tote Wale, Narzissmus und Heimat

Ein anderer Grüner, der jetzt einen „linken Patriotismus“ (S. 59) einfordert, namentlich „Schrebergärten“, und sein Spießerleben jauchzend anpreist, ist Robert Habeck. In seinem Buch von 2016 „Wer wagt beginnt. Die Politik und ich“ zeigt sich sein Narzissmus, der auch nicht davor zurückschreckt, tote Walkadaver, die er im Wattenmeer in der Nordsee aufsuchte, für sein Erweckungserlebnis zu benutzen, um weiter in der Partei der Grünen Karriere zu machen (S. 286):

„Es wurden dicke Seile um die Schwanzflosse geschlungen und Bagger schleiften die Wale dann zum Deich, von wo aus die Wale in die Tierkörperbeseitigung transportiert würden. Einer der Bagger fuhr sich fest und Pressetross und Mitarbeiter scharten sich um die Matschkuhle, in der er steckte. Kurz achtete niemand auf mich. Da schlich ich mich von dem geschäftigen Treiben weg und stapfte allein raus ins Watt, wo die restlichen Walkadaver lagen. Dieser Gang, diese halbe Stunde alleine im Watt, in der ich alle Zeitpläne durcheinanderbrachte und die Presse warten ließ, veränderte noch einmal etwas für mich. Es war nicht so, dass ich an mir und meiner Entscheidung, zur Urwahl anzutreten, gezweifelt hätte. Viele Fragen waren ungelöst. Die Auswirkungen meiner Kandidatur für die Landtagswahl waren unklar. Viele Leute, darunter enge Freunde, provozierte ich damit und brachte ihren Ehrgeiz und ihre Lebensplanung durcheinander. Einige hatten mich inzwischen gebeten, nicht zur Urwahl anzutreten. Oft genug lag ich nachts wach und dachte alles durch und wieder durch. Aber jetzt, hier im Watt zwischen den toten Walen, sortierte sich wieder, was richtig und wichtig war.“

Was sich anhört wie eine präpubertäre Geschichte eines Nordsee-Lüttjen, hat der 1969 geborene Habeck (lt. Buchumschlag hat er im Jahr 2000 eine „Promotion zum Doktor der Philosophie“ vorgelegt) ernsthaft so geschrieben und publiziert: Er geht über Leichen, das wird auf geradezu obszöne Weise in dieser für ihn so wichtigen Szene im Wattenmeer deutlich. Das spricht für eine rosige Karriere in diesem Land. Grenzenlose Ich-Verliebtheit ist Kennzeichen dieser neuen, eher yuppimäßigen, denn nazistischen Heimatliebhaber, die sich aber gegenseitig die Bälle zuspielen. In einem Interview mit dem Stern fabuliert Habeck im Januar 2018:

„Stern: Die AfD redet auch gern über Heimat. Als Ort, der verloren geht.

Habeck: Ernst Bloch hat mal gesagt: Heimat ist das, was allen wie die Kindheit scheint und worin noch niemand war. Das meine ich mit Versprechen oder Utopie. Das ist der Denkfehler der AfD: die Verklärung einer Vergangenheit, die es so nie gegeben hat. Früher war eben nicht alles besser, auch wenn die Menschen das seit der Vertreibung aus dem Paradies gern glauben.“[11]

Diese völlig ahistorische Äußerung zeigt nur, dass Habeck gar nicht mitbekommt, was in diesem Land passiert. Die AfD ist stolz auf die deutschen Soldaten in zwei Weltkriegen, darum geht es. Diese Vergangenheit gab es sehr wohl. Und sie sind stolz darauf. Und dieses Lob eckt in Deutschland auch nicht an, da es ein Großteil des Landes teilt, oder eben absichtlich weghört wie Habeck.

Die Antiquiertheit von Ernst Blochs Heimat

Dieses Herauskramen von Blochs letztem Wort aus dem „Prinzip Hoffnung“ – „Heimat“ – ist seit Jahrzehnten bei jenen Linken, die Dissidenz und Kritik nicht wirklich radikal, sondern affirmativ verstehen, en vogue.

Mit Ernst Bloch ging der neue Heimat-Diskurs der „Linken“ los, nicht mit seinem „Prinzip Hoffnung“, sondern weit populärer zum damaligen Zeitpunkt mit dem „Kursbuch“, jener Zeitschrift, die immer ganz nah am links-deutschen Zeitgeist war.

Das Heft 39 von April 1975 hatte das Thema „Provinz“ und darin gleich zu Beginn ein Gespräch mit Ernst Bloch, wo dieser resümiert:

„Schön, das wäre ja Wasser auf meine Mühle, daß Ungleichzeitigkeit nicht nur schlecht war. Ja, es gibt – oder gab – eine deutsche Mentalität, etwas, das nur eingehakte Liebespaare auf einer Pappelallee empfinden können – eine typisch deutsche Situation, wo keine Autos sind usw. Romain Rolland hat von französischer Sehnsucht her den Roman Jean Christophe geschrieben und darin, Deutschland betreffend, das Wort geprägt: ‚Der traumtrübe Strom, aus dem Europa trank‘ – wobei ich auf das Trübe weniger Wert lege als auf das Traumhafte, das darinsteckt in der ehemaligen deutschen Kultur – man nehme nur die deutsche Romantik oder die deutsche Musik. Dieses Wach-Traumhafte ist ein spezifisch deutsches Erbe. Und das müssen wir uns zurückholen, wir müssen also wieder deutsche Phantasie in den Marxismus bringen. Die Verschmelzung von Phantasie und Marxismus ist etwas, das in Deutschland besonders viel Material gefunden hat, aber beinahe täglich immer weniger findet.“[12]

Die Liebe, die Menschen morgens um halb sechs auf der Fifth Avenue in New York City bei Sonnenaufgang zu den Klängen einer Hardrock-Band, die sich vor einem der Skyscraper aufgebaut hatte, empfinden mögen, ist dann wohl nicht nur undeutsch, sondern suspekt (und links könnte sie gar nicht sein, inmitten des Herzens des von Autos umspülten Imperialismus!). Dieser antiurbane Tübinger Provinzialismus, der zudem den deutschen und antisemitischen Kern der deutschen Romantik von Arndt über Jahn bis Wagner entwirklicht,[13] war also auch noch der letzte Schrei des Marxismus Mitte der 1970er Jahre – und ist es bis heute.

Der Publizist Wolfgang Pohrt hat Anfang der 1980er Jahre Bloch und den Heimatfimmel kritisiert:

„So ist die gegenwärtige unter deutschen Linksintellektuellen weit verbreitete Neigung, gemeinsam mit Bloch im Heimatgefühl einen metaphysischen guten Kern, ein prospektives Moment zu entdecken, kein Ausdruck einer neuen Erkenntnis, sondern ein ideologischer, fast instinktiver Reflex auf die veränderten eigenen Lebensumstände, zu deren tragenden Säulen nun der Beruf, Familie und Kinder, Möbel und Bibliothek, Wohnung und Eigenheim geworden sind, Dinge also, die deshalb, weil sie auf dieser Welt nicht selbstverständlich sind, als Privilegien legitimiert und verteidigt werden wollen und folglich ihren Besitzern einen emotionalen Schutz- und Trutzbund abverlangen, nämlich das Heimatgefühl – ein Gefühl, welches als sublimierter Trieb, das als eigenes Jagdrevier beanspruchte Terrain durch Hinterlassen von Duftmarken zu okkupieren, rein logisch zwischen der berechtigten und der unberechtigten Anwesenheit auf einem Fleckchen Erde unterscheidet und namentlich von den Rechtsradikalen in diesem Sinne verstanden und benutzt worden ist, nämlich als Mittel zur Selektion und Vertreibung, zur Vertreibung derer, die in der Bundesrepublik leben, ohne hier auch beheimatet zu sein (…).“[14]

Wenn die Deutschen ihrer Vergangenheit eine Zukunft geben wollen, sagen sie „Heimat“. Schon um 1980 herum vereinte dieses Wort ökologische Wendland-Hippies, Sonnen- wie SS-Runen-Anbeter*innen, Neue Rechte und alte Linke. Pohrt hatte das Anfang der 1980er Jahre seziert:

„Den Häuserkampf sah man als Winterhilfswerk mit anderen Mitteln, und in seinen Protagonisten witterte man, mit feiner Nase für den Stallgeruch, die Trümmerfrau. Auch dort, wo die Jugend dem Staat entgegentritt, um wie in Gorleben mit Klampfe, Erbswurst, Ringeltanz und anderem deutschen Brauchtum den Thingplatz ihrer neugermanischen Wendenrepublik zu verteidigen, leistet sie Widerstand nur im übergeordneten nationalen Interesse. Die alten Neulinken haben unterdessen ihre patriotischen Gefühle entdeckt und diskutieren über die Wiedervereinigung. Volkslied und Mundart haben Konjunktur, man spricht viel von der Heimat, in der Frauenbewegung breitet sich Gebärfreude aus. Das Land hat also wieder eine Zukunft – eine Zukunft für seine Vergangenheit.“[15]

Während es auch 2018 bei den extrem Rechten kein Wunder ist, dass sie auf den Schmalz aus Heidi, Kitschpanorama und völkischer Uniformität wie althergebrachter Tradition stehen, soll es bei den anderen Genannten gerade Zeichen der Kritik an der extremen Rechten sein. Man dürfe den Nazis doch nicht die Hoheit über Begriffe überlassen, raunt es wie früher. So fantasiert Roberto J. De Lapuente im Neuen Deutschland,[16] den Rechten dürfe man den Heimatbegriff nicht überlassen und überhaupt wäre es ja neoliberale Ideologie, dass alle Menschen ortlos seien und umherzögen. Was jedoch das Wohnen an bestimmen Orten mit dem immer vagen, immer völkisch aufladbaren Heimatbegriff zu tun haben soll, kann er nicht erklären.

So kontert auch Alexander Nabert und erinnert daran: „links ist da, wo keine Heimat ist“.[17] Und zwar auch keine prospektive, wie es der Marxist Bloch meinte.

Auschwitz brachte Bloch nicht davon ab, weiter vom „Prinzip Hoffnung“ zu reden und 1600 Seiten dazu zu schreiben (zwischen 1938 und 1947). Eschatologie kann die Sinnlosigkeit der Welt nach Sobibor nicht wegreden. Der Philosoph Günther Anders hat Bloch – den er gleichwohl schätzte und ihm seinen „Blick vom Mond“ 1970 widmete – auch deswegen kritisiert, weil Bloch in der Tat nicht verstand, dass die Menschheit nur noch eine Frist zu leben hat. Im Atomzeitalter, das in den 1950er Jahren, zu Zeiten der Publikation des „Prinzips Hoffnung“ in der DDR wie dann in der BRD, wie heute existiert, gibt es nur noch ein „Gerade-noch“, kein „Noch-Nicht“. Anders, damals noch mit bürgerlichem Namen Günther Stern, hatte sich selbst als 16jähriger am Ende des Ersten Weltkriegs 1918 in einer Art „messianischer Geschichtserwartung“[18] wiedergefunden und 1978 dazu geschrieben („Die Antiquiertheit der Geschichte I“):

„Deren letzten Vertreter war der professionelle Hoffer Ernst Bloch gewesen, der sich durch kein Auschwitz und kein Hiroshima einschüchtern oder enttäuschen ließ.“[19]

Nochmal Anders, 1982:

„Chormusik, vor allem a capella-Gesang, gaukelt uns eine angeblich harmonische Gemeinschaft vor, die es nirgendwo gibt, gegeben hat, geben wird. Der strahlende Dur-Akkord ist nicht, wie Bloch in seiner Unfähigkeit, nicht zu hoffen, glaubt, ‚Vorschein‘ eines künftigen Zustandes, sondern bloßer Schein und lügenhafter als die verlogenste Ideologie.“[20]

Die Deutschen sind 1945 „sehr glimpflich davongekommen“

Und dann erinnern ja die Deutschen jedes Jahr mit enormer Penetranz an den Bombenkrieg, kaum eine größere Stadt sei verschont geblieben und diese oder jene Stadt sei „platt“ gemacht worden, nicht nur Dresden. Regelmäßig gibt es Räumaktionen für nicht explodierte Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg, was dann viele Deutsche daran erinnert, wie schlimm es ihnen damals angeblich erging.

