Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Nationalismus Seite 1 von 2

Vom aristotelischen Drama hin zum Nationalismus? Politikwissenschaftliche und sportwissenschaftliche Kritik an der Löschung von nationalismuskritischem Video der Bundeszentrale für Politische Bildung, mit Anmerkungen über das NS-Thingspiel

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA), 13. Juli 2024

Den größten nationalistischen Taumel bei der EURO24 veranstalteten bislang sicher die türkischen Fans. Das Zeigen des rechtsextremen „Wolfsgrußes“ störte viele Fans gar nicht, ja Tausende zeigten den Gruß wenig später ebenfalls. Dabei sind die Grauen Wölfe die größte rechtsextreme Organisation in der Bundesrepublik Deutschland, wie der Verfassungsschutz festhält:

Rechtsextremismus stellt in Deutschland eine der größten Bedrohungen für die freiheitliche demokratische Grundordnung dar. Kernelemente rechtsextremistischer Agitation – wie ein übersteigerter Nationalismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie Rassismus und Antisemitismus – prägen auch die Ideologie der türkischen „Ülkücü“-Bewegung.

Ihre in Deutschland mehr als 12.000 Anhänger, die „Ülkücüler“ oder auf Deutsch „Idealisten“, sind bislang umgangssprachlich eher als „Graue Wölfe“ (auf Türkisch „Bozkurtlar“) bekannt.

Gleichwohl steckt natürlich im Wörtchen „übersteigert“ auch schon die nationale Falle drin, denn gibt es zumal in Deutschland oder auch in der Türkei einen nicht übersteigerten, also harmlosen „Nationalismus“?

Der Autor Burak Yilmaz sagt in einem Interview mit der ARD-Sportschau:

Der Wolfsgruß war bei Feiern nach den Siegen der Mannschaft bei der EM praktisch in jeder größeren deutschen Stadt zu sehen. Die „Grauen Wölfe“ nutzen den Fußball, um neue Anhänger zu finden. Im Umfeld der Spiele der Nationalmannschaft versuchen sie, ihre Symbole zu normalisieren. Merih Demiral hat mit dem Gruß bei seinem Torjubel maßgeblich dazu beigetragen.

Nationalismus und Islamismus sind Kennzeichen der Grauen Wölfe und sie ergänzen auch im Sport und der Fanszene weitere Formen des Islamismus wie die seit Jahren verstärkte Verschleierung von Frauen und insbesondere antisemitische Demonstrationen und Kundgebungen von türkischen Rechtsextremisten in Deutschland („Innenministerium alarmiert über Antisemitismus unter türkischen Rechtsextremen“, Der Spiegel, 10. November 2023) seit den Massakern der Hamas und des Islamischen Jihad am 7. Oktober 2023 im Süden Israels an 1200 Zivilistinnen und Zivilisten sowie dem Entführen von 240 Menschen durch die Hamas, wovon bis heute über 100 gefangen gehalten werden (und Dutzende schon tot sein könnten).

Über die Beziehung des Influencers Tarek Baé zum türkischen Nationalismus wie zum Antisemitismus und zu den Grauen Wölfen berichtete das ZDF. Die Anwesenheit des türkischen Präsidenten Erdogan beim Spiel Niederlande gegen die Türkei in eben jenem Berliner Olympiastadion war ein weiterer Tiefpunkt der EURO24 und ohne das sehr gute Spiel der Holländer wäre die Türkei (2:1 für die Niederlande im Viertelfinale) weiterhin im Turnier. Die massiven Demonstrationen von türkischen Fans auf deutschen Straßen zeigen die enorme Mobilisierung von Nationalismus gerade im Kontext von Sportereignissen und namentlich bei Fußball-Events. Die „Werde Deutscher, bleibe Türke“-Ideologie der Grauen Wölfe und türkischer Nationalisten wie Islamisten ist eine sehr große Gefahr für die Demokratie, worauf die Amadeu Antonio Stiftung 2020 hinwies.

Zwar wurde der türkische Rechtsextremismus und das Zeigen des Wolfsgrußes von der UEFA sanktioniert – der Spieler bekam aber nur eine Sperre von zwei Spielen -, doch im Alltag ist die Ideologie des Grauen Wölfe offenkundig weit verbreitet, es gab jedenfalls keine Massendemonstrationen von Türken in Deutschland gegen die Grauen Wölfe auf der EURO24.

Viele nationalismuskritischen Fußballfans wie Ultras werden froh sein, wenn die EURO24 am Sonntagabend wieder zu Ende gehen wird. Manche Fans sahen schon zu Beginn der EURO24 das Problem von nationalen Wettkämpfen, wie Fans des FC St. Pauli:

Wer als Patriot*in losläuft, kommt als Faschist*in ins Ziel“

 

Wenn nun Zehntausende englische Fans am morgigen Finaltag in Berlin im Spiel gegen Spanien wieder singen werden, wie nur Engländer in Fußballstadien singen, dann wäre es vielleicht eine letzte Möglichkeit, mit dem Song „Ten German Bombers“ dem alten Nazi-Stadion („Olympiastadion“) einen letzten Gruß zu geben.

Die taz schrieb Anfang Juni 2006, noch vor Beginn der WM, die mit Kampagnen wie „Du bist Deutschland“ seit Monaten Stimmung gemacht hatte für ein stolzes Deutschland, Folgendes über die antideutsche Adaption dieses beliebten englischen Fansongs – eine Version des Songs von der Band Egotronic um Torsun (1974-2023) kann man hier hören -:

Der 32-jährige Torsun hatte seine erste Punkband mit 13 Jahren und ist ein Kind der hessischen Autonomenbewegung von Anfang der 90er-Jahre. Sein Ziel ist es, irgendwann von der Musik zu leben. Heute singt er im Berliner Elektropopduo Egotronic, deren Texte zwar weitgehend unpolitisch sind, die sich aber trotzdem dem kommunistisch-israelsolidarischen „antideutschen“ Teil der deutschen Linken zuordnen. Ausgerechnet die bevorstehende Weltmeisterschaft, die er wegen des wachsenden Nationalgefühls in Deutschland verabscheut, und eine musikalische Koalition mit den englischen Fans haben ihn nun seinem Musikertraum näher gebracht. Denn seine Techno-Coverversion des provokanten englischen Fangesangs „Ten German Bombers“ erscheint heute auf dem Fußballparty-Sampler „Die Weltmeister – Hits 2006“. Gemeinsam mit Jürgen Drews’ Hit „FC Deutschland“ und Diana Sorbello, die auf dem Cover ihrer Solo-CD in Ballmusterbikini vor der Deutschlandflagge posiert.

Der Song „Two World Wars and One World Cup“ passt ebenfalls zum morgigen Spiel, auch wenn der Gegner Spanien heißt, es findet schließlich im Nazi-Stadium in Berlin statt:

Dass gerade die englische Fußballvereinigung FA den Song „Ten German Bombers“ respektlos und unangebracht findet und Fans, die ihn singen, mitunter Stadionsperren verpasst, ist nicht nachvollziehbar. Ist England etwa nicht dankbar für die Royal Air Force (RAF) und den gewonnenen Krieg gegen Nazi-Deutschland? Ohne Waffengewalt und ohne das Abschießen von deutschen Kriegsflugzeugen wären die Deutschen des SS-Staates nicht zu stoppen gewesen. Wo also liegt das Problem?

Das Berliner Olympiastadion wurde im Zweiten Weltkrieg leider nicht zerstört.

Das Internationale Olympische Komitee vergab dann die XI. Olympischen Sommerspiele im Jahr 1936 erneut an Berlin. Nach anfänglichen Überlegungen zum Umbau des Stadions ordnete Adolf Hitler den kompletten Neubau eines Großstadions an gleicher Stelle an. Den Auftrag erhielt Werner March, Sohn des Architekten vom Deutschen Stadion, Otto March. Das monumentale Bauwerk ist ein Beispiel für verbliebene Architektur der NS-Zeit in Berlin.

Es ist eine nationalistische und den Nationalsozialismus verharmlosende, ja seine Architektur feiernde Veranstaltung, dass es exakt dieses Stadion mitsamt den Plätzen drum herum weiterhin gibt und dort im Olympiastadion gespielt wird.

Gleichzeitig drehte letzte Woche die Bundeszentrale für Politische Bildung ziemlich durch. Sie hat ein von ihr selbst publiziertes und in Auftrag gegebenes Reel oder Kurzvideo zum „Sommermärchen 2006“ – das in einem Text des österreichischen Express verlinkt ist – auf Druck von rechten, extrem rechten, nationalistischen wie Mainstream-Kreisen wieder gelöscht. Das Video wurde produziert von einer Firma im Auftrag der Bundeszentrale für Politische Bildung und moderiert von der Influencerin Susanne Siegert, die mit ihren Videos Hunderttausende junge Menschen erreicht und Aufklärung bezüglich des Nationalsozialismus und des Holocaust betreibt. Das Video bezieht sich auf meine Kritik in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 16./17. Dezember 2017, Printausgabe, Feuilleton, S. 34/35, Titel: „Der Hitler-Stalin-Vergleich hat eine enorme Entlastungsfunktion“, Online-Version leicht verändert vom 4. September 2019, Titel „Sommermärchen bereitete der AfD den Boden“, wo ich die These aufstelle:

Ohne 2006 wäre es nicht in diesem Ausmaß zu Pegida gekommen, und ohne Pegida gäbe es keine AfD in dieser Form. Die Deutschland-Fahne bei der WM hat eine unglaubliche Bedeutung für das Zusammenschweißen von atomisierten Einzelnen, die sich zu großen Teilen gar nicht für Fußball interessiert haben. Insofern war das Thema nicht Sport, sondern nationale Identität.

Darauf bezieht sich die Bundeszentrale für Politische Bildung in ihrem Video und Nationalisten können das nicht ertragen und bringen die Bundeszentrale dazu, das Video nach knapp zwei Tagen online am Donnerstag, den 4. Juli 2024 wieder zu löschen.

Ein Shitstorm von NIUS, der WELT, t-online, der Jungen Freiheit, Reitschuster.de, Journalistenwatch, dem Compact Magazin und vielen weiteren teils obskuren oder randständigen, aber teils eben auch Mainstream-Medien sowie Aussagen von ein paar wenigen Bundestagsabgeordneten sorgten dafür, dass die Bundeszentrale für Politische Bildung nicht etwa eine weitere Diskussion über das Thema „Sommermärchen“ und Nationalismus anregte, wie es eine demokratische Einrichtung tun würde, sondern sie zensierte ihr eigenes Video und distanziert sich davon.

