Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Martin Heidegger

Das Ende des Ludwig-Börne-Preises – Über den „post-humanistischen Denkraum“ des Peter Sloterdijk

Für Gerhard Oberschlick

 „Deutsche wie Affen wenden hundertmal eine Nuß in der Hand herum, ehe sie zu knacken. Sie spielen so lange damit, daß ihnen die Nuß oft entfällt, aber sie verlieren lieber die Frucht als die Geduld. Indessen haben sie gute ehrliche Zähne, und endlich kommen sie auf den Kern. Dieser Kern ist das Leben und die Schale das Buch. Man ist den Deutschen nicht willkommen, wenn man ihnen eine geschälte Nuß gibt, sie lieben das Krachen […]“

Ludwig Börne, 1821 (Aus dem Text „Der ewige Jude“)

 

Die Grundsteinlegung für das Stadtschloss in Berlin im Juni 2013, Angela Merkels biederfraulicher Nationalismus sowie die Vergabe des Ludwig-Börne-Preises am 16. Juni 2013 an den Philosophen Peter Sloterdijk zeigen nachdrücklich, dass dieses Land eine Zukunft für die Vergangenheit hat. Deutschland boomt. Seit dem ‚Fußball-Sommer‘ 2006 sieht man so viele Deutschlandfahnen, schwarzrotgoldene Aufkleber und Devotionalien an Balkonen, Autos, Häusern oder Kleidern wie noch nie. Laut einer internationalen Umfrage der BBC in über 20 Ländern ist Deutschland das beliebteste Land der Welt. Das zeigt z.B. wie wichtig und raffiniert Diplomatie und globale Werbekampagnen großer Unternehmen oder der Politik sind, und es zeigt ebenso dass wenige Menschen sich mit einem Land, seinen Bewohnern und seiner Sprache kritisch befassen. Kein Wunder: die wenigsten Interviewten werden Deutsch können und kaum jemand der Interviewten analysiert oder kritisiert deutsche Ideologie oder die politische Kultur in diesem Land der letzten Jahrzehnte.

 

Also zählt nur das Offenkundige: Seit 1945 hat Deutschland keinen Weltkrieg mehr angefangen und also sei es ein friedliches Land. Nach dem 11. September 2001 ist das Land zudem auf einem rot-grünen „deutschen Weg“ (früher hätte man es den Heideggerschen „Holzweg“ genannt), entgegen dem imperialistischen und bösen Amerika, wie die Braunen und Schwarzen anerkennend registrierten. Bravo, Germania, schallt es allenthalben.

 

2012 bekam die anti-israelische Agitatorin Judith Butler den Adorno-Preis der Stadt Frankfurt.[ii] Mehr konnte der bekannteste Kopf der Kritischen Theorie kaum beleidigt werden. Und nun wieder eine Beleidigung für einen großen Denker, wenn abermals die Stadt Frankfurt am Main, die heimliche Bundeshauptstadt seit 1945, direkt involviert ist, Peter Sloterdijk den Ludwig-Börne-Preis zuzusprechen.

 

1999 forderte Sloterdijk in einer Rede auf Schloss Elmau „Regeln für den Menschenpark“, und meinte damit biologische und gentechnische ‚Möglichkeiten‘ der ‚Optimierung‘ von Einzelnen. Er umarmte sein Vorbild Martin Heidegger, der als „kleiner schlauer Mann aus Meßkirch“ liebkost wird, und dessen „Brief über den Humanismus“ von 1946 wie folgt:

„Denn indem Heidegger in dieser Schrift, die der Form nach ein Brief sein wollte, Bedingungen des europäischen Humanismus offenlegte und überfragte, eröffnete er einen trans-humanistischen oder post-humanistischen Denkraum, in dem sich seither ein wesentlicher Teil des philosophischen Nachdenkens über den Menschen bewegt hat.“

Sloterdijk weiter:

„Das Wort Humanismus muß aufgegeben werden, wenn die wirkliche Denkaufgabe, die in der humanistischen oder metaphysischen Tradition bereits als gelöste erscheinen wollte, in ihrer anfänglichen Einfachheit und Unausweichlichkeit wiedererfahren werden soll. Zuspitzend gesprochen: Wozu erneut den Menschen und seine maßgebliche philosophische Selbstdarstellung im Humanismus als die Lösung anpreisen, wenn sich gerade in der Katastrophe der Gegenwart gezeigt hat, daß der Mensch selbst mitsamt seinen Systemen metaphysischer Selbstüberhöhung und Selbsterklärung das Problem ist? Diese Zurechtrückung der Frage Beaufrets geschieht nicht ohne meisterliche Bosheit, denn sie hält, in sokratischer Manier, dem Schüler die in der Frage enthaltene falsche Antwort vor. Sie geschieht zugleich mit denkerischem Ernst, denn es werden die drei kuranten Hauptheilmittel in der europäischen Krise von 1945: Christentum, Marxismus und Existentialismus Seite an Seite als Spielarten des Humanismus charakterisiert, die sich nur in der Oberflächenstruktur voneinander unterscheiden – schärfer gesagt: als drei Arten und Weisen, der letzten Radikalität der Frage nach dem Wesen des Menschen auszuweichen.“

Die Rede von „metaphysischer Selbstüberhöhung“ möchte obsessiv wegführen von einer Analyse des Nationalsozialismus. Nicht deutsche Ideologie oder das Fortleben des Nationalsozialismus in der Demokratie werden hier in den Fokus genommen, vielmehr der Humanismus, gegen den die Deutschen im SS-Staat und im Zweiten Weltkrieg ohnehin gekämpft hatten. Sloterdijk unternimmt in seiner Elmauer Rede den Versuch, den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und die Shoah als spezifisch deutsche Verbrechen zu negieren, die Schuld auf den Humanismus oder die „metaphysische Selbstüberhöhung“ zu projizieren und zugleich die Befreier vom SS-Staat, hier: Amerika und die UdSSR, als Täter einer unheilvollen Welt zu bestimmen:

„Tatsächlich deutet Heidegger die geschichtliche Welt Europas als das Theater der militanten Humanismen; sie ist das Feld, auf dem die menschliche Subjektivität ihre Machtergreifung über alles Seiende mit schicksalhafter Folgerichtigkeit ausagiert. Unter dieser Perspektive muß sich der Humanismus als natürlicher Komplize aller nur möglichen Greuel anbieten, die im Namen des menschlichen Wohls begangen werden können. Auch in der tragischen Titanomachie der Jahrhundertmitte zwischen Bolschewismus, Faschismus und Amerikanismus standen sich – aus Heideggers Sicht – lediglich drei Varianten derselben anthropozentrischen Gewalt und drei Kandidaturen für eine humanitär verbrämte Weltherrschaft gegenüber – wobei der Faschismus aus der Reihe tanzte, indem er seine Verachtung für hemmende Friedens- und Bildungswerte offener als seine Konkurrenten zur Schau stellte. Tatsächlich ist Faschismus die Metaphysik der Enthemmung – vielleicht auch eine Enthemmungsgestalt der Metaphysik. Aus Heideggers Sicht war der Faschismus die Synthese aus dem Humanismus und dem Bestialismus – das heißt die paradoxe Koinzidenz von Hemmung und Enthemmung.“

Diese Rede von der „anthropozentrischen Gewalt“ verwischt oder leugnet, dass konkrete Menschen, Deutsche, Täter waren. Die Anthropologisierung von Gewalt ist seit 1945 ein probates Mittel deutsche Schuld zu negieren, indem sie universalisiert wird. Sei es ‚die Moderne‘ für den Poststrukturalismus, ‚der Kapitalismus‘ für viele Linke oder ,Bevölkerungspolitik mit anderen Mitteln‘ für modische Historiker, „anthropozentrische Gewalt“ für Sloterdijk oder natürlich die Noltesche Rede von der „asiatischen Tat“, die Hitler Recht gibt und den Zweiten Weltkrieg als präventives Mittel affirmiert: es gibt viele Möglichkeiten der Analyse des Spezifischen des Nationalsozialismus, des Antisemitismus und des präzedenzlosen Charakters des Holocaust auszuweichen sowie eine sekundär antisemitische Reaktionsweise zu generieren.

Bevor ich etwas detaillierter auf Heideggers „Brief über den Humanismus“ eingehe, noch ein Wort zu einem weiteren Text von Sloterdijk von 1999, „Die Kritische Theorie ist tot.“ Er schreibt zwei Briefe an Jürgen Habermas und Thomas Assheuer und regt sich fürchterlich darüber auf, dass Habermas die biopolitischen Zumutungen seiner Elmauer Rede („Regeln für den Menschenpark“) offenbar weniger gelassen hinnahm als erwartet, und kommt zum Kern neu-deutscher Ideologie seit 1989/1990:

„Die Ära der hypermoralischen Söhne von nationalsozialistischen Vätern läuft zeitbedingt aus. Eine etwas freiere Generation rückt nach.“

Diese „freiere Generation“ war just 1999, als Sloterdijk das schrieb, dabei, die erste neonationalsozialistische Terrorgruppe zu formieren, den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU), der ab dem Jahr 2000 seine Mordserie mit zehn Morden, darunter an neun Migranten, begann. Vor allem jedoch ist Sloterdijk nur ein akademisch-philosophisches Echo von Walsers Paulskirchenrede von Oktober 1998 (wiederum in Frankfurt). Die „freiere Generation“, die Sloterdijk 1999 herbei schreibt, war seit Anfang der 1990er Jahre als „Selbstbewusste Nation“ der Neuen Rechten in Erscheinung getreten, dutzende Migrantinnen und Migranten, Linke, Obdachlose und andere wurde ermordet, von 1990 bis heute fielen in der Bundesrepublik ca. 150 Menschen Neonazis zum Opfer.

Der Karlsruher TV-Philosoph Sloterdijk sagte im Gespräch mit dem österreichischen „Standard“ am 27. November 2002:

„Man darf nicht vergessen, der 11. September ist ein Ereignis, das man in einer Unfallstatistik des Landes gar nicht wahrnehmen würde. Zwei- oder dreitausend Tote innerhalb eines Tages liegen innerhalb der natürlichen Varianz. Das ist die Sprache der Kälte der Statistiker, und die müsste im Grunde jene einer wissenschaftlichen Politikberatung sein. In Wirklichkeit läuft die Sache ganz andersherum: Es wird eine Angelegenheit, die gar nicht so hochrangig zu behandeln wäre, wie ein Weltkriegsgrund manipuliert. Das zeigt, dass hier eine hochneurotische, vielleicht sogar narzisstisch-psychotische Struktur verletzt worden ist.“

Unabhängig vom empirischen Schwachsinn dieses Satzes (in den USA starben im Jahr 2001 laut Statistik umgerechnet pro Tag ca. 115 Personen durch Verkehrsunfälle, doch was kümmern einen deutschen, ideologiegetränkten und vom Ressentiment gegen Amerika gleichsam überschäumenden Professor schon Fakten): diese Schadenfreude nach 9/11 teilte Sloterdijk mit weiten Teilen des deutschen Establishments, vom Antisemitismusexperten Wolfgang Benz über den Männerforscher Klaus Theweleit und die Berliner Politikerin Adrienne Goehler bis hin zur internationalen Fachzeitschrift „Die Welt des Islams“, die einen Text des syrischen Dissidenten Sadik al-Azm publizierte[iii], der diese Schadenfreude, ganz spontan und aus tiefstem Herzen, am 11. September 2001 während eines Gastaufenthalts in Japan verspürte und Mühe hatte, vor seinen geschockten japanischen Kollegen nicht los zu prusten. Linke in Berlin, Bremen oder Hamburg tranken „Bin Laden“-Cocktails an 9/11 und die PDS (Die Linke) faselte von „so was kommt von sowas“. Für Horst Mahler war es ein Festtag.