Kaum wird erörtert, dass dieses Land extrem gut davongekommen ist, wie der Publizist Jochen Köhler 1988 schrieb:

„Eines muß klargestellt werden: Die Deutschen kamen sehr glimpflich davon. Es dabei zu belassen, das unheilschwangere Wespennest so zu zerteilen, daß die beiden Resthälften halbwegs intakt weiterbestehen und über kurz oder lang auch noch prosperieren konnten, entsprach einer konstruktiven und ‚humanen‘, wenngleich nicht uneigennützigen Logik der Siegermächte. Hätten die Tage von Jalta für das am Boden liegende Nazi-Deutschland nicht ungleich schwärzer ausfallen müssen? Man hieb es nicht in viele kleine Stücke, nahm ihm nicht seine industrielle Zukunft und wollte es nicht für immer unter Besatzungsstatut halten. Man war seinerzeit sogar darauf bedacht, treuhänderisch seine nationalstaatliche Identität zu wahren. In jüngster Zeit besinnen sich etliche Deutsche wieder verstärkt, als käme ihnen eine Amnes(t)ie zugute, mit penetranter Sentimentalität auf ‚ihre‘ verlustig gegangene ‚Heimat‘. Verwunderlich – oder auch nicht? – ist dabei, wie viele aus der 68er Generation in den nostalgischen Chor sich einreihen.“[21]

30 Jahre später wird dieses Land ein „Heimatministerium“ als Teil des Innenministeriums bekommen, wie es einzelne Bundesländer schon haben. Der ehemalige langjährige Chef des Feuilletons der Wochenzeitung Die Zeit Ulrich Greiner beginnt im Alter das Heulen ob seiner vermeintlichen „Heimatlosigkeit“[22]. Und das in Zeiten, in denen die politische Kultur so rechtsextrem und heimattümelnd ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr, wenn überhaupt jemals – denn wann saßen über 90 Abgeordnete einer massiven Fraktion und einer Partei, die mit einer Neo-Nazi-Volksbewegung wie Pegida kooperiert, im Bundestag?

Yascha Mounks antikosmopolitischer Trugschluss

Und dann wird auch noch von Nachwuchsforschern wie Yascha Mounk aus München, der derzeit in Harvard lehrt, ein „inklusiver Nationalismus“ gefordert, in expliziter Attacke auf den Kosmopolitismus, wie es in einem Interview mit Mounk in der Süddeutschen Zeitung heißt:

„Mounk: Die Vorstellung, dass das Gros der Menschen jemals wirklich kosmopolitisch denken und handeln wird, halte ich für unrealistisch.

SZ: Kann man es nicht versuchen? Es kann doch nicht schaden.

Mounk: Es kann schaden. Die Forderung danach führt oft zu einem vollkommenen Mangel an Solidarität. Wenn ich mich für alle Menschen engagieren soll, mich das aber nicht motiviert, dann engagiere ich mich am Ende für niemanden – oder ich verfalle einem fremdenfeindlichen anstatt einem inklusiven Nationalismus.“[23]

Kritikern an Deutschland fehle es also an „Solidarität“ – damit kann er prima ein Kaffeekränzchen mit Sahra Wagenknecht, Frauke Petry und auch Cem Özdemir abhalten. Diese Diffamierung von Dissidenz ist Zeichen der aggressiven Affirmation des Bestehenden. Und im Gegensatz zu den letzten Jahrzehnten gibt es heute nicht einmal mehr marginalen Widerspruch. Wir hatten vor der Bundestagswahl im September 2017 ein Agenda-Setting für mehr Nation, mehr Liebe zur Heimat und mehr Stolz auf dieses Land, und das alles führte zu dem Wahlerfolg (12,6%) der rechtsextremen AfD.

Und gerade in Bayern, wo der Nationalismus am stärksten von der Regierung verbreitet wird, war in den alten BRD-Bundesländern die AfD am stärksten. Mehr nationaler Diskurs führt also zu mehr Nationalismus im Parlament, doch davon will Mounk nichts wissen und lieber weiter dem bereits widerlegten Märchen Glauben schenken, es gäbe einen „guten“ Nationalismus, der den bösen Nationalismen das Wasser abgrabe. Mounk scheint die Dynamik des nationalen Diskurses nicht zu begreifen: die positive Bezugnahme auf Nation schlägt sich auf Seiten der Nazis nieder. Die Hilfe der große TV-Anstalten, ARD, ZDF, RTL und Sat1 tut ein Übriges, den nationalen Diskurs zu pushen. Die Äquidistanz der großen Medien – links=rechts, wie wir es exemplarisch in einem Gespräch im Aktuellen Sportstudio des ZDF mit dem Präsidenten von Eintracht Frankfurt, Peter Fischer, erlebten, stärkt die extreme Rechte obendrein.

Das „Lied der Deutschen“ ist den Deutschen das „heiligste“ Lied (Hitler)

Das alles wird noch massiv verschärft durch das Fehlen einer Linken, die den Namen verdiente. Die Linke ist inexistent oder selbst auf einem Heimattrip. Als Feind sowohl der AfD wie ihrer lautstarken Gegner*innen werden jene fertig gemacht, die das Problem beim Namen nennen, die keinen Stolz auf die Erinnerungs“kultur“ an die präzedenzlosen Verbrechen empfinden, die sich als Menschen und nicht als Deutsche definieren und die die deutsche Hymne als das bezeichnen, was sie ist, ein Lied für die antisemitische deutsche Volksgemeinschaft, das auch beim Reichserntedankfest in Hameln am 30. September 1934 von Hunderttausenden gebrüllt wurde,[24] also ein Lied für den Müllhaufen der Geschichte.[25]

Özdemir sollte sich doch mal anschauen, wo die deutsche Hymne herkommt, bevor er mit Stolz auf die deutsche Fußballnationalmannschaft verweist, zu deren Spielen dieses Lied millionenhaft gesungen wird.

1977 analysierte der Literaturwissenschaftler Jost Hermand (Jg. 1930) die deutsche Hymne:

„Kein Wunder daher, daß im Frühjahr 1933 nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten diese Hymne – neben dem Horst-Wessel-Lied – von der neuen Reichsregierung ausdrücklich als Deutschlands Nationalhymne bestätigt wurde. Hitler nannte sie am 1. August 1937 in Breslau ‚das Lied, das uns Deutschen am heiligsten erscheint.‘ (…) Ihren Höhepunkt erlebte die faschistische Begeisterung für das Lied der Deutschen im Jahre 1941, als sich die Niederschrift dieses Gedichts zum hunderstenmal jährte und die deutschen Truppen noch immer ‚über alles in der Welt‘ siegten. Alle vier Bücher, die aus diesem Anlaß geschrieben wurden, nämlich Rudolf Alexander Moißls Das Lied der Deutschen (1941), Kurt Eggers‘ August Hoffmann von Fallersleben in seinen Liedern (1941), Wilhelm Marquards Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1942) und Ernst Haucks Das Deutschlandlied. Aus dem Kampf um unsere Einheit (1942) bekennen sich überschwenglich zum Dichter der ‚unsterblichen deutschen Nationalhymne.‘“[26]

Später nötigte Konrad Adenauer Bundespräsident Theodor Heuss, diese Nazi-Hymne zur BRD-Hymne zu machen.[27]

Was dieses Land braucht, ist Kritik und Distanz, nicht noch mehr Heimat und auch kein verändertes Lied der Deutschen, sondern das Ende dieser Nazihymne.

Von Cicero bis Erasmus von Rotterdam: Ubi bene, ibi patria

Gegen Ende der Weimarer Republik im Jahr 1932, offenbar den NS-Staat gedanklich vor Augen, heißt es bei einem typischen Autor des katholischen Bundes Neudeutschland in dessen Werkblättern[28]:

„In der Sache z.B. stärkere Berücksichtigung von Heimatboden und Volksgemeinschaft; denn meine Beziehung zum Vaterland geht über den Mutterboden, auf dem ich zu Hause bin und meine Beziehung zum Gesamt-Volk über meine engere und weitere Nachbarschaft. Die Hinkehr des Volkes zum Nationalismus ist zugleich eine Abkehr vom Sozialismus-Bolschewismus, der den Menschen zu einem internationalen (außerhalb der Nation stehenden) aus Boden und Familie entwurzelten Allerweltsbürger macht, dessen Grundsatz lautet: ‚Wo ich gut zu essen bekomme, fühle ich mich zu Hause‘ (Ubi bene, ibi patria).“

Dieser Kosmopolitismus, der aus dem Spruch Ubi bene, ibi patria Ciceros zu hören ist und auch von dem Humanisten Erasmus von Rotterdam (1466–1536) positiv übernommen wurde, wurde also bereits zu demokratischen Weimarer Zeiten rabiat abgewehrt und ein Nationalismus auch beim Essen eingefordert. Eine Diffamierung ‚entwurzelter Allerweltsbürger‘ kennzeichnet diesen katholischen Bund Neudeutschland schon vor 1933.

Heute ist die AfD die rassistische und antisemitische Partei, die stolz ist auf die „deutschen Soldaten in zwei Weltkriegen“, die das Deutschlandlied nach ihrem Wahlsieg am 24.09.2017 in Berlin sang und ein Hauptpromoter deutscher Heimatideologie ist.

Schluss: was heißt Heimat 2018?

Heimat heißt Wirtshausschlägereien, besoffene Männer, die Frauen misshandeln, dazu paar rassistische, antisemitische, Schwulen- oder Transvestitenwitze, doitsche Musik statt amerikanischer Kulturindustrie, Liebe zu Familie und sich reproduzierenden Frauen, das heißt Posaunenchor, Hitlerglocke, Karneval und freiwillige Feuerwehr, Skatrunden, Kirmes und Helene-Fischer-Abende, Eichen- wie Lindenbäume und germanische „Thingplätze“ ehren, alles natürlich ökologisch verträglich und biologisch abbaubar. Am Ortsrand gibt es, klar, ein Ausflugslokal mit veganer Küche als Kontrast zum derben Gasthof Hirsch mit Wildragout, soviel links-deutsche Heimat mit Bionade und Veggie-Day ist selbstredend akzeptiert, hier und heute Hauptsache: Heimat. Und wem es auf dem Dorf oder der Kleinstadt zu eng wird und es dort zu wenige Kund*innen gibt, der oder die geht einfach nach Berlin-Kreuzberg zu den „Blutsgeschwistern“ und verbindet locker-flockig deutsche Ideologie und Tradition mit schickem urbanem Flair, auch das ist Heimat im heutigen Deutschland. Früher schneiderte Hugo Boss für die Wehrmacht,[29] heute gibt es

„Blutsgeschwister“, die versuchen

„unverwechselbare Mode für Seelenverwandte zu kreieren und die Modewelt mit ‚German Schick‘ und fantasievollen Geschichten zu verzaubern.“[30]

Mode reicht nicht, es muss schon „German Schick“ sein und der Name sollte was mit „Blut“ zu tun haben.