Das RTL-Nachtjournal (Freitag, 05. Juli 2024, ab 0:20 Uhr) berichtete auch vollkommen tendenziös und bettete, wie zu erwarten, eine kurze Stellungnahme von mir, die der TV-Sender wenige Stunden zuvor aufgenommen hatte, in einen deutsch-nationalen Trommelwirbel ein, der von kritischer Sportwissenschaft oder von Nationalismuskritik noch nie etwas gehört hat. Das wunderschöne Kopfballtor des Mittelfeldspielers Mikel Merino einige Stunden später, am Freitagabend zum 2:1 Sieg Spaniens, dürfte auch der deutsch-nationalen Dekoration des RTL-Studios wie von Kameras wieder die nüchterne Realität vor Augen geführt haben. Ende Gelände für die deutsche Elf, die ja primär nur gegen wirklich schwache Teams wie Schottland (5:1 gleich im ersten Spiel der EURO24) gut aussah, wobei die teils lustigen Dudelsack spielenden schottischen Fans den schlechten sportlichen Eindruck ihres Teams jenseits des Platzes zu kompensieren suchten.

Über das skandalöse Löschen des eigenen Videos durch die Bundeszentrale für Politische Bildung berichten Medien wie Telepolis („Nun muss man sich einerseits fragen, warum ein Shitstorm von konservativen und extrem rechten Kreisen ausreicht, damit die BPB einknickt“), der Merkur („Nun beweisen die in der Vergangenheit durchgeführten Studien tatsächlich, dass ein Zusammenhang zwischen Fußball-Patriotismus und Nationalismus besteht“), Der Spiegel („Die WM 2006, so also der Konsens, habe maßgeblich dazu beigetragen, Nationalstolz und nationale Symbolik zu normalisieren. Das Bild vom Harmlosen ‚Party-Patriotismus‘ wird in der Forschung dabei mit Skepsis gesehen.“), das ND („Kritik an Nationalstolz gelöscht“) oder die taz („Bundeszentrale für politische Bildung: Vor den Rechten eingeknickt“). All diese Medien diskutieren meine These, kontextualisieren sie oder nehmen Bezug auf andere Forscher*innen, die ähnliche Kritik am schwarzrotgoldenen „Overkill“ von 2006 hatten oder haben.

Die ARD-Sportschau hatte schon vor einem Jahr über meine These berichtet und selbstverständlich diese These zur Diskussion gestellt, auch neben anderen Thesen, die dem zuwiderlaufen. So etwas nennt man Demokratie:

Dr. Clemens Heni war einer derjenigen, die sich an dem schwarz-rot-goldenen Overkill mit kleinen Flaggen an Autospiegeln, gedruckten Flaggen auf Chipstüten und Backwaren, geschminkten Flaggen im Gesicht und großen Stoffflagen schon damals störten. Heni ist Politikwissenschaftler. Er forscht mit Schwerpunkten über Antisemitismus und die Neue Rechte.

„Das war damals kein gesunder Patriotismus, wie immer behauptet wird. Der ist in Deutschland auch schwer denkbar, weil er immer mit einer Abwertung des Gedenkens an den Holocaust einhergeht“, so Heni.

These: Ohne WM 2006 kein Erstarken der AfD

Seine These: Ohne die WM 2006 wären weder die rechtsextreme Pegida („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“) noch die AfD so stark geworden.

Auch der Berliner Tagesspiegel berichtete 2023 noch über meine These:

Der Politikwissenschaftler Clemens Heni stellte kürzlich einem Interview mit der „Sportschau“ zudem die These auf, dass die AfD ohne die WM 2006 nicht so stark geworden wäre und bezeichnete Nationalismus und Fußball als „eine toxische Mischung in Deutschland“.

Und diese These der Beziehung von 2006 zum deutschen Nationalismus soll nur ein Jahr später, jetzt im EURO24-Jahr ein Grund sein, dass die Bundeszentrale für Politische Bildung ihr eigens hergestelltes Video wieder löscht? Ernsthaft?

Die Beziehung von Sport und Politik, um die es ja in dem gelöschten Video der Bundeszentrale geht, hat in Deutschland eine lange Tradition. In meiner Doktorarbeit von 2006 habe ich mich mit einem der einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten, Henning Eichberg (1942–2017), befasst. Dabei geht es auch um die Sportwissenschaft und die Beziehung von Sport und Politik. Zu diesem Zweck zitiere ich einige Seite aus meiner publizierten Dissertation („Salonfähigkeit der Neuen Rechten. ‚Nationale Identität‘, Antisemitismus und Antiamerikanismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1970-2005: Henning Eichberg als Exempel, S. 154-165).

Zur Nazi-Olympiade und dem NS-„Thingspiel“ schreibe ich:

 

Eichbergs Habilitation und das Thingspiel (1976)

Für die politische Kultur der Bundesrepublik ist die Stellung zum Nationalsozialismus ein zentrales Moment. Dabei positionierte sich die alte Rechte in etwa so: Hitler war irgendwie die ganze Sache mit dem Krieg aus dem Ruder gelaufen, aber die Idee des Nationalsozialismus war im Kern richtig. Die Neue Rechte, die sich gegen diese apologetischen, einfachen alt-rechten Antworten zu sträuben versucht, ist nun keineswegs anti-nationalsozialistisch. Die Analyse des Thingspiels, einem nicht unwesentlichen kulturpolitischen Baustein der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, kann zeigen, wie eine antihitleristische Neue Rechte die ›guten Seiten des Nationalsozialismus‹ begründen möchte. Weiter wird gezeigt werden, wie fahrlässig bis affirmativ Eichberg am Beispiel des Thingspiels bis heute in der Wissenschaft rezipiert wird.

Eichberg konnte sich 1976 an der Universität Stuttgart habilitieren. Sein Habilitationsvortrag vom Juni hatte das nationalsozialistische Thingspiel zum Thema. Dieser Vortrag war Basis des im Dezember desselben Jahres erschienen Artikels,[1] um den es hier wesentlich geht.

Die Geschichte des Thingspiels mit den Stadionspielen als direkten Vorläufern wird hier nicht dargestellt. Dies haben bereits die beiden Deutschlandfunk-Redakteure Klaus Sauer und German Werth 1971[2] geleistet. Erwähnt sei kurz der wichtige Programmatiker und Stückeschreiber der Stadionspiele, Gustav Goes. In dessen Stück »Opferflamme der Arbeit. Ein Freilichtspiel«[3] wird »Ahasver«, Abgesandter des »internationalen Judentums«, vorgestellt:

»Ahasver: Deutschland? …Kenne ich nicht! Ausgestrichen ist es aus der Karte! Wozu noch Deutschland? International Sind wir alle geworden Seit jenem Tag von Versailles …«.[4]

Wer ist Ahasver? Der ›Ewige Jude‹.[5] Dieser antisemitische Topos Goes’ ist Sinnbild auch des NS-Thingspiels.

a) Euringers Deutsche Passion (1933)

Gleich zu Beginn intoniert Eichberg, der Goes en passant erwähnt und dessen Rolle als Wegbereiter des Thingspiels durch Ablösung der »Guckkastenperspektive zugunsten eines Zuschauerrunds um ein Freilichtfeld herum« gut findet[6], mit dem ersten als Thingspiel des Nationalsozialismus betrachteten[7] Stück von Richard Euringer Deutsche Passion 1933. Hörwerk in sechs Sätzen.[8] Die »blutrote Nacht« am Ende des 1. Weltkrieges, lässt den »bösen Geist« jubilieren.

Doch ein Kind klagt:

»Not.—Not.—Not.—

Hunger und kein Brot.

Herd, und kein Brand.

Und kein Vaterland.«[9]

Da werden

»die Gefallenen unruhig. Chöre der Toten fragen aus der Tiefe, Chöre der Jungdeutschlandregimenter aus der Ferne. Da ›der Arbeitslose‹ die Klagen über das ökonomisch zerrüttete und von fremden Mächten geknechtete Land bestätigt, erhebt sich ›der Gefallene‹, der ›namenlose Soldat‹, um – als Mahnender – seine ›Passion‹ zu leiden und das Volk zu retten. Der böse Geist, eine Mischung aus Kriegsgewinnler, Umsturzpartei, Landesverrat und Kapitalismus, ruft gegen ihn zum totalen Konsum auf und hetzt unter dem Beifall des ›Hauptaktionärs‹ die Massen auf den ›namenlosen Soldaten‹. Aber sie können ihn nicht fassen und schließen sich ihm (…) an. Eine neue Welt der Arbeit entsteht.«[10]

Mehr wird Eichberg zu diesem Stück nicht sagen.

Dieser Bezug zu Euringer ist allerdings Anlass genug, die ganze Passion unter die Lupe zu nehmen und Eichbergs Auslassungen (…) deutlich werden zu lassen.

Der Antisemitismus Euringers steht dabei in direktem Verhältnis zum Judenhass bei Eberhard Wolfgang Möller, dessen Thingspiel Frankenburger Würfelspiel von 1936 Eichberg gleichfalls so darstellt, dass der Kontext Möllers, dessen nationalsozialistisches, parteipolitisches Engagement und seine antisemitischen Texte bewusst und gezielt verschwiegen werden (…). Für meine Kritik ist konstitutiv, dass das, was Eichberg zum Thingspiel sagt, so anti-individualistisch und pro-nationalsozialistisch ist, dass das Aufdecken der Auslassungen nur ergänzenden Charakter hat. Seine rhetorische Mimikry jedoch basiert auf solchen Auslassungen, mit explizit antisemitischen Texten eines Euringer oder Möller hätte er vermutlich nicht in zwei linken Zeitschriften reüssiert. Neben Ästhetik&Kommunikation übernahm auch die linke US-amerikanische Zeitschrift new german critique Eichbergs Aufsatz.[11]

Ziel seiner Beschäftigung mit dem NS-Thingspiel ist das Aufmachen einer fiktiven Opposition: hier das massengesättigte, revolutionäre, nationalsozialistische Thingspiel, dort das elitäre, hierarchisch, führermäßig gesteuerte Herrschaftssystem und die Kulturpolitik des NS-Staates. Sowohl »NS-Kulturfunktionäre« als auch »germanistische Autoren des Nachkriegs«[12] haben in seinen Augen den spontaneistischen Charakter der Thingspielbewegung negiert. Diese Gleichsetzung von germanistischer Kritik nach 1945 mit nationalsozialistischer Politik während des NS verharmlost letzteren in traditionell rechtsextremer Art und Weise. Somit hält sich Eichberg vor Angriffen schon einmal geschützt, stellt er doch NS-Kulturpolitik und Germanistik nach ‘45 auf eine Stufe und sich selbst abseits davon.

