Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Benjamin Netanyahu

Jenseits von „sine ira et studio“ – Antisemitismuskritik und Linkszionismus, noch einmal: Eva Illouz

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Im ersten Band des Handbuchs religionswissenschaftlicher Grundbegriffe von 1988 gibt es das Stichwort „Antisemitismus“. In dem Beitrag wird die Geschichte des Antisemitismus dargestellt, wobei völlig richtig auch der Antizionismus unter Antisemitismus rubriziert wird:

…freilich lebt [der Antisemitismus] der Sache nach fort im ‚Antizionismus‘ der sich seinerseits als Antirassismus ausgibt“. (S. 497)

Bei der Analyse des Antisemitismus betont der Autor, dass es hierbei „durchaus nicht ’sine ira et studio'“ (S. 496) zugehen solle, wer ganz neutral, abwägend über Judenhass schreibt, hat nicht verstanden, um was es sich dabei handelt.

Am Ende des Eintrags heißt es unter „VII. Antisemitismus nach 1945“:

Nach der Shoah ist A. nicht mehr hoffähig. Wer ihn deshalb für erledigt hält (allenfalls noch eine Sache der ‚ewig Gestrigen‘), übersieht die Surrogate, die doch im Kern dasselbe fortsetzen. Der Antizionismus kritisiert kein Volk und keine Rasse – wohl aber alle Juden, die zu Israel eine Beziehung haben. Der Mechanismus ist perfekt. Der Antizionist kann gar kein Antisemit sein, denn A. ist Rassismus, Zionismus ist (mit UNO-Mehrheit beschlossen) Rassismus, ergo: der Antizionist ist Antirassist und kann deshalb gar kein Antisemit sein (vielmehr kritisiert er die Juden, weil …) (vgl. die polemische, aber in der Aufdeckung dieses Mechanismus sehr wichtige Arbeit von Finkielkraut [„Der eingebildete Jude“, 1982, CH]). Abermals verschlingen sich im Antizionismus Rationales (berechtigte Kritik an der Politik der Regierungen Israels) mit irrationaler Überschätzung der politischen und ökonomischen Möglichkeiten der Juden und dem Erbe der antisemitischen Traditionen. (S. 504)*

Es ist vor diesem Hintergrund merkwürdig, dass der ARD-Tatort-Schauspieler Hans-Jochen Wagner angesichts der Nominierung des Medienunternehmers Wolfram Weimer, der von Religion, Familie und Tradition fabuliert und vom „eigenen Blut“ oder der „eigenen Sippe“ raunt, die aussterben würden, als neuer Kulturstaatssekretär unter Schwarz-Rot und Friedrich Merz, in einem Interview mit dem STERN ausgerechnet das Thema Künstler*innen und Gaza erwähnt und moniert, dass manche Kunstschaffenden sich politisch erklären müssten, um auftreten zu dürfen („Egal wie man zum Gaza-Konflikt steht, sollte es uns doch allen unangenehm sein, internationale Künstler irgendwelche Grundsatzpapiere unterschreiben zu lassen, bevor sie auftreten dürfen.“) Er hat nicht mitbekommen, wie antisemitisch und antiisraelisch oder eiskalt weite Teile seiner Kunstszene/Musikszene/Schauspielerszene nach dem 7. Oktober 2023 reagiert haben. Gab es Großdemonstrationen von Tatort-Schauspieler*innen gegen das genozidale Massaker der Hamas an Jüdinnen und Juden?

Was heißt „Egal wie man zum Gaza-Konflikt steht“? Damit meint er womöglich, dass es doch egal sei, ob man für oder gegen islamistischen Antisemitismus und das Abschlachten von Juden durch die Hamas ist.

Der Antisemitismus weiter Teile der Kulturszene wie im ganzen Land, der zeigte sich ja exakt am 7. und 8. Oktober 2023, Wochen vor einer militärischen Reaktion Israels.

Ganz anders hingegen die israelisch-französische Soziologin Eva Illouz. In einem Interview mit der Zeitschrift K. Jews, Europe and the XXI Century vom 10. April 2025 spricht sie über Antizionismus, Linkszionismus und den Kampf gegen den Antisemitismus. Bekanntlich wurde Illouz dieses Jahr der Israel-Preis verliehen, doch der aktuelle israelische Bildungsminister Yoav Kisch forderte die Jury auf, ihr den Preis nicht zu geben. Daraufhin gab es tatsächlich eine zweite Abstimmung, die sich aber doch wieder für Illouz aussprach, aber ein Jurymitglied stimmte jetzt gegen Illouz, da sie – das war der Aufhänger für Kisch – 2021 mit über 180 anderen Israelis eine Petition an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag unterschrieben hatte, die sich gegen Kriegsverbrechen Israels im Westjordanland wendet. Dieses Jurymitglied wendet sich nun gegen Illouz und bezichtigt sie in geradezu islamistischer Manier des Verrats, auf dem die Todesstrafe stehe:

In my case and that of the prize, one of the members of the scientific committee changed her opinion and voted against me during the second meeting of the committee that the minister had demanded. The reason she invoked is nothing but stunning: she invoked an old Jewish law that designates Jews as “traitors” if they hand them over to non-Jews. This old religious law invokes the obligation to kill them. The last time it was invoked in public discourse was before Rabin’s murder.

2024 sollte der Israel-Preis in der Kategorie „technologische Innovation“ an den Unternehmer Eyal Waldman verliehen werden. Waldmans Tochter Danielle Waldman und ihr Freund Noam Shai wurde von den Jihadisten am 7. Oktober 2023 auf dem Nova-Festival ermordet. Eyal Waldman war vor dem 7. Oktober als Kritiker von Netanyahu und der geplanten „Justizreform“, die sich gegen die Gewaltenteilung positioniert, in Erscheinung getreten und ist als Unternehmer, der viele Palästinenser*innen beschäftigt, bekannt. Waldman wurde auf Initiative von Yoav Kisch der Israel-Preis nicht verliehen, wie unter anderem Haaretz berichtete.

Es war tatsächlich der Mord an Rabin im Jahr 1995, der für Eva Illouz eine Welt zusammenbrechen ließ, wie sie in dem Interview sagt:

For me, the break came when Rabin was assassinated in November 1995 and Netanyahu, who had led a campaign to demonize Rabin because of the Oslo process, was elected a few months later in 1996. That was when I realized that something very bad was brewing. That was the moment of the great rupture. I understood that the religious messianists had power and that they were leading Israel to disaster. I hoped I was wrong.

Ihr Traum von Zionismus war inklusiv, auf Frieden und Zweistaatlichkeit ausgerichtet, ein Staat für die Juden, einer für die Palästinenser. Mit dem Mord am versöhnenden Rabin und dem ersten Wahlsieg von Netanyahu 1996 war dieser zionistische Traum schon fast beendet.