Oder nehmen wir neben Autos und Antisemitismus den deutschen Export-Schlager und das Symbol allzu „deutscher Identität“ schlechthin: Bier. Als es Ende 2016 eine Kampagne gegen die Neue Rechte gab, u.a. mit dem Werbeexperten Gerald Hensel, der sich zu Recht die extrem rechte Plattform „Achse-des-Guten“, die AfD und andere vorgeknöpft hatte, gab es eine gewisse Ironie. Diese Ironie oder Absurdität ist auch heute bei den linksdeutschen Heimatfans erkennbar: Es gab also bei Werbekampagnen der Firma Scholz & Friends, für die Hensel arbeitete, wenn er nicht als Politikaktivist gegen die Neue Rechte aktiv war, einen sehr pro-deutschen Drive – vor allem Stolz auf das deutsche „Handwerk“ („Ich braue kein Bier. Ich verteidige den Ruf Deutschlands“[31]) und auf Mercedes-Benz und viele andere allzu deutsche Marken ist dort angesagt. Das ist Affirmation pur und müsste der stolzdeutschen Achse des Guten eigentlich gefallen.

Heimat heißt aber vor allem eines in Deutschland: eine Kontinuität deutscher Geschichte zu behaupten und Auschwitz, Bergen-Belsen und Sobibor im Orkus der Geschichte untergehen zu lassen. Für die Deutschen gab es keinen Zivilisationsbruch, Edgar Reitz steht dabei pars pro toto, bis heute:

„Diese Gefahr der ‚Umschreibung‘ der Geschichte, derzufolge die ‚einfachen Deutschen‘ als letztlich unschuldige Opfer eines von den sogenannten ‚Nazi-Verbrechern‘ begangenen Unrechts erschienen, war sich Reitz wohl bewußt. Gefragt von Heike Hurst in Nuit Blanche, warum er den Holocaust in Heimat ausgespart habe, sagte er: ‚Die Frage der Juden und des Nationalsozialismus ist eine Thematik, zu der unendlich viel erzählt worden ist, und in dem Moment, wo ich mich auf dieses Terrain begeben hätte, hätte die Geschichte eine andere Wendung genommen.‘ Der Holocaust hätte die positiv besetzte Vorstellung von Heimat gesprengt, sie zunichte gemacht.“[32]

 

 

[1] Walsers deutsch-nationaler Einsatz und sein „Heimatlob“ von 1978  – André Ficus/Martin Walser (1978): Heimatlob. Ein Bodensee-Buch, Friedrichshafen: Verlag Robert Gessler – sind untrennbar mit seiner Abwehr von Auschwitz verbunden, er kann Auschwitz den Juden nie verzeihen, wie es dann 1979 in einem von Habermas edierten Band heißt: „Auschwitz. Und damit hat sich’s. Verwirkt. Wenn wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Aufgaben zuwenden“ (Martin Walser (1979): Händedruck mit Gespenstern, in: Jürgen Habermas (Hg.) (1979): Stichworte zur ›Geistigen Situation der Zeit‹, 1. Band: Nation und Republik, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 39–50, hier 48). Zu Walser, seiner Beziehung zu Marcel Reich-Ranicki und Ignatz Bubis siehe: „Dem deutschen Romanverfasser verdirbt die Kritik die paradiesische Heimat; wie die Schlange nagt der Kritiker an der Wurzel seines Literatur-Baumes, zersetzend wirkt er auf die schöpferische Kraft des deutschen ‚Großschriftstellers‘. Wer würde es wagen, ihn des Antisemitismus zu bezichtigen?“, 19.09.2013, http://junesixon.blogsport.de/2013/09/19/reread-aus-gegebenem-anlass-en-attendant-walser/.

[2] Clemens Heni (2007): Salonfähigkeit der Neuen Rechten. ‚Nationale Identität‘, Antisemitismus und Antiamerikanismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1970–2005: Henning Eichberg als Exempel, Marburg: Tectum, 242f.; Zitat: Edgar Reitz: Unabhängiger Film nach Holocaust, zitiert nach Anton Kaes (1987): Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film, München: edition text+kritik, 197. Durchschnittlich neun Millionen Zuschauer haben das monumentale Geschichtswerk Heimat, das als 11-Teiler im September/Oktober 1984 in der ARD lief, gesehen, vgl. ebd.: 242, Anm. 2. Ein Text des Historikers Jens Jäger von der Uni Köln (http://neuere-geschichte.phil-fak.uni-koeln.de/568.html) von November 2017 schafft es, in einem typischen sine-ira-et-studio Elfenbeinturm-Duktus – also ohne jeden kritischen Anspruch – „Heimat“ zu analysieren, ohne mit einem Wort auf diesen für den BRD-Heimatdiskurs alles prägenden Reitzschen Heimatfilm von 1984 auch nur en passant einzugehen, Auschwitz und Antisemitismus sind ebenso Anathema, Jens Jäger, Heimat, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 9.11.2017, URL: http://docupedia.de/zg/Jaeger_heimat_v1_de_2017?oldid=128264 Versionen: 1.0. Aber natürlich zitiert auch er Ernst Blochs Heimat, zu Bloch siehe unten.

[3] „Lammert ist ein beliebter Redner. Seine Rede zur 16. Bundesversammlung [12.02.2017] bringt den Kern der politischen Kultur der Bundesrepublik seit 1985 auf den Punkt. Weizsäcker junior mochte die toten Juden so sehr wie sein Vater, der ja mithalf, sie zu produzieren. Lammerts Promoten Deutschlands als der einzig wahren Alternative zu Trump oder Putin, ist an Selbstbeweihräucherung schwer zu überbieten. Antifaschistische Kritik an Trump braucht keinen Lammert, der die Erinnerung an den Holocaust nur dazu nutzt, die ‚deutsche Identität‘ als die beste aller Zeiten unserer so ‚wechselvollen‘ Geschichte zu betrachten. Wechselvoll. Mal produzierten wir jüdische Leichen, mal erinnern wir sie. Aber niemand kann das jeweils so gründlich und durchdacht wie wir. Das ist der Tenor, 1985 wie 2017“ (Clemens Heni (2017): Erlösendes Gedenken – Norbert Lammert und die „wechselvolle“ deutsche Geschichte, 15. Februar 2017, https://www.clemensheni.net/allgemein/erloesendes-gedenken-norbert-lammert-und-die-wechselvolle-deutsche-geschichte/). Weizsäckers Nationalismus und Gerede über „nationale Identität“ hat der Publizist Lothar Baier 1985 luzide kritisiert: „Wem es zu der eigenen nicht gereicht hat, dem wird seit neuestem als Trost das Aufgehen in der ‚nationalen Identität‘ in Aussicht gestellt. Seltsamerweise hat der Aufstieg der nationalen Identität in dem Augenblick begonnen, als der nationale Untergang auf die Tagesordnung rückte. Der atomare ist nur die eine Spielart, die andere ist der Untergang der Art. Nicht nur gegen die Raketen soll sich das deutsche Selbst ermannen, sondern auch gegen das herandrängende Artfremde. Richard v. Weizsäcker bekam den großen Kirchentagsbeifall, als er von ‚unserer eigenen Identität‘ sprach, mit der Erfurt und Dresden mehr zu tun haben ‚als so mancher schöne Sonnenstrand am Mittelmeer‘. Vom Mittelmeer kommt es ja, das heimtückisch in die Poren des Volkskörpers einsickert. Dagegen müsse biologisch verteidigt werden, sagen die zeitgenössischen Verhaltensbiologen, was sie aseptisch ‚europäische Identität‘ nennen und wozu ihre Doktorväter seinerzeit ‚arische Rasse‘ sagten. Wenn diese Identität ex cathedra zum Leitgestirn erhoben wird, kann es nicht ausbleiben, daß sich mancher ermutigt fühlt, auszugraben, was früher immer erfolgreich Identität gestiftet hat: den Antisemitismus. ‚Es ist auffällig, daß das aufklärerische Judentum in der Regel keinen besonderen Sinn für das besitzt, was deutsche Eigenart ist, etwa die romantische Sehnsucht, die Verbundenheit mit der Natur oder die nicht auszurottende Erinnerung an eine heidnisch-germanische Vergangenheit‘, heißt es in einem Buch des Verlags Matthes & Seitz von 1984“ (Lothar Baier (1985): Gleichheitszeichen. Streitschriften über Abweichung und Identität, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 17f.) Dieser hier zitierte antisemitische Autor war natürlich Gerd Bergfleth („Zur Kritik der palavernden Aufklärung“, ebd., 19, FN 15).

[4] Eike Geisel (1994): Runder Tisch mit Eichmann. Über den kleinen Unterschied zwischen dem »anderen Deutschland« und der zivilisierten Welt, Konkret 7/94, 12.

[5] http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19014.pdf.

[6] Zur Kritik siehe z.B. Lucius Teidelbaum (2018): Kritische Heimatkunde, 05.03.2018, http://emafrie.de/kritische-heimatkunde/.

[7] https://www.youtube.com/watch?v=6lcaRA4sr4o.

[8] Clemens Heni (2017a): Sommermärchen bereitete der AfD den Boden, Frankfurter Rundschau, 16./17. Dezember 2017, online: http://www.fr.de/kultur/antisemitismus-sommermaerchen-bereitete-der-afd-den-boden-a-1409276.

[9] Wolfgang Pohrt (1982): Endstation. Über die Wiedergeburt der Nation. Pamphlete und Essays, Berlin: Rotbuch Verlag, 127f., Fußnote 4.

[10] Eine Synopsis des Films ist hier zu finden: http://www.eye-can-see-film.de/wp/synopsis-zur-dokumentation-triumph-des-willens-1935/.

[11] https://www.stern.de/politik/deutschland/robert-habeck–umweltminister-in-schleswig-holstein–im-interview-7827514.html.

[12] Ernst Bloch (1975): Gespräch über Ungleichzeitigkeit, in: Kursbuch 39, April 1975, 1–9, 9. Ich hatte mir dieses Heft für 1 DM am 10. Januar 1994 bei „Ivo Lavetti“ in Tübingen gekauft und schon damals ins Heft meine scharfe Kritik an exakt dieser Stelle notiert.

[13] Eine der schärfsten und frühesten Kritiken am Nationalsozialismus legte Peter Viereck 1941 vor (Doktorarbeit in Harvard im Alter von 25), Peter Viereck (1941)/2004: Metapolitics. From Wagner and the German Romantics to Hitler. Expanded edition. With a new introduction by the author, New Brunswick, London: Transaction Publishers.

[14] Pohrt 1982, 101f.

[15] Pohrt 1982, 51.

[16] „Progressive Heimatgefühle“, 22.02.2018, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1080200.linker-heimatbegriff-progressive-heimatgefuehle.html.

[17] „Links ist da, wo keine Heimat ist“, 25.02.2018, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1080543.debatte-um-heimatbegriff-links-ist-da-wo-keine-heimat-ist.html.

[18] Günther Anders (1980)/1988: Die Antiquiertheit des Menschen. Band 2. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München: C.H.Beck, 277.

[19] Anders 1980, 452, Fußnote 11.

[20] Günther Anders (1982)/1991: Ketzereien, München: C.H.Beck, 159f.

[21] Jochen Köhler (1986): „Deutschland im Herzen Europas.“ Vom Sonderbewußtsein in der Mittellage zur Westorientierung, in: Wieland Eschenhagen (Hg.), Die neue deutsche Ideologie. Einsprüche gegen die Entsorgung der Vergangenheit, Darmstadt: Luchterhand, 182–195, 183.

[22] Ulrich Greiner (2017): Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

[23] Yascha Mounk (2018): „Die liberale Demokratie zerfällt gerade“, Süddeutsche Zeitung, 15.02.2018, http://www.sueddeutsche.de/politik/populismus-demokratie-bricht-auseinander-1.3860653.