Der deutsche Hörer, Leser und später Zuschauer dieser Deutschen Passion 1933 wird nicht enttäuscht. Deutsch ist das Stück bis in die Kinderstube hinein, in die neben dem Schrei nach Brot der nach dem Vaterland hineinprojiziert wird. Der »Gefallene« war »Soldat«, jedoch: »Und bin ich gefallen, so richt’..ich..mich..auf. Deutschland muß leben. Ihr Toten, herauf!«[13]

Die christliche Symbolik von Dornenkrone und Leidensweg sticht stark hervor – »Der Gefallene ›Ob Stacheldraht, ob Dornenkron: ich will sie leiden, die Passion«[14] – und verleiht dem Stück eine christlich-endzeitliche Dimension: das Dritte Reich als Wiederkehr des (anti-jüdischen) Heilands nach 2000 Jahren. »Der Auswurf bin ich. Der Prolet, ein Fraß für Trust und Kapital, verschachert international«.[15] Und es ist der »Teufel, der dies getan«. Geradezu als Epitaph einer ganzen Generation werden die Täter herbeihalluziniert:

»Man lag da an der Somme und so, vor Ypern, Verdun, ich weiß nicht wo, da haben sie’s angezettelt, Phantasten und Literaten, Verbrecher und Demokraten, Juden und Pazifisten, Marxisten und Himbeerchristen. (…) Sie organisieren den Volksverrat. (…) Sie zerbrachen uns das Genick«.[16]

Juden sind also neben Marxisten, Demokraten und ›Himbeerchristen‹ die expliziten Feinde des Thingspiel-Autors Richard Euringer. Die komplette nationalsozialistische Kampftirade seit Anbeginn der Weimarer Republik wird in der Deutschen Passion in Szene gesetzt. Der tapfere Soldat wurde hinterrücks verraten – »Der Feind, er saß im eigenen Land«[17] –, doch nicht nur der Dolch im Rücken, auch das Ausland vor der Brust trägt Schuld:

»Als Rechtsanwalt ein Völkerbund der ungeheuren Lüge«.

Schließlich, in der Mitte des Stückes:

»So wahr ich lebe, mitten im Tod: ein Mann, ein Mann tut Deutschland not«.[18]

Doch der ›böse Geist‹ hintertreibt diese Ode an Hitler mit allen Mitteln:

»Bedarf an Damen! Wir führen aus. Europa wird ein Freudenhaus. Export in alle Lande. Gefragt ist Rassenschande«.[19]

Es wird immer »reeperbahnmäßiger«[20] und eine weitere bis unsere Tage hinein beliebte Formulierung hat ihren Auftritt, als »Kreischen der entfesselten ›Sieger‹«[21]:

»Am Ellbogen erkennt ihr den Mann, der das Rennen machen kann. Es reicht nicht für die Massen.«[22]

Ganz im Einklang mit völkischer und nationalsozialistischer Ideologie wird der »böse Geist«, der nur wenige Seiten bzw. Augenblicke zuvor klar und deutlich als »Jude« benannt wurde, mit seinen ›irdischen Materialisierungen‹ kenntlich gemacht:

»Der ist’s, der aus Warenhäusern gleißt, der hockt an der Börse als böser Geist«.[23]

Die antiurbane, antijüdische Abwehr von Warenhäusern und die häufig verschwörungstheoretisch argumentierende Angst vor ›zirkulärem Kapital‹, das an der Börse gehandelt wird, werden hier wie selbstverständlich theatralisch aufgeführt und sind deutlicher Ausdruck der ›Deutschen Revolution‹ im Jahr 1933.

Dieses erste Thingspiel hat einen alles vereinigenden Kristallisationspunkt, der ›namenlose Soldat‹[24] spricht es vor (und das »Echo aus der Menge«[25] wird immer hörbarer): er will die ›Rachsüchtigen‹ und ›Gierigen‹ »ackern lehren«, der Bauer soll auch die Stadt ehren, der Adel seine Herkunft nicht verachten, »[d]er Höfling war die welsche Schand«.[26] Der Bürger wird ermahnt, nicht nur zu »raffen«, und die Jugend beschworen:

»Von dir, du deutsche Jugend, erbitt ich eine Tugend: dein Leib und Leben ist nicht dein. Stirb, und du wirst unsterblich[27] sein!«, sodann, »mit offenen Armen«, die Arbeiterbewegung implizit für tot erklärt und propagiert: »du Klassenkämpfer und Prolet, tritt aus deiner Wolke! Sei wieder Volk vom Volke!«[28]

Von oben herab verkünden die »seligen Krieger« im Chor: »Mutter, klag nicht, daß wir geendet! Es war nicht umsonst: wir sind vollendet«[29] – und die himmlischen »Stimmen der Jungdeutschlandregimenter«[30] untermalen das effektiv. Der »böse Geist«, kurz vor dem ›tosenden Niedergang‹ in die »Tiefe«[31], hält es nicht mehr aus: »Das auch noch! Da zerplatz doch gleich! Das also gibt’s: ein drittes Reich!!?!!«[32], wobei der ›himmlische Orgelton‹[33] »rhythmisch und harmonisch vermählt dem irdischen Marschlied«[34] erklingen soll.

Damit endet die Deutsche Passion 1933[35] von Richard Euringer.[36]

Die Agitation gegen Warenhäuser, Sexualität und Nachtleben – »immer reeperbahnmäßiger« – und die Anklage gegen die ›Verräter‹ – »Juden, Marxisten, Himbeerchristen« – ist in ihrer explizit und implizit antisemitischen Diktion evident.[37] Dass das Thingspiel keineswegs vom Himmel fiel, so wenig wie der Nationalsozialismus, sondern auf der Akzeptanz weiter Teile der Bevölkerung aufbauen konnte, macht Eichberg in seiner Stil- oder Formfragen zentrierten Apologie dieser Frühform nationalsozialistischer Theaterkultur und -politik vergessen, er rehabilitiert vielmehr diesen Resonanzboden.

Die Schuldumkehr Euringers, schon kurz nach dem Ende des Nationalsozialismus, macht ihn für die Neue Rechte bedeutsam. Er, der Deutsche aus Passion, nach der Befreiung vom Nationalsozialismus von den Alliierten zumindest vorübergehend interniert, schreibt in seiner

»dreisten Rechtfertigungsschrift ›Die Sargbreite Leben‹ eine lange Liste von ›pathologischen‹ Auswüchsen und ›Phantasien einer keimenden Psychose‹ unter den Häftlingen auf: ›Die Ausrottung im Westen erfolgt nicht durch Massenerschießungen, sondern westlich humanitär mit feineren, unsichtbaren Methoden, und zwar in Etappen: (…) Preisgabe der Frauen an die Besatzung. Ruinierung der Frauen durch Überbürdung, Infizierung, Prostitution aus Not, künstliche Vermischung mit Fremdrassen (…). Systematische Verderbung durch ›Umerziehung‹ mittels Kino, Radio, Presse und Broschüren. (…) Ruinierung der Gesundheit der Internierten durch systematische Entziehung der notwendigen Aufbaustoffe‹«.[38]

Heutige Neonazis sprechen vom »›Massenmord an deutschen Kriegsgefangenen‹«.[39]

»Das heißt: In den Veröffentlichungen neonazistischer Gruppen wird das Wort Völkermord systematisch aus seinem gemeinsprachlich konventionalisierten Gebrauchszusammenhang herausgelöst; man deutet es um, transformiert es in ein ideologiespezifisches Schlagwort, indem man unterm dem Lexem Mord, das Bestandteil des Kompositums ist, nicht mehr die gewaltsame Vertreibung von Gruppen oder die Tötung von Menschen versteht, sondern das Resultat von Rassenmischung und die Vernichtung einer rassisch definierten Identität. Diese Umdeutung ist es, die das Schlagwort Völkermord in das Zentrum der für diese Gruppe spezifischen Geschichtsverdrängung und –verleugnung hineinrückt. Es ist ein Zeugnis der offensiven Selbststilisierung als Opfer.«[40]

Eichberg ist ein Freund und Anwalt des Things, denn »in den Schriften der Thingspieltheoretiker« werde »der Wille zum Bruch mit dem Bestehenden in revolutionärem Pathos immer wieder herausgestellt.«[41] Der ›Wille zum Bruch mit dem Bestehenden‹, der gewalttätige, mörderische Drang, namentlich der SA vor 1933, wird von ihm als kulturelles, ›revolutionäres Pathos‹ in die Frühphase des Nationalsozialismus an der Macht transportiert. Er stilisiert die Thingspielbewegung zum Opfer der NS-Führung, wenn er in den Raum wirft, dass

»das Thingspiel vom NS-Staat letztlich als zur ›Manipulation‹ untauglich angesehen und schon 1935/37 fallengelassen oder gar unterdrückt wurde.«[42]

Eichberg konstruiert das Thingspiel als quasi Gegenspieler des SS-Staates, um nicht als Apologet des Nationalsozialismus zu gelten. Die Marxisten von Ä&K wie auch die Editoren von New German Critique nahmen ihm diese Mimikry ab. De facto war das Thingspiel jedoch eine Bündelung genuin nationalsozialistischer Ideologeme.

Der Kampf gegen Versailles, das Pathos des nicht umsonst gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges, das den Zweiten mit vorbereiten hilft, die Sehnsucht nach Erlösung und nach dem Retter, dem ›namenlosen Soldaten‹, der Hass auf den Westen, die Moderne, das Heterogene, Sexualität, Marxismus, (christlichen) Universalismus und Juden ist konstitutiv für die völkische Paranoia. Der anti-bürgerliche Affekt, der in Deutschland Tradition hat, ist hier auf der Ebene des Theaters konkret geworden. Eichberg unterstreicht dies:

»In dem Augenblick, in dem jedoch in unseren Tagen die liberale Totalitarismustheorie in die Krise geriet, entdeckte man auch, daß das Thingspiel als Formierungsinstrument des NS-Staates nur die eine Seite war. Die andere war eine bisher übersehene Spontaneität der Weihespielbewegung in den ersten Jahren nach 1933. Die Baupläne des NS-Staates (1934: 66 Thingstätten im ersten Bauprogramm) wurden weit übertroffen durch Anträge, die von lokaler Seite her an die Ministerien und Behörden gesandt wurden (1934: 500). Als 1933 die Deutsche Arbeitsfront ein Thingspiel-Preisausschreiben veranstaltete, sollen über 10 000 Einsendungen eingegangen sein. (…) Auch wäre das Thingspiel ohne ein spezifisches Rezeptionsverhalten breiter Volksschichten nicht realisierbar und wohl nicht einmal konzipierbar gewesen.«[43]

Das deutsche Volk konstruierte sich weitgehend homogen, was nicht nur die Leugnung des Klassencharakters einer kapitalistischen Industriegesellschaft impliziert und im Zerschlagen freier Gewerkschaften sowie im Kampf gegen die organisierte Arbeiterbewegung mörderisch zu Tage trat, vielmehr im ›Ausscheiden‹[44] des als »fremd« und »undeutsch« Imaginierten, Jüdischen, aus dem Deutschen, die Volksgemeinschaft kreierte. Eichberg möchte zu Euringer zurück und Strukturen einfordern

»mit denen das NS-Thingspiel die neue Theaterform hervorbringen wollte: Gesamtkunstwerk aus Bewegungs-, Sprech- und Musikformen, Freilichttheater, Vermengung von Darstellern und Publikum. Rhythmisierung durch musikalische und chorische Techniken, Massenhaftigkeit, agitatorische Typisierung der agierenden Gestalten und ihre Einfügung in ein duales Muster, im dem die politische Entscheidung für eine bessere Zukunft fällt.«[45]