Und seitdem wurde es noch viel schlimmer. Der Antisemitismus wurde schlimmer.

Die Isolation Israels wurde schlimmer.

Die innere Spaltung des Landes Israels wurde noch gravierender.

Die Situation der Palästinenser angesichts von Jihad, Hamas und Islamismus, aber auch der Rassismus Israels gegenüber den Palästinensern, wurden auch noch viel schlimmer.

In einer brillanten Analyse spricht Eva Illouz von einer „Autoimmunerkrankung“ Israels – die primär den Premierminister Benjamin Netanyahu, aber auch weite Teile des Landes und der Wählerschaft infiziert hat:

The body can no longer distinguish between healthy and diseased tissue. This is what is happening in Israel. The proof? Before October 7, Netanyahu was so busy seeing the demonstrators as enemies that he did not see where the real enemy was. He did not listen to the warnings about Hamas. This government acts as if those who fight to prevent Israel from becoming a pariah state were enemies. This is an autoimmune political disease.

Die Neue Rechte, zu der Netanyahu zu zählen ist, hat im Westen seit vielen Jahren einen turbo aggressiven Kulturkampf begonnen, von Victor Orbáns Agitation gegen den Juden George Soros über Donald Trumps philosemitische Israelkumpelei bei gleichzeitiger Hofierung von Neonazis wie den Proud Boys bis hin zur AfD, den Neuen Rechten in Holland, Frankreich, Italien und vielen anderen Staaten. Familie, Reproduktion, Tradition, Anti-Inklusion, Anti-Gender, Antifeminismus, Kapitalismus, Naturzerstörung, Religion und Kampf gegen alles Linke sind die zentralen Topoi dieser Szene.

Es ist ein Kampf gegen den Universalismus und das große Versprechen des Zionismus, der Souveränität für Juden bei gleichzeitiger Freiheit für die Palästinenser bedeuten sollte – so Illouz:

I fight for peace and brotherhood with the Palestinians, those who want to live in peace, for the maintenance of democracy in Israel, and at the same time I fight against antisemitism. Only ideology and the social division of political camps make these tasks incompatible. I try to hold both ends even if it is sometimes uncomfortable. The big question this raises is this: if Zionism is hijacked by an authoritarian and anti-democratic political project, what will be left of it? Not much, I think. The endless war that Israel has been waging since the creation of the state has blunted a certain human gentleness, its capacity for universal brotherhood, its ability to distinguish between force and legitimacy. Enemies are seen everywhere and the wrong friends are chosen.

Wer ein klein wenig Einblick hat in die Pro-Israel-Szene in Europa, Deutschland oder den USA, weiß: wer nicht auf Linie ist, ist nicht Teil dieser Szene. Wer sich zum Beispiel schon 2017 gegen den Sexisten und Verschwörungsantisemiten Donald Trump wandte, wurde aus sogenannten Pro-Israel Gruppen mitunter ausgeschlossen, während ganz große Denker, Marxisten aus Wien vorneweg, und ihre Epigonen wie Nachbeter in Trump Hegels „List der Vernunft“ zu erahnen vermochten („Da lacht der Horst. Die neue Querfront? Mit Hegels „List der Vernunft“ für Trump…) und den Ton angeben.

Ganz zentral ist folgender Satz bei Illouz:

I fear that the political and moral culture of this country has been destroyed by the Occupation and messianism.

Wo finden sich in aktuellen Konferenzen, Vorträgen oder Symposien in Deutschland diese Themen: Besatzung, Messianismus und religiös-nationalistischer Fanatismus in Israel? Das sind Themen, die nicht zu Themen gemacht werden. Illouz weiß das sehr wohl, warum das so ist, auch sie redet in Israel anders als in Frankreich. In Israel ist sie Teil der Mehrheit und spricht vom israelischen Rassismus, in Frankreich ist sie eine kleine Minderheit und spricht mehr vom Antisemitismus.

Aber der Unterschied ums Ganze zu weiten Teilen der (primär nicht-jüdischen) Pro-Israel Szene in Deutschland liegt darin, dass Illouz auch hier und heute von Frankreich aus Netanyahu frontal angreift und ihn als eine riesige Gefahr für den Zionismus und die Zukunft des Staates Israel erkennt:

I protest against Netanyahu’s authoritarian excesses and the corruption of his government, against the destruction of lives in Gaza, I fear for the future of Israel, which is being undermined from within by too much division and dissent.

Das heißt hier und heute: Wer die aktuelle Hungersnot in Gaza nicht sieht – seit zwei Monaten lässt Israels aus Perfidie keine Hilfslieferungen hinein -, will sie nicht sehen und sieht in nahezu jedem, der sie erwähnt, einen Antisemiten und Israelfeind.

Selbstredend sind jene, die hier und heute und seit dem 7. Oktober 2023 mit Keffiyah rumlaufen oder Palästina-Symbole wie Fahnen an den Balkon oder das Fenster hängen oder entsprechende Aufkleber verkleben, fast immer Antisemiten.

Wer wirklich für Palästina ist, wäre ja schon seit Jahrzehnten gegen die Hamas aktiv und für ein freies Palästina Seite an Seite mit Israel. So wie das aktuell Hamza Howidy in Deutschland ist – als palästinensischer Flüchtling, der vor der Hamas floh – und Tausende andere, sehr mutige Menschen in Gaza, die ihr Leben gleich doppelt aufs Spiel setzen: sie könnten bei Demonstrationen von Israelis (der IDF) erschossen werden oder von der Hamas erkannt und am nächsten Tag massakriert werden.

Ein Intellektueller stellt sich gegen die Mächtigen. Doch was wir nicht nur hierzulande erleben ist ein Gruppendenken und ein monothematischer Rollback, der katastrophal ist: Wer nicht für Merz ist, ist gegen Israel, wer nicht für Weimer ist, ist links und wer links ist, ist antisemitisch.

So einfach ging das schon bei Corona – wer nicht für den irrationalen Maskenwahn oder die (verglichen mit richtigen Impfungen) epidemiologisch sinnfreie ‚Impfung‘ war, war ein Nazi und Schwurbler.

Beim Ukraine-Diskurs werden alle, die gegen Militärhilfen für die Ukraine und für eine diplomatische Lösung sind, als Putinversteher delegitimiert und vom Diskurs ausgeschlossen.

Beides, der Corona- wie Ukraine-Diskurs und das Reden im Mainstream wie im Duktus von Wahrheitsministerien fällt mittlerweile sogar – am Rande – der ZEIT auf („Lassen Sie uns bitte reden. Wir dürfen beim Thema Krieg und Frieden nicht dieselben Fehler machen wie während der Pandemie. Fordern diese Autorinnen und Autoren„.)