Für Sloterdijk sind die USA und Israel „Schurkenstaaten“. Heideggerisch gedacht, regen sich für Sloterdijk die USA oder Israel über Terroranschläge viel zu sehr auf, dabei ginge es gerade mal um 3000 ermordete, pulverisierte, verbrannte, zerquetschte oder zerfetzte Menschen, die einem Seinsdenker oder Zyniker, der immer nur nach dem „Sein“, dem „Wie“ und nicht dem „Was“ fragt, völlig schnuppe sind. Ganz ähnlich war der Systemtheoretiker Niklas Luhmann nur am Funktionieren von Systemen interessiert, am „Wie“ und nicht am „Was“, weshalb er einmal in einem Gespräch nicht die Nazi-Ideologie und das Unfassbare des Holocaust, vielmehr auf groteske Weise die vermeintliche Ähnlichkeit von amerikanischer Besatzungsbürokratie nach dem 8. Mai 1945 mit dem NS-Staat betonte.

 

Menschen mit Fehlern, mit Fanatismus und Hass, deutscher oder heute eher jihadistischer Lust am Morden mithin, werden eskamotiert, von Heidegger wie von Sloterdijk, die beide primär in (vorsokratischen) Blasen denken möchten.

 

Was aber hat es mit Heideggers Brief über den Humanismus auf sich?

“Der Mensch gilt als das animal rationale.“[iv] Für Heidegger hat die Metaphysik den Menschen zu einem zwar deutlich unterschiedenen, aber eben doch Lebewesen wie Tier und Pflanze gemacht.

„Die Metaphysik verschließt sich dem einfachen Wesensbestand, dass der Mensch nur in seinem Wesen west, in dem er vom Sein angesprochen wird.“[v]

Heidegger setzt in seinem berühmt-berüchtigten Brief über den Humanismus, welchen er 1946 geschrieben und wenig später, 1947, publiziert hat, mit einer Ideologie des Anti-Ismus ein und geriert sich als jenseits des Angesagten, Affirmativen stehend bzw. denkend. Das ist für Sloterdijk ein zentraler Aspekt: ein vorgeblicher anti-Ismus und ein Aufbruch zu „Neuem“.

 

Der folgenreiche Text Heideggers ist eine Antwort auf einen Brief von Jean Beaufret. Dieser hatte am 6. Juni 1944 begonnen Heidegger zu verstehen. Ja, am 6. Juni 1944, dem D-Day, jenem Tag der verlustreichen Landung der Alliierten in der Normandie. Die Meldung über diese Landung und die bevorstehende Befreiung Frankreichs und Europas vom Nationalsozialismus war Beaufret keine größere Freude wert, er war vielmehr wie gebannt von seiner Heidegger-Lektüre. Dieser historische Augenblick muss im Gedächtnis behalten werden: Die amerikanischen und britischen Soldaten landen an der Küste in Frankreich, wecken die größten Gefühle der Hoffnung auf Überleben bei den Opfern der Deutschen und ein französischer Denker freut sich darüber gar nicht wirklich, vielmehr ob seines „Verstehens“ der Heideggerschen Philosophie. Das ist der Ausgangspunkt für den Brief über den Humanismus.[vi]

Heidegger ist gegen den Humanismus allein schon, weil dieser ein „Ismus“ ist:

„Sie [also Beaufret, C.H.] fragen: Comment redonner un sens au mot ‘Humanisme’? Diese Frage kommt aus der Absicht, das Wort ‚Humanismus‘ festzuhalten. Ich frage mich, ob das nötig ist. Oder ist das Unheil, das alle Titel dieser Art anrichten, noch nicht offenkundig genug? Man misstraut zwar schon lange den ‚-ismen‘. Aber der Markt des öffentlichen Meinens verlangt stets neue.“[vii]

Die Kategorie des Seins wird von Heidegger hypostasiert, Sein sei letzter Grund allen Daseins. Die konkreten Gegenstände, jedes Seiende, ob Blume, Wasser oder Luft, von Menschen ganz zu schweigen, geraten hierbei ins Hintertreffen, ja sie werden weggeschoben. Wer das Seiende als zentral erachte, sei völlig daneben.

Der Philosoph Günther Anders (1902-1992) hat die Heideggersche Ideologie untersucht. Anders ist einer der frühesten Kritiker Heideggers. Schon 1929 hatte er, noch unter seinem bürgerlichen Namen Günther Stern, vor der Kantgesellschaft den Vortrag Die Weltfremdheit des Menschen gehalten. Die darin explizierte Unfestgelegtheit der Menschen wurde auch zu einem a priori des Philosophen Jean Paul Sartre und des französischen Existentialismus, by the way. Anders‘ Analyse des Heideggerschen Daseins aus dem Jahr 1946 ist wegweisend:

“Das Dasein hat keine Eltern, denn es ist ‚geworfen‘; es zerfällt nicht in Geschlechter; es zeugt nicht weiter; es hat keinen Leib. Weder ist es beherrscht noch herrscht es; es ist unpolitisch; es kennt keine Rechte, keine Pflichten; weder Kultur noch Natur; es freut sich nicht; es liebt niemanden und nichts; mit keiner Gruppe solidarisiert es sich; es hat keinen Freund, kurz: es ist ein hoffnungslos amputiertes Dasein, das die wirklichen Fragen, d.h. die wirklichen Schwierigkeiten unseres Daseins schon deshalb nicht beantworten kann, weil es sie gar nicht fragt.“[viii]

Das träfe auch auf Sloterdijk zu: sein „Dasein“, das sich so äquidistant gibt, jenseits von „Ismen“, liebt nicht und will nicht geliebt werden, daher womöglich auch der Wunsch nach teilweiser genetischer Planbarkeit von Einzelnen im „Menschenpark“.

Günther Anders zeigt auf einen zentralen Aspekt bei Heidegger: jener fragt gar nicht nach dem Seienden, er wie auch Sloterdijk (auf seine Weise) kratzen gewissermaßen da, wo es gar nicht juckt, beim Sein oder den Sphären. Die neuzeitliche Philosophie seit Descartes sei dem Humanismus verpflichtet gewesen, so der schwarz- oder hinterwäldlerische Denker aus dem Breisgau. Ja, schlimmer noch: Seit dem Niedergang der Vorsokratiker und dem Erscheinen von Plato und dann Aristoteles auf der Welt seien die Metaphysik und somit der Mensch in den Mittelpunkt gerückt. Wie schrecklich!

Wirklich ursprünglich können nur Vorsokratiker – nicht alle Griechen, nur diese ursprünglich ‚Wesenden‘ – sein und natürlich die Deutschen (die meisten, bis auf Goethe und Schiller, z.B.). Heidegger setzt einfach:

„Der Humanismus fragt bei der Bestimmung der Menschlichkeit des Menschen nicht nur nicht nach dem Bezug des Seins zum Menschenwesen. Der Humanismus verhindert sogar diese Frage, da er sie auf Grund seiner Herkunft aus der Metaphysik weder kennt noch versteht.“[ix]

Geschichte wird bei Heidegger nicht gemacht, vielmehr geschickt, vom Sein. Diese Lächerlichkeit vermochte es jedoch nicht, ihn zu diskreditieren, vielmehr ist diese anti-subjektive Philosophie der Renner geworden, zumal nach 1945, zuerst in Frankreich und dann auch in Deutschland und weit darüber hinaus. Die bürgerliche Gesellschaft spricht gern und obsessiv vom ‚Sachzwang‘, was als eine Art Trivialisierung des tagtäglich geschickten Seins betrachtet werden könnte.

Was es konkret heißt, dass Menschen keineswegs als Täter zu begreifen sind, wie es z. B. angemessen wäre bezüglich der deutschen Soldaten im Vernichtungskrieg der Wehrmacht, zeigt dieser deutsche Denker. Die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg waren keineswegs am Humanismus interessiert, wie Heidegger bald hervorheben wird, allerdings nur unter der Prämisse, dass jene Soldaten Hölderlin, einen für Heidegger wahren Deutschen und Denker, kannten:

“Das Sein als das Geschick, das Wahrheit schickt, bleibt verborgen. Aber das Weltgeschick kündigt sich in der Dichtung an, ohne dass es schon als Geschichte des Seins offenbar wird. Das weltgeschichtliche Denken Hölderlins, das im Gedicht ‚Andenken‘ zum Wort kommt, ist darum wesentlich anfänglicher und deshalb zukünftiger als das bloße Weltbürgertum Goethes.“[x]

Wenige Monate nach dem Ende des Nationalsozialismus will der nationalsozialistische Denker, der nicht nur wegen seines NSDAP-Parteibeitrags, den er regelmäßig zahlte, ein echter Nazi war, vielmehr philosophisch den Nationalsozialismus vordachte (schon in „Sein und Zeit“, 1926) und ab 1933 aktiv gestaltete, Semester für Semester, „anfänglicher und deshalb zukünftiger“ denken und keinesfalls weltoffen. Er wollte wieder und immer noch partikulare Verstocktheit predigen und gegen das „Weltbürgertum“ aufwiegeln. Was soll „bloßes Weltbürgertum“ heißen? Soll schon wieder wie zu Nazi-Zeiten das ‚Anfängliche, Bodenständige, Reaktionäre‘ als das ‚Moderne‘ und ‚Zukunftsträchtige‘ ausgegeben werden? Erinnern jedenfalls will Heidegger seine deutschen Soldaten der Wehrmacht, die noch „anfänglich“ oder „ursprünglich“ gedacht hätten und im altgriechischen und neudeutschen Denken zugleich für den Vernichtungswahn gegen die Juden gern ihr Leben ließen. Unmittelbar nach der oben zitierten Passage gegen das „bloße Weltbürgertum“ Goethes heißt es:

„Aus demselben Grunde ist der Bezug Hölderlins zum Griechentum etwas wesentlich anderes als Humanismus. Darum haben die jungen Deutschen, die von Hölderlin wussten, angesichts des Todes Anderes gedacht und gelebt als das, was die Öffentlichkeit als deutsche Meinung ausgab.“[xi]

Peter Sloterdijk bezieht sich 1999 bewusst auf diesen „Brief über den Humanismus“ von Heidegger und applaudiert somit subkutan noch Jahrzehnte später den Wehrmachtssoldaten und anderen „jungen Deutschen“, die im Sinne Heideggers „von Hölderlin wussten“ als sie die Juden massakrierten oder vergasten.