Die »bessere Zukunft« heißt Deutsche Revolution, meint den nationalen Sozialismus an der Macht – er bezieht sich ja ganz explizit auf das NS-Thingspiel, das für ihn »für eine bessere Zukunft« steht – und verteidigt somit den Nationalsozialismus. Er hebt die antiuniversalistische und antiindividualistische Dimension hervor in der schwelgerischen Betonung der volksgemeinschaftlichen ›Vermengung von Darstellern und Publikum‹.

b) Zenit des ›kulturellen Things‹[46]: Möllers Würfelspiel (1936)

Die Kontinuität der extremen Weimarer Rechten in den NS hinein wird in dem Bezug Eichbergs auf Eberhard Wolfgang Möllers Thingspiel Das Frankenburger Würfelspiel noch deutlicher. Möller war schon vor seinem Eintritt in die NSDAP im Jahr 1932 SA-Mitglied geworden.[47]

Möllers Würfelspiel wurde am 2. August 1936, einen Tag nach der Eröffnung der Olympischen Sommer-Spiele in Berlin, auf der Dietrich-Eckart-Bühne als Thingspiel uraufgeführt. Das dem Stück zugrunde liegende historische Ereignis ist Teil der Gegenreformation im 17. Jahrhundert. Graf Herbersdorf, Gesandter Kaiser Ferdinands II., obliegt es, die Bauern in Oberösterreich zu rekatholisieren. 36 dieser Bauern sollen um ihr Leben würfeln, um die restliche Bevölkerung einzuschüchtern. Doch schließlich dreht sich alles gegen Graf Herbersdorf selbst; es fallen in diesem Bauernkrieg bis zu 7000 Bauern.[48] Möller bezieht die Klage der toten Bauern auf das nationalsozialistische Deutschland. Wie bei Euringer spielt die Klage über die Toten bzw. der noch Nicht-Toten eine große Rolle:

»Gebt uns die Todgeweihten wieder her, die uns auf unserm Weg vorangezogen! Wir sind nicht Kinder und nicht Bettler mehr, wir sind ein neues Volk, ein neues Heer, und wehe denen, welche uns betrogen. Wir sind ein Wille, und wir sind ein Schrei, und kein Versprechen kann uns mehr entzweien. Wir wollen uns von aller Schinderei von allem Joch und aller Tyrannei in Gottes Namen endlich selbst befreien«.[49]

Nicht nur 20 000 Zuschauer verfolgten die Aufführung, sondern auch 1200 Laiendarsteller und 27 Sprechrollen bestimmten »das Verhältnis von Individuum und Gesamtheit neu«.[50] Eichberg schwelgt:

»Auch wenn zu einer Aufführung in Erfurt 1937 fast 2000 Arbeiter und Mitglieder der Parteiformationen aufgeboten und eine ganze Stadt beschäftigt wurde, war die Grenze zwischen Akteuren und Publikum gleitend geworden.«[51]

Es handelt sich hier um seinen Habilitationsvortrag an der Universität Stuttgart vom 02. Juni 1976, der in der linken Szene-Zeitschrift Ästhetik&Kommunikation veröffentlicht[52] wurde, und Eichberg führt sich als der auf, der er sein möchte: als völkischer Beobachter.

Zu Möller, dessen Antisemitismus völlig offen zu Tage liegt[53], sagt er nicht mehr als in folgendem Zitat, Distanz oder gar Kritik entfallen im Schwärmen ob der ›Neubestimmung im Verhältnis von Individuum und Gesamtheit‹:

»Dieser Massenhaftigkeit standen auf dem Spielfeld nicht Individuen in ihrer Besonderheit gegenüber, sondern Typen, abstrakte Gestalten, häufig ohne Namen. Die Schauspieler des ›Frankenburger Würfelspiels‹ 1936 wurden sogar auf Kothurne[54] gestellt. Nicht individuelle Moral oder Psychologie wurde vorgeführt, sondern ein politisches Lehrstück. Nicht um persönliches Schicksal, Schuld und Sühne ging es, sondern um das Volk und um abstrakte Gegebenheiten, wie sie in ›dem Arbeitslosen‹, ›dem Bonzen‹ oder ›dem namenlosen Soldaten‹, in ›dem Richter‹ oder ›der Gestalt in schwarzer Rüstung‹ in Erscheinung traten.«[55]

Das Frankenburger Würfelspiel als »Weihe der Machtübernahme von 1933«[56] führt Möllers Sprache von vor ’33 fort, als er sie in den »Dienst der Massenmobilisierung durch Mobilisierung der Ressentiments der Masse gegen das ›System‹«[57] einspannte. (…)

Für Eichberg zeigt sich im ›olympischen Zeremoniell‹ die Kontinuität der mit »Weihe- und Feierspiele« »zusammenhängenden Verhaltensformen« über die »Veränderungen um 1937/45« hinaus.[58] Deshalb geht er gegen Ende seines Beitrages im Thingspiel-Band auf das während der Olympiade uraufgeführte ›Weihespiel‹ »Olympische Jugend« von Carl Diem ein.[59] Die verschiedenen Bilder dieses Spiels mit über 10.000 Teilnehmern werden dargestellt und einige zentrale Stellen ausführlich zitiert. Es geht in diesem olympischen Weihespiel um »›Kampf um Ehre, Vaterland‹«[60] (im ersten Bild), was ihn bei der Analyse des dritten Bildes unter Hinzuziehung einer zeitgenössischen Darstellung ausführen lässt:

»Während sich die Mädchen zum weiten Rand der Arena zurückziehen und diesen säumen, stürmen von der Ost- und Westtreppe Tausende von Knaben in das Spielfeld, lassen die Romantik aller Jugend aufklingen, indem Jugendgruppen verschiedener Nationen um Lagerfeuer geschart Volkslieder ihrer Heimat singen«.[61]

Gerade vor dem Hintergrund Eichbergs politischer Biografie, zu denken ist an sein Zeltlager 1966 in Südfrankreich (…), ist die Beschreibung einer weihevollen, heimatumwobenen (jugendlichen) Zeltlager-Stimmung des Jahres 1936 im nationalsozialistischen Deutschland bezeichnend. Die Jugend sieht ihrem Selbst-Opfer ins Gesicht:

»Allen Spiels heil’ger Sinn: Vaterlands Hochgewinn. Vaterlandes höchst Gebot in der Not: Opfertod!«[62]

 

Soviel zu Henning Eichberg und der Salonfähigkeit der Neuen Rechten schon in den 1970er Jahren bis heute. Wen wird es morgen Abend schon stören, dass das Berliner Olympiastadion ein Nazi-Stadion ist und dort antisemitische und das deutsche Opfer einfordernde Thingspiele aufgeführt wurden? Das ist eine historische Analyse der Beziehung von Sport und Politik.

Wen wird die Beziehung von NS-Stadion und NS-Thingspiel zum heutigen Berliner Olympiastadion stören in einer Zeit des Aufrüstungswahnsinns (für die Ukraine, für die NATO, für den Militarismus) und einer Zeit, wo noch jeder Magenta- oder ARD/ZDF-Moderator (m/w/d) von „wir“ gleichsam faselt und von einer nüchternen Betrachtung zumal der Spiele mit deutscher Beteiligung nicht ansatzweise die Rede sein kann? Wenn bei einer klaren Regel, die nicht jede Berührung mit der Hand als einen Regelverstoß sieht, die halbe Republik durchdreht und nur am Rande in sachlichen Berichten wie in der Sportschau („Das vermeintliche Handspiel erfolgte in der 106. Minute. Cucurella hatte den Arm draußen und berührte den Ball mit der Hand. Dass es in solchen Situationen keinen Strafstoß geben wird, hatte Roberto Rosetti, der Schiedsrichter-Chef der UEFA, vor dem Turnier angekündigt.“) auf deren Homepage die Sachlage korrekt dargestellt wird?

Vor 17 Jahren konnte man angesichts der Fußball-WM 2006 oder dem „Party-Patriotismus“ Folgendes lesen:

„Ein aktueller Anlaß der Analysen dieses Beitrags waren Identitätskampagnen und die nationale Euphorie während der Fußballweltmeisterschaft [2006]. (…) Während viele Menschen der Meinung sind, ein gesunder patriotischer Nationalstolz sei positiv, zeigen die vorliegenden Befunde, daß es sich hierbei um eine Fehleinschätzung handelt. Auch der während der Fußball-Weltmeisterschaft zu beobachtende  ‚Party-Patriotismus‘ zieht keine positiven Effekte nach sich – im Gegenteil, es zeigt sich ein Anstieg des Nationalismus.“[63]

So heißt es 2007 in einem Beitrag in der Langzeitstudie „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, die unter anderem im Suhrkamp Verlag in der Reihe „Deutsche Zustände“ publiziert wurde, die der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer von 2002 bis 2012 herausgegeben hat. Abgesehen davon, dass dieses Konzept der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ insbesondere in der kritischen Antisemitismusforschung skeptisch betrachtet wird, da jedwede Spezifik des Antisemitismus verwässert wird und er im Orkus x-beliebiger Vorurteile oder Ressentiments untergeht, und namentlich aufgrund des problematischen Begriffs der „Islamophobie“, der auch von islamistischen Kreisen gerne verwendet wird, ist dieser Forschungsansatz generell nicht unumstritten. Das heißt logischerweise nicht, dass dort nicht auch wichtige und relevante Forschungsergebnisse herausgekommen sind.

Nehmen wir das Beispiel Fußball-WM 2006, das allseits gehypte „Sommermärchen“, das dann 2024 bei der Fußball-Europameisterschaft der Männer doch nicht wirklich eine Wiederauflage bekam, jedenfalls nicht, was das exzessive Aufhängen von Fahnen und Wimpeln an Häusern, Balkonen oder Autos betrifft. Gefühlt nur ein Prozent der Anzahl der Fahnen wie 2006 waren zu sehen, auch schon vor dem Ausscheiden der deutschen Mannschaft im Viertelfinale gegen Spanien am Freitag, den 5. Juli 2024 (2:1 für Spanien nach Verlängerung).