[24] Siehe dazu Clemens Heni (2018): Fanatische Begeisterung. Über die Reichserntedankfeste, die Euphorie der Massen und die Bedeutung der Erinnerung, Deister- und Weserzeitung, 24.02.2018, online: https://www.dewezet.de/hintergrund/themendossiers/gedenkstaette-bueckeberg_artikel,-fanatische-begeisterung-_arid,2442178.html.

[25] Und schon die lächerliche, läppische, ja groteske Idee, das auch im Nationalsozialismus gesungene Deutschland-Lied zu gendern – so soll aus „Vaterland“ „Heimatland“ werden –, wie es von Kristin Rose-Möhring, der Gleichstellungsbeauftragten des Bundesfamilienministeriums vorgeschlagen wurde, trifft auf aggressivste Reaktionen wie von Ariane Bemmer im Tagesspiegel, 04.03.2018, https://www.tagesspiegel.de/politik/heimatland-statt-vaterland-gegenderte-nationalhymne-ein-vorschlag-zur-unzeit/21030152.html. Bundeskanzlerin Angela Merkel wie Bundespräsident Frank Walter Steinmeier stellen sich vehement hinter die Nationalhymne, was angesichts des ersten Bundespräsidenten Heuss (siehe unten) sehr wohl bemerkenswert ist, „Steinmeier lehnt Änderung der Nationalhymne ab“, 7. März 2018, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/nationalhymne-bundespraesident-frank-walter-steinmeier-lehnt-aenderung-ab-a-1196846.html.

[26] Jost Hermand (1977): Zersungenes Erbe. Zur Geschichte des Deutschlandliedes, in: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur. Band 7 (1977). Herausgegeben von Reinhold Grimm und Jost Hermand, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 75–88, 82f.

[27] Hermand 1977, 84f.

[28] Karl Gies (1932): Nationale Haltung, in: Werkblätter, 5. Jg., H. 3, Juni 1932, 55–63, 61.

[29] „Mit Uniformen für die Wehrmacht und die Waffen-SS gelang Hugo Boss während des Zweiten Weltkriegs der Aufstieg“ (Christopher Onkelbach (2011): Der Nazi-Schneider, 07.09.2011, https://www.derwesten.de/politik/der-nazi-schneider-id5038856.html.)

[30] https://www.blutsgeschwister.de/de/news/home/history;jsessionid=C109386BD9BF62B8C3FC4C511E119D95.

[31] http://s-f.com/arbeiten/case/deutsches-handwerk/ (alle URLs in diesem Text wurde zuletzt am 07.03.2018 abgerufen).

[32] Kaes 1987, 198.

©ClemensHeni

Radio-Gespräch auf WDR 5 (Koch/Heni): Bei „Schalke 05“ gibt’s nen riesen Aufschrei – aber bei dem „inneren Reichsparteitag“ nicht! Antisemitismus und Deutschland

Neugier genügt:

WDR 5 Moderator Thomas Koch im Gespräch mit Clemens Heni

Mittwoch, 17. Januar 2018, ab 11:05 Uhr, ca. 28 Min., live aus Köln

Die Sendung als Podcast hier anhören:

Inoffizielle Transkription (typische Wörter der gesprochenen Sprache wie „äh“, „mhm“ etc., wurden nicht aufgenommen):

Clemens Heni in Köln vor dem WDR Studio, Foto: privat

Intro: WDR 5 Neugier genügt mit Thomas Koch –

Im WDR Gebäude in Köln, Foto: privat

Koch: … „und einem Mann zu Gast in der ‚WDR 5 ‚Redezeit‘, dessen Lebensthema der Antisemitismus in Deutschland ist, er schreibt darüber, er diskutiert mit großer Leidenschaft und untersucht ihn als Politikwissenschaftler und als Leiter des Berliner International Center for the Studies of Antisemitism. Den Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag hält er für die größte politische Katastrophe und größte Krise des Parlamentarismus seit Jahren. Darum soll es jetzt gehen in der ‚Redezeit‘ mit Clemens Heni. Schönen guten Tag, Herr Heni.

Heni: Ja, guten Morgen, Herr Koch.

Koch: Schön, dass Sie da sind, aus Berlin gekommen

Heni: Genau.

Koch: Und in Köln übernachtet.

Heni: Genau.

Koch: Die Nacht gut überstanden?

Heni: War sehr schön, Zülpicher Straße.

Koch: Kann man machen.

Heni: Absolut.

Koch: Auch bei dem Wetter, war‘s die sichere Variante. Ja, heute ist mal wieder ne Bundestag-Sitzung mit wohl allen 92 Abgeordneten. Die kommen immer alle, was die anderen Parteien nicht so streng machen offensichtlich. Was ist schlimm daran, dass die AfD im Bundestag sitzt und dass sie heute dort auch als politische Kraft vertreten ist?

Heni: Ja, ich denk mal, die AfD verändert das politische Klima im Bundestag massiv. Sie hat eine sehr deutsch-nationale, nationalistische, würde ich sagen, und rassistische Agenda und verändert auch das Verhalten im Parlament. Ich habe vor kurzem einen Bericht über einen FDP, einen jungen FDP-Bundestagsabgeordneten gesehen, der fassungslos in der ARD in einer Sendung erzählt hat, er hört oftmals überhaupt nicht, was gesprochen wird, weil die einfach krakeelen. Also, das ist Tumult, ja. Das kriegt man gar mit so hier, wenn man Zeitung liest oder im Radio. Also die Sitzungen müssen komplett anders ablaufen. Das wird sich jetzt die nächsten Monate und eventuell Jahre auch für die Forschung als Thema zeigen. Wie verändern die das Klima. Historisch haben wir einfach die schlimmste aller Erfahrungen, was passiert, wenn ein Parlament von Rechtsextremen zerstört wird.

„Historisch haben wir einfach die schlimmste aller Erfahrungen, was passiert, wenn ein Parlament von Rechtsextremen zerstört wird.“

Koch: Es laufen jetzt Dinge ab, die eigentlich ja so Formalien sind im Bundestag auch, die sind drin, und wenn die Groko kommt, die stärkste Oppositionspartei, die AfD will auch einen Bundestagsvizepräsidenten stellen mit Albrecht Glaser, dann den Vorsitz im Haushaltsausschuss sollen sie bekommen und der AfD-Mann Roman Rausch, ehemaliger Oberstaatsanwalt aus Berlin, soll ins Parlamentarische Kontrollgremium berufen werden des Bundestages, das die Geheimdienste kontrolliert. Man könnte das jetzt ganz nüchtern sehen und sagen: ja da ist ne neue Partei, das steht denen eigentlich zu, in diese Funktionen dann auch zu kommen – oder man sagt, das darf auf keinen Fall passieren, weil daraus etwas Schlimmes resultieren würde. Welche Position haben Sie?

Heni: Absolut, also das sollte nicht passieren, weil die politische Kultur, also wie wir in diesem Land über andere Menschen reden, ja, was für Vorstellungen wir in der Öffentlichkeit diskutieren, ändert sich massiv. Also, wir hatten jetzt ja den Skandal mit nem Bundestagsabgeordneten, Jens Maier, der auf ungeheuer rassistische Weise, wie wir das früher wirklich nur von Neonazis in den 1980er und 90er Jahren kannten, einen schwarzen Deutschen beleidigt hat, Noah Becker, der Sohn von Boris Becker und Barbara Becker. Und solche Sachen von einem Bundestagsabgeordneten. Und das ist in diesem Land zwar in einigen Medien ein Skandal, aber nicht wirklich für die ganz große Gesellschaft, dass es jetzt Massendemos gibt mit 10, 100.000 Leuten, die sagen, Menschen mit schwarzer Hautfarbe werden auf diese Weise nicht beleidigt. Das müsste es geben, gibt’s aber nicht. Und da sehe ich eine große Gefahr, weil natürlich viele Menschen sagen, „der ist ja Bundestagsabgeordneter und wenn der sich dann halt so äußert mit nem Tweet dann ist das halt ein Bundestagsabgeordneter“. Und das legitimiert dann einen solchen Rassismus.

Koch: Aber was wird das jetzt konkret heißen für die Besetzung von Ämtern im Bundestag? Weil die AfD natürlich sich in der Opferrolle sehr gut gefällt wenn man sagt, „ihr dürft das nicht und wir werden das mit aller Macht verhindern“, gibt man natürlich was auf diese Mühle auch.

Heni: Klar, die versuchen sich natürlich immer als Opfer zu gerieren, das ist klar, vermutlich wird das formal grad bei dem Haushaltsausschuss schwer werden. Entscheidend ist, denk ich, dass die Gesellschaft insgesamt einen Blick drauf hat, was für ne extremistische Partei das ist, ja, unabhängig davon, welche konkrete Posten die haben. Und richtig gefährlich, in Österreich haben wir das jetzt ja auch, kann das werden, wenn wir über Geheimdienste reden oder über Verfassungsschutz, wo dann teilweise Leute sitzen, also in Österreich haben wir das Beispiel und bei uns wird es ähnliche geben, dass Leute die Beziehungen, also connections zu Neonazis, dann durchaus Daten bekommen, persönliche Daten von Leuten, die z.B. Demonstrationen anmelden usw. Das kann in Deutschland, wo wir nun 190 Tote haben durch Rechtsextreme haben die letzten 30 Jahre, sehr gefährlich werden.

Koch: Wie wirkt das in die Gesellschaft, was verändert sich dadurch im Alltag der Menschen, was auch Antisemitismus angeht aus Ihrer Sicht?

Heni: Also das ändert massiv etwas, wenn wir jetzt Leute haben im Bundestag wie Gauland, die ganz offen stolz sind auf die deutschen Soldaten in zwei Weltkriegen, dann heißt das ja, sie sind stolz auf das, was die getan haben. Und wir wissen, die Wehrmacht war beteiligt am Holocaust. Also haben die Leute überhaupt kein Problem mit dem Holocaust, sie leugnen den Holocaust gar nicht, obwohl sie ja auch Holocaustleugner haben bei der AfD, wie den Gedeon, sondern die sind sogar stolz auf die „Leistungen“ der deutschen Soldaten. Das würde ich als klar antisemitisch bezeichnen. Oder Begriffe wie „völkisch“ von Frauke Petry, die ja nun gar nicht mehr dabei ist bei der AfD oder „Volksgemeinschaft“; das sind Begriffe, die sind aus der Nazizeit und die haben damit einen antisemitischen Charakter. Und die sollte man nicht verwenden und die werden aber in der Öffentlichkeit immer schamloser verwendet, weil Bundestag ist natürlich salonfähig.

Koch: Aber nochmal zurück zu dem Punkt was man jetzt damit machen soll. Weil die fünfeinhalb Millionen Wählerinnen/wähler haben die AfD gewählt.

Heni: 5,8

Koch: 12,6%, sie sind da und sind auf demokratischem Weg in diese Position gekommen. Was sollte man damit tun jetzt aus Ihrer Sicht?

Heni: Richtig. Also erstmal muss man erkennen, wir haben ein Problem mit der Bevölkerung. Also, ich würde nicht sagen, wie das viele tun, z.B. auch in der Linkspartei, dass die Leute abgehängt sind oder besorgt sind oder irgendwie so was, aber ich denke mal, wenn man zu wenig Bushaltestellen hat irgendwo auf dem Land in Sachsen-Anhalt muss man deswegen nicht Nazis wählen. Und man muss das im Blick haben, dass die Bevölkerung weiß, was sie tut, indem sie Leute wählt, die einen bestimmten Nationalismus in Deutschland befördern und das muss man thematisieren. Das ganz konkret, da haben Sie völlig Recht, man kann da vermutlich formal erstmal wenig tun. Der Herr Glaser wird ganz sicher nicht Bundestagsvizepräsident werden, weil sich alle anderen demokratischen Parteien gegen ihn ausgesprochen haben. Insofern denke ich mal, gibt’s auch ganz klare Grenzen und so.