Heidegger möchte „seine“ deutschen Soldaten retten und Sloterdijk hilft ihm dabei, das ‚elende Gejammere über die Shoah‘, wie es für ihn Jürgen Habermas und die Kritische Theorie repräsentieren, zu überwinden. Die jungen deutschen Soldaten, so Heidegger 1946, hätten gar nicht das gedacht, was „die Öffentlichkeit“ dachte und als „deutsche Meinung“ ausgab. Vielmehr seien diese Soldaten offenbar für die „Würde“ des Seins gestorben, denn sie seien – so sie Hölderlin kannten, laut Heidegger – gerade nicht im Sinne des Humanismus gestorben. Damit reklamiert der Schwätzer aus Meßkirch die deutschen Soldaten für sich und seine Schule, ja die deutschen Landser erscheinen als die wahren Recken im Kampf für das Sein und gegen den Humanismus (und die Juden).

Dann sagte Heidegger 1949 in einem seiner Bremer Vorträge Folgendes:

„Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern (…)“[xii]

Diese Art, den Holocaust zu trivialisieren, ist typisch für den sekundären Antisemitismus, jenen nach Auschwitz.

Die Menschen sind für Heidegger „Hirte[n] des Seins“[xiii], wie es 1946 heißt, und das Sein ist ja ‚Geschick‘. Die deutschen Soldaten der Wehrmacht werden geehrt – die beiden Söhne Heideggers waren Soldaten für Nazi-Deutschland -, die Opfer des Nationalsozialismus und deutschen Vernichtungswahns nicht einmal erwähnt. Aber Heidegger ist geschickt genug, dies etwas zu verpacken und zu raunen:

„Weil gegen den ‚Humanismus‘ gesprochen wird, befürchtet man eine Verteidigung des In-humanen und eine Verherrlichung der barbarischen Brutalität.“[xiv]

Heidegger insinuiert, er sei gar kein Menschenfeind, und wird von Sloterdijk sekundiert. Diese rhetorische Floskel jedoch, die vorgibt die „barbarische Brutalität“ nicht zu „verherrlichen“, dementiert sich selbst. Die Ablehnung von Metaphysik als vom Menschen ausgehende Denkbewegung, die Subjektivität basal in sich trage, führt den deutschen philosophischen Vordenker der Vernichtung, der schon vor 1933 zum Tode vorlief[xv], hierzu:

„Mit dem Heilen zumal erscheint in der Lichtung des Seins das Böse. Dessen Wesen besteht nicht in der bloßen Schlechtigkeit des menschlichen Handelns, sondern es beruht im Bösartigen des Grimmes. Beide, das Heile und das Grimmige, können jedoch im Sein nur wesen, insofern das Sein selber das Strittige ist.“[xvi]

Eine bessere Ent-Schuldung der Deutschen ist gar nicht formulierbar. Das Sein, was auch immer das sei, sei „strittig“ und sich nicht sicher, ob es „das Heile“ oder „das Grimmige“ schicken soll. Egal, was auch immer geschickt wird, es ist das Sein. Das ist Antisubjektphilosophie, welche die Verbrechen und Verbrecher reinwäscht und „das Böse“ nicht aus Handlungen kommen sieht, von Einzelnen gar oder einer SS-Einheit, vielmehr als dem Wesen des Seins inhärent betrachtet.

Daran anschließend formuliert der Seinsdenker Heidegger diese Entschuldung aller deutschen Verbrecher noch etwas präziser, in seinem existenz-ontologischen Jargon:

„Zu fragen bleibt, ob denn nicht, gesetzt daß Denken zur Ek-sistenz gehört, alles ‚Ja‘ und ‚Nein‘ schon eksistent ist in die Wahrheit des Seins. Ist es diese, dann sind ‚Ja‘ und ‚Nein‘ in sich schon hörig auf das Sein. Als diese Hörigen können sie niemals dasjenige erst setzen, dem sie selber gehören.“[xvii]

Sprich: diejenigen, welche das Gas in die Gaskammern von Auschwitz-Birkenau warfen, konnten gar nicht anders, weil sie dem „Sein“ gehören, ja sie sind „hörig“ gewesen. Weder „Ja“ noch „Nein“ hätten daran etwas geändert.

In Sloterdijks Rekurs auf Heidegger von 1999 sowie in seinen ungeheuerlichen, abstoßenden Bemerkungen von 2002 steckt die antiamerikanische Ideologie des „deutschen Weges“ oder der „pränatalen Selektion“ (Sloterdijk).[xviii] Das haben die extremen Rechten umgehend erkannt.[xix] Heute werden allenthalben, zumal nach 9/11, deutsche Wege[xx] gesucht, in explizitem Gegensatz zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Ein Jahr nach dem 11. September 2001 ‚erkannte‘ die extrem rechte „Junge Freiheit“ sehr treffsicher, es sei frappierend, dass gerade unter Rot-Grün ein deutscher Weg vorgeschlagen wird – Kronzeuge ist Peter Sloterdijk:

„Interessant ist daher ein Interview, das der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk kürzlich dem Wiener Magazin Profil gegeben hat. Sloterdijk, der sich als Grün-Wähler vorstellte (…), bekannte sich zu Schröders ‚deutschen Weg‘. (…) Auch Schröders USA-Kritik stellt Sloterdijk in einen nationaldeutschen Kontext. Der Kanzler habe signalisiert, daß in den deutsch-amerikanischen Beziehungen ein neues Kapitel aufgeblättert werden müsse: weg von der bisherigen Vasallenposition. Der Philosoph greift den von Bush geprägten Begriff der ‚rogue states‘ auf (…). (…) für ihn seien die USA und Israel ‚rogue states‘, weil sich beide aus ihrem Selbstverständnis heraus nicht in die internationale Staatengemeinschaft einordnen wollten. Zum 11. September meinte er, hier seien ‚Autohypnose‘ und ‚Hysterisierung‘ am Werk. (…) Niemand im deutschen Vaterlande (ist dieses Wort überhaupt noch erlaubt?) fiel es ein, wenigstens die Frage zu stellen, warum auf der Linken (aus welchen Motiven auch immer) plötzlich das nationale Thema gefragt ist – während Bürgertum und C-Parteien beredt schweigen.“[xxi]

2005 sprach auch der damalige Feuilletonchef der Tageszeitung „Die Welt“, Eckhard Fuhr, vom deutschen „Vaterland“ der „Berliner Republik“.[xxii] Solch wieder erwachtes nationales Pathos korreliert intensiv mit einem Antiamerikanismus. Fuhr spricht sich zwar nicht gegen den ‚jüdischen Bolschewismus‘, dafür gegen den heutigen „Freiheits-Bolschewismus“[xxiii] der USA aus.

2004 folgte die neu-rechte Postille „Volkslust“ Sloterdijks anti-antifaschistischem Furor und seiner Sehnsucht nach dem Ende der Ära der „hypermoralischen Söhne“ – oder Töchter:[xxiv]

„Darüber hinaus fordern uns die volklichen Veränderungen geradezu heraus, daß wir nach unseren ureigenen Wurzeln, nach unserer ureigenen Identität suchen. Genauso wichtig wie der Blick auf unsere nicht mehr nur ‚reindeutsche‘ Zukunft ist es, unseren Kindern aufzuzeigen, wer oder was sie sind, was Deutschland eigentlich ist. Diese Frage bleibt weiterhin offen. Unsere Kinder sollen nicht mehr verschämt zu Boden blicken, wenn sie jemand fragt, woher sie kommen und sie sollen sich im Klaren darüber sein, daß die deutsche Geschichte nicht nur aus Auschwitz und Buchenwald besteht.“[xxv]

Die Position, „daß die deutsche Geschichte nicht nur aus Auschwitz und Buchenwald“ bestehe, ist heute kein genuin rechtsextremer Standpunkt mehr (so er es je war) im geschichtspolitischen ‚Diskurs‘, vielmehr ist diese Auffassung seit Mitte der 1970er Jahre allmählich und offensiv Allgemeingut geworden. Die Neuen Rechten begrüßen natürlich diese nationalen Tendenzen und Sloterdijk ist einer ihrer Kronzeugen, neben Walser und Grass, der nicht nur 2012 ein antisemitisches Gedicht, vielmehr schon früher deutschnational schrieb; „Volkslust“ honorierte diese allzu Deutschen:

„Was im ‚Historikerstreit‘ u. a. zwischen Ernst Nolte und Jürgen Habermas schon auftauchte, setzte sich in anschließenden geschichtspolitischen Debatten um die angemessenen Erinnerungskulturen fort, in denen über Sinn und Zweck der ›Vergangenheitsbewältigung‹ gestritten wurde. Dazu gehören Martin Walsers Aufruhr gegen die ‚Auschwitzkeule‘, die ‚patriotischen‘ Beiträge eines Günther Grass, der schließlich auch in jener ‚Vertreibungsdebatte‘ seine Stimme erhob, das neue Sprechen über den Bombenkrieg also und die Opferdimension der deutschen Selbstwahrnehmung, Sloterdijks starke Töne vom ‚Tod‘ einer moralisierenden (Post-)Kritischen Theorie und dem Anbruch einer neuen Epoche ironisch-gelassenen Weiterdenkens. Dazu gehören popkulturelle Phänomene wie die Elektropunkband ‚Mia‘ mit ihrer sensibel-‚nationalen‘ Variation des Erich Fried Gedichtes ‚Was es ist‘, Paul van Dyks und Peter Heppners Lied ‚Wir sind wir‘, skurrile Debatten um ‚Deutschquoten‘ im Rundfunk und vieles mehr.“[xxvi]

Vor diesem Hintergrund ist es so bezeichnend wie untragbar, dass Peter Sloterdijk den Ludwig-Börne-Preis erhält. Es ist eine Farce und ein Skandal, da somit präfaschistische Biopolitik, neudeutsche Unverschämtheit und altdeutsches Raunen zu Ehren kommen, die zwar zur gegenwärtige Lage in der Bundesrepublik passen, aber Ludwig Börne völlig zuwider wären.