Der Professor für Sozialwissenschaften des Sports an der Justus-Liebig-Universität Giessen Michael Mautz und sein Co-Autor Markus Gerke untermauern die Kritik am ach-so-harmlosen deutschen Fußball-„Patriotismus“:

Gunter Gebauer (1996) hat in einem kurzen Beitrag über die Olympischen Sommerspiele 1992, bei denen zum ersten Mal nach der deutschen Wiedervereinigung eine gesamtdeutsche Auswahlmannschaft an den Start ging, einen fundamentalen Wandel der Sportberichterstattung diagnostiziert. Er beschreibt einen Wandel von einer „aristotelischen“ zu einer „nationalistischen“ Logik der Darstellung. Die aristotelische Logik der Inszenierung – entlehnt aus Aristoteles‘ Dramentheorie – basiert auf der In-sich-Geschlossenheit einer Handlung und der Einheit von Ort und Zeit. Bezogen auf den Sport wäre der einzelne sportliche Wettkampf eine geschlossene Handlungsepisode, die vom Beginn bis zum Ende am gleichen Austragungsort präsentiert wird. Die Dramatik ergibt sich hier aus der steigenden Spannung, die dem sportlichen Wettbewerb inhärent ist, sich in der Regel von den Vorkämpfen bis zum Finale langsam aufbaut und sich ruckartig löst, wenn die Siegerin oder der Sieger am Ende feststeht. Diese Inszenierungslogik wurde, so Gebauer, durch eine nationalistische Dramaturgie abgelöst, bei der die Regie schnell zwischen verschiedenen Wettbewerben, Orten und Zeiten hin und her springt und zwar immer dorthin, wo gerade deutsche Sportlerinnen und Sportler an den Start gehen. Die Einheit der TV-Berichte sind nicht mehr einzelne sportliche Wettbewerbe, sondern die Einheit wird dadurch konstruiert, dass entlang der Nationalität berichtet und selektiert wird.[64]

Mutz und Gerke resümieren:

Darüber hinaus zeigen unsere Daten – einschließlich der flankierenden Experimente –, dass Patriotismus und Nationalismus benachbarte, eng korrelierte Einstellungen sind, sodass jede Verstärkung patriotischer Bindungen immer auch mit nationalistischen Ressentiments assoziiert ist. Von der Liebe zum eigenen Land zur Überzeugung, das eigene Land sei besser und mehr wert als alle anderen, ist es kein langer Weg, sondern nur ein kurzer Schritt.[65]

Schließlich:

Zudem haben andere Studien zeigen können, dass sportbezogener Nationalstolz mit einer ethnisch-kulturell fundierten Vorstellung des Nationalen stärker korrespondiert als mit der Idee der zivilen Staatsnation.[66]

Das alles sind wissenschaftliche Analysen, die zeigen wie wichtig es ist, sich kritisch mit der Beziehung von Massenbewegungen wie den obsessiven „Party-Patrioten“ von 2006 ff. zu befassen.

Angesichts der Tatsache, dass bei der Europawahl 2024 die rechtsextreme AfD auf den zweiten Platz nach der CDU und vor der SPD kam, hätte man erwarten können, dass auch die Bundeszentrale für Politische Bildung sich kritisch und diskursiv mit den Folgen von 2006 und dem Fußball-Nationalismus beschäftigt. So wie es zum Beispiel die ARD-Sportschau 2023 unter anderem anhand meiner Thesen auch getan hat. Und diese Kritik war ja offenkundig auch die Intention der Produktionsfirma für das Video und der Serie „Politik raus aus den Stadien“.

Doch ein kleiner Shitstorm von rechten Kreisen reicht heutzutage schon aus, dass eine große Institution wie die Bundeszentrale einknickt und der kritischen Wissenschaft keinen Platz mehr einräumt und eine gesellschaftskritische Publizistik diffamiert.

Selbstbewusstes Handeln sieht anders aus.

Ob es morgen Abend auch nur ein Moderator oder eine Kommentatorin schaffen wird, ein aristotelisches Drama von Spanien gegen England zu übertragen, ohne auf die morgen beim Finale völlig irrelevante Situation der deutschen Nationalmannschaft in diesem Turnier zu rekurrieren oder diesen oder jenen Pass, Freistoß oder Kopfball geradezu zwanghaft obsessiv mit diesem oder jenem Pass, Freistoß oder Kopfball eines x-beliebigen deutschen Nationalspielers der letzten Jahrzehnten irgendwie in Beziehung zu setzen (wie es auch Co-Moderatoren wie Michael Ballack oder Lothar Matthäus gerne tun), um ganz sicher zu betonen, dass „wir“ ja auch so toll Fußball spielen können (nur halt „leider, leider“ diesmal wieder frühzeitig ausgeschieden sind), das ist zu bezweifeln.

Viele Fußball-Fans schauen ja ohnehin solche Spiele ohne Ton an oder haben eine Technik, nur die Stadiongeräusche zu hören, aber nicht die geschwätzigen und a priori pro-deutschen Kommentator*innen oder Moderator*innen.

Das Video über das Sommermärchen und den Nationalismus entspricht exakt dem „Beutelsbacher Konsens“ von 1976, der bis heute immer angeführt wird in der politischen Bildung:

I. Überwältigungsverbot.

2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.

3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren

Das Video entspricht genau diesem Standard, es überwältigt nicht, sondern regt zu Diskussionen an, es zeigt sowohl nationalistische Symbole, also auch die Kritik daran, also beide Seiten. Das Thema „Sommermärchen“ wird „kontrovers“ diskutiert, in aller Kürze der Zeit eines Reels oder Kurzvideos, und die Schüler*innen oder eben Rezipient*innen werden in die Lage versetzt, „eine politische Situation“ und „eigene Interessenlagen“ „zu analysieren“. Aufgrund dieses Videos ließe sich vortrefflich diskutieren, was die Beziehung von Nationalismus und Sport mit der politischen Kultur eines Landes macht, denn wegreden wird ja wohl niemand, dass es nach 2006 den Beginn und Aufstieg sowohl Pegida als auch der AfD gegeben hat und bis heute gibt, die nun mal beide, auch das wird niemand abstreiten, die deutsche Fahne als eines ihrer zentralen Symbole verwendet.

Was bleibt? Die Bundeszentrale für Politische Bildung muss das zensierte Video bzw. die zensierten Videos wieder online stellen und zeigen, dass es eine demokratische Institution ist, die sich umfassend, kritisch und wissenschaftlich mit Phänomenen beschäftigt, hier mit der Beziehung von Sport und Politik.

 

 

[1] Henning Eichberg (1976): Das nationalsozialistische Thingspiel. Massentheater in Faschismus und Arbeiterkultur, in: Ästhetik und Kommunikation, Jg. 7. (1976), H. 26, S. 60–69, hier S. 68.

[2] Klaus Sauer/German Werth (1971): Lorbeer und Palme. Patriotismus in deutschen Festspielen, München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

[3] Gustav Goes (1934): Opferflamme der Arbeit. Ein Freilichtspiel, Berlin, zitiert nach Sauer/Werth 1971, S. 177. Goes hat auch den Aufsatz »Vom Stadion zum Thingspiel«, in: Bausteine zum deutschen Nationaltheater verfasst, der die »maßlose Wut« der Deutschen zum Thema hatte und den Konnex von Stadion- und Thingspiel beleuchtete, zitiert nach Sauer/Werth 1971, S. 176. Ohne Eichberg substantiell zu kritisieren oder seine Mimikry, im Reden über den Nationalsozialismus eine subkutane Apologie desselben zu leisten, zu erfassen, ist der Anspruch, die Bedeutung der Stadionspiele weniger als Vor- als vielmehr ›Nach‹läufer der Thingspielbewegung zu analysieren von Bernhard Helmich zu erwähnen, vgl. Bernhard Helmich (1989): Händel-Fest und »Spiel der 10.000«. Der Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard, Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXX, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, Bd. 32), hier S. 12 f. (u. a. im Bezug auf Eichberg).

[4] Goes 1934, zitiert nach Sauer/Werth 1971, S. 181 f.

[5] Vgl. Clemens Heni (2006): Ahasver, Moloch und Mammon. Der ‘ewige Jude‘ und die deutsche Spezifik in antisemitischen Bildern seit dem 19. Jahrhundert, in: Andrea Hoffmann et al. (Hrsg.) (2006), Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Shoah, Tübingen: TVV, S. 51–79.

[6] Eichberg 1976, S. 62.

[7] Es wurde offiziell nie als Thingspiel bezeichnet, doch das tut hier nichts zur Sache. Über solche Kompetenzstreitigkeiten und inner-nationalsozialistischen Machtspiele werde ich hier nicht berichten. Beispielsweise verwahrte sich in einer Presseanweisung vom 23.10.1935 die NS-Führung dagegen, zukünftig Worte wie »Thing« zu verwenden. Eine solche Position ist selbstredend nicht anti-germanisch oder antivölkisch, vielmehr machtpolitisch motiviert gewesen, vgl. Wolfgang Emmerich (1971): Zur Kritik der Volkstumsideologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (edition suhrkamp), S. 146 ff.

[8] Richard Euringer (1933): Deutsche Passion 1933. Hörwerk in sechs Sätzen, Oldenburg i. O./Berlin: Gerhard Stalling, Verlagsbuchhandlung. Es handelt sich um Band 24 der von Werner Beumelburg herausgegebenen Schriftenreihe »Schriften an die Nation«. Sie wirbt im Bandumschlag damit, » …hat die Schriftenreihe im stärksten Maße dazu beigetragen, die deutsche Revolution vorzubereiten«. Auch Euringer hat die deutsche Revolution antizipiert: »Entworfen Weihnacht 1932. Vollendet Frühmärz 1933. Urgesendet in der ›Stunde der Nation‹, Gründonnerstag, 13. April 1933, über alle deutschen Sender« (ebd., S. 4). Dieses Werk erhielt am 1. Mai 1934 durch den Reichspropagandaminister Goebbels den ›nationalen Buchpreis‹ als bestes Buch des Jahres, vgl. Umschlag.

[9] Euringer 1933, zitiert bei Eichberg 1976, S. 60.

[10] Eichberg 1976, S. 60.

[11] New german critique, 1977, H. 11, darin Henning Eichberg (1977b): The Nazi Thingspiel, in: New German Critique, No. 11, S. 133–150. In dem Standardwerk Sachwörterbuch der Literatur taucht in der Auflage von 1979 erstmals das Stichwort »Thingspiel« auf, und auch Eichbergs erst kurz zuvor erschienenen Texte, sowohl seine Monografie als auch sein englischer Aufsatz werden hierbei aufgeführt, vgl. Gero von Wilpert (1955)/1979: Sachwörterbuch der Literatur, 6. Aufl., Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, S. 836 f.

[12] Eichberg, Henning u. a. (1977a): Massenspiele. NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog (problemata 58), S. 158.

[13] Euringer 1933, S. 16.

[14] Ebd. Auch auf dem Umschlag des schmalen Euringer-Bandes ist eine große Dornenkrone abgebildet.

[15] Ebd., S. 20.

[16] Ebd., S. 22.

[17] Ebd., S. 24.

[18] Ebd., S. 25.

[19] Ebd., S. 28.

[20] Ebd., Regieanweisung.

[21] Ebd., S. 29, Regieanweisung.

[22] Ebd., S. 29.

[23] Ebd.