„Wir haben ein Problem mit der Bevölkerung“

Koch: Sie haben grade was Interessantes gesagt: Wir haben ein Problem mit der Bevölkerung. Wer sind „wir“?

Heni: Wir, wir ist gut, also wir beide vielleicht, aber ich sag mal, die kritische Öffentlichkeit oder die Leute, die die nicht gewählt ham. Ich würde jetzt nicht so weit gehen, was es ja auch gibt, dass man sagt, die 87% sind alle super, wir kommen ja vielleicht nachher noch drauf, dass die auch nicht alle super sind, aber, wir, sag ich mal, diejenigen zum mindesten diejenigen, die sie nicht gewählt haben. Also, das ist nun mal die große Mehrzahl des Landes, die haben nicht AfD gewählt. Aber wir haben ein Problem, weil die sitzen im Parlament und hatten eine ungeheuerliche – und Sie haben es angesprochen – das zeichnet natürlich extreme Rechte aus, die haben ne klare Ideologie und die wollen Präsenz zeigen, die wollen ja was erreichen. Während jetzt z.B. alle anderen Abgeordneten die arbeiten ganz stringent an Sachthemen, daran sind die nicht interessiert, die wollen ne bestimmte Agenda durchsetzen und das sind nicht unbedingt Sachthemen, wo CDU, SPD, Grüne und Linkspartei in irgendwelchen Ausschüssen sitzen und verpassen, ins Parlament zu gehen.

Koch: Jetzt gibt’s ja die Theorie, dass sie sich selbst entzaubern. So ist es ja auch bei rechten Parteien häufig gewesen, wenn sie in der Verantwortung waren. Würden Sie diesem Mechanismus trauen auf die AfD bezogen?

Heni: Also, viele dachten das, nachdem z.B. auch Frauke Petry und es diesen kleinen Bruch sag ich mal, gab. Aber es sieht nicht so aus. Es gibt ja auch Umfragen, nach der Bundestagswahl im September, wo man sieht, die haben nicht wirklich abgebaut. Aber, man kann das nicht wissen. Niedersachsen beispielsweise war die erste Landtagswahl nach der Bundestagswahl, da haben die, weiß nicht, 8% bekommen, da hat man gesehen, dass es vielleicht doch ein massiveres Ost-West-Gefälle gibt. Man kann das nicht wirklich wissen. Aber die politische Kultur hat sich jetzt schon massiv verändert. Und das ist ja nicht ein spontaner Prozess, sondern eben schon länger anhaltender Prozess.

Koch: So sieht das der Politikwissenschaftler und Antisemitismusforscher Clemens Heni, zu Gast hier in der WDR 5 Redezeit. Auch hier, weil Sie ein Buch aktuell veröffentlich haben in dem Essays von Ihnen zu finden sind – „Eine Alternative ZU Deutschland“ ist der Titel des Buches und der erst Satz darin lautet: „Für Otto Normalvergaser wie die Politiker- und Wähler/innen der Alternative für Deutschland ist die Welt von gestern noch in Ordnung gewesen.“ Otto Normalvergaser – warum haben Sie diesen Begriff gewählt? In Anführungszeichen.

„Otto Normalvergaser“…

Der Ausdruck „Otto Normalvergaser“ stammt von dem Publizisten Eike Geisel (1945-1997), Foto: privat

Heni: Ist ein Zitat von dem Publizisten Eike Geisel und ich denke mal, er hat mit diesem Satz den Kern oder einen Kern der politischen Kultur in der Bundesrepublik auf den Punkt gebracht. Weil für die Leute war offensichtlich der Holocaust, der Nationalsozialismus nicht wirklich das Problem. Weil für die Otto Normalvergaser soll darauf hinspielen, es waren eben nicht nur Himmler, Hitler und Heydrich oder Goebbels, sondern es waren Millionen Menschen. Nicht nur die NSDAP–Mitglieder, sondern auch die Wehrmachtssoldaten oder die Polizeibataillone, in allen Bereichen der Gesellschaft. Und für diese, wie er das nennt, und ich denke mal das ist ein polemischer Begriff, weil wir reden meistens von Otto Normalverbraucher und da ist Otto Normalvergaser eben ein polemischer Begriff, der denke ich mal die Deutschen auf ne sehr zugespitzte Weise charakterisiert.

Koch: Das ist ihm gelungen, glaube ich, dem Satz, ja. Darin steckt aber auch nicht unbedingt ein Gesprächsangebot. Weil, wenn ich jetzt als Wähler oder Wählerin der AfD mir das vorstelle, dann würde ich sagen, ja ok, für den bin ich ein Nazi, der wird gar nicht mehr mit mir diskutieren. Und das wird auch immer so bleiben. Ist das so?

Heni: Man muss erstmal nicht mit allen Leuten reden, das würde ich mal so sehen. Also, ich komm aus ner antifaschistischen Grundhaltung, als Student war ich in ner Gruppe, antifaschistische Gruppe, da ist klar, mit bestimmten Menschen redet man nicht, sondern ÜBER sie natürlich, ja. Also, Rechtsextremismus ist ein großes Thema in der Gesellschaft, über das muss man diskutieren. Und es wird meines Erachtens viel zu wenig über sie diskutiert.

Koch: Aber sind denn die Wähler der AfD für die Demokratie verloren aus Ihrer Sicht für alle Zeiten?

„existentialistischer Kern“ …

Heni: Nee, so was wie für alle Zeiten gibt es nicht. Aber, erstmal würde ich sagen, das Klima im Land muss sich ändern. Und das muss sich ändern, indem Demonstrationen, öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen, die sich mit der Kritik am Nationalismus beschäftigen, stattfinden, über Jahre hinweg, Jahrzehnte. Und dann ist das bei keinem Menschen verloren, weil, das ist ja der Kern sag ich mal, auch meines Buches, den ich als existentialistischen Kern – das ist ein philosophischer Begriff von Sartre der in ganz anderem Kontext verwendet wurde –, aber eigentlich heißt, der Mensch ist nicht festgelegt, sondern er wählt sich seine Welt selber.[i] Und dann ist es ne freie Entscheidung ob ich mich für eine homophobe oder rassistische oder antisemitische Partei entscheide, oder auch nicht. Was auch wiederum heißt, man hat sich mal dafür entschieden, kann sich aber das nächste Mal anders entscheiden. Das ist nicht festgelegt.

Koch: Dann würde der Begriff erstmal vielleicht daran gerüttelt haben, den Sie da gewählt haben. Aus Ihrer Sicht haben Plasberg & Co., die Medien, auch öffentlich-rechtlich, durch ihre Sendungen in der Wahlkampfzeit die AfD mit erfolgreich gemacht. Was hätten die Medien aus Ihrer Sicht anders machen sollen?

Heni: Richtig. Also Günther Jauch, Anne Will, sag ich mal auch, die hätten ganz viel anders machen müssen. Die hätten von Anfang an, öffentliche Veranstaltungen, wir reden ja über nun einstündige Talkshows oder dreiviertel Stunde, je nachdem, und diese Talkshows hätten sie Expertinnen und Experten bringen können, die aufklären. Was haben sie gemacht? Sie haben gedacht, und das war ein unglaublicher Reflex, dass dieser Nazibegriff von der sog. Lügenpresse, den haben sie aufgenommen und haben gedacht, wir müssen die Leute unbedingt ins Studio holen. Die Pegida hat das nicht gemacht, im Wesentlichen, aber die AfD hat das gern gemacht, weil sie gemerkt haben, ja wir sind ja ne Partei, sie wollen ja die Macht, sie wollen ja den O-Ton und zwar fünf Minuten ungeschnitten, und nicht irgendwie eingeordnet von einem Journalisten oder ner Journalistin, reden. Und da hat Anne Will oder Sandra Maischberger, Plasberg und wie sie heißen, denk ich, riesige Fehler gemacht, weil je mehr die auch provoziert haben mit rassistischen oder rechtsextremen Begriffen oder Äußerungen, sie immer wieder eingeladen. Selbst wenn die rausgegangen sind, wie Alice Weidel das gemacht hat, mitunter, hat das nicht geschadet. Am nächsten Tag kamen schon wieder die großen Anstalten ARD ZDF und wollten sie schon wieder haben. Wo man gemerkt hat, die wollen ja gar nicht diskutieren. Und das ist der Kern, was man kapieren muss, denk ich, und das sollten auch Journalistinnen und Journalisten verstehen, zu versuchen, die wollen nicht diskutieren, sondern sie wollen ihre rechtsextreme Agenda durchsetzen, auf die eine oder andere Weise. Mal mehr militant, mal weniger. Aber das ist der Kern des gesamten Projekts AfD.

Koch: Sind die Zuschauer und Zuschauerinnen denn aus Ihrer Sicht so leicht verführbar? Also merken die Menschen das denn nicht, wenn sich das wiederholt und wenn das menschenverachtend ist? Oder sind das dann die, die sagen, das finde ich genau richtig und endlich sagt es mal jemand. Das ist ja häufig ne Reaktion. Waren die nicht vorher auch schon dieser Meinung? Oder ist da doch tatsächlich aus Ihrer Sicht noch viel in Bewegung geraten auch was Wählerverhalten angeht?

Heni: Ja, das ist richtig, denke ich. Es ist, was quasi Leute schon davor dachten, wurde dann laut artikuliert. Und die Leute hatten ne Partei, die sie wählen können oder ne Bewegung, wo sie hingehen können, Pegida war ja quasi ein Teil oder Beginn, würd ich sagen, von der AfD, wo sie zu Tausenden, teilweise Zehntausenden auf die Straße gehen konnten. Und das ist glaub ich ein ganz entscheidender Punkt, dass die Leute davor natürlich schon bestimmte extrem rechte Einstellungen hatten, die aber nie irgendwie im Parteienspektrum sich so klar äußern konnten, weil die NPD war natürlich nun ne Neonazipartei, das war den Leuten irgendwie schon klar. Aber bei der AfD, auch wenn das teilweise ähnliches Personal und ähnliches Fußvolk, sag ich mal, ist das dann nicht mehr so klar für viele. Oder sie fühlen sich bestätigt, wie Sie ja sagten. Es gibt Leute, die hatten die gleichen Vorstellungen schon vor dem Aufkommen der AfD.

Koch: Genau. „Endlich sagt es mal jemand“ mit einem beherzten Schlag. Erfährt man immer häufiger und man begegnet diesen Stimmen auch in seinem eigenen Umfeld. Nun sind wir hier im öffentlich-rechten Sender. Sie sagen, ich muss nicht mit allen reden, als Wissenschaftler oder als politisch positionierter Mensch, sagen Sie, bestimmte Sachen mach ich nicht. Wir schon. Wir machen z.B. in der nächsten Stunde auch eine Call-in-Sendung, zu allen möglichen Themen, auch natürlich tagesaktuellen Themen, auch im Vorfeld der Wahl zum Thema AfD. Und es rufen uns Menschen an, die sagen z.B., sie haben Angst vor Islamisierung und wollen da etwas loswerden. Was tun mit diesen Stimmen aus Ihrer Sicht? Wenn einfach das Thema kommt, wenn Positionen kommen, die ganz klar auch durch die AfD abgedeckt werden?