Henryk M. Broder wird seinen Ludwig-Börne-Preis aus Protest gegen die Preisverleihung an Sloterdijk zurückgeben. Es wäre ein weiteres Zeichen intellektueller Redlichkeit wenn Salomon Korn, der im überschaubaren Vorstand der Ludwig-Börne-Stiftung sitzt, diesen Posten unter Protest abgeben würde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Korn, ein Kritiker des Antisemitismus und deutscher Zumutungen (jedenfalls mancher), Sloterdijk auch nur im Geringsten schätzt. Und somit war es ein historischer Fehler, Hans Ulrich Gumbrecht als Laudator für den diesjährigen Börnepreis zu wählen, hat doch Gumbrecht nicht zuletzt mit seinem affirmativen Bezug auf den präfaschistischen Ernst Jünger in seinem Buch „1926. Ein Jahr am Rand der Zeit“ dem postmodernen oder kulturrelativistischen Kokettieren mit jenen, die die Demokratie, die Weimarer Republik zerstören halfen und somit dem antisemitischen Mordsregime des SS-Staates freudig den Weg bahnten, gezeigt, wie problematisch er selbst zu denken pflegt.[xxvii] Dass Gumbrecht dann Sloterdijk auswählte ist nur konsequent und zeigt, dass auch ein jahrelanger Aufenthalt in USA oder die amerikanische Staatsbürgerschaft aus einem Deutschen noch keinen Denker oder gar Kritiker machen muss. Schon 2008 hat Gumbrecht in einer Laudatio auf Sloterdijk, dem der „Lessing-Preis für Kritik“ verliehen wurde, seinen Freund auf fast schon peinlich-demütigende Art und Weise umschlungen und gepriesen, Heideggers enormen Einfluss auf Sloterdijk hervorgehoben ohne den Hauch von Distanz zum anti-humanen ‚Denker‘ Heidegger, und in der überarbeiteten Druckversion auch explizit und mit Verve Sloterdijks „Regeln für den Menschenpark“ gewürdigt.[xxviii]

Börne oder eine/r, die oder der einigermaßen in seinen Fußstapfen zu gehen in der Lage wäre, heute, würde allein schon beim Gebrauch des Wortes „Menschenpark“ laut aufschreien. Doch Gumbrecht und das kulturindustrielle, politische und wissenschaftliche Establishment der Bundesrepublik, goutieren diese in Sprachform gezwungene Menschenverachtung des post-humanen Autors. Die Wahl Gumbrechts zeigt zudem wie ungemein originell die Idee der Börnestiftung war, ihn als Laudator auszuwählen und Gumbrecht zeigt seinen Einfallsreichtum, fünf Jahre später wieder sein Vorbild Sloterdijk zu würdigen.

Was sind die Kennzeichen des nationalen Apriori im heutigen Deutschland?

Walser[xxix] und Gauck[xxx], Grass[xxxi] und J. Augstein, der sich gegen Israel und hinter den Ex-SS-Mann stellt, sowie das posthumanistische Doppel Sloterdijk/Gumbrecht stehen exemplarisch für 1) Erinnerungsabwehr an die Shoah, 2) Antizionismus und Schuldumkehr sowie gleichsam 3) auf der Metaebene für den „post-humanistischen Denkraum“, das Promoten von Heidegger in Zeiten der Post-Postmoderne, die Abkehr vom Subjekt, den Hass auf den Humanismus und das Ressentiment auf Amerika und Israel. Selbst wenn Gumbrecht nicht jedes Ressentiment seines Duzfreundes teilt, applaudiert er doch nonstop dem ganzen Sloterdijk und promotet dadurch dessen Ressentiments.

Börne war ein Polemiker und Kritiker des Zeitgeistes, Sloterdijk ist ein Zyniker und Großaffirmator. Jihadistischer Massenmord wie an 9/11 gereicht dem Börnepreisträger zu einer Gefühlskälte und zu Schadenfreude, die die übliche bürgerliche Kälte atomisierter Arbeitskraftbesitzer fast schon als kuschlig-warm erscheinen lässt und in der Tat für typisch deutsche Sekundärtugenden spricht, die auch zu einer erneuten Art Posener Rede führen könnte, wie Broder 2002 kritisierte. Sloterdijk macht die deutsche Schuld am Holocaust zu einem Problem des Humanismus und verallgemeinert das Spezifische und Präzedenzlose der deutschen Verbrechen. Das kommt gut an, nicht nur bei der Börnestiftung, auch bei der „Jungen Freiheit“ oder der „Volkslust“.

Die neu-deutsche Ideologie Sloterdijks folgt der altdeutschen. Sloterdijk transponiert den Jargon Heideggers ins 21. Jahrhundert. Der Karlsruher Universitätsangestellte gefällt sich selbst im „post-humanistischen Denkraum“. Lächelnd wird das Ende des Menschen beklatscht, nicht nur in Frankfurt. Stolz auf Deutschland und seine moralfreie Jugend, die den von Sloterdijk herbei geschrienen Tod der Kritischen Theorie zelebriert und wieder fröhlich den Wehrmachtsopas gedenkt und die BDM-Omas tätschelt oder besonders schöne Vergiss-Mein-Nicht auf dem Friedhof pflanzt: Das sind die Formen des nationalen Apriori, 2013.

Der diesjährige Ludwig-Börne-Preisträger zeigt geradezu paradigmatisch, wie sekundärer Antisemitismus funktioniert: Peter Sloterdijk propagiert einen „post-humanistischen Denkraum“ und möchte mit Heidegger den Humanismus für den SS-Staat und den Holocaust verantwortlich machen und die Deutschen entschulden. Schuldabwehr und Schuldprojektion gehen Hand in Hand. Amerika und Israel werden von Sloterdijk 2002 nicht nur klammheimlich oder verdruckst (wie von sehr vielen Deutschen), vielmehr ganz offen und aggressiv als „Schurkenstaaten“ diffamiert und dafür wird er seither gleich mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Das sagt alles über die Eliten wie die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland im frühen 21. Jahrhundert aus, im Zeitalter nach 9/11.

 

Der Verfasser, Dr. phil. Clemens Heni, ist Direktor des Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA), www.bicsa.org, und studierte in den 1990er Jahren am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen.

 

 

 


[i]

[ii] Das könnte gleichwohl auch ein Grund sein, warum Deutschland so geliebt wird, wenngleich die Mehrzahl der eher einfach strukturierten und zufällig ausgewählten internationalen Interviewpartner, Butler nicht kennen dürfte, die Elite oder politische Aktivisten in vielen Ländern jedoch sehr wohl.

[iii] Sadik J. Al-Azm (2004): Islam, Terrorism and The West Today, „Die Welt des Islams“, Vol. 44, Nr. 1, S. 114–128.

[iv] Martin Heidegger (1946)/1967: Brief über den Humanismus, in: ders. (1967): Wegmarken, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, S. 145-194, hier S. 153.

[v] Ebd.: 155.

[vi] Vgl. Hassan Givsan (1998): Heidegger – das Denken der Inhumanität. Eine ontologische Auseinandersetzung mit Heideggers Denken, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 359f. Beaufret war später auch ein Freund des Holocaustleugners Robert Faurisson, vgl. ebd.: 360.

[vii] Heidegger 1946: 147.

[viii] Günther Anders (1946)/2001: Nihilismus und Existenz, in: ders. (2001): Über Heidegger. Herausgegeben von Gerhard Oberschlick in Verbindung mit Werner Reimann als Übersetzer. Mit einem Nachwort von Dieter Thomä, München: Verlag C.H. Beck, S. 39-71, hier S. 50.

[ix] Ebd.: 153.

[x] Ebd.: 170.

[xi] Ebd.

[xii] Martin Heidegger (1949): Einblick in Das Was Ist. Bremer Vorträge 1949, ders. (1949a): Bremer und Freiburger Vorträge, Gesamtausgabe Band 79, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, S. 3-77, hier S. 27.

[xiii] Anders 1946: 172.

[xiv] Ebd.: 176f.

[xv] „Die Charakteristik des existenzial entworfenen eigentlichen Seins zum Tode läßt sich dergestalt zusammenfassen: Das Vorlaufen enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das Man-selbst und bringt es vor die Möglichkeit, auf die besorgende Fürsorge primär ungestützt, es selbst zu sein, selbst aber in der leidenschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden Freiheit zum Tode“ (Martin Heidegger (1926)/1953: Sein und Zeit, siebte, unver. Aufl., Tübingen: Max Niemeyer Verlag, S. 266). Die folgende Passage macht noch deutlicher, wie Schicksal, Tod und Dasein sich zu einem völkischen Knäuel verbinden. Es ist bezeichnend, dass wesentliche Vertreter der Philosophie des 20. Jahrhunderts wie Hannah Arendt, Jürgen Habermas, Jacques Derrida, Hans-Georg Gadamer oder auch Michel Foucault solche Passagen des rein zeitlich vor-nazistischen Heidegger schlicht überlesen haben – oder eben affirmiert. Denn in folgender Textstelle aus Sein und Zeit ist Heideggers Denken deutlich dem deutschen Neuen Nationalismus der Weimarer Republik verpflichtet. Sie indiziert den Wunsch eine Demokratie zu zerstören, um eine schicksalhafte, todessehnsüchtige Seinsdiktatur zu errichten bzw. sich einfach ‚schicken‘ zu lassen: „Das Dasein kann nur deshalb von Schicksalsschlägen getroffen werden, weil es im Grunde seines Seins in dem gekennzeichneten Sinne Schicksal ist. Schicksalhaft in der sich überliefernden Entschlossenheit existierend, ist das Dasein als In-der-Welt-sein für das ‚Entgegenkommen‘ der ‚glücklichen‘ Umstände und die Grausamkeit der Zufälle erschlossen. (…) Wenn das Dasein vorlaufend den Tod in sich mächtig werden läßt, versteht es sich, frei für ihn, in der eigenen Übermacht seiner endlichen Freiheit, um in dieser, die je nur ‚ist‘ im Gewählthaben der Wahl, die Ohnmacht der Überlassenheit an es selbst zu übernehmen und für die Zufälle der erschlossenen Situation hellsichtig zu werden. Wenn aber das schicksalhafte Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen existiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als Geschick. Damit bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes. Das Geschick setzt sich nicht aus einzelnen Subjekten zusammen, sowenig als das Miteinandersein als ein Zusammenvorkommen mehrerer Subjekte begriffen werden kann. Im Miteinandersein in derselben Welt und in der Entschlossenheit für bestimmte Möglichkeiten sind die Schicksale im vorhinein schon geleitet. In der Mitteilung und im Kampf wird die Macht des Geschickes erst frei“ (ebd.: 384). Diese völkische Ontologie, die ein „Miteinandersein“ als a priori setzt und nicht dem politischen Willen, Vernunft gar, unterstellt, ist Kernbestandteil nationalsozialistischer Weltanschauung. Zum Versagen der Philosophie des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Philosophie Heideggers, des ganzen Heideggers, vgl. Hassan Givsan (1998a): eine bestürzende Geschichte: Warum Philosophen sich durch den „Fall Heidegger“ korrumpieren lassen, Würzburg: Königshausen & Neumann; dieses dünne Buch ist eine Fußnote zu Givsan 1998.

[xvi] Heidegger 1946: 189.

[xvii] Ebd.: 190.

[xviii] Peter Sloterdijk (1999): Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, hier S. 46.

[xix] Der folgende Abschnitt ist großteils aus Clemens Heni (2007): Salonfähigkeit der Neuen Rechten. ‚Nationale Identität‘, Antisemitismus und Antiamerikanismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1970 – 2005: Henning Eichberg als Exempel, Marburg: Tectum, S. 22f.