[24] Dass das ›Führerprinzip‹ erst mit Möllers Würfelspiel (vgl. unten) 1936 eingeführt worden sei – so Henning Rischbieter (Hg.) (2000): Theater im ›Dritten Reich‹. Theaterpolitik Spielplanstruktur NS-Dramatik, Seelze-Velber: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung, S. 41 – ist also schon bei Betrachtung des ersten de facto Thingspiels zu revidieren: »Die Legende bezieht ihre mythische Qualität aber nicht nur aus ihrer Analogie zur Christuspassion, sondern bemüht zusätzlich den Mythos vom ›Unbekannten Soldaten‹, mit dem Euringer eindeutig auf Hitler verweist. Hitler nannte sich selbst gern den ›unbekannten Gefreiten des Weltkriegs‹« (Hannelore Wolff (1985): Volksabstimmung auf der Bühne? Das Massentheater als Mittel politischer Agitation, Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang (Europäische Hochschulschriften, Reihe 30, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, Bd. 23), S. 198). Wolff nimmt Eichbergs Thingspiel-Aufsatz (Eichberg 1976) in ihr Literaturverzeichnis auf, ohne sich jedoch näher mit ihm zu befassen, also auch nicht seine Apologie des Thingspiels, zu erfassen.

[25] Euringer 1933, S. 34, Regieanweisung.

[26] Ebd., S. 35.

[27] Vgl. unten zu den Unsterblichen/Toten auch Diems »Weihespiel«.

[28] Euringer 1933, S. 34 f.

[29] Ebd., S. 46.

[30] Ebd., Regieanweisung.

[31] »Mit Getöse in die Tiefe« (ebd., S. 47, Regieanweisung).

[32] Ebd., S. 47.

[33] »Aus den Himmeln Orgelton« (ebd., Regieanweisung).

[34] Ebd., Regieanweisung.

[35] Von den 1920er bis in die 1950er Jahre war Hanns Niedecken-Gebhard Intendant und Regisseur, eine prägende Figur im Theaterleben der Nazis, zuvor und unmittelbar danach. Er durfte Euringers Passion in deutsche Szene setzen. Helmichs pure Deskription kann ich nicht anders als affirmativ lesen: »Statt der ›stumm vorbeiziehenden Jüngsten‹ hätte der Kritiker des ›Völkischen Beobachter‹ lieber ›stramme Hitler-Jugend oder SA‹ aufmarschieren sehen. Immerhin erreicht Niedecken, dass die fast 2.000 Zuschauer sich am Ende – beim Erklingen von volkstümlicher Musik und gleichzeitigem Entrollen von Hakenkreuzfahnen – spontan von ihren Plätzen erheben und die Arme zum ›Deutschen Gruß‹ in die Höhe strecken« (Helmich 1989, S. 180). Was für ein ›immerhin‹!

[36] Allgemein lässt sich zu den Thingspielen sagen: »Die Aufführungen endeten fast immer nach dem gleichen Schema, das häufig bereits in den Texten vorgegeben war: am Schluß des Spiels zogen nationalsozialistische Formationen, die Kolonnen der SA, der SS, des Arbeitsdienstes oder anderer Verbände mit ihren Fahnen und Standarten und begleitet von Marschmusik durch die Zuschauerreihen hindurch in das Theaterrund ein. Das Singen des Horst-Wessel- oder des Deutschland-Liedes, in das alle Versammelten, Mitwirkende und Zuschauer, einfielen, war in der Regel Höhepunkt und Abschluß eines Thingspiels« (Wolff 1985, S. 225).

[37] Scheits Interpretation, die das Fehlen eines offenen Antisemitismus in diesen Stücken betont, ist gleichwohl aufschlussreich. Sie sieht in dem »bösen Geist« die Gegenfigur zum »namenlosen Soldaten« bei Euringer: »Schon der erste große Erfolg in diesem Genre [dem ›Thingspieltheater‹, C. H.] – Richard Euringers Deutsche Passion 1933 – hatte nicht zufällig die Dramaturgie des Passionsspiels adaptiert; zugleich ist dieses Thingspiel der ersten Stunde so etwas wie eine trivialisierte und proletarisierte Version des Parsifal – mit deutlichen Anleihen beim deutschen Expressionismus. Es fällt auf, dass der Antisemitismus des Stücks dabei kaum konkreter wird als der von Wagners Musikdramen: Kontrahent des gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs, der als Wiederauferstandener Deutschland erlöst wie Christus die Menschheit und Parsifal die Ritter, ist nicht ›der Jude‹, sondern ein »Böser Geist«, der nicht deutlicher auf das Judentum anspielt als etwa Alberich, Kundry oder Klingsor. (…) Die Christus- und Parsifalfigur der Deutschen Passion, der gefallene und wiederauferstandene Soldat, bedeutete eine unmittelbare und für jeden verständliche Anspielung auf Adolf Hitler. Näher wagten sich Theater und Spielfilm nie wieder an den ›Führer‹ heran« (Gerhard Scheit (1999): Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus, Freiburg: ça ira, S. 358).

[38] Zitiert nach Stefan Busch (1998): »Und gestern, da hörte uns Deutschland«. NS-Autoren in der Bundesrepublik. Kontinuität und Diskontinuität bei Friedrich Griese, Werner Beumelburg, Eberhard Wolfgang Möller und Kurt Ziesel, Würzburg: Königshausen & Neumann (Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte Band 13), S. 206, Anm. 180.

[39] So ein Flugblatt des »Freundeskreises Freiheit für Deutschland«, zitiert nach: Bernhard Pörksen (2000): Die Konstruktion von Feindbildern. Zum Sprachgebrauch in neonazistischen Medien, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 143. Seit 02.09.1993 ist der »Freundeskreis Freiheit für Deutschland« eine verbotene Organisation.

[40] Pörksen 2000, S. 144; vgl. zum Topos ›Völkermord‹ bzw. ›Volkstod‹ III.4.e [in meiner Dissertation].

[41] Eichberg 1976, S. 62.

[42] Ebd., S. 61.

[43] Ebd.

[44] Vgl. bezüglich Achim von Arnims Antisemitismus und dem ›Ausscheiden‹ alles Fremden Susanna Moßmann (1994): Das Fremde ausscheiden. Antisemitismus und Nationalbewußtsein bei Ludwig Achim von Arnim und in der ›Christlich-deutschen Tischgesellschaft‹, in: Hans Peter Herrmann/Hans-Martin Blitz/dies. (1994): Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (suhrkamp taschenbuch wissenschaft), S. 123–159.

[45] Eichberg 1976, S. 65.

[46] Das ›kulturelle Thing‹, d. h. das Thingspiel, wurde womöglich auch aufgrund der Konkurrenz zum ›politischen Thing‹, den Nürnberger Reichsparteitagen bzw. insgesamt der Inszenierung des Staates als »›Volksdrama‹« (Goebbels), aufgegeben, vgl. Peter Reichel (1991)/1994: Der schöne Schein des Dritten Reichs. Faszination und Gewalt des Faschismus, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag (Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Buchreihe), S. 339 f.

[47] Busch 1998, S. 148. »Zum ›Führergeburtstag‹ am 20.4.1934 schrieb Möller im Völkischen Beobachter: ›Wir sind in die S.A. gegangen, um als Soldaten die nationale Revolution durchzukämpfen, die wir an unseren Schreibtischen nicht hätten durchkämpfen können, und wir bleiben als Soldaten in unsern Stürmen, auch wenn wir schreiben‹« (ebd., Anm. 15).

[48] 25 Jahre nach seinen Thingspiellobeshymnen spricht Eichberg nebenbei und gezielt in der Diktion seiner rhetorischen Mimikry sein antiaufklärerisches Politikkonzept wieder an: »In seinem Buch ›Thing und Polis‹ versuchte der Maler Asger JORN eine politische Theorie aus dem Geiste des situationistischen Anarchismus heraus. Er setzte zwei Konfigurationen scharf gegeneinander, als historische Erfahrungen und zugleich als Ausgangspunkte zweier unterschiedlicher Auffassungen von Demokratie. Die Polis stand für das Modell der Bürgerpolitik; sie entstand historisch aus der Kombination von Burg bzw. Befestigung, stadtbürgerlicher Klassengesellschaft und Sklavenökonomie. Der Thing stand für die Selbstverwaltung ländlicher Sippen, für die Dorfdemokratie, und der Bauer wurde zum Joker zwischen urbaner Bourgeoisie und Proletariat« (Henning Eichberg (2001a): Bewegung in der Stadt – Bewegung im Labyrinth. Über fraktale Aspekte körperlicher Praxis, in: Jürgen Funke-Wiencke/Klaus Moegling (Hg.) (2001): Stadt und Bewegung. Knut Dietrich gewidmet zur Emeritierung, Immenhausen bei Kassel: Prolog-Verlag (Bewegungslehre & Bewegungsforschung Bd. 12), S. 28–44, hier S. 34 f.).

[49] Eberhard Wolfgang Möller (1936)/1940: Das Frankenburger Würfelspiel. Volksausgabe, mit einem Nachwort und einer Bühnenskizze, Berlin: Theaterverlag Albert Langen/Georg Müller, S. 52.

[50] Eichberg 1976, S. 62 f.

[51] Ebd., S. 62.

[52] Das Zeitschriftenprojekt Ästhetik und Kommunikation bot Eichberg gleich mehrmals die Gelegenheit zur Publikation seiner neu-rechten Gedanken, 1976, 1979 und 1994.

[53] »Whether in his dramatic works, poetry, or radio dramas, Möller always stressed the leitmotifs of heroism, anti-Semitism, and anticapitalism« (Jay W. Baird (1994): Hitler’s Muse: The Political Aesthetics of the Poet and Playwright Eberhard Wolfgang Möller, in: German Studies Review, Vol. XVII (1994), No. 2, S. 269–285, hier S. 270). Als Beispiel für Möllers Antisemitismus vgl. Eberhard Wolfgang Möller (1934): Rothschild siegt bei Waterloo. Ein Schauspiel, Berlin: Theaterverlag Albert Langen Georg Müller, das seine Uraufführung am 5. Oktober 1934 in Aachen und Weimar hatte. »Eberhard Wolfgang Möllers ›Rothschild siegt bei Waterloo‹ liegt eine Anekdote zugrunde, nach der aus dem Blutopfer von Zehntausenden ein Börsenmanöver gigantischen Ausmaßes gemanagt wird. Es ist die bitterernste Satire des ewig raffenden Geistes schlechthin. Verdienen statt dienen, Risiko statt Einsatzbereitschaft, Geld als Endziel aller Macht sind seine Schlagworte«, Rhein.-Westf. Zeitung, Essen, Buchumschlag Möller 1934. Entgegen dem bereinigten Stück Frankenburger Würfelspiel, das ja der internationalen Öffentlichkeit zur Zeit der Olympiade 36 galt, ist hier also der Antisemitismus offenkundig. Im September 1939 fasste Möller während der Vorbereitung zu ›Jud Süß‹ sein nationalsozialistisches Weltbild zusammen: »Wir lassen die Geschichte sprechen. Und sie zeigt nicht, daß ›der Jude auch ein Mensch‹ ist, nein, sie stellt klar, daß der Jude ein ganz anderer Mensch ist als wir, und daß ihm die uns angeborene sittliche Kontrolle über sein Handeln fehlt. (…) Keinen bösen Dämon wollten wir darstellen, aber den Abgrund zwischen der jüdischen und der arischen Haltung wollten wir dartun«, zitiert nach Busch 1998, S. 157, Herv. im Original. Allerdings verweist Busch ohne Kommentar an mehreren Stellen auf Eichbergs NS-Thingspiel Band von 1977, vgl. Busch 1998, S. 149, Anm. 21; 163, Anm. 72; 184, Anm. 133. Ein solches Rekurrieren auf Eichberg noch im Jahre 1998 halte ich gerade in einer wissenschaftlichen Arbeit für symptomatisch für die Virulenz Eichbergs rhetorischer Mimikry. Ebenfalls kommentarlos wird Eichbergs Apologie Möllers nicht gesehen, wenn Sarkowicz/Mentzer in ihrem Standardwerk Eichberg in die sehr knappe Literaturliste aufnehmen, vgl. Hans Sarkowicz/Alf Mentzer (2000): Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon, Hamburg/Wien: Europa-Verlag, S. 284 f.