Wenn dann hierzulande jemand vom „postfaktischen Zeitalter“ redet, sind so gut wie nie die Verdrehungen, Halbwahrheiten oder schlichten Lügen („2G schützt vor Übertragung und Verbreitung des Virus“ etc. etc. etc.) der Corona-Politik-Apologeten (m/w/d) gemeint, sondern nur die irrationalen Trottel, die es in der Szene der Corona-Politik-Skeptiker*innen ja tatsächlich in nicht geringer Anzahl gibt.

Wenn hier jemand vom „postfaktischen Zeitalter“ redet, ist fast immer nur Putin gemeint, wenn es um Osteuropa geht (oder Orbán, was jeweils nicht falsch ist, aber nur die halbe Wahrheit) – aber eigentlich nie die Lügen der NATO, die sich seit Anfang der 1990er Jahre extrem aggressiv gegen Osteuropa ausgebreitet hat, obwohl es die mündliche und im Protokoll schriftlich fixierte (!) Zusage gab – gegenüber der UdSSR, die sonst niemals für eine „Wiedervereinigung“ Deutschlands gestimmt hätte! – dass sich die NATO „nicht einen inch ostwärts“ bewegen würde, wenn sich DDR und BRD zusammen schließen würden. Und von den Denkmälern und Straßenbenennungen für Nazikollaborateure und Holocausttäter in der Ukraine sprechen solche, die gerne vom „postfaktischen Zeitalter“ reden, auch fast nie.

Wo waren die zionistischen Demonstrationen gegen Trumps Pläne der Abschiebung aller Palästinenser*innen aus Gaza, um dort ein Immobilienparadies für seine kriminellen und korrupten Machenschaften und Kumpels (inklusive Netanyahu) aufzubauen?

Es ist und bleibt ein Elend: Wer als Intellektueller Kritik an Mythen übt und zudem zionistisch ist, ist eben Linkszionist und insofern vom riesigen staatsautoritären Netanyahu-Lager als Feind deklariert.

Wer hingegen Kritik an Netanyahu nur als Vehikel benutzt, um den Zionismus an und für sich abzulehnen, zeigt seine antisemitische Fratze, wenn auch oft hinter einer Maske versteckt.

Das macht die Position von Eva Illouz so nahezu einzigartig, jedenfalls was richtig berühmte heutige Intellektuelle betrifft. Sie ist und bleibt links und zionistisch. Punkt. Ich hatte darüber ja schon im Dezember 2024 berichtet.

„Woke“ Linke haben sich spätestens am 8. Oktober 2023 großteils als Antisemiten geoutet. Sie haben gekichert, geklatscht – oder geschwiegen. Nur ganz wenige gingen die Tage danach auf Pro-Israel Kundgebungen oder Demonstrationen, während im Januar 2024 Hunderttausende an Anti-AfD-Protesten teilnahmen, weil sich im November 2023 in Potsdam extreme Rechte trafen und mit der AfD rassistische Gedankenspiele diskutierten.

Doch das schrecklichste Massaker an Juden seit der Shoah hat die exakt gleichen „woken“ Linken nicht schockiert oder zum Protest animiert.

Die Rechten sind nicht besser, nur anders gepolt. Sie hetzen gegen Leute, die gegen die Familienideologie sind, gegen Religionskritiker*innen und Säkularismus und gegen Leute, die die Klimakatastrophe thematisieren und gegen sie aktiv werden. In Israel werden Kritiker*innen der Siedlungspolitik als Feinde gesehen, als ob sie Islamisten wären – dabei sind die wahren Feinde des Zionismus die militanten Siedler*innen, da sie die Worte Kompromiss, Gleichberechtigung und gleiche Rechte für Palästinenser nicht kennen.

Mittlerweile gibt es auch in Israel eine Kritik am „woken“ Konservativismus (!) – an einer „Reinheit“ der eigenen Reihen, wie es der Präsident der Ben-Gurion Universität Professor Daniel Chamovitz in der Times of Israel ausdrückt.

Am Ende des Interviews sagt Eva Illouz dann einen Satz, den hierzulande nicht eine bekannte zionistische Person – angenommen es gäbe eins ähnlich bedeutende zionistische Persönlichkeit in Deutschland, wie Eva Illouz es in Frankreich/Israel ist – zu formulieren in der Lage wäre, weil so einen Satz nur eine Intellektuelle und somit eine Linke, eine Linkszionistin zu denken und sagen vermag:

The position of the intellectual requires managing the tension between loyalty and truth all the time. I love Israel, but I am horrified by its authoritarian excesses and what seems to be a profound corruption of the state apparatus…

 

 

*Jürgen Ebach (1988): Antisemitismus, in: Hubert Cancik/Burkhard Gladigow/Matthias Laubscher (Hrsg.) (1988): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Band 1, Stuttgart: Kohlhammer, S. 495-504.

Gert Weisskirchen/Clemens Heni: Der Spiegel und das Gerücht über die Juden

In einem Text im Nachrichtenmagazin Der Spiegel vom 13. Juli 2019 schreiben gleich sechs AutorInnen um den SpiegelOnline Chefreporter Matthias Gebauer herum über eine „Gezielte Kampagne“ von Juden und pro-israelischen Lobbygruppen, die Bundestagsabgeordnete beeinflusst hätten, sich gegen die BDS-Bewegung und gegen Antisemitismus zu stellen. Man muss da schon fast lachen, wäre es nicht so ernst und schockierend, denn eine Kampagne sollte ja in der Tat „gezielt“ sein, sonst wäre sie ja keine.

Die AutorInnen behaupten ohne Beleg, dass die BDS-Bewegung „eine in Deutschland unbedeutende Initiative“ sei. Nicht ein antisemitischer Vorfall wie das Stören von Veranstaltungen mit israelischen PolitikerInnen oder mit Holocaustüberlebenden an der Humboldt-Universität zu Berlin, das gewalttätige Stören einer Veranstaltung von Keren Hayesod, dem israelischen Nationalfonds, vor einigen Jahren, oder die Agitation für BDS auf einer größeren „antirassistischen“ Demonstration in Berlin vor wenigen Jahren werden auch nur erwähnt.

Noch nicht mal der weltweit Schlagzeilen machende Skandal über antiisraelische Tendenzen und einen antiisraelischen und tendenziell Pro-BDS Tweet des Jüdischen Museums Berlin, was zum Rücktritt des Leiters Peter Schäfer führte, oder die daraufhin angeworfene antiisraelische und Pro-BDS-Lobbymaschine des akademischen Establishments in Islam-, Nahost- und jüdischen Studien werden als Zeichen der ungeheuren Gefahr von BDS erkannt, obwohl der Spiegel im gleichen Heft über diesen Fall berichtet. Allerdings auch hier mit einer höchst problematischen Schlagseite, indem die wiederum den Israel bezogenen Antisemitismus eher befördernde Berliner Barenboim-Said-Akademie als Beispiel, wie man angeblich super tiefenentspannt und musikalisch mit der Nahostproblematik umgehen kann, promotet wird, dabei ist allein schon der Co-Namensgeber Edward Said ein Agitator mit enormen Einfluss bis heute gewesen, der den jüdischen Staat Israel ablehnte.