[xx] So Egon Bahr (2003): Der deutsche deutsche Weg. Selbstverständlich und normal, München (Karl Blessing); Werner Abelshauser (2003): Kulturkampf. Der deutsche Weg in die Neue Wirtschaft und die amerikanische Herausforderung, Berlin: Kulturverlag Kadmos.

[xxi] Carl Gustaf Ströhm (2002): Deutscher Weg. Plötzlich verkehrte Fronten, in: Junge Freiheit, Nr. 41, 04. Oktober 2002.

[xxii] Eckhard Fuhr (2005): Wo wir uns finden. Die Berliner Republik als Vaterland, Berlin: Berlin Verlag. „Übrigens ist die SPD auch heute noch die einzige demokratische Partei, bei der das ›D‹ für Deutschland steht“ (ebd.: 149).

[xxiii] Ebd.: 110.

[xxiv] Dieser Abschnitt ist aus Heni 2007, 418.

[xxv] Anna Helena Wegner (2004): Identität, Migration und neue Kultur, in: Volkslust, 2004, H. 1, S. 34–35, hier S. 35.

[xxvi] Alexander Raoul Lohoff (2005): Annäherungen an eine volkliche Linke. Worum es gehen kann und worum nicht, ein unsystematischer Versuch, in: Volkslust, 2005, H. 2, S. 16–53, hier S. 47.

[xxvii] Der Romanist und Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht liebäugelt mit Ernst Jüngers Spiel ›Den-Boden-unter-den-Füßen-verlieren‹, wenn er Jüngers nekrophile Kriegsbeschreibungen mit den ›Erlebnissen‹ von Matrosen und Schiffspassagieren im Jahr 1926 gleichsetzt, vgl. Hans Ulrich Gumbrecht (1997)/2001: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit. Übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 358.

[xxviii] Hans Ulrich Gumbrecht (2008)/2009: In der Welt sein und auf der Bühne stehen. Die intellektuelle Physiognomie von Peter Sloterdijk, in: Marc Jongen/Sjoerd van Tuinen/Koenraad Hemelsoet (Hg.), Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk, München: Wilhelm Fink, S. 19-28, hier S. 23.

[xxix] „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule (…)“.

[xxx] Gauck sagte 2006: „Unübersehbar gibt es eine Tendenz der Entweltlichung des Holocaust. Das geschieht dann, wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird, die letztlich dem Verstehen und der Analyse entzogen ist. Offensichtlich suchen bestimmte Milieus postreligiöser Gesellschaften nach der Dimension der Absolutheit, nach dem Element des Erschauerns vor dem Unsagbaren. Da dem Nichtreligiösen das Summum Bonum – Gott – fehlt, tritt an dessen Stelle das absolute Böse, das den Betrachter erschauern lässt. Das ist paradoxerweise ein psychischer Gewinn“.

[xxxi] „Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden?“

Das nationale Apriori: Wie aus der BRD endgültig ‚Deutschland‘ wurde

Original auf www.hagalil.com, 07.07.2006

Das Nationale ist zum deutschen Apriori geronnen. Während die NPD und andere Nazis jahrzehntelang für das massenhafte Tragen von Deutschlandfahnen, Wimpeln, schwarzrotgold umrandete Untertassen und andere Embleme ‚der Deutschen‘ geworben haben, schweigt diese Partei heute, fast.

Zu sehen sind nun die propagierten Accessoires in Millionenausfertigung, ganz Deutschland schwelgt, klatscht, schreit, jubelt und singt „blühe deutsches Vaterland“ wie früher nur die NPD im Hinterstübchen der Deutschen Klause in Delmenhorst (bzw. zeitgleich die SED, die vom „sozialistischen Vaterland“ sprach).

Ein deutscher Stürmer, Podolski, hat die Strophen der Nationalhymne in seinen Fußballschuh, in das Leder einschreiben lassen. Jetzt ist die Fanmeile in Berlin am Brandenburger Tor (das ja jetzt geöffnet ist) zur einhellig getätschelten „patriotischen“ Liebeserklärung geworden, ohne Wenn und Aber, eine Art Bildzeitung in Riesenformat. Wenige Hundert Meter weiter liegen die neu-deutschen Frauen im schwarzrotgoldenen Bikini im Liegestuhl am Holocaust-Mahnmal – tote Juden als Aussichtspunkt des Neuen Deutschland; diese ach so friedlichen ‚Jungdeutschlandregimenter‘ setzen des Altkanzlers Schröders Wort vom Holocaust-Mahnmal als „Ort, an den man gerne geht“, lediglich in die Praxis um.

Schon seit Anfang der 1950er Jahre Adorno seine empirische Reise zu den post-nazistischen Deutschen unternommen hat – Schuld und Abwehr – ist bekannt, dass es keineswegs bei den (West)Deutschen nur um Holocaustleugnung geht. Gerade auch die Annahme der Schuld („Wir Deutschen…“ oder „Das macht uns so schnell keiner nach…“) an der Vernichtung der europäischen Juden war möglich, indem Beethoven, Kleist, Luther und Fontane, Sekundärtugenden, C.D. Friedrich und Verwandtes beschworen wurden. Später, in den 1980er Jahren, sagte der erste Vorsitzende der Republikaner, Franz Schönhuber, dass „Deutschland der Welt viel mehr geschenkt“ habe, „als Auschwitz je kaputtmachen könnte“.

Vom holocaustleugnenden Konjunktiv ganz zu schweigen spricht Schönhuber hier eine deutsche Befindlichkeit aus, welche die letzten 20 Jahre, nach der ‚Wiedervereinigung‘ und verschärft seit Rot-Grün 1998ff., immer mehr Einfluss gewinnt, ja von einem Bestandteil rechtsextremer ‚Deutungskultur‘ (Karl Rohe) zu einer gesamtgesellschaftlichen ‚Soziokultur‘ geronnen ist. Wissenschaftstheoretisch ist dabei das Paradoxon zu analysieren wie gerade eine Abkehr von Nationalgeschichte einer Verharmlosung und Universalisierung der spezifisch deutschen, präzedenzlosen Menschheitsverbrechen Vorschub leistet.

An sieben Punkten werde ich darstellen, wie sich diese Bewusstseinslage oder Befindlichkeit, die neue deutsche Ideologie äussert und was daran bemerkenswert ist.

1) Ein deutsches Graduiertenförderungswerk, 2002: ein Küchlein mit Folgen

Als Ausgangspunkt mag ein Treffen von Nachwuchswissenschaftlern, alles StipendiatInnen eines großen Graduiertenförderungswerkes, von Juli 2002 dienen. Dort hat ein kleines Küchlein, ein am Bahnhof gekaufter Muffin mit Mini-US-Fahne dazu geführt, die Fronten zu klären. Eigentlich als Zuckerl gedacht, entpuppte sich das Gebäck zu einem Objekt der Abwehr seitens typisch deutscher, linker JungakademikerInnen, die dieses US-Fahne – nach 9/11 zumal – unerträglich fanden. Zufällig wurde zu dieser Zeit im TV ein Interview Michel Friedmans mit dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon gesendet. Lediglich zwei der 17 Teilnehmenden hatten daran Interesse, die anderen pflegten ihre Ressentiments gegenüber Juden im Allgemeinen, Israelis im Besondern.

Wohlgemerkt: die Stimmung war schon so deutlich gegen Friedman, dass Möllemanns Flugblatt von September 2002 zur Bundestagswahl, auch gewisse Töne dieses Treffens vornehmlich linker, durchaus gewerkschaftsnaher Akademiker aufgreifen konnte. Dass es genau diese Stiftung bzw. ihre Doktoranden war, die wenige Monate später einen handfesten Antisemitismus-Skandal erlebte (als dessen Konsequenz immerhin eine Tagung zur Kritik des linken Antisemitismus stand), als ein migrantischer Doktorand nassforsch antiisraelische Töne durchs weltweite Netz jagte, überrascht nicht mehr. Fazit: Ressentiments gegen kleine amerikanische Fahnen, Juden und Israelis gehörten zum guten Ton dieses akademischen Nachwuchses. Das führt mich zum zweiten Beispiel.

2) Ein weiteres deutsches Graduiertenförderungswerk, Juni 2006: ich bin deutsch und was bist du?

Mitten in der nationalen Paranoia im Juni 2006, als Siege der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen schwache, schwächste oder unmotivierteste Teams die Stimmen der Moderatoren sich überschlagen und Millionen von Individuen zu einer homogenen Masse zusammenfinden lässt, eine weitere Tagung eines anderen, kleineren Graduiertenförderungswerks. Zu einem Spiel der deutschen Mannschaft wurde extra Party-Material gekauft, um einen Raum zu schmücken. Nicht etwa, um allgemein Fußball-Fan-Artikel der WM ganz allgemein zu drapieren, nein: ausschließlich schwarzrotgold war angesagt, noch nicht einmal die Farben der gegnerischen Mannschaft waren im Horizont der Vorbereitungsgruppe dieses Abends.

Erwachsene Akademiker malten sich mit Schminke die Farben des ‚deutschen Vaterlandes‘ ins Gesicht – wie sollen diese Persönchen in Zukunft noch ernst genommen werden als Wissenschaftler, Intellektuelle gar oder einfach nur interessante Individuen? So etwas war noch vor 12, 8 oder auch 4 Jahren undenkbar.

Dass keineswegs nur typische, ich-schwache und autoritär sozialisierte Personen dazu neigen sich mit einer Nation zu identifizieren, zeigen solche Beispiele wie auch die folgenden. Gleichwohl ist jede nationale Identifikation in Deutschland Zeichen eines persönlichen Defizits, das zu kompensieren aufgebrochen wird.

3) Walk of Ideas, Berlin 2006

Mitten in Berlin stehen sechs mega große Skulpturen, die zeigen sollen, dass Deutschlands „größtes Kapital“ „die Ideen der Menschen“ seien. Erfindungen werden hier nicht als Erbe der Menschheit, vielmehr als nationales Gut, als ‚volksmässig‘ akkumuliertes Kapital betrachtet. Vom Automobilismus, der Medizin, der unvermeidlichen Bemächtigung Einsteins Relativitätstheorie über den Fußballschuh, der Musik hin zum Buchdruck.

Letzterer ist ein gutes Beispiel, wie Deutschland heute funktioniert:

„Die Verbreitung des gedruckten Wortes beschleunigte Reformation und Aufklärung und unterstützte die Alphabetisierung. Dichter und Denker nutzten die neue Technik und ließen die deutsche Buchlandschaft erblühen – Zensur und Barbarei hätten sie fast zerstört: Am 10. Mai 1933 verbrannten Nationalsozialisten überall in Deutschland Werke moderner und regimekritischer Autoren. Die Bücherverbrennung setzte 500 Jahren deutscher Buchkultur ein vorläufiges Ende.“

So steht es auf einer Tafel zu dieser Skulptur am Bebelplatz in Berlin, Unter den Linden. Da stutzt man gewaltig: die Bücherverbrennung als „Ende“ „deutscher Buchkultur“? Waren die Werke Carl Schmitts, Richard Euringers, Eberhard Wolfgang Möllers, Martin Heideggers oder Erwin Guido Kolbenheyers nicht gedruckt worden in den Jahren 1933–1945? Was verbirgt sich hinter der Chiffre „moderner und regimekritischer Autoren“?