[54] Kothurne sind in der Antike aufgekommene Bühnenschuhe.

[55] Eichberg 1976, S. 63.

[56] So die Darstellung bei Karl-Heinz Joachim Schoeps (1992)/2000: Literatur im Dritten Reich (1933–1945), 2., überarb. u. erg. Aufl., Berlin: Weidler Buchverlag (Germanistische Lehrbuchsammlung), S. 160. Allerdings zitiert Schoeps Eichberg ebenfalls gleich mehrfach, um ihn gar als ernstzunehmenden Historiografen der Thingspielbewegung heranzuziehen, demnach sei es evident, dass das »›Thingspiel als politisch-kultisches Massentheater den wichtigsten Beitrag darstellte, den der Nationalsozialismus zur Kunstform des Theaters und der Literatur leistete‹« (Eichberg 1977, S. 5, zitiert bei Schoeps 1992, S. 162, zu weiteren Bezugnahmen auf Eichberg vgl. ebd., S. 167 f.).

[57] Christina Jung-Hofmann (2002): Engagierte Literatur und rhetorischer Realismus. »Panamaskandal« und Weimarer Republik bei Wilhelm Herzog und Eberhard Wolfgang Möller, in: Stefan Neuhaus/Rolf Selbmann/Thorsten Unger (Hg.) (2002): Engagierte Literatur zwischen den Weltkriegen, Würzburg: Köngishausen & Neumann ( Schriften der Ernst-Toller-Gesellschaft, Band 4), S. 219–237, hier S. 236.

[58] Eichberg 1977, S. 143. Genau diese Seite führt [die Historikerin Christiane Eisenberg] abschließend an, um Eichberg Recht zu geben in seinen Analysen. Allein schon die Zeiteinteilung »1937/45«, Eichberg meint ganz offensichtlich das vermeintliche Verebben der Thingspielbewegung 1937 und mit 1945 das Ende des Nationalsozialismus, ist eine Verharmlosung nationalsozialistischer Totalität. Dieser sehr einfache Trick Eichbergs, ein vermeintlich diskontinuierliches Moment des Nationalsozialismus hervorzuheben und zu einer Periode zu stilisieren, fällt Eisenberg entweder nicht auf oder sie affirmiert diese Sichtweise.

[59] Ebd., S. 143-146.

[60] Ebd., S. 144.

[61] Ebd.

[62] Ebd., S. 145. Helmich stellt diesen Opfertod recht positiv dar: »Für Diem liegt in dieser Szene [der vorletzten von Olympische Jugend, C. H.], die die Olympische Flamme zum Sinnbild der Seele der Jugend werden läßt, der ›geistige Höhepunkt‹ des Spiels. Dessen eigentlicher Sinn aber erschließe sich im folgenden Bild, ›Heldenkampf und Totenklage‹«; es folgt die oben zitierte »Opfertod«-Passage, die weiter erläutert wird: »Für den Rezitator Joachim Eisenschmidt werden diese Verse wenige Jahre später zur Realität werden«, um schließlich mit dem »Anspruch der Tanzkunst« eines Rudolf von Laban die praktisch werdende Frage »Wann und wie darf ich töten« zu stellen, Helmich 1989: 209 f. In der Weimarer Republik war Laban »zum großen Guru des Ausdruckstanzes« avanciert, später konnte er die Olympische Jugend mit inszenieren, vgl. Horst Koegler (1980): Vom Ausdruckstanz zum »Bewegungschor« des deutschen Volkes: Rudolf von Laban, in: Karl Corino (Hg.) (1980): Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus, Hamburg: Hoffmann und Campe, S. 165–179, hier S. 171 bzw. S. 176.

[63] Julia Becker/Ulrich Wagner/Oliver Christ (2007): Nationalismus und Patriotismus als Ursache von Fremdenfeindlichkeit, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 131–149, hier S. 146f.

[64] Michael Mutz/Markus Gerke (2019): Fußball und Nationalstolz in Deutschland. Eine repräsentative Panelstudie rund um die EM 2016, Wiesbaden: Springer VS, S. 26.

[65] Ebd., S. 161.

[66] Ebd., S. 161f.

Grenzte die Coronapolitik ans „Totalitäre“? Der Direktor des Sozialgerichts Fulda kritisiert deutsche Richterinnen und Richter

Von Dr. phil. Clemens Heni, Politologe und Verleger, 22. Februar 2024

In Frankreich wird aktuell ein Gesetz geplant, das es Kritiker*innen und skeptischen Bürger*innen bei der Beurteilung von Impfstoffen oder vermeintlichen Impfstoffen bei Strafe untersagt, eine solche Kritik zu üben, ausgenommen ist die Presse. Das wird in Frankreich gemeinheim als „Pfizer“-Gesetz verschrien, doch im Parlament bekam es letztlich eine Mehrheit. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Es zeigt jedoch, dass die Aufarbeitung der juristischen, sozialen, demokratischen, psychologischen und demokratischen Folgen der Coronapolitik noch ganz am Anfang steht. Viele wollen da weitermachen, wo sie 2023 aufgehört hatten: beim nicht evidenzbasierten ‚Durchregieren‘ und Kaltstellen aller Kritiker*innen.

Dass Schweden laut der Weltgesundheitsorganisation von Mai 2022 in den ersten beiden Jahren der Corona-Pandemie weniger als halb so viel Übersterblichkeit zu verzeichnen hat als Deutschland, das Maskenwahnland versus dem maskenfreien Schweden, das erinnert niemand. Während laut WHO in Schweden 56 Personen pro 100.000 mehr starben, als zu erwarten war, waren es in Deutschland 116.

Dabei hätte wenigstens ausgebildeten Jurist*innen Folgendes in den Sinn kommen müssen, schon im Frühjahr 2020:

Wer im Herbst 2019 in einem juristischen Staatsexamen vertreten hätte, dass die Rechtseinschränkungen, die seit März 2020 durch allein exekutive Entscheidungen auf derart unbestimmten Ermächtigungsgrundlagen wie denjenigen des Infektionsschutzgesetzes vorgenommenen wurden, verfassungsgemäß sind, wäre durchgefallen. Völlige Verkennung des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips sowie der jahrzehntelangen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Parlamentsvorbehalt und zum Verhältnismäßigkeitsprinzip hätte der Korrektor moniert.

 

Das Zitat stammt aus einem Text des Direktors des Sozialgerichts Fulda Prof. Dr. Carsten Schütz vom 26. Oktober 2020 in der Fuldaer Zeitung.

Wenn wir heute die AfD in Sachsen in Umfragen als stärkste Partei mit über 30 Prozent sehen, dann zeigt das, was für ein Potential in Ostdeutschland der Rechtsextremismus und Populismus hat. Doch es geht noch darüber hinaus.

Eine grundfalsche Politik der letzten vier Jahre hat erheblich dazu beigetragen, immerhin bekam die AfD bei der letzten Bundestagswahl 2021 (die ohne Wahlkampf auskam wegen der Corona-Panik) ‚nur‘ etwas mehr als 10 Prozent der Stimmen (was schon katastrophal viel ist), aktuell liegt sie bundesweit in Umfragen bei ca. 20 Prozent.

Und das liegt auch an der Coronapolitik von Merkel und später Scholz. Dass in der Tat sehr viele rechtsextreme Portale die Kritik an der Coronapolitik zum Vehikel machten, um Massendemonstrationen zu organisieren, aber auch im Kleinen die politischen Kultur nach rechts, gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und ‚das System‘ verschieben konnten, ist hinlänglich analysiert und zurecht kritisiert worden. Ich selbst habe viele Aspekte des Antisemitismus und Rechtsextremismus beziehungsweise Populismus und der Neuen Rechten wie der Querfront in Kreisen der Coronapolitik-Kritik analysiert und kritisiert, von Anbeginn (siehe Dutzende Texte sowie meine diesbezüglichen Bücher hier).

Dazu kommt dann die antidiplomatische Kriegs- und Ukraine-Politik. Dass es im März/April 2022 eine diplomatische Lösung zwischen Russland und der Ukraine hätte geben können, bestätigen viele aktiv Beteiligte, darunter auch führende ukrainische Verhandlungspartner, wie der Politikwissenschaftler, AfD- und Antisemitismus-Experte Professor Hajo Funke jüngst nochmal betont. Entscheidend für ein Fortführen des von Russland angefangenen Krieges waren jedoch England, namentlich Boris Johnson, die USA und die NATO. Die Ukraine selbst wäre an einer Erklärung ihrer Nicht-NATO-Mitgliedschaft bei Rückzug der russischen Truppen auf die Linien vor dem 24. Februar 2022 sehr wohl eingegangen, wie auch amerikanische Journalist*innen und diplomatische Kreise betonen, die Funke zitiert.

Der Glaubwürdigkeitsverlust der deutschen Bundesregierung hängst sehr stark mit dieser irrationalen und in weiten Teilen rassistischen, anti-russischen (und keineswegs nur und zu Recht Anti-Putin-) Linie zusammen. Viele wollen es ‚dem Russen‘ heimzahlen, dass die Rote Armee die Nazi-Wehrmacht besiegte und Auschwitz befreite.

In der Folge der irrationalen und brutalen Kriegsbegeisterung Deutschlands gab und gibt es eine Energiekrise nie geahnten Ausmaßes, die anhält und viele Millionen Bürger*innen konsterniert und fassungslos macht. Nicht alle heutigen AfD-Wähler*innen waren schon immer Rechtsextreme, soziale Umstände haben manche erst in die Hände einer ganz üblen Partei getrieben, die ja – wenn das nicht ironisch ist – gerade stolzdeutsch ist, aber Sympathien für autoritäre Regime aller Art hegt, inklusive Russland, obwohl doch ‚Opa‘ gegen ‚den Russen‘ kämpfte bis zur allerletzten Patrone.