Handwerklich ebenso irritierend gleich zu Beginn: es fehlen Definitionen. Für was die BDS-Bewegung steht, wird in dem Text nicht näher erläutert, es heißt lediglich, BDS sei „das Kürzel einer weltweiten propalästinensischen Kampagne, deren Macher Israel isolieren wollen.“ Das hört sich eigentlich schlimm genug an. Zudem ist eine der drei Kernforderungen von BDS das angebliche „Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge“ von 1948. Damit sind keineswegs nur die wenigen noch lebenden und tatsächlich vertriebenen und nicht aus eigenen Stücken gegangenen Palästinenser gemeint. Nein, damit sind alle Nachfahren gemeint, was aus den damals ca. 600.000 Vertriebenen bzw. auf Druck der arabischen Staaten, Israel keineswegs durch das Dortbleiben zu legitimieren, gegangenen Palästinensern nach Angaben der UNRWA über 5 Millionen Menschen weltweit macht. Deren Recht auf Rückkehr würde Israel von heute auf morgen als jüdischen und demokratischen Staat zerstören, ganz zu schweigen davon, dass die Araber in Israel das mehrheitlich gar nicht wollen.

Der Kern des ganzen Textes im Spiegel, der geradezu paradigmatischen Charakter zu haben scheint, was auch die sechs AutorInnen anzeigen, ist gleich in der zweiten Spalte dieser skandalöse Satz: „Dass die proisraelische Erklärung trotz der Kritik am Ende auf so viel Zustimmung traf, lag auch an Elio Adler.“ Adler ist ein Jude aus Berlin und hat 2018 mit anderen eine deutsch-jüdische „WerteInitiative.“ gegründet, die natürlich, welche NGO tut das nicht, auch Lobbyarbeit betreibt.

Der Spiegel insinuiert nun im ganzen Text in traditionell antisemitischer Diktion, eine jüdische geheime Macht würde die Welt oder zumindest den Deutschen Bundestag beherrschen. Denn wie dieser zitierte Satz besagt, habe die Zustimmung zu der Anti-BDS-Resolution deshalb „so viel Zustimmung“ im Bundestag erhalten, weil ein Jude sich dafür eingesetzt habe. Ohne jeden Beleg, denn die AutorInnen können nicht in die Köpfe von hunderten Bundestagsabgeordneten schauen, die sich für diese Resolution ausgesprochen haben. Unzählige Debatten, wissenschaftliche Konferenzen, Bücher, Demonstrationen und Kundgebungen, Symposien, Radiogespräche, Fernsehsendungen oder Universitätsseminare thematisieren seit Jahren verschärft den steigenden Antisemitismus, also auch BDS. Aber nein, daran kann es nicht liegen, dass Bundestagsabgeordnete sich dem Thema widmen, es muss „der“ Jude dahinter stecken!

Das Parlament trägt in seiner Mehrheit die von ihr gewählte Regierung – das ist das in einer parlamentarischen Demokratie angelegte Verhältnis. Aktive Parlamentarier können sich jedoch zu jeder Zeit auch über die Fraktionsgrenzen hinweg darauf verständigen, exekutives Handeln mit zu prägen. Das kann dann wirksam sein, wenn ein wachsender Bedarf zu erkennen ist, der ein politisches Umsteuern erfordert. In der Geschichte des Deutschen Bundestages ist es weder neu noch stürzt es die Verhältnisse um, wenn sich Abgeordnete der Regierungsparteien und der Opposition finden, die besondere Akzente im Regierungshandeln setzen wollen. Das geschieht an jedem Tag, formell in den Ausschüssen und informell ebenso. Wer diese Vorgänge skandalisieren will, zeigt nur seine Ahnungslosigkeit oder seine Absicht. Weil die Journalisten des Spiegel klug sind, entfällt die erste Bewertung. Die zweite tritt umso schärfer hervor.

Die gegenwärtige Regierung Israels ist nicht frei von Kritik. Und, ja, sie versucht ihre Haltung im eigenen Land und gegenüber der Außenwelt deutlich zu machen. Und, ja, Unterschiede sind zu sehen, wer die komplexen Fragen beantworten will, ob eine verlässliche Friedensordnung im Nahen Osten entstehen kann, wer als Partner dafür zu gewinnen wäre und wie Prozesse dafür in Gang gesetzt werden können. Klar ist jedoch in jedem Fall, dass die Unterstützer von BDS friedlichen Absichten nicht folgen. Weil das so ist, haben Abgeordnete – und Deutsche zumal – jedes Recht, sich informell darüber zu verständigen, welche parlamentarischen Schritte geeignet sind, diese frivole Aktion, ein Wiedergänger des „kauft nicht bei Juden“, als das benennen, was es wirklich ist: als gegen Israel gerichtet. Wenn NAFFO mitgeholfen hat, dass diese Verständigung zwischen Parlamentariern angebahnt wurde, ist das zu begrüßen. Diese Abgeordnete haben ihre Aufgaben parlamentarisch angemessen bewältigt. Vielleicht könnten Journalisten darüber schreiben, wie Palästinenser und ihre Familien darunter leiden, wenn die Produkte, die sie in Israel herstellen, boykottiert werden, weil BDS-Aktivisten Konsumenten sie am Kauf hindern.

Der Tenor ist im ganzen Text: ohne jüdischen Druck sähe die Stimmung im Bundestag, was Israel und den Nahen Osten betrifft, ganz anders aus. Das wird noch perfide gesteigert, indem Stellungnahmen des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu in die Nähe von Äußerungen hiesiger pro-israelischer AktivistInnen oder PolitikerInnen gestellt werden. Nicht nur jener erwähnte Elio Adler, auch Netanyahu würden quasi die deutschen Bundestagsabgeordneten vor sich hertreiben. Ohne jeden Beleg – es geht u.a. um eher läppische Spenden für Politiker oder ein Abendessen von pro-israelischen Aktivisten mit Bundestagsabgeordneten – wird Stimmung gegen Juden und Israel gemacht.

Ganz am Schluss wird auch noch das Feindbild des rechten Teils der sog. Pro-Israel-Szene bedient: Heiko Maas. Ihm wird von rechter Seite ein zu harmloses Agieren bezüglich Iran etc. unterstellt und der Spiegel sekundiert das nun, völlig anders gepolt. Der Spiegel agitiert, eine Israel dämonisierende Resolution der Weltgesundheitsorganisation von Mai 2019 – die von megademokratischen Ländern wie Saudi-Arabien, Yemen, Qatar (man denke an die unfassbare  Zahl an Toten auf den WM-2022-Baustellen) oder der Türkei verfasst wurde und die Situation in den Golanhöhen sowie Ostjerusalem und den besetzten bzw. umstrittenen palästinensischen Gebieten thematisiert – sei vorgeblich aufgrund von Druck der jüdischen Lobby von Bundesaußenminister Heiko Maas und der Bundesregierung abgelehnt worden, was einen Wandel des deutschen Abstimmungsverhaltens indiziere. Das raunt der Text.