Wenn die Werke Heines aus dem 19. Jh. verbrannt wurden, wurde dann ein „NS-regimekritischer“ Autor verbrannt? Typisch ist die Auslassung des Antisemitismus, der jedoch de facto in Goebbels hetzerischer Ansprache an jenem 10. Mai 1933 auf diesem Platz deutlich zu hören war, als er vom „jüdischen Intellektualismus“ sprach, der ein Ende nehmen müsse. Dass sich gerade die Deutschen über die Jahrhunderte hinweg gerade nicht als Gesellschaft, die Büchern aufgeschlossen gegenüber steht, entwickelt hat, vielmehr Juden als Vertreter einer „Buchkultur“ oder „Gesetzesreligion“ angeprangert wurden, wird einfach derealisiert.

Wer sich die Geschichte des Antiintellektualismus anschaut, d.h. insbesondere die bis heute prägende Studie von Dietz Bering von 1978, weiß, dass der Affekt gegen das Buch in Deutschland von links bis rechts Tradition hat. Die Skulptur des Jahres 2006 suggeriert den Millionen Besuchern Berlin bzw. der Bundesrepublik: fast wäre das Buch an sich zugrunde gegangen, aber es ging noch mal gut. Dazu gesellt sich natürlich das Automobil, unter Hitler wären es die Autobahnen gewesen, welches der Welt vor dem Brandenburger Tor präsentiert wird.

Dass Audi, deren Modell nun überdimensional vor dem Brandenburger Tor steht, heute eine Tochter des Volkswagenkonzerns ist, der 1938 in der „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ gegründet wurde, wird klammheimlich bejaht, ja verbreitet Stolz im Neuen Deutschland wie annodazumal.

4) „Die Nazis wurden doch sportlich, 1936!“ Neu-deutsche Wissenschaft als Rehabilitierungsübung für den Nationalsozialismus

Auch in der Wissenschaft ist seit Jahren ein Trend bemerkbar, den Nationalsozialismus als ganz normale Gesellschaft – hier am Beispiel des Sport – darzustellen, Antisemitismus und Volkstumsideologie werden entweder offen oder subkutan affirmiert. Dazu dient als brillantes Beispiel die häufig zitierte und auch von linken Zeitschriften wie Konkret positiv angeführte Historikerin Christiane Eisenberg, die insbesondere deshalb in gewissen Kreisen einen Namen hat, weil sie Fußball-Analyse als wissenschaftliche Disziplin anerkannt habe.

Wichtig für ein Verstehen Ihres Ansatzes ist der Kulminationspunkt ihrer Habilitationsschrift aus dem Jahr 1997, eine Analyse der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin. In dieser Schrift versucht sie zu zeigen, wie Deutschland durch den Sport eine bürgerlich(er)e Gesellschaft nach dem Vorbild Englands wurde, die Studie heißt auch entsprechend „“English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939″.

Eisenberg versucht dem Sport ein Eigenleben auch und gerade unter den Bedingungen eines Herrschaftssystems wie dem Nationalsozialismus, welchem damit gleichsam ein ganz normaler Platz im Pantheon der (Sport-)Geschichte gesichert werden soll, zuzugestehen.

„Für die Atmosphäre der Spiele war es darüber hinaus von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß es reichlich Gelegenheit zur internationalen Begegnung und freien Geselligkeit außerhalb der Arenen gab. Gemeint sind hier weniger die Restaurants auf dem Reichssportfeld und auch nicht die zahllosen Empfänge und Partys der Nazigrößen. Das Urteil gründet sich vielmehr darauf, daß der Großteil der männlichen Athleten in einem Olympischen Dorf untergebracht wurde, so wie es erstmals bei den vorangegangenen Spielen in Los Angeles 1932 versucht worden war. Hatte das OK [Olympische Komitee C. H.] zunächst geplant, dafür eine bereits bestehende Kaserne zu renovieren, so ergab sich 1933 auf Vermittlung Walter v. Reichenaus die Chance, Neubauten zu bekommen. In der Nähe eines Truppenübungsplatzes in Döberitz/Brandenburg wurden in einem landschaftlich reizvollen Gelände 140 ‚kleine Wohnhäuser‘ für das Infanterie-Lehrregiment gebaut, deren Erstbezieher 3.500 Sportler wurden. Es gab Sporthallen, ein offenes und ein überdachtes Schwimmbad, Spazierwege, Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen. Zu den Gemeinschaftsräumen gehörten eine vom Norddeutschen Lloyd bewirtschaftete Speiseanstalt mit internationaler Küche und ein Kino.“

Eisenberg will einer neuen Sicht auf den Nationalsozialismus den Weg ebnen. In gezielter Negierung gesellschaftlicher Totalität isoliert sie Momentaufnahmen aus ihrem Kontext, um deren Allgemeingültigkeit, ja Universalität, kurz, das moderne Moment zu würdigen. Denn „Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen“ sind ja eine feine Errungenschaft, in Berlin 1936 wenigstens so lobenswert wie in Los Angeles 1932, will sie suggerieren.

Sie kritisiert die kritischen Reflexionen und Analysen bekannter und renommierter Sportwissenschaftler wie Hajo Bernett, Thomas Alkemeyer oder Horst Ueberhorst. Auch die Untersuchungen des Politikwissenschaftlers Peter Reichel über den Schönen Schein des Dritten Reichs qualifiziert Eisenberg ab:

„Diese Interpretation der Spiele vermag aus drei Gründen nicht zu überzeugen. Erstens ist das zugrundeliegende Argument methodisch fragwürdig, weil es nicht falsifizierbar ist. Wer immer das Gegenteil behauptet, daß Berlin 1936 ein Ereignis sui generis und der schöne Schein auch eine schöne Realität gewesen ist, riskiert es, als Propagandaopfer abqualifiziert zu werden.“

Die Olympiade in Berlin 1936 sei ein ‚Ereignis‘ ’sui generis‘ gewesen, gleichsam eine ’schöne Realität‘. Diese positivistische Abstraktion von jeglicher Gesellschaftsanalyse ist für nicht geringe Teile der Mainstream-Wissenschaft typisch. Ihre Argumentation steigert Eisenberg noch, indem sie Reichels Analyse im Reden von den vermeintlichen ontologischen Zwittern Sport und Propaganda untergehen lässt:

„Zweitens ist das Argument unergiebig, weil Sport und Propaganda wesensverwandt sind. Beide sind nach dem Prinzip der freundlichen Konkurrenz strukturiert, beide verlangen von den Akteuren eine Be-Werbung um die Gunst von Dritten (‚doux commerce‘). Daß dabei geschmeichelt, poliert, dick aufgetragen, ja gelogen und betrogen wird, überrascht niemanden, weder in der Propaganda noch im Sport. Olympische Spiele sind, so gesehen, immer Illusion und schöner Schein; eben das macht ihre Faszination aus. Daraus zu folgern, daß Berlin 1936 eine umso wirksamere Werbemaßnahme für den Nationalsozialismus gewesen sein müsse, wäre jedoch kurzschlüssig. Denkbar wäre auch, daß Nutznießer der Propaganda der Sport war. Diese Möglichkeit hat jedoch noch keiner der erwähnten Autoren geprüft.“

Eisenberg will sagen: So schlimm kann der Nationalsozialismus doch nicht gewesen sein, wenn ein so zentrales Moment für moderne, freizeit- und spaßorientierte Gesellschaften wie der Sport, gar ein ‚Nutznießer‘ dieses politischen Systems war. Diese eben zitierte Passage ist Ausdruck eines Wandels politischer Kultur in der BRD. Ungeniert lässt sie den Nationalsozialismus, am Beispiel der Olympischen Spiele von 1936, im Kontinuum bürgerlicher Gesellschaft, die eben im Sport ‚wesenhaft‘ lüge, dick auftrage und schmeichele, aufgehen.

Wie soll es nach der auf internationale Verständigungspolitik“ ausgerichteten Weimarer Republik möglich gewesen sein,

„daß die Olympiapropaganda nach 1933 plötzlich eine Nazifizierung der Athleten und des sportinteressierten Publikums bewirkte? Mußte nicht zuvor eine Versportlichung der Nazis erfolgt sein?“

Bei dieser Olympiade wurde ein ‚Weihespiel‘, die „Olympische Jugend“ von Carl Diem uraufgeführt. Es geht in diesem olympischen Weihespiel um „‚Kampf um Ehre, Vaterland'“. Die Jugend sieht ihrem Selbst-Opfer ins Gesicht: „Allen Spiels heil’ger Sinn: Vaterlands Hochgewinn. Vaterlandes höchst Gebot in der Not: Opfertod!“ Eisenberg ordnet diesen Opfertod folgendermaßen ein: das Diemsche „Festspiel“ werde

„in der sport- und tanzhistorischen Literatur als Verherrlichung des ‚Opfertodes‘ für die nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘ interpretiert – was nicht zu überzeugen vermag. Erstens gehörte die Opferrhetorik schon in der Weimarer Republik zum spezifisch deutschen Sportverständnis (…) Zweitens haben die Zeitgenossen des Jahres 1936 die Szene ohne Zweifel mit dem Ersten Weltkrieg und nicht mit dem bevorstehenden Zweiten in Verbindung gebracht.“

Auch wenn sich die Historikerin ganz sicher ist („ohne Zweifel“), bleibt zu betonen: die Erinnerung an die deutschen Toten des I. Weltkriegs war sehr wohl die Vorbereitung auf den II. Der ‚Langemarck-Topos‘ der Jugend, des Opfers und des Nationalen kommt hierbei zu olympischen Ehren. Die internationale Anerkennung der Spiele ist Zeichen des Appeasements dem nationalsozialistischen ‚Aufbruch‘ gegenüber. Wenn in einem Buch von 1933 ausgeführt wird:

„‚Daraus erhellt, daß bei Ausbruch des Krieges der Zukunft die Ausbildung künftiger Langemarckkämpfer um ein mehrfaches verlängert und die Material- und Munitionsmenge für heutige Schlachten um ein Vielfaches vermehrt werden muß'“,

so muss gerade eine solche Interpretation des Langemarck-Topos ernst genommen und nicht, wie bei Eisenberg, als quasi Weimarer Tradition, die zufällig 1936 wieder hervortritt, verharmlost werden. Dagegen ist die Kontinuität von ’33 bis ’36 zu sehen, die soeben zitierte Passage von ’33 bekommt im Festspiel von Diem eine internationale Beachtung findende Weihe, wie Eisenberg unschwer in der Forschungsliteratur hätte nachlesen können:

„So wurde im Glockenturm des Berliner Olympia-Stadions eine Gedächtnishalle für die Toten von Langemarck eingerichtet, und Carl Diems Eröffnungsspiel der Olympiade von 1936 endete mit ‚Heldenkampf und Totenklage‘; eine Division des Hitlerschen Ost-Heeres bekam den Namen ‚Langemarck'“.