Deutschland ist Exportweltmeister bei dem Thema Antisemitismus

Heni: Ja, also Thema Islamismus ist natürlich ein sehr zentrales Thema. Ich selber habe mich viel beschäftigt mit dem Thema Islamismus, weil ich das als Gefahr betrachte und da muss man ganz klar machen, dass es einen Unterschied macht, ob man das auf demokratische Weise thematisiert, den Islamismus, oder auf eine völkische Weise, in dem man sagt, nur die Nicht-Deutschen oder die Muslime würden auf einmal den Extremismus oder den Islamismus und Antisemitismus nach Deutschland bringen. Und wir haben Antisemitismus, ja, ich wir sind würde ich mal sagen Exportweltmeister bei dem Thema Antisemitismus. Ohne Hitler würde es keine Rufe geben „Juden ins Gas“ in allem möglichen Stadien in Holland, oder in Kroatien beispielsweise oder in der arabischen Welt. Da haben die Deutschen dieses Produkt Antisemitismus exportiert und tun das in gewissen Dosen wieder reimportieren. Aber der Kern des Problems ist die deutsche Bevölkerung und der Islamismus ist ein spezifisches Problem und man muss sich ja immer angucken, im Wesentlichen ist er ein großes Problem für die muslimische Welt, weil viele Muslime ja auch keine Islamisten sind und unter den Opfern sind, im Irak, Syrien und vielen anderen Ländern.

Koch: Was heißt das konkret wie man aus Ihrer Sicht damit umgehen sollte, wo wird dann eine Diskussion darüber, was ist Ihre Sensorik, wo Sie merken, jetzt wird es in einem Bereich kompliziert und dass Positionen da auftauchen, die nicht mehr zu einer, wie Sie gesagt haben, demokratischen Diskussion gehören.

Islamismus ist eine Gefahr, die man nicht „abbügeln“ sollte

Heni: Ja, also beim Thema Islamismus beispielsweise würde ich ganz klar sagen, wenn da jemand anruft und meint, es wäre eine große Gefahr, würde ich das jetzt nicht abbügeln und sagen, es ist keine Gefahr, weil es ist eine Gefahr. Und da haben glaube ich auch viele sich selber vielleicht als links-liberale oder links betrachtende Forscher*innen oder Journalist*innen vielleicht viele Jahre, wir reden meistens über die Zeit nach dem 11. September, da zu wenig drauf geachtet. Da würde ich also erstmal sagen, das ist ein Thema. Und dann muss man aber ganz klare Points machen, indem man sagt, na ja, der Antisemitismus ist im Wesentlichen auch ein deutsches Phänomen, dazu kommt auch noch ein von Muslimen getragener. Wobei viele Muslime auch Deutsche sind, muss man auch wissen. Viele Demonstrationen, die wir haben in Deutschland, in Berlin haben wir das häufig, von Antisemiten, das sind Muslime, die sind aber auch Deutsche häufig, also die haben nen deutschen Pass. Also muss man auch sehen. Flüchtlinge sind da ganz selten dabei, bei öffentlichen Demonstrationen. Da würde ich einfach, ist natürlich in 3 Min. vielleicht schwierig, am Telefon bei Ihrer Sendung heute Mittag, klar abstecken, dass das nicht das einzige Problem ist, sondern dass in Deutschland Antisemitismus weit in die Mitte in die Gesellschaft ragt. Und da merkt man das meistens, ob die Leute dann sagen, nee, sie sehen das nur bei Muslimen oder bei Einwanderern oder ob die sagen, na ja, wir haben das als gesamtgesellschaftliches Problem.

Koch. Dann nehmen wir das als kleine Coaching–Einheit noch mit in die nächste Stunde. Clemens Heni, Politikwissenschaftler, Antisemitismusforscher. Eine Alternative ZU Deutschland heißt die Sammlung Ihrer Essays und darin zeigen Sie auf, aus Ihrer Sicht, dass das deutsche sog. Sommermärchen, die Fußballweltmeisterschaft von 2006, die Pegida-Bewegung und den Einzug der AfD in den Bundestag letztendlich geistig vorbereitet hat. Sehen in dem schwarzrotgoldenen Fahnenmeer vor 11, 12 Jahren die Keimzelle für diesen Rechtsdrall, den wir jetzt erleben. Wie bauen Sie diesen Bogen zur Fußball-Weltmeisterschaft von 2006?

Heni: Also den Bogen baue ich über den Stolz auf Deutschland und dieser Stolz ist nur möglich, indem man auf ne offenere oder etwas verdruckstere Art und Weise die Vergangenheit abwehrt. Also den Holocaust oder den Nationalsozialismus, die werden nicht mehr Themen betrachtet, sondern die werden einfach hinweggefegt. Es gibt Publizisten, Matthias Matussek beispielsweise, der früher beim Spiegel war, dann bei Welt, bei Springer, auch rausgeflogen, aber der ist ein bekannter, mittlerweile katholischer Publizist, und der hat auf ne sehr aggressive Art und Weise genau 2006 ein Buch geschrieben, wo man genau merken kann, wie dieses deutsch-nationale Gefühl bei einem Publizisten, bei einem ganz bekannten Publizisten in Deutschland, sich Bahn bricht. Das hat erstmal mit der WM nichts zu tun, aber hat genau rein gepasst in dieses Schema, dass die Leute sagen, wir sind jetzt wieder wer. Und wir sind ganz unbefangen. Und es gibt ja auch empirische Studien, Dagmar Schediwy beispielsweise, ne Soziologin, die hat sich, was ich bemerkenswert, ja beeindruckend finde, wie die es geschafft hat, rein psychisch, auf diese Fanmeilen begeben als Wissenschaftlerin und Interviews gemacht. Und ein Buch gemacht und rausbekommen: die meisten Leute waren da nicht wegen dem Fußball da, sondern sie waren schwarzrotgold angezogen und waren ganz glücklich, rumzugrölen. Das war ein deutsches Fest für diese Leute, kein Fußballfest. Und ich denk mal, das muss man wirklich im Blick haben. Und ich hab ja dann später, bei der Ankündigung vom WDR 5 haben wir das ja, den „innerer Reichsparteitag“, ein Nazibegriff, der 4 Jahre später bei ner WM wieder aufgetaucht ist, von ner ZDF – Moderatorin, Katrin Müller-Hohenstein, wo ich dann denke, so ein Begriff, einfach so, das war ja nicht witzig, sondern hat sie verwendet …

Screenshot, Katrin Müller-Hohenstein, 2010, https://www.youtube.com/watch?v=tuqUIUQ0Af0

Koch: Miroslav Klose hat ein entscheidendes Tor geschossen, das war’s glaub ich, mit polnischem Hintergrund.

Heni: Gegen Australien, ja.

Koch: Ja, für Schalke 05 fliegt man raus und da geht’s noch weiter.

Heni: Ja.

Koch: Ist das auch so etwas …

Heni: Schalke 04 heißen die.

Koch: Eben, aber es hat mal Carmen Thomas hat Schalke 05 gesagt und ist rausgeflogen.[ii]

Heni: Ach verstehe.

Koch: Ich weiß, dass Schalke 04 heißt!

Heni: Ich dachte, Sie wussten das nicht, als Dortmunder.[iii] Ja, nee, klar, und ich denk mal da ist vielleicht die Sensibilität wirklich nicht sehr groß. Ich hab durch Zufall bei der Recherche dann ein Buch gefunden von irgend einem Opa, Opa Kalli heißt der, der hat für seine Enkel ein Buch geschrieben, vor einigen Jahren und genau sich mit diesem Begriff beschäftigt, weil der war so Jahrgang, weiß nicht was, 31 und war als Jugendlicher zur Nazizeit und hat diesen Begriff gehört, „innerer Reichsparteitag“, und hat ihn dann bis in die 70er Jahre hinein gehört und erinnert sich, wer den bis in die 70er benutzt hat und das war halt ein sehr strammer alter Nazi, den er kannte von seinem Freundes- und Bekanntenkreis.

Koch: Aber, im Umkehrschluss: hätte Katrin Müller-Hohenstein diesen Begriff nicht verwendet, hätte die AfD dann weniger Stimmen bekommen?

Heni: Ganz sicher. Ich denke mal, dann wären sie gar nicht …

Koch: Wow, das ist mal ne steile These. Wir haben sie, Katrin Müller-Hohenstein, ja!

„Wow, das ist mal ne steile These. Wir haben sie, Katrin Müller-Hohenstein, ja!“ (Thomas Koch)

Heni: Wobei, ich würde sie gar nicht, es geht mir jetzt gar nicht um sie jetzt als Journalistin, sondern ich denk mal, sie steht ja doch vielleicht eher für eine Tendenz, weil viele das einfach goutieren, es war kein Skandal, wie Sie es sagten. Schalke 05 gibt’s nen riesen Aufschrei, ja, aber bei dem „inneren Reichsparteitag“ nicht. Wir haben bis heute viele Rechtsextreme und die merken das, ich hab das im Buch zitiert, am gleichen Tag haben Neonazis in nem Medium, das mittlerweile verboten wurde, altermedia, sich genau darauf bezogen und waren happy und haben sich bedankt beim ZDF, weil sie merkten, endlich sagt‘s mal jemand. Also, die merken das.

Koch: In der Rückschau tun Sie uns damit natürlich Furchtbares an. Das Sommermärchen jetzt da in diesen Zusammenhang zu stellen. Ich war auch auf einigen Fanmeilen unterwegs, habe ganz andere Erfahrungen gemacht, dass es wirklich große Verbrüderungen gab, das was der Fußball auch bei diesen Massenveranstaltungen leistet, wunderbare Begegnungen gibt, die auch von Respekt und Toleranz und auch von einer gesunden Rivalität geprägt sind, und nicht von Nationalismus, das funktioniert aus meiner langjährigen Erfahrung als Fußballfan ganz hervorragend.

Heni: Ja…

Koch: Aber es haben ja viele so gesehen und ich kann mich noch genau daran erinnern: Ach, endlich dürfen wir auch mal so einen positiven Patriotismus entwickeln, dass wir uns auch mal uns die Landesfarben ins Gesicht malen dürfen. Viele Frauen waren plötzlich dabei, die vorher beim Fußball gar nicht so dabei waren. Die fanden das total klasse, dass sie da mitfeiern konnten und natürlich in den Farben. War das ein Trugschluss aus Ihrer Sicht?

Heni: Absolut, absolut. Man muss sie mal sehen, die deutsche Hymne. Ich hab im Buch hier ein Beispiel von 1933 bei der Einweihung von einer Siedlung, einer Wohnsiedlung in Stuttgart, Kochenhofsiedlung. Ich komme aus der Gegend und hab mich auch mit Architektur beschäftigt in dem Buch. Und da geht’s um ne völkische Siedlung, die also Satteldachpflicht hatte und so, wo dann die Häuser nicht so Flachdach sind wie in Israel, weil da war bereits damals, also Palästina damals, jedenfalls…

Koch : Liegt aber auch daran, dass es häufiger regnet, hier

Heni: Ja, ja, wahrscheinlich … Aber trotzdem: Architektonisch ist es interessant. Jedenfalls gibt’s die heute noch, die Weißenhofsiedlung in Stuttgart. Und das Gegenmodell war die Kochenhofsiedlung. Und in dieser Siedlung gabs dann ne Einweihungsparty mit „deutschem Holz“ und dem Horst-Wessel-Lied und dem Deutschland-Lied. Und es ist eben das gleiche Lied, das wir heute haben, auch wenn nicht alle Strophen gesungen werden von manchen. Ab und zu gibt’s auch Leute, die singen alle Strophen. Stefan Krawczyk hatte mal nen Empfang beim Bundespräsidenten, ich weiß nicht bei welchem, und hat alle drei Strophen singen wollen. Da musste man ihm sagen, das ist nicht angesagt. Es ist aber die gleiche Melodie, muss man ganz klar sagen. Oder ich nehme das beste Beispiel, ARD, Ingo Zamperoni. Der hat sich einmal getraut, vor 5,6 Jahren, beim Spiel

Ingo Zamperoni und die Ambivalenz …

Screenshot einer youtube-Seite mit Ingo Zamperoni von Juni 2012

Koch: Gegen Italien …

Heni: Ja, Italien, sozusagen er hat ein gespaltenes Herz, weil er eben ein Elternteil italienisch, eines deutsch ist. Und er hat so ein bisschen gelächelt, weil er wahrscheinlich ahnte, dass Balotelli hier die Sache zumachen wird und Italien gewinnen wird. Und das hat zu einem Shitstorm für den armen Mann und ich weiß nicht, ob er sich das nochmal getrauen wird, diese Ambivalenz … Und ich meine in Deutschland: Wir haben 18 Millionen ungefähr mindestens Leute, die haben unterschiedliche Herkünfte, die sind nicht alle, migrantische Gesellschaft, insofern…

Koch: Was ist denn dann der Unterschied, wenn ein 15jähriger, sagen wir mal Belgier, voller Begeisterung seine Landesfahne schwenkt bei einem Fußballspiel oder jetzt ham wir Handball-Europameisterschaft und wenn das ein deutscher 15jähriger macht. Wie können sie dem erklären, dass das nicht dasselbe ist.