Der Text macht die Gleichung auf: Juden – Israel – Mossad = Einfluss auf hilflose deutsche PolitikerInnen. Noch schlimmer: jene MdBs, die die Resolution ablehnten, trauten sich das nicht offen zu tun, sondern enthielten sich, weil sie nicht als Antisemiten dastehen wollen.

Wir sind beide nicht als Unterstützer der Regierung Netanyahu bekannt. Ja, wir fördern linkszionistische Kritik an der Besatzung wie an der politischen Kultur in Israel, die extrem nach rechts abgedriftet ist. Wir finden auch Karikaturen problematisch, die Merkel und Netanyahu mit den Sprechblasen zeigen „Wir sollten die Zweistaaten-Lösung nicht aus den Augen verlieren“, worauf hin Bibi antwortet „Steht es so schlimm um die deutsche Einheit“, die von manchen irregeleiteten „pro-israelischen“ Aktivisten publiziert werden.* Das ist eher als Ausdruck der geradezu menschenverachtenden antipalästinensischen Grundhaltung vieler selbst ernannter „Israelfreunde“ zu sehen, die linkszionistische KritikerInnen der Besatzung des Westjordanlandes nicht zur Kenntnis nehmen.

Der ganze Spiegel-Text strotzt nur so vor Ressentiment gegen Juden und promotet das Übelste was ein Mensch im Post-Auschwitz-Zeitalter tun kann, zumal im Journalismus: er befördert das Gerücht über die Juden.

Der Ex-Spiegel-Reporter Relotius ist ein Fälscher, Trottel oder Hochstapler, aber das scheint fast harmlos verglichen mit diesem antijüdischen Ton im Spiegel.

 

Prof. Gert Weisskirchen war von 1976 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags (SPD), Er war Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und bei der OSZE Beauftragter im Kampf gegen Antisemitismus

Dr. Clemens Heni ist Politikwissenschaftler, 2018 publizierte er die Studie „Der Komplex Antisemitismus“, im Mai 2019 sprach er bei der SPD Essen über BDS

 

P.S.: Die Chefredaktion des Spiegel (Steffen Klusmann, Barbara Hans, Clemens Höges, Jörn Sucher) verteidigt den hier analysierten Text der sechsköpfigen Autorengruppe (Matthias Gebauer, Ann-Katrin Müller, Sven Röbel, Raniah Salloum, Christoph Schult, Christoph Sydow), ohne auch nur im Ansatz zu verstehen, warum dieser Text dem Antisemitismus Vorschub gibt.

*

©ClemensHeni

Trump, Zionism and Antisemitism

Von Dr. phil. Clemens Heni, 22. Februar 2017

Times of Israel (Blogs)

Several Jewish and non-Jewish NGOs, scholars, activists, bloggers and authors believe, the Trump administration will fight antisemitism and will be helpful both for Jews and Israel.

Their derealization of sexism is shocking enough. But no surprise either.

Let’s have a look at Trump, antisemitism and Zionism alone.

Scholars for Peace in the Middle East (SPME) argues that Trump might consider strong anti-BDS legislation. The Simon Wiesenthal Center prayed for Trump at the inauguration and the Louis D. Brandeis Center  is hopeful that Trump will be fighting antisemitism, too.

Journalist Benjamin Weinthal (Jerusalem Post) and his colleague from SPME, Asaf Romirowsky, claim:

In late December, with just weeks left in his administration, former U.S. President Barack Obama delivered a shot in the arm to the anti-Israel Boycott, Divestment, Sanctions movement, or BDS. Obama instructed the U.S. ambassador to the United Nations, Samantha Power, to abstain instead of vetoing a U.N. Security Council resolution rebuking Israeli settlement activity.

Resolution 2334 deems Israel’s presence in disputed territories in the West Bank and East Jerusalem to be illicit. Combined five days later with a didactic anti-Israel speech from Secretary of State John Kerry, the resolution administered a body blow to Israel’s brand.

The Middle East Forum’s (MEF) director Greg Roman attacks the resolution 2334, which is no surprise, but still lacks a scholarly analysis of the resolution. The Simon Wiesenthal Center puts the Obama Administration on place one of their “Top-Ten worst global antisemitic and anti-Israel incidents 2016”:

The most stunning 2016 UN attack on Israel was facilitated by President Obama when the US abstained on a UN Security Council resolution condemning Israel for settlement construction.

What says United Nations Security Council Resolution 2334 from December 2016?

Expressing grave concern that continuing Israeli settlement activities are dangerously imperilling the viability of the two-State solution based on the 1967 lines.

That is not antisemitic. On the contrary, the UNSC again reaffirms the very existence of Israel!

John Kerry’s speech was even clearer and very pro-Zionist:

This is an issue which I’ve worked on intensely during my time as Secretary of State for one simple reason: because the two state solution is the only way to achieve a just and lasting peace between Israelis and Palestinians. It is the only way to ensure Israel’s future as a Jewish and democratic state, living in peace and security with its neighbors.

This is exactly the position of leading Zionist scholars in the field, such as Fania Oz-Salzberger, Yedidia Z. Stern, Gadi Taub, Ruth Gavison or Anita Shapira, at least in my reading of their book “The Israeli Nation-State” from 2014, which I just translated into German (with my colleague Dr. Michael Kreutz) and published the book (456 pages) this week.

John Kerry wanted to “ensure” that Israel is a Jewish and democratic state. Period.

However, the self-declared pro-Israel establishment in the US or Germany, runs riot against resolution 2334 and the Obama administration. Now they embrace Trump, more or less.

Even Kenneth Marcus from the Louis D. Brandeis Center, known for thoughtful analysis and scholarship in antisemitism, rejects any analysis of the very specific way Trump fueled antisemitism in the last 15 months or longer. Marcus rather obfuscates the very new climate in the US after the election of Trump and says:

“In today’s heated political climate Marcus said anti-Semitism is rampant in both pro-Trump supporters and anti-Trump groups, among others, and should not be attributed to one source.“

It is not news that leftists are anti-Zionist, for example, but it is news that the neo-Nazi Alt Right is now sitting in the White House (Steve Bannon, Breitbart). And the unbelievable increase of antisemitic incidents in the US has very close connection to the extrem right and not to the left. Neo-Nazis have been emboldened by Trump, no doubt about this.