Ein weiterer Kritikpunkt, ganz eng am Diemschen Spiel und seinen Protagonisten wie der Ausdruckstänzerin Mary Wigman orientiert, ist folgender: es lässt sich gut zeigen, wie Wigmans Auffassung von Opfertod Diems Weihespiel in diesem Punkt inhaltlich bzw. choreographisch bereits vor ’33 antizipiert hat, so am „Stück ‚Totenmal‘, einem Drama von Albert Talhoff, welches von Talhoff und Wigman 1930 gemeinsam inszeniert wurde, wobei Wigman die tänzerische Choreographie übernahm.

Das Werk wurde zum Gedenken an die Gefallenen des 1. Weltkriegs geschrieben. (…) [Zudem] ist dieses Werk ein Prototyp nationalsozialistischer Inszenierungen, zum einen wegen des Themas (Verehrung der gefallenen Soldaten) zum anderen wegen der Form (die Inszenierung stellt eine Kombination aus Sprechchor und Bewegungschor dar).“ Waren schon die „Tanzfestspiele 1935“ eine „Propagandaveranstaltung für den deutschen Tanz nationalistischer Prägung“, so kulminierte das im olympischen Jahr im Weihespiel von Diem, an dem Wigman aktiv beteiligt war. Ein Sportwissenschaftler, Micha Berg, weist auf die zentrale Bedeutung von Symbolik für das nationalsozialistische Deutschland hin und zitiert den völkischen Vordenker Alfred Baeumler:

„Das Symbol gehört niemals einem Einzelnen, es gehört einer Gemeinschaft, einem Wir. Dieses Wir ist nicht ein Wir des gesinnungsmäßigen Zusammenschlusses von Persönlichkeiten, ist nicht ein nachträgliches Wir, sondern ein ursprüngliches. Im Symbol sind Einzelner und Gemeinschaft eins. (…) Das Symbol ist unerschöpflich, in ihm erkennt sich sowohl der Einzelne wie die Gemeinschaft.“

Dieses ‚ursprüngliche Wir‘ kehrt heute im deutschen Feuilleton wieder, gerade am Beispiel der deutschen Hymne, wie weiter unter an einem weiteren Beispiel gezeigt werden wird. Es bleibt zu konstatieren, dass Eisenberg darauf beharrt: Diems Festspiel ende doch mit Beethovens „Schlußchor der IX. Sinfonie mit der ‚Ode an die Freude‘ von Friedrich Schiller“, was Ausdruck von ‚Kunst‘ sei. Sie schließt ihre Arbeit, indem sie nicht nur dem Sport unterm NS mehr Möglichkeiten als noch in der Weimarer Republik attestiert, sondern auch, den II. Weltkrieg als „Beeinträchtigung des Wettkampfbetriebs“ euphemisierend, dem Nationalsozialismus bescheinigt, er habe den „Sport“ zuungunsten des Turnens gewinnen lassen, was sie als „Rahmen für den Sport in der Bundesrepublik“ für gut erachtet.

Besser hätte es die Neue Rechte oder jeder Konservativismus auch nicht hinbekommen: Die Nazis wurden im NS sportlich und nicht umgekehrt. Damit werden der NS verharmlost, Juden gedemütigt und Deutschland gerettet, die Habilitations-Mission ist erfüllt.

Dieser etwas ausführlichere Ausschnitt mag verdeutlichen, wie gegenwärtige Geistes- und Sozialwissenschaft in der Bundesrepublik funktioniert (wenn sie erfolgreich sein will im affirmativen Sinne, Eisenberg bekam alsbald eine Professur an der Humboldt-Universität). Es ist gerade bei politisch angeblich unverdächtigen Personen Mode geworden, den Nationalsozialismus einzubetten in ein Kontinuum, um auf jeden Fall den Zivilisationsbruch, den Auschwitz bedeutet, zu verdecken oder zu leugnen.

Die bürgerliche Gesellschaft wird gerade in Deutschland so dargestellt, als sei die Gesellschaft im NS 1936 ganz ähnlich strukturiert gewesen wie die der USA bei den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles. Das, was das nationalsozialistische Deutschland sehr spezifisch kennzeichnete, wird gezielt weggewischt, als irreal abgetan oder schlicht und ergreifend gar nicht analysiert. Vielmehr soll gelten: Die Existenz von Liegestühlen und Blumenbeeten für Sportler wiegt den Antisemitismus und Ausschluss jüdischer SportlerInnen auf. Dieser Antisemitismus ist erst auf den zweiten Blick erkennbar, ein Blick, der allzu selten vorgenommen wird.

5) Drei weitere Beispiele ‚linker‘ Wissenschaftler und deren Verharmlosung der deutschen Verbrechen

In der Dissertation des heutigen Konstanzer Juniorprofessors Sven Reichardt wird diese Position am Beispiel eines Vergleichs deutscher und italienischer ‚faschistischer‘ Geschichte deutlich:

„Der in dieser Arbeit zugrundegelegte Faschismusbegriff stellt eine eigene praxeologische Analyse der faschistischen Bewegung vor, die nicht an die marxistische Deutung und nur selektiv an die neuesten angloamerikanischen Arbeiten und Noltes Definition anknüpft“.

Antisemitismus wird zwar als Differenz von italienischen Squadristen und deutscher SA erwähnt, aber als wenig bedeutsam klein geredet, zudem als bloßer ‚Rassismus‘ verkannt. Das ist Folge des bei Reichardt paradigmatisch für weite Teile heutiger Historiografie hervortretenden komparatistischen Zugangs, der die Präzedenzlosigkeit der deutschen Verbrechen und ihrer Vorgeschichte gezielt negiert.

Konsequent ist es, wenn u. a. Reichardt dem Altlinken Karl Heinz Roth Rat gab bei der Verabschiedung einer Analyse des Nationalsozialismus zugunsten eines ubiquitären Faschismusbegriffs, vgl. Roths Aufsatz aus dem Jahr 2004 „Faschismus oder Nationalsozialismus? Kontroversen im Spannungsfeld zwischen Geschichtspolitik, Gefühl und Wissenschaft“.

Roth exkulpiert die Deutschen in althergebrachter Diktion von ihrem Antisemitismus, wenn er schreibt:

„Weitaus gebräuchlicher ist indessen der Begriff ‚Nationalsozialismus‘: Es handelte sich zunächst ebenfalls um eine affirmative Selbstdefinition, die aber elementare Prämissen, nämlich den militanten Antisozialismus, verschleiert. Darüber hinaus ist der Begriff nicht vergleichsfähig, weil er seine faschistischen Kontexte und Varianten per definitionem ausschließt. Er schließt aber auch alle anderen Bezüge zur europäischen und Weltgeschichte aus oder unterwirft den Blick auf Europa und die Welt der affirmativen Selbstkonnotation. Auch die kritisch distanziert gemeinte Analyse des ‚Nationalsozialismus‘ vermag nicht über einen germanozentrischen Blickwinkel hinaus zu gelangen“.

Bezeichnend ist, dass Roth nicht von einer deutschen Spezifik bei der Analyse des NS spricht, vielmehr einer „transnationale[n] und komparative[n] Sichtweise auf die faschistische Epoche“ das Wort redet. Das wird von einem weiteren Juniorprofessor sekundiert, wenn Kiran Klaus Patel ohne mit einem Wort den eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen und die Präzedenzlosigkeit der Shoah analysierend, „transnational“ Phänomene wie den NS betrachten möchte und zum Schluss kommt:

„Gerade für das NS-Regime verspricht eine transnationale Perspektive neue Erkenntnisse. (…) Denn die Distanz zwischen NS-Regime und New Deal war weniger tief als häufig angenommen“.

Solche Perspektive hat durch Arbeiten der Neuen Rechten – exemplarisch sei der wichtigste Neue Rechte in der Bundesrepublik seit Anfang der 1970er Jahre bis heute, Henning Eichberg, erwähnt – über die Jahrzehnte hinweg den Boden bereitet bekommen.

6) Das Opfer bringen und singen: „Blüh im Glanze deutsches Vaterland“ – von Diem zu Klinsmann

Jürgen Klinsmann wird zu Unrecht als wenig typisch deutscher Sportler betrachtet. Zwar war er in England bei den Spurs eine Kultfigur geworden, weil er als Deutscher so nett erschien und die Fans zu sangen begannen „Juergen was a German now he is a Jew“, was auf die umgepolte Selbststilisierung zum „Judenklub“ Tottenham Hotspurs anspielt, aber analytisch ist das nicht tief gehend.

Vielmehr war es Klinsmann, der das Deutsche evozierte, aggressiv zu werden, trotz kalifornischem Wohnort und internationalem Habitus. Er war es, der die deutsche Nationalmannschaft fast einhellig dazu brachte, lauthals die Nationalhymne zu trällern, den jungen Deutschen ein positives Gefühl für ihr Deutschland zu geben. Dass es so ein Gefühl nach Auschwitz in Deutschland nie wieder geben sollte, fällt da natürlich unter den volksgemeinschaftlichen Tisch. Dass keinem es auffällt oder zu peinlich oder widerlich ist, eine Hymne zu singen, die wortwörtlich auch im Nationalsozialismus gesungen wurde, ist doch schockierend, nicht?

Weit mehr: in einem Artikel der wiederum eher links-liberal daherkommenden Frankfurter Rundschau steht am 27. Juni 2006 folgender Text, der sich anhört als wäre er 1936 geschrieben worden, lange bevor der Autor geboren wurde:

„Wir wissen, schon in zwölf Jahren wird fast keiner mehr erzählen können, wie er sich als Kriegsteilnehmer in einem Kreis von Kriegsteilnehmern gefühlt hat, als der Sieg der deutschen Nationalmannschaft in Bern durch den europäischen Äther ging. Wir wissen zugleich: Schon in ein paar Wochen wird unsere Erinnerung an die schönsten Spiele dieser Weltmeisterschaft merkwürdig transparent und ausgeblichen sein, als vertrüge unsere tägliche Gedächtnispraxis das heftige Licht des Geschehenen auf Dauer nicht. Die Gegenwart muss sich einhaken. Anders gesagt: Unsere stärksten Gefühle lassen uns für eine kurze Spanne spüren, dass wir die kommenden Toten sind. Deshalb ist es schön, sie zu zweit, und besonders rührend, sie in einer Gemeinschaft von ähnlich Gestimmten durchleben zu dürfen. Gemeinsam singend, genießen wir uns als die baldigen Toten.“

Diese Propaganda ist nichts anders als die Beschwörung einer Gemeinschaft von Deutschen, die sich in völkischer Tradition sehen wollen. Es hört sich wirklich genuin nationalsozialistisch an, ist aber ein Text eines jüngeren Autors, Georg Klein, Jahrgang 1953 und Ingeborg-Bachmann-Preisträger.