Heni: Weil eben Belgien eine andere Geschichte hat als Deutschland. Also in Deutschland hatten wir eben die Geschichte dass übersteigerter Nationalstolz, wie das dann immer bezeichnet wird, 1933 zum Nationalsozialismus führte, also ein übersteigerter Nationalstolz oder überhaupt ein Stolz auf das Land. Ich würde noch ne ganz andere Dimension, das hab ich im Buch auch drin, das ist der sogenannte sekundäre Antisemitismus, das ist ein Antisemitismus der Abwehr der Erinnerung. Das heißt, wenn die Leute wir haben Umfragen, bis zu 80% wollen nichts mehr hören von der Nazizeit, 40% der unter 30jährigen wissen nicht, was Auschwitz war. Das sind schockierende empirische Ergebnisse. Und dann denke ich ist der große Unterschied zu Belgien, oder England und auch zu Holland, im Zweifelsfall, weil diese Länder eben nicht den Zweiten Weltkrieg verbrochen haben und eine ganze andere Geschichte haben.

Koch: Und sie würden ihm die Fahne wegnehmen deswegen?

Heni: Nee, aber ich würde ihn darauf hinweisen. Ein 15jähriger ist ein 15jähriger. Aber, wir reden ja im Wesentlichen über Erwachsene, die das organisieren. Bei Jugendlichen ist es ne ganz andere Story, um die geht’s jetzt mir hier nicht primär.

Koch: Wird das jetzt aus Ihrer Sicht, diese Verpflichtung und diese Verantwortung der Vergangenheit, der Geschichte gegenüber, wird das immer so bleiben müssen?

„keine Halbwertszeit für die Erinnerung an Auschwitz“

Heni: Also ich seh da jetzt keine Halbwertszeit für die Erinnerung oder so an Auschwitz. Also ich meine, das waren nie dagewesene Verbrechen und die werden erinnert. Man muss sich mal manche Sachen vorstellen: Wir erinnern heute alle möglichen positiven Aspekte, Französische Revolution ist ein großes Thema. Das ist 200 Jahre her und ist ja auch wichtig, zu erinnern. Und nach 70 Jahren nach den größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte ist seit Jahrzehnten das Thema, wann ist damit Ende. Ich meine, das muss man sich mal klar machen. Die meisten wichtigen Ereignisse, und das war das schrecklichste Ereignis, werden einfach tradiert und werden erinnert.

Koch: Nee, ich meine jetzt auch darauf bezogen, dass man sich nicht so daran erinnert, wie das der belgische Junge macht. Also dass es eine spezielle deutsche Erinnerung geben muss darauf.

„Die Belgier haben eben nicht sechs Millionen Juden umgebracht“

Heni: Das ist wichtig, natürlich. Ich meine, die Belgier haben eben nicht sechs Millionen Juden umgebracht. Und in Deutschland, wir haben jetzt Diskussionen beispielsweise mit den Besuchen im KZ. Wenn man sieht, dass 40% der unter 30jährigen, vor allem die Schülerinnen und Schüler, nicht mal wissen, was der Begriff bedeutet, dann ist das offensichtlich enorm notwendig, dass grade auch junge Leute, 15jährige einen Besuch machen im Rahmen eines Geschichtsunterrichts in einem Konzentrationslager, in einer Gedenkstätte. Denke ich, ist wichtig. Und das ist eben der Unterschied. Weil das in Belgien, Belgien war eben ein Opfer der deutschen Aggression im Zweiten Weltkrieg und nicht der Täter. Und deswegen ist das ein Unterschied. Und ich denke, das versteht ein 15jähriger Belgier dann schon auch und ein deutscher auch, im Zweifelsfall, wenn er eben in der Schule entsprechend oder in der Gesellschaft da drauf hingewiesen wird. Das heißt nicht, dass der Schuld ist, das wissen wir, darum geht’s ja immer, sind die schuld, das ist Blödsinn, aber er muss das anders erinnern, weil eben im Zweifelsfall sein Großvater ne andere Rolle spielte, 1941, als der von dem belgischen Kollegen.

Koch: Dann nehmen wir das als Schlusswort in dieser WDR 5 Redezeit, die sehr schnell verging, für Sie auch?

Heni: Ja, sehr schnell, ich dachte, wir sind grad 5 Min. vorbei.

Koch: Nee, das war fast ne halbe Stunde.

Heni: Ok.

Koch: Clemens Heni, Politikwissenschaftler, Antisemitismusforscher, Autor der Essaysammlung „Eine Alternative zu Deutschland“. Dankeschön für den Besuch in der WDR 5 Redezeit, alles Gute.

Heni: Ja, Dankeschön, schönen Tag.

Berlin: Edition Critic, 2017

ISBN 978-3-946193-17-3 | Softcover | 14,8x21cm | 262 Seiten | Personenregister | 15€

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info[at]editioncritic.de

[i] Jean-Paul Sartre wiederum hat diesen philosophischen Gedanken von Günther Anders (Günther Stern) übernommen: „Allerdings, eine eigentümliche Sonderstellung des Menschen konstatierte auch Günther Anders. Immer wieder machte er darauf aufmerksam, daß er schon sehr früh, 1929/30, in zwei Vorträgen über die Weltfremdheit des Menschen darauf verwiesen hatte, daß ‚wir Menschen auf keine bestimmte Welt und auf keinen bestimmten Lebensstil‘ festgelegt sind, die ‚Spezifizität‘ des Menschen also seine ‚Unspezifizität‘ ausmacht, Freiheit die Interpretation eines anthropologischen Defekts darstellt. Publiziert wurden diese Thesen 1934 und 1936 unter den Titeln Une Interpretation de L’Aposteriori und Pathologie de la Liberté. Zweifellos antizipierte Anders in diesen Reflektionen viel vom späteren Freiheitsbegriff Sartres (…)“ (Konrad Paul Liessmann (1993): Günther Anders zur Einführung, Hamburg: Junius, 25f.). Bereits 1988 als Teenager hatte ich mir im lokalen, gut sortierten, linken Buchladen Günther Anders‘ „Antiquiertheit des Menschen. Band 1“ gekauft und wenig später diese Stelle markiert: „Die ‚Unfestgelegtheit des Menschen‘, d.h.: die Tatsache, daß dem Menschen eine bestimmte bindende Natur fehlt; positiv; seine pausenlose Selbstproduktion, seine nicht abbrechende geschichtliche Verwandlung – macht die Entscheidung darüber, was ihm als ‚natürlich‘ und was als ‚unnatürlich‘ angerechnet werden solle, unmöglich. Schon die Alternative ist falsch. ‚Künstlichkeit ist die Natur des Menschen‘“ (Günther Anders (1956/1988): Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: C.H. Beck, 309).

[ii] https://www.mopo.de/sport/40-jahre-danach-carmen-thomas-spricht-ueber-ihren–schalke-05–klops-6425110: „Es war ein kleiner Versprecher mit großer Wirkung, als Carmen Thomas am 21. Juli 1973 im ‚Aktuellen Sportstudio‘ aus Schalke 04 ‚Schalke 05‘ machte.“

[iii] „Ewig spült der Ozean
Sein Wasser an die Küsten dran
Ewig regnet’s oder schneit es
Oder grade nichts von beides

Ewig ist der Sonnenlauf
von oben und unten auf die Erde drauf
Ewig spricht um Acht genau
Zu uns, dem Volk, die Tagesschau
(…)
Doch am allerewigsten
Das Einzigste seit eh und je
Das wissen nur die wenigsten
Das ist der BVB!“
(Thomas Koch (2016): Ernsthaft, Paderborn: Lektora, 36).

Foto: privat

 

P.S.: Aufgrund des Interviews in der FR vom 16.12.2017 bzw. 18.12.2017 (Online-Version) sowie der Ankündigung des WDR 5 Gesprächs mit dem Autor am 17.01.2018 wurden in NRW spontan ein Berg und eine Hütte nach mir benannt, was ich übertrieben finde, aber auch eine sehr nette Geste:

Foto: privat

Foto: privat

©ClemensHeni

Die Heinrich-Böll-Stiftung hat ein Antisemitismus-Problem

Von Dr. Clemens Heni, 9. November 2017

Die Heinrich-Böll-Stiftung hat ein Händchen für den neuen Antisemitismus. Mehrere ihrer Preisträger des Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken der letzten Jahre sind weltweit entweder als Holocaustverharmloser oder antizionistische Antisemiten berüchtigt.

Nehmen wir Tony Judt, den Preisträger von 2007, der 2003 schrieb, dass „Israel heute schlecht für die Juden ist“ und ein „jüdischer Staat“ ein „Anachronismus“ sei.

Judt machte sich gar nicht die Mühe, die verfassungsrechtlichen, politischen wie politisch-kulturellen Aspekte von Israel als dem jüdischen Staat zu analysieren, wie es in letzter Zeit die bekannten Forscher*innen Ruth Gavison, Fania Oz-Salzberger, Yedidia Z. Stern, Yaffa Zilbershats oder Alexander Yakobson getan haben.

Viele dieser israelischen Forscher*innen sind selbst Gegner der Besatzungspolitik, aber vehemente, zionistischer Verteidiger*innen von Israel als jüdischem Staat. Darauf verschwendete ein Judt keinen seriösen Gedanken, sondern agitierte gegen den Judenstaat und wurde dafür weltweit gefeiert, auch von der Böll-Stiftung.

2013 bekam der Holocaustverharmloser Timothy Snyder, ein enger Freund Judts, ebenfalls den Arendt-Preis, den die Stiftung zusammen mit dem Senat der Hansestadt Bremen seit 1994 jährlich verleiht. Snyders Bestseller Bloodlands ist eines der ungeheuerlichsten antijüdischen Bücher überhaupt, er macht sich geradezu einen Spaß daraus, zu betonen, wie klein die Gruppe der deutschen Juden gewesen sei, die im Holocaust ermordet wurde. Snyder schrieb, dass die meisten deutschen Juden, die 1933 lebten, eines „natürlichen Todes“ gestorben seien – warum also die Aufregung wegen des 9. Novembers 1938, Bergen-Belsen, den Wäldern von Litauen, Babi Yar oder Auschwitz?

Snyder ging noch weiter und meinte, der Westen, vor allem Europa, hätte die westeuropäischen Juden, die nach Auschwitz deportiert und dort vergast wurden, deshalb erinnert, weil das die „bourgeoisen Juden“ gewesen seien (!). Die armen osteuropäischen Juden würden hingegen vergessen, was an Infamie schwerlich zu überbieten ist, denn wenn jemand die Juden als die Opfergruppe der Shoah vergisst und klein redet, dann ist es Timothy Snyder.