Marcus concludes (this is from a report about a talk he gave) and even sees Trump as a possible ally:

“The Trump Administration could be another factor in the battle against anti-Semitism. (…) Marcus credited the Trump campaign for issuing a statement expressing concern about campus anti-Semitism, and for comments indicating that the Department of Justice would address university suppression of Jewish pro-Israel speech. Marcus doesn’t know if any of this will translate into policy, but he’s hopeful.“

Crediting Trump – unbelievable.

Then, those in the pro-Israel camp who defame Kerry should listen to a single speech by Iranian President Ayatollah Ali Khamenei in order to learn how an anti-Israel speech sounds like. Then, they should listen to John Kerry’s speech about resolution 2334 and rethink their unprofessional remarks that Kerry‘s speech was a “didactic anti-Israel speech” as Weinthal and Romirowsky frame it.

If it is anti-Israel to support the Jewish and democratic state of Israel and to be against religious and nationalist fanaticism and the settlements, read: to be for a two-state solution, than most Israelis and Jews in the US and worldwide are anti-Israel.

Palestinian rejectionism is a huge problem, of course, ever since 1947 and before.

But Israeli fanaticism is also a huge problem, just listen to the six Shin Bet directors between 1980 and 2011, who are interviewed in the Oscar nominated film “The Gatekeepers” by Dror Moreh in 2012, featuring Ami Ayalon, Avi Dichter, Yuval Diskin, Carmi Gillon, Yaakov Peri, Avraham Shalom. They emphasize that the Palestinians are not just terrorists. They are political subjects and need political acceptance by Israel (and of course, vice versa, but that is NOT news).

We need a political solution, not a military solution, that is their message – and thesse former Shin Bet directors from 1980 through 2011 might know more about the Palestinians and how to fight terrorism and how not and what is good or bad for Israel than American or European activists.

But there are also those Israeli fanatics in the 1990s, including Benjamin Netanyahu, to be sure, who agitated against Yitzhak Rabin, as the film shows, until Rabin was killed, November 4, 1995. How does Israel look like today?

A Question to all those American and other Trump supporters: Is it a sign of a particular pro-Jewish approach to omit the mentioning of Jews as the only victims of the Shoah on Holocaust Remembrance Day, January 27, 2017? Historian Deborah Lipstadt called Trump’s statement a “softcore Holocaust denial.”

Finally, and most importantly, if it is pro-Israel to destroy the Jewish state and to invoke or mention (as a result of stupidity, thoughtlessness or by intention) the “one-state solution” as President Trump did during his shocking and embarrassing press conference with Netanyahu on February 15, 2017, then things are turned upside down. Trump and his folks will call it “alternative facts.”

PRESIDENT TRUMP:  So I’m looking at two-state and one-state, and I like the one that both parties like.  (Laughter.)  I’m very happy with the one that both parties like.  I can live with either one.“

No problem for the Simon Wiesenthal Center (SWC), Scholars for Peace in the Middle East (SPME) or the Louis D. Brandeis Center and their allies?

David Horowitz from the Times of Israel concludes:

“And yet, by allowing Trump’s talk of a possible single entity between river and sea to pass without contradiction, Netanyahu himself dealt a stinging, public blow to the Israel we are living in today. For if our prime minister is unwilling to speak up, loudly and clearly, in defense of a Jewish, democratic Israel within internationally recognized borders, who else will? Certainly not President Donald Trump.”

©ClemensHeni

Was erlauben LizasWelt? Über die Notwendigkeit einer Selbstkritik der Pro-Israel-Szene

Giovanni Trapattoni, der am 10. März 1998 die bis heute vielleicht bekannteste Rede eines Fußball-Bundesligatrainers gehalten hat, ist mit Israel nicht unbedingt in Verbindung zu bringen. Doch als Trainer war er seinerzeit aufgebracht ob der Leistung von und den Diskussionen über seine Mannschaft und ihn.

Und nun geht es hier und heute um eine Kritik und Selbstkritik der sog. Pro-Israel-Szene. Netanyahu hat zuviel Schaden angerichtet, als dass man da einfach so drüber hinweg gehen könnte, mit einer Handbewegung, die den Tisch leerräumte von halbleeren Flaschen.

 

Was ist passiert? Angesichts einer massiven und offenkundigen Wechselstimmung in Israel zog Netanyahu in den letzten Tagen vor der Wahl und am Wahltag selbst, Dienstag, den 17. März 2015, alle Register und agitierte massiv gegen alle Linken, das Zionistische Lager – und die israelischen Araber. In Videoclips seines Likud konnte man IS-Jihadisten auf einem Pick-Up-Truck sehen, die einen Israeli in einem Wagen nach dem Weg nach Jerusalem fragen; „links abbiegen“ ist die Antwort, sprich: wer links wählt, unterstützt den antisemitischen und islamistischen blutrünstigen Jihad.

 

Dann sagte Netanyahu, eine Zweistaatenlösung sei nicht mehr möglich, sie stelle keine Perspektive mehr dar – um diese Aussage in amerikanischen Medien kurz nach der Wahl wieder zu dementieren (es geht gar nicht um die exakte Wortwahl, es geht um die Message – und die kam unzweideutig weltweit so an). Somit hat er sein Ansehen endgültig beschädigt. Wer nimmt ihn jetzt noch ernst?

Doch die übelste Aktion Netanyahus, war der Aufruf an seine Unterstützer, wählen zu gehen, da „die Araber in Massen“ zu den Wahlurnen gekarrt werden würden. Wohlgemerkt geht es hier um israelische Staatsbürger, die wählen dürfen und sollen, das Ziel der Demokratie ist ja gerade, eine möglichst hohe Wahlbeteiligung zu erreichen. Der rassistische Tonfall ist schockierend gewesen, selbst für einen israelischen Wahlkampf. Die späteren Entschuldigungen Netanyahus bei der arabisch-israelischen Bevölkerung kommen zu spät und wer will auch die noch ernst nehmen? Gerade die umgehenden Dementi nach der Wahl führten zu Kopfschütteln und Abwinken aus dem Weißen Haus. Man muss definitiv kein Fan von Obama sein, dessen Nahostpolitik und Iranpolitik unfassbar gefährlich und von Unkenntnis geprägt sind, um diese Aktionen von Netanyahu als willkommene Delegitimierung des jüdischen Staates von Seiten Obamas zu erkennen. Dazu kommt das ohnehin seit langem äußerst angespannte Verhältnis zum Weißen Haus und zu US-Präsident Obama, den Netanyahu polemisch als „Hussein Obama“ bezeichnete.

Von all dem ist in einem Blog auf LizasWelt, der stellvertretend für weite Teile der hiesigen Pro-Israel-Szene stehen mag, nicht die Rede. Dafür werden Texte wie in SpiegelOnline diffamiert, die angeblich gegen Israel gerichtet seien. Doch ein Blick gleich in den ersten auf dem Blog verlinkten Text zeigt eine zwar parteiische, aber pro-israelische Positionierung, ja paradoxerweise stellt sich die Autorin hinter das zionistische Lager. Und das soll ein Beispiel für den Antizionismus der deutschen Mainstream-Medien sein? Da lachen doch die Rebhühner.