Dieser Feuilleton-Text zeigt die Ungeniertheit, die das nationale Apriori ermöglich, hervorkitzelt und zum Ausdruck bringt. Eigentlich wäre bisher bei so einer Zeile, dass die stärksten Gefühle jene seine, die mir sagen, dass ich, nein: wir die „kommenden Toten“ sein werden, ein Aufschrei durch das Land gegangen. Heute nicht. Es geht nicht um die Sterblichkeit der Menschen.

Es geht um die Konstruktion eines homogenen Ganzen, eines Volkskörpers, das jeden einzelnen nur unter dem Aspekt dieses Körpers, des Volkes sieht und nicht – gleichsam katholisch gedacht – als Kind unter „Gottes Hand“. Muss man wirklich Katholik werden um solch völkische Rede der Frankfurter Rundschau zu kontern? Gut, Klein möchte als Deutscher sterben, soll er das.

Es wird auch weiterhin Leute geben, die lieber als Menschen, als ganz spezifische Individuen mit Macken, Vorlieben, Träumen, Sehnsüchten, Hoffnungen, Enttäuschungen, Freuden und Ekel, denn als Deutsche sterben.

Dazu passt, dass der ehemalige Bundestagspräsident, Wolfgang Thierse, fordert, doch noch mehr Strophen dieser deutschen Hymne zu verfassen. Nicht etwa dass der ehemalige DDR-Bürger Thierse die Abschaffung eines nationalen Symbols forderte, wo kämen ‚wir‘ hin? Wer in Berlin in den Stadtteil Lichtenberg im Osten fährt weiß wie aktuell die Gefahr des Umkippens vorgeblich harmlosen Singens der deutschen Hymne in Hetze und Gewalt durch Nazis ist. Dort gibt es Straßen, wo die Reichskriegsflagge in Eintracht mit der schwarzrotgoldenen am Haus hängt.

Vor wenigen Wochen, vor der WM, wurde in dieser Gegend ein bekannter deutsch-türkisch-kurdischer Kommunalpolitiker schwer verletzt. Nazis haben hier die Hoheit, schwarzrotgoldene Hosenträger, Markenzeichen schon seit eh und je der dickbäuchigen Nazis, schon zu BRD-Zeiten, sind ja heute in Mode, wo alle deutsche Welt schwarzrotgold trägt, als Armkettchen, Rock, T-Shirt oder Gürtel aus biologisch abbaubarer Wolle.

All diejenigen, die jetzt das Deutsche hochleben lassen sind politisch für solche Gewalttaten von Nazis mitverantwortlich zu machen. Das ist ja auch nichts Neues: früher haben auch Liberale und Linke Konservativen bzw. Rechten die Mitschuld am immer stärker werdenden Rassismus gegeben, am deutlichsten und treffendsten vielleicht 1992/1993 bei der de facto Abschaffung des individuellen Asylrechts durch CDU/CSU/SPD und ihren Helfern in anderen Parteien, Medien und Verbänden.

Geschichtspolitisch wurde immer auf die Vordenkerfunktion der geistigen Elite hingewiesen, nicht erst zum Historikerstreit 1986ff. Bereits Ende der 1970er Jahre, Anfang der 1980er Jahre, als in der BRD das Nationale offen aufs Tableau kam – nicht zufällig schon damals übrigens von Jürgen Habermas, der 1979 zwei Bände herausgab, welche die „nationale Frage“ auf die Tagesordnung setzten und Martin Walser davon sprach, lediglich wenn „wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Fragen zuwenden“ – wurde z. B. von Wolfgang Pohrt auf diese nationale Vordenkerfunktion zumal der Linken, Alternativen und Grünen verwiesen.

Schon damals also wurde deutlich dass das Einfordern universalistischer Prinzipien von Staatsbürgerschaft und politischem Gemeinwesen, für das Habermas steht, einher gehen kann mit einer Verharmlosung der deutschen Geschichte, ja ein nationales Narrativ gleichsam als Grundlage auch eines nicht blutsmässigen Staatsdenkens zu erkennen ist.

Wer also heute im Schwenken der deutschen Fahne nichts Gefährliches sieht, weil er oder sie nicht die Nazis auf der Straße, die fast komplett ’national befreite Zone‘ Ostdeutschlands sieht, weil doch lediglich Party gemeint sei und ein ‚Patriotismus‘ nie und nimmer mit Nationalismus verwechselt werden dürfe, irrt gewaltig. Das wird im folgenden Punkt noch deutlicher.

In einer Radiosendung des SWR in Stuttgart vor wenigen Tagen ging es um diesen neuen ‚Patriotismus‘, die Fahnenmeere etc. Hermann Bausinger, emeritierter und wohl dekorierter Kulturwissenschaftler aus Tübingen legte die Pace dieser nationalen Debatte vor. Er meinte ganz freudentrunken, dass das neue nationale Pathos völlig harmlos und schön sei, gerade weil alles Militärische daran fehle. Und dieses Fehlen des Militärischen sei Konsequenz der deutschen Verweigerungshaltung im Irak-Krieg, ja die deutsche Friedenssehnsucht sei Prämisse eines neuen, zurecht stolzen Deutschland. Der Hass auf die USA, der Antizionismus, das Appeasement und die klammheimliche Freude ob des Djihad sind dieser friedlichen Hetze inhärent.

7) Keine „Reue“ zeigen: gegen „amerikanischen Messianismus“ – Matusseks nassforsche Invektiven oder Wie funktioniert sekundärer Antisemitismus?

Der Spiegel Kultur-Ressort-Leiter Matthias Matussek hat mit seinem Bestseller „Wir Deutschen – Warum uns die anderen gern haben können“ ein offen nationalistisches Buch geschrieben, das in vielerlei Hinsicht ohne Walsers Tabubruch von 1998 im Mainstream-Journalismus nicht so ohne weiteres zu denken war. Der Bezug zu Bausingers Friedensliebe der Deutschen ist ganz offenbar in einem Interview Matusseks mit Peter Sloterdijk. Matussek gibt dem TV-Philosophen eine neu-deutsche Steilvorlage, wenn er fragt:

„Sichtbar wird vielmehr ein neues deutsche Selbstbewusstsein, zumindest in der Außenpolitik, die sich sogar den Widerstand gegen den amerikanischen Messianismus erlaubt hat.“

Das Ressentiment gegen „jüdischen“ Messianismus, wie er in antisemitischen Texten überall auftaucht, bekommt hier völlig selbstverständlich, aber rhetorisch kaschiert, seine Weihen. Der alte SPD-Mann Egon Bahr nennt das in einem Büchlein dann logisch „den deutschen Weg“ – gegen den „amerikanischen“ – und der Wirtschaftswissenschaftler Werner Abelshauser stimmt als einer unter vielen in diesen nationalen Chor ein.

Matussek ergeht sich nicht nur in Allgemeinplätzen, die er oft selbst erfindet wie folgenden „Die Liebe zum Vaterland ist eine Kraft, schon seit der Antike“ – aber sein Ton ist so ungeheuerlich aggressiv, schwülstig deutsch, durchsetzt von antienglischen Invektiven, dass deutlich wird, wie stark ein stolzer Deutscher auf Feinde und Gegner eingestellt ist.

Da werden Engländer zum „unsympathischsten Volk auf Erden“ erklärt, der deutsche „Bildungsbürger“ beschworen und gegen die „englische Klassengesellschaft“ gesetzt und Klaus von Dohnanyi, ein Altpolitiker der SPD aus Hamburg, phantasiert demokratische Traditionslinien der Deutschen herbei, die angeblich älter seien als die Englands ohne zu betonen, dass es in Deutschland keine erfolgreiche und konsequente demokratische Revolution je gegeben hat. Ein Hinweis auf deutsche Verbrechen trotz „Bildung“ gereicht den beiden Gesprächspartnern Dohnanyi und Matussek dazu, Englands Sklavenhandel und Nordamerikas Sklavenhaltergesellschaft zu geißeln. Diese deutschen Schuld-Projektionsleistungen sind zwar häufig analysiert worden, aber treten heute umso reflexhafter, ungenierter hervor als je zuvor. 9/11 hat da Dämme brechen lassen.

Und so kulminiert das Gespräch der beiden Stolzdeutschen in einem Satz, der an Antisemitismus und Wiederbetätigung im Sinne des Nationalsozialismus nicht deutlicher ausfallen könnte:

„Die Juden hatten es ja sogar in Deutschland in den ersten Nazi-Jahren besser als damals die meisten Schwarzen im Süden.“

So spricht Klaus von Dohnanyi und Matthias Matussek hats gefreut! Solche Tabubrüche, den Nationalsozialismus mit seiner Braunen Revolution von 1933 als Beginn zu loben, sind heute eine Bestsellergarantie und kein Fall mehr für einen Skandal. Der Verlag der solche antijüdische Propaganda druckte heißt auch nicht Grabert-Verlag, vielmehr S. Fischer, einer der ganz großen Verlage in der Bundesrepublik.

An anderer Stelle untermauert Matussek seinen (nun sekundären) Antisemitismus, seine Erinnerungsabwehr ist Walser nach dem Munde geredet:

„Bei uns wurde der Holocaust, nach einer lähmenden, brütenden Phase der Verdrängung, in eine übereilfertige, nicht mehr versiegende, immer glattere und abgeschliffenere Beschuldigungs- und Verachtungs- und Selbstverachtungsphraseologie überführt, in der ständig nach dem politischen Vorteil geschielt wird.“

Vor 30 Jahren hätte jeder Leser sofort an einen Revisionisten gedacht bei solchen Zeilen, aber nein: Matussek ist kein Holocaustleugner, gewiss nicht. Er ist ein typischer sekundärer Antisemit, der immer, wenn es um die deutschen Verbrechen geht, jene zwar nicht leugnet aber als Bagatelle abtut, ja er spricht – wörtlich – bezüglich des Holocaust, der als Thema auf einem Empfang oder einer Party vorkam, von einem „Stimmungskrepierer.“

Diese neu-deutsche Selbstverständlichkeit gerade als Deutsche stolz zu sein, zu betonen, ja zu brüllen: die deutsche Geschichte war im Kern was sehr Schönes, etwas ganz Einzigartiges, „Hitler“ war lediglich ein „Freak-Unfall der Geschichte“ (O-Ton Matussek), ist die neue Befindlichkeit, die neue, deutsche Ideologie im 21. Jahrhundert.

„Ich bin nicht tief traumatisiert, denn ich denke nicht oft an die deutsche Schuld und an den Holocaust“ sagt Matussek, er kämpft wie Walser und Konsorten gegen die „moralische Keule“.

Das sind die Töne des nationalen Apriori.

hagalil.com 07-07-2006

 

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