In seinem Buch Bloodlands fantasiert er von einem Territorium, das es als solches natürlich gar nicht gab, in dem 14,5 Millionen Menschen ermordet worden seien – von Stalin und dann von Hitler. Es geht für den Revisionisten Snyder mit Stalin und der Hungerkrise in der Ukraine 1932 los, Auschwitz ist für ihn viel später, kein Zivilisationsbruch und nur ein Puzzleteil im Morden der beiden Diktatoren, als die er Stalin und Hitler in dieser völlig veralteten Forschung, die der Great Man Theory des 19. Jahrhunderts anhängt, präsentiert.

Völlig konsistent mit dem linken Geschichtsrevisionismus war die Preisverleihung des Arendt-Preises an Joachim Gauck 1997, einem Vorläufer von Snyder.

1997 wurde in Frankreich das „Schwarzbuch des Kommunismus“ herausgegeben, ein Jahr später eine deutsche Version, die schnell über 100.000 Mal verkauft wurde, auch dank der Bild-Zeitung und der Spiegel-Bestsellerliste. Joachim Gauck war als Autor mit dabei.

1998 beschrieb Konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza, was es mit Courtois, Gauck und diesem Buch auf sich hat:

„Polemiker, und ich bin einer, gelten in Deutschland als Leute, die immer nur alles niedermachen, wobei sie es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen und für ihre Behauptungen die Beweise schuldig bleiben. Dankenswerterweise hat der Herausgeber des ‚Schwarzbuchs‘ Stéphane Courtois in seinem Vorwort und in einem Gespräch mit seinem deutschen Beiträger Joachim Gauck für die Zeitung ‚Woche‘ mir die Belege für meine Unterstellungen im Dutzend hinterhergeworfen. Courtois sei eine Neuauflage des Revisionisten Ernst Nolte?

Courtois: Meine Position ist nicht sehr klar, aber im Moment neige ich zur Seite Noltes,

den [Rudolf] Augstein damals, wie erwähnt, dafür einen konstitutionellen Nazi genannt hat.

Gauck: Ich habe von einem polnisch-jüdischen Soziologen, Zygmunt Baumann [Bauman] gelernt, daß im Grunde der Holocaust nicht etwas speziell Deutsches, sondern ein Element der Moderne ist.‘

Auschwitz gehört zu ihr wie das Automobil.“

Und so redet heute, am 9. November 2017 noch jedes Medium über die wahnsinnig vielen Todesopfer an der „Mauer“ (über 140!) und antwortet auf 1938, das kaum auch nur erwähnt wird, mit 1989.

Norbert Lammert spricht dabei gerne von der „wechselvollen“ deutschen Geschichte, mal hui, mal pfui, aber Hauptsache, es ist „unsere“ Geschichte, Teil des deutschen Erbes. Darauf sind wir stolz, gerade auch, wenn es für einige mal nicht so toll lief, wie für die Juden am 9. November 1938, aber dafür erinnert auch niemand so toll wie die Deutschen, insinuieren die Lammerts.

Dazu kommen jene Nazis, die täglich versuchen noch widerwärtiger zu werden, die Anne Frank-Pizzas verschicken oder sonstige antisemitische Attacken fahren – und das im direkten Umfeld und mit Mittun von AfD-Politikern, ob nun online auf Facebook, Twitter, oder offline am Stammtisch, in der Zeitung, beim Bäcker oder beim Klauen von »Stolpersteinen«.

Die Elite, vorneweg das Hamburger Institut für Sozialforschung, Jan-Philipp Reemtsma und sein Anhang, wie auch Joachim Gauck, machen das galanter, salonmäßiger, wie Gremliza bezüglich der Buchvorstellung des „Schwarzbuchs“ im Hamburger Thalia-Theater am 15. Juni 1998 festhielt.

Gremliza 1998:

„Wer vom Kommunismus reden muß, wenn er auf den Nationalsozialismus angesprochen wird, ist nicht auf Erkenntnis aus, sondern auf Propaganda.“

Soviel zum erinnerungsabwehrenden Drive bei der Heinrich-Böll-Stiftung, die sowohl Gauck als auch Snyder mit dem Hannah Arendt-Preis bedachte.

2017 nun also ein sehr bekannter und für „Linke“ sehr wichtiger Gegenintellektueller, der gerade keine Mythen knacken (das tun Intellektuelle), sondern antisemitische Mythen in den Mainstream transportieren möchte: Etienne Balibar.

Er ist als Unterstützer der antisemitischen Boykott-Divestment-Sanctions-Bewegung (BDS) berüchtigt. Der BDS-Begründer Omar Barghouti feiert Balibar, der auch von vielen anderen antiisraelischen Aktivist*innen als Idol verehrt wird. 2009 agitierte Balibar gegen Israel und warf dem Judenstaat eine 60jährige (!) Besatzungs- und Kolonialpolitik vor, womit schon deutlich wurde, dass es ihm gerade nicht um eine Verbesserung Israels und eine Kritik der Besatzung des Westjordanlandes im Zuge des Sechstagekrieges 1967 geht, sondern um das zionistische Projekt an und für sich.

Mehr noch: Balibar wandte sich kurz nach Ausbruch der zweiten Intifada, als er Israel besuchte, in einer Erklärung gegen den jüdischen Staat und insbesondere dagegen, dass Israel im Namen der Opfer der Shoah spreche, wie Elhanan Yakira aus Jerusalem betont. Balibar ist nicht nur bei den Verlagen Westfälisches Dampfboot, Argument oder Decaton eine Säule alt-linker Publizistik, sondern er ist vor allem ein Schüler des marxistischen Gurus Louis Althusser.

Balibar hat auch Anhänger in Frankreich, wie den alten rechtsextremen Vordenker der Nouvelle Droite, Alain de Benoist, wie der Philosoph an der Hebräischen Universität Jerusalem Elhanan Yakira schon vor Jahren in einer Studie über Zionismus und Post-Zionismus analysierte. Dabei betont Yakira auch die Neuherausgabe eines Bandes zu Hobbes von Carl Schmitt durch Balibar (mit einem Vorwort des französischen Stars). Dies ist ein Buch, das Schmitt während des SS-Staates schrieb und laut Yakira besonders durch antisemitische Ausfälle auffällt. Das wiederum mag den Schmittianer de Benoist erfreuen. Lechts und rinks gegen die Juden oder Israel, je nach Bedarf.

Der Vorstand wie die Jury für den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V. (Mitglieder des Vorstandes: Prof. Antonia Grunenberg, Peter Rüdel, Ole Sören Schulz, Prof. Eva Senghaas-Knobloch Jury: Prof. Thomas Alkemeyer (Oldenburg) Prof. Katajun Amirpur (Köln) Prof. Antonia Grunenberg (Berlin/Oldenburg) Prof. Karol Sauerland (Warschau) Prof. Christina Thürmer-Rohr (Berlin)) zeigen an, dass wir es hier mit der kulturellen und wissenschaftlichen Elite des Landes zu tun haben.

Sie würden laut aufschreien, wenn ein Alexander Gauland demnächst mit der AfD-nahen „Stiftung für unpolitisches Handeln im Sinne der Metapolitik“ Ernst Nolte, Carl Schmitt oder Ernst Jünger posthum den Ehrenpreis verleihen würde.

Aber einen Gauck, Snyder oder Balibar ehren die frommen Grünen. Das ist noch nicht mal gegen das Denken von Hannah Arendt gedacht, die ja immerhin scharf antizionistisch war und Gershom Scholem wie Arendts früher Mentor und gleichsam väterlicher Freund Kurt Blumenfeld (der ihr das Rauchen näher brachte etc.) sich angewidert von Arendt abwandten, wie nach ihrem Text „Zionism reconsidered“ von Herbst 1945, wie Blumenfeld bekanntlich in einem Brief an Felix Rosenblüth im Januar 1946 schrieb.

Arendt war zudem die Geliebte von Martin Heidegger, auch nach 1933 und nach 1945 hielt sie treu zu ihm, nicht zu vergessen ihre unhaltbare These von der „Banalität des Bösen“ und ihr Kleinreden des Judenhasses bei Adolf Eichmann, bar jeder empirischen Grundlage (Eichmanns Antisemitismus wurde seitdem intensiv erforscht, nicht nur vom Historiker Hans Safrian).

Insofern würde sich als Böll-Preisträger auch Marc Jongen anbieten, ein Heidegger-Jünger, insofern er Sloterdijk-Schüler ist und den Zorn oder die griechische „Lebenskraft“ (heute: Pegida-Faust), den „thymos“ wieder losschlagen lassen möchte.

Der Protest, den es kürzlich in den USA wegen der Einladung an den AfDler im Bundestag Jongen zu einer Arendt-Tagung im Staat New York gab, war völlig richtig aber insofern absurd, also auch Judith Butler oder Seyla Benhabib und Axel Honneth protestierten. Benhabib hat Israel schon mal mit dem Faschismus oder Nationalsozialismus der 1930er Jahre verglichen, Butler behauptet, der Zionismus sei kein Teil des Judentums und sie bekämpft den jüdischen Staat mit allem, was sie hat, und Axel Honneth hat ihr dafür den Adorno-Preis der Stadt Frankfurt verliehen, 2012.

Diesen Widerspruch löste der ZEIT-Autor nun überhaupt nicht auf, sondern promotete seinerseits Agitatoren wie Balibar oder Butler als Helden der Kritik – dabei ergänzen sich die rechtsextreme Hetze der AfD und Jongen mit der linken Agitation gegen den Staat der Juden aufs Perfideste. Kein Wort dazu vom ZEIT-Autor Hannes Bajohr:

„Reaktionen aus der akademischen Welt ließen nicht lange auf sich warten: Ein offener Brief, unterzeichnet von mehr als fünfzig Wissenschaftlern, darunter akademische Stars wie Judith Butler, Étienne Balibar und Axel Honneth, nannte Jongens Einladung einen schwerwiegenden Fehler, der es dem ‘Parteiphilosophen‘ der AfD erlaubt habe, das Prestige des Arendt Center für seine eigene Agenda zu missbrauchen“.

Balibar sei also ein „akademischer Star“, aber von seinen BDS-Aktivitäten schreibt Hannes Bajohr gerade nichts. Wenn die ZEIT oder Grüne etwas können, dann ist es heucheln. Sich als links geben und gegen die AfD sein, aber vom linken Antisemitismus und von BDS besser schweigen; sich ökologisch geben, aber mit der Autoindustrie kungeln, sich als Verteidiger von Deniz Yücel aufspielen, aber sich strikt gegen massive Maßnahmen gegen die Türkei wenden, wie die Beendigung der Beitrittsverhandlungen, und sich vorgeblich gegen Antisemitismus wenden, aber permanent antisemitische Personen mit dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken feiern.

Der Vorstand des Böll-Stiftung Ralf Fücks wendete sich 2014 gegen den Arendt-Preisträger 2002, den vulgären und aggressiven Antisemiten Gianni Vattimo, den Fücks als Israelfeind ablehnt und ihm den Arendt-Preis durchaus absprechen möchte, was aber nicht geschah. Wie soll man Fücks‘ Attacke auf Vattimo anders lesen, denn als Heuchelei, wenn doch die gleiche Stiftung auch einen Tony Judt – „Israel ist schlecht für die Juden“ – und jetzt 2017 mit Etienne Balibar einen anderen üblen antizionistischen Antisemiten, der die antiisraelische BDS-Bewegung unterstützt, ehrt?

Das alles zeigt nur, dass die Heinrich-Böll-Stiftung und die Freie Hansestadt Bremen Weltmeister im Heucheln und Deutsche Meister im Verteilen von Orden an Israelfeinde und Holocaustverharmloser sind.

„Deutschland, Deutschland, du tüchtiges Land“ (Antilopen Gang).

©ClemensHeni

 

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