An deutschem Antizionismus fehlt es ja nun wahrlich nicht. Aber Texte zur Wahl in Israel, die eben gerade nicht in typisch antizionistischer Manier lamentieren, dass Israels Problem die Existenz an sich sei, dass 1948 das Problem sei und nicht 1967, als antiisraelisch oder gaga zu denunzieren, schlägt einfach ins Leere. Diesmal gibt es doch einen himmelweiten Unterschied zwischen der antiisraelischen Tonlage eines Michael Lüders im Fernsehen und diesem Text auf SpiegelOnline.

Mehr noch: es geht um eine Selbstkritik auch des Zionismus, das ist ja gerade die ungemeine Stärke des Zionismus, die Reflektion auf sich selbst. Schon 1987 schrieb der Historiker Robert S. Wistrich in seinem Werk „Der antisemitische Wahn. Von Hitler bis zum heiligen Krieg gegen Israel“:

„Allein, die außerordentlichen Leistungen und Erfolge des Zionismus sind offenkundig teuer erkauft. In zunehmendem Maße den immensen inneren und äußeren Konflikten und Pressionen ausgesetzt, hat die israelische Gesellschaft einen Gutteil jener außerordentlichen moralischen und geistigen Tugenden geopfert, die die Juden sich im Laufe ihres langen Marsches durch die Diaspora bewahrt hatten. Ihr demokratischer Geist ist offensichtlich alles andere als immun gegen die Gefahren eines rechten Ultranationalismus, wie er auch in anderen Teilen der Welt mit praktisch identischen Begründungen gepflegt wird; ebensowenig ist sie immun gegen die Versuchung, Hexenjagden gegen den vermeintlichen ‚inneren Feind‘ zu veranstalten und die eigenen handfesten nationalen Interessen zu einer vom Schicksal vorgegebenen Bestimmung zu verklären. Man muß zugeben, daß die Gefahr besteht, daß bei einer weiteren Zunahme der isolationistischen und antiarabischen Tendenzen in der israelischen Gesellschaft jene von den Feinden Israels gezeichneten Zerrbilder des Zionismus zu einer alptraumhaften Realität werden könnten; es gilt daher, diese Tendenzen beizeiten zu bekämpfen.“

In diesem Zitat kann man die ganze zionistische Selbstreflektion hineinlesen, die Kenntnis ob Moses Mendelssohns jüdischer Aufklärung, die die Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70CE gerade feierte, da sie die jüdische Diaspora begründete, Judentum, staatliche Macht und Herrschaft gegeneinander stellte, Religion versus jüdische Nation als politisches Gemeinwesen. Die emeritierte Harvard-Professorin für Jiddisch und Vergleichende Literaturwissenschaft Ruth Wisse zeichnet diese Linien des (deutsch-jüdischen) Antizionismus avant la lettre und den zionistischen Aufbruch in ihrem Buch „Jews and Power“ (2007) nach. In dem Zitat von Wistrich kann man wie bei Wisse vor allem den selbstbewussten Anspruch des Zionismus entdecken, sehr wohl einen jüdischen Staat, jüdische Staatsgewalt wieder zu haben, haben zu wollen und damit so aufgeklärt, kritisch und demokratisch wie möglich umzugehen.

Als im Sommer 2014 angesichts von brutalem antisemitischen Terror einiger Palästinenser in der Westbank ebenso einige fanatische Israeli antiarabische Hetze verbreiteten und auf ähnliche Weise mordeten, gab es in Israel durch alle Teile der Gesellschaft einen Aufschrei, doch in der Pro-Israel-Szene in der Bundesrepublik blieb der Schock weitgehend aus, nur wenige wandten sich unmissverständlich gegen den offenkundigen antiarabischen Rassismus in nicht geringen Teilen der israelischen Gesellschaft. Er wird dort bekämpft von der übergroßen Mehrheit, aber er existiert. Doch die „Szene“ versagte weitgehend.

Und auch jetzt angesichts der unerträglichen Hetze (und nicht nur scharfen Kritik) gegen alle Linken, das zionistische Lager und Araber in Israel durch den Likud, das rechte Lager und Netanyahu, ist diese „Szene“ „schwach wie eine Flasche leer“.

Dabei geht es anderswo ganz anders ab: Die letzten Wahlen in Israel führen weltweit zu kontroversen Diskussionen und verlangen nach einer Selbstreflektion der sogenannten Pro-Israel-Szene in der Bundesrepublik. In pro-israelischen, zionistischen Kreisen wie in England oder Amerika, wird vehement über den Wahlkampf Benjamin Netanyahus und seine Methoden diskutiert. Der pro-israelische Journalist Jonathan Freedland schreibt, Netanyahus Wahlkampf sei eine Mischung aus „Kriegsführung und blindem Eifer“ gewesen. Freedland wurde schon 2006 von tatsächlich krassen antiisraelischen Autoren wie Steven Rose als böser Vertreter der „Israel Lobby“ kritisiert, wie der britische Soziologe und antirassistische wie pro-israelische Aktivist und Autor David Hirsh festhielt.

Für den langjährigen Autor des New Yorker, David Remnick, hat Bibi die „rassistische Karte gezogen“, ist Netanyahu kein Richard Nixon, jener konservative, republikanische US-Präsident, der die Öffnung hin zu China bewirkte, trotz oder wegen seines Antikommunismus. Doch Netanyahu könne kein Nixon werden, das hätten die letzten 20 Jahre gezeigt. Auch Remnick möchte einfach eine andere Version von Zionismus als jenen von Bibi, auch dem New Yorker kann man hier keine Agitation gegen Israel vorwerfen. Für Gil Yaron droht Israel ein „diplomatischer Tsunami“, an dem nicht nur der weltweit ohnehin ausreichend vorhanden Hass auf den Judenstaat, vielmehr auch die Politik Netanyahus mit verantwortlich sei.

Andy Friedman illustration of Benjamin Netanyahu in New Yorker March 2015

Andy Friedman illustration of Benjamin Netanyahu in New Yorker March 2015

Der Jewish Daily Forward aus New York schreibt in einem Editorial, wie schwierig es für Juden in USA und anderswo nun werde, „Israels Ideale zu verteidigen, aber nicht die eklige Rhetorik von Netanyahu“? Bibi sei „nicht der König der Juden“.

Soviel zu den internationalen pro-israelischen Stimmen, die äußerst genervt sind von Benjamin Netanyahu und dadurch doch mit keiner Silbe zu Israelgegnern werden, im Gegenteil: sie wollen den Zionismus reaktivieren, wie die Zionist Union um Isaac Herzog, der trotz der Niederlage dem Zentrum und einer „Mitte-Links“-Option eine neue Chance gibt, auch in Zukunft.

Natürlich wird die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Projekte unterstützen, die sich dem Phänomen des „Transnationalismus“ widmen. Viel schlimmer jedoch als ein Projekt, das sich positiv auf einen Staat bezieht, und dann auch noch auf den jüdischen, kann es nicht kommen, davon kann man wohl ausgehen. Die super exzellenzgeclusterten jungdeutschen Akademikerregimenter werden nie im Leben ein Projekt zur Unterstützung des „jüdischen Staates“ auch nur vorschlagen, das wäre ja ethnizistisch und eine Sünde wider die Aufklärung und Immanuel Kant.

Also ist Vorsicht immer geboten, Kritik angesagt. Doch die muss seriös sein, differenziert und nicht einäugig oder blind. Es ist einfach eine Groteske, wenn weite Teile dieser „Szene“ zusammen mit der Tageszeitung die Welt und ihrem Reporter Henryk M. Broder bis heute behaupten am 27. Januar 2015 wie die Jahre zuvor seien am Holocaust-Gedenktag über Auschwitz israelische Kampfflieger geflogen. Dabei sind noch nie an einem 27. Januar solche Flugzeuge dort geflogen, nur einmal an einem Tag im September 2003. Niemand kümmert das und die Welt ändert nicht einmal die Online-Seite wider besseres Wissen. Das nennt man dann wohl neudeutsche Professionalität, die von der Bloggerszene sekundiert wird.

Im Januar 2001 publizierte ich mit einer kleinen autonomen Gruppe eine Broschüre über den linken Antizionismus der Revolutionären Zellen (RZ). Empirisch ging es um Entebbe und die erste antisemitische Selektion von Juden durch Deutsche nach Auschwitz, durchgeführt von Wilfried Böse im Rahmen der bekannten Flugzeugentführung der RZ nach Uganda. Bei der Befreiungsaktion der israelischen Geiseln kam am 4. Juli 1976 Jonathan Netanyahu, der Kommandant der Einheit, ums Leben. Er war der ältere Bruder von Benjamin Netanyahu. Es ist wichtig daran zu erinnern.

Die Kritik an der Regierungspolitik von Benjamin Netanyahu muss möglich sein, wie seine höchst umstrittene Einladungspraxis an Litauen oder Ungarn zu den wohl weltweit größten Konferenzen gegen Antisemitismus, dem Global Forum for Combating Antisemitism. Dort habe ich 2009 wie auch 2013 zusammen mit dem Jiddisch-Experten Dovid Katz aus Litauen, Efraim Zuroff vom Simon Wiesenthal Center auf Jerusalem oder auch dem Labour-Politiker John Mann aus England gegen diese Einladungspraxis protestiert, da gerade Litauen und Ungarn derzeit zu den Ländern gehören, die den Holocaust trivialisieren und die Nazizeit gar glorifizieren als Zeit des antikommunistischen Kampfes während des Zweiten Weltkriegs. Auch das kümmert in dieser „Szene“ so gut wie niemand, dabei verstehen sich viele sehr wohl als Kritiker des Antisemitismus auch jenseits seiner antizionistischen Variante.

Nochmal aus der Rede des italienischen Meistertrainers:

 „Es gibt im Moment in diese Mannschaft, oh, einige Spieler vergessen ihnen Profi was sie sind“ –

viele, allzu viele pro-israelische Blogger (das Pro-Israel Team) in diesem Land haben das seit langem auch vergessen, auch wenn es sich hierbei um Amateure handelt, unbezahlte zumeist. Sie schreiben nicht immer schlecht, aber zunehmend seltener gut oder gar sehr gut, sie vergessen die Reflektion, sie wehren Antisemitismus gekonnt ab, und das ist wichtig; aber sie zeigen keine eleganten Spielzüge mehr und es geht keine Torgefahr von ihnen aus.

Es wäre ein Zeichen von Größe gewesen, und in England oder USA sehen wir das in den dortigen, viel größeren Pro-Israel-Szenen, dass man gerade als Zionist und Israelfreund den Rassismus und die Agitation des Likud oder Netanyahus scharf attackieren kann, und die Sehnsüchte, Ängste und Sorgen der linken, zionistischen Israeli ernst nehmen. Das österreichische Blog juedische.at schreibt:

„Es hat ihm einige Mandate eingefahren. Aber in der Welt, auch bei vielen Likud-Wählern, hat sein Ansehen gelitten.  Aus Bibi sprach da nicht der Geist Seew Jabotinskys. Der Urvater der israelischen Rechte forderte noch einen ständigen arabischen Vize neben dem jüdischen Premier. es sei denn. ein wird Araber Premier. Dann sollte ein Jude Vize sein. Netanjahus erste Umdeutungsversuche erklärten die Veränderung seiner Stellung mit veränderten Umständen. Aber 2009, als er in seiner Bar-Ilan-Rede eine Zwei-Staaten-Lösung zum Ziel machte, gab es schon Iran, Hamas-Raketen und Hisbollah. Wenn sich etwas verändert hat, dann auch die deutlich geschwächte militärische Schlagkraft aller arabischen Nachbarn.  Mit bloßen Beteuerungen, auch nicht im eloquentesten Englisch, kommt Netanjahu aus der Rolle des Kompromissverweigerers und Rassisten nicht mehr raus.“

Es gibt auch viele rechtszionistische oder nationalreligiöse Wähler/innen in Israel, die sich freuen und kein Problem haben mit Netanyahus Agitation. Und auch das kann man kritisieren, ohne mit einem Wort Israel zu denunzieren.

Es ist vielmehr anders herum, wie der Schriftsteller Amos Oz es in einem Kommentar, ja einem Hilfeschrei in der Los Angeles Times vor wenigen Wochen sagte: es geht um alles oder nichts!

Wes Bausmith Los Angeles Times March 7, 2015

Wes Bausmith Los Angeles Times March 7, 2015

Entweder Israel verabschiedet sich unzweideutig von allen „Einstaatenlösungen“ der radikalen Linken (wie Judith Butler und ihrem Fanclub etc.) und der radikalen Rechten (wie Bennett oder Caroline Glick) oder der Traum eines jüdischen Staates ist dahin. Zionismus heißt einen jüdischen Staat mit einer klaren arabischen Minderheit, einer Minderheit die exakt die gleichen Rechte hat, wie Zeev Jabotinsky es Jahre vor der Staatsgründung proklamierte und wie es der britische Politikwissenschaftler, Publizist und Herausgeber der Zeitschrift Fathom Alan Johnson in Erinnerung ruft.

Trapattoni:

„Mussen zeigen jetzt, ich will, Samstag, diese Spieler mussen zeigen mich eh … seine Fans, mussen allein die Spiel gewinnen.“

Die Wahrheit liegt auf den Blogs, nicht nur am Samstag.

Ich habe fertig.

 

 

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