Doch der Ukraine-Krieg, der ja bekanntlich schon im Frühjahr 2014 auf dem Maidan de facto losging, ist nicht der Kern des aktuellen Demokratieverlusts in Deutschlands oder Europas und dem Westen. Dazu kommt ein genuiner, ideologischer, neu-rechter, nationalistischer, antifeministischer, den menschgemachten Klimawandel leugnender Fanatismus von vielen, häufig männlichen Politikern und Aktivisten, weltweit. Sie beklagen vorgeblich Bürokratien, supranationale Organisationen oder aber Oligarchen auch im Westen, doch im Kern haben sie ein Problem mit Vielfalt, Demokratie und Dissens. Das erleben wir seit den 1990er Jahren.

Diesen neu-rechten Backlash haben wir also seit Jahrzehnten, mit einem Höhepunkt beim britischen Brexit 2016 und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten ebenfalls im Jahr 2016.

In Deutschland führte der deutsch-nationale und schwarzrotgoldene Overkill des „Sommermärchens“ 2006 zu einer Stimmung, die sehr wohl die „Salonfähigkeit der Neuen Rechten“ (so der Titel meiner Dissertation an der Universität Innsbruck) anzeigte und einen wichtigen Schub für die Gründung der AfD im 2013 gab.

Dass Protest übrigens auch pfiffig, lustig und erfolgreich sein kann und eher links und Ultra-mäßig, zeigt am 21. Februar 2024 die Niederlage der Deutschen Fußball Liga (DFL) und ihrem Vorhaben, mit externen Investoren das ohnehin extrem durchkapitalisierte Fußballgeschäft noch weiter zu monetarisieren.

Tennisbälle, Goldtaler aus Schokolade, oder ferngesteuerte Autos auf dem Fußballrasen bis hin zu kleinen Flugzeugen, die im Stadion flogen, eingerahmt in Transparente aller Art, waren seit Wochen für unzählige Unterbrechungen von Bundesligaspielen verantwortlich. Dieser Protest hatte einen scharfen, aber auch lustigen und witzigen, humorvollen Drive. Und er war erfolgreich.

 

Doch die Pointe ist, dass auch die angeblichen Super-Demokraten wie die demokratischen Parteien im Bundestag und den Landtagen ein Problem mit Vielfalt und Dissens haben – das zeigte sich ab März 2020, als jeder Dissens und jede vielfältige Stimme, die nach Verhältnismäßigkeit oder Abwägen rief, auf brutale Weise niedergebrüllt wurde, von allen Politiker*innen, Talkmaster*innen und allen, wirklich allen Massenmedien und linken Postillen aller Art.

Dass es gerade auch in Israel Kritik an der Coronapolitik gab, wird bis heute so gut wie nirgendwo diskutiert, auch nicht in den pro-israelischen Kreisen. Weil das „Narrativ“ nicht passt, denn Kritik und Coronapolitik ergeben hierzulande Antisemitismus, das ist die reduktionistische Gleichung, auf die sich alle geeinigt haben, von der Wissenschaft bis zur gewaltbereiten Antifa („Wir impfen Euch alle!“).

Autoritarismus, Sexismus, Verschwörungsmythen, Antisemitismus, Nationalismus („Patriotismus“), Rassismus, männliche Gewalt und eine reaktionäre Familienideologie im Westen, Europa und Nordamerika, sind nur ein Spiegelbild des weltweiten muslimischen Extremismus und des Islamismus speziell seit dem 11. September 2001. Dabei ist das Ignorieren der riesigen Gefahr des illegalen, jihadistischen, wie des legalen Islamismus – wie Verschleierung, Beten an öffentlichen Orten wie Bibliotheken etc. pp. – auch Teil des Problems, weil gerade vorgebliche Linke sich nie um die Rechte anti-islamistischer Forscher*innen, Aktivist*innen, von Frauen oder Schwuler gekümmert haben, da jede – wirklich jede! – substantielle Kritik am politischen Islam als rechts schubladisiert wurde und wird.

Dabei ist die Kritik am Islamismus, dem Kopftuch, der Burka oder dem Ramadan zutiefst links. Emanzipation heißt nicht, dass Drogerie- und Supermärkte Ramadan-Kalender verkaufen (!), sondern dass die große Gefahr von Parallelgesellschaften und religiösem Fanatismus exakt mit dieser Ausbreitung des Islam zu tun hat. Es ist purer Wahnsinn, wenn Jugendliche in Schulen oder auf der Ausbildung vier Wochen tagsüber nichts konsumieren und dadurch gewalttätig, unkonzentriert und vor allem islamistisch werden, weil es ja ihre Religion ist, die ihnen diesen Verlust an Lebensqualität aufzwingt und sie das als freie Entscheidung missverstehen wollen. („Die Lehrenden sollten keine Rücksicht auf den Ramadan nehmen“, fordert die Berliner Anwältin und Moschee-Gründerin Seyran Ates im Interview mit n-tv.de.).

Das hat mit einem säkularen Islam, der im Westen angekommen ist, nichts zu tun. All das von linker Seite zu kritisieren, wäre endlich an der Tagesordnung, was viel mehr bringt als jeder „interreligiöse Dialog“. Das alles nicht zu sehen, treibt nicht nur dumpfe, sondern auch nicht mehr repräsentierte Bürger*innen mitunter zu den Nazis und den Rechten, was eine solche Wahl oder Parteipräferenz niemals entschuldigt, aber sozial und politisch in Beziehung setzt zu Entwicklungen in diesem Land.

Das alles spielt sich also auch in der Bundesrepublik ab und nicht nur in Frankreich oder Großbritannien. Aber der Kern des Demokratieverlusts in Deutschland war eindeutig der Pandemic Turn und die Coronapolitik von Angela Merkel, Olaf Scholz und nahezu der kompletten politischen, kulturellen, wissenschaftlichen und medialen Elite in diesem Land sowie weiten Teilen der Bevölkerung.

Die Corona-Krise war in erster Linie die größte Demokratiekrise seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland im Mai 1949.

Der Pandemic Turn besagt, dass von heute auf morgen alles Leben stillgestellt werden kann, ohne jeden empirischen Grund dafür, ohne Beweise, ob diese oder jene „Maßnahme“ sinnvoll sind. Es wurde einfach totalitär gehandelt, anders kann man das nicht bezeichnen.

Der Jurist Carsten Schütz hat es im Herbst 2020 kommen sehen, im oben zitierten Text von Oktober 2020 schreibt er weiter:

Und letztlich: Die Spaltung der Gesellschaft gewinnt aktuell weiter an gefährlichem Nährstoff. Dies liegt auch daran, dass sich nicht unwesentliche Teile der Bevölkerung kaum mehr repräsentiert sehen. Diese Menschen mag man als „Spinner“ oder „Verschwörungstheoretiker“ abtun. Doch macht man es sich damit zu einfach, denn es gibt durchaus berechtigte, rationale Kritik an den aktuellen politischen Entscheidungen. Vor allem aber birgt es die Gefahr, dass diese Menschen von demokratiefeindlichen Gruppen vereinnahmt werden, weil ihre Positionen bei den anderen Parteien gar nicht mehr vorkommen. Das gilt es dringendst zu verhindern.

Vor diesem Hintergrund ist ein Gedanke des Wiener Kunsttheoretikers Helmut Draxler von Interesse, den er in Heft 1/2024 der Zeitschrift Merkur (S. 17–27) zu Papier brachte.

In seinem Text über „Polarisierung und Ressentiment“ geht es aus psychoanalytischer und linker Sicht um eine Kritik an den üblichen links-liberalen und linken Ansätzen der Kritik am Trumpismus, der AfD oder dem Populismus. Auf Corona geht Draxler gar nicht ein, dabei würde seine Kritik gerade hier auch sehr gut treffen, wenn er ausführt:

Das heißt, das Ressentiment ist dort am stärksten, wo wir es nicht als ein solches erkennen können, wo es sich in den Formen der Askese, der Liebe, der Sympathie, des Mitleids, des Engagements für die moralisch gute Sache verbirgt. (S. 24)

Denn eine ganz große Volksgemeinschaft meinte ja 2020 bis 2023, die „moralisch gute Sache“ zu vertreten, also Abstand, Isolation, Atomisierung, Abschließung, Ausgrenzung, Maskenpflicht und Impfpflicht. A-soziales Verhalten wurde als „solidarisch“ verkauft, Unfreiheit als Freiheit, Zwang als Freiwilligkeit.

Das Motto war eindeutig, wie ich es in Worte fassen würde:

‚Wenn ich schon nicht maskenfrei herumlaufen will (!), dann soll das auch sonst niemand dürfen. Wenn ich nicht ins Theater, Kino, Stadion gehen will, weil ich panikzerfressen bin, dann soll auch sonst niemand ins Theater, Kino oder Stadion gehen dürfen.‘

Vor diesem Hintergrund fand am 21. Februar 2024 in Fulda die Veranstaltung „Die Corona Pandemie – ein Resümee, Akademieabend“ statt. Die rein männliche Runde, moderiert von zwei weiteren Männern der Fuldaer Zeitung, bestand aus Prof. Dr. med. Peter M. Kern, Immunologe, Chefarzt am Klinikum Fulda, Prof. Dr. Carsten Schütz, Direktor des Sozialgerichts Fulda, Generalvikar Prälat Christof Steinert, Bistum Fulda, Frederik Schmitt, Erster Beigeordneter und Gesundheitsdezernent des Landkreises Fulda.

Wer Texte von Carsten Schütz kennt, konnte sich einiges erhoffen. Doch die Hoffnung starb schnell.

Die unerträglichen, apologetischen und von Plastikwörtern der Verwaltungsbürokratie überlaufenden Auslassungen des Gesundheitsdezernenten (CDU) machten ein Zuhören schwer möglich, doch im Livestream konnte man im Gegensatz zur Veranstaltung einfach die „mute“ Taste drücken, sobald er zu Wort kam, was viel zu oft und viel zu lange der Fall war.

Ganz am Ende meinte dann noch Professor Schütz, dass es ihm beim Thema Verhältnismäßigkeit um richtig wichtige Dinge wie das Schließen von Geschäften, also Lockdowns, ohne jede empirische Basis gegangen sei und nicht um „Banalitäten“ wie die „Maskenpflicht“. Das zeigte leider, dass auch Carsten Schütz nicht wirklich ein Kritiker aller Maßnahmen war, denn die Kritik an der empirisch völlig evidenzfreien Maskenpflicht ist eine der allerersten und wichtigsten Kritiken.

Es gibt Menschen, die wegen dem Nicht-Aufziehen einer sinnfreien Maske ihren Job verloren haben, die Tausende Euro Disziplinarstrafen wegen Kritik am Irrationalismus von Staatsregierungen und am Maskenwahn bekamen. Manchen wurden wegen Asthma und schweren Vorerkrankungen Atteste ausgestellt, die dann von völlig fanatischen Richterinnen nicht anerkannt wurden, um ein Gerichtsgebäude zu betreten. Insofern war die Kritik am deutschen Maskenwahn alles, nur nicht eine „Banalität“, sondern überlebensnotwendig als soziales Wesen.

Zudem kommt hier das philosophische Von-Angesicht-Zu-Angesicht zu tragen, eine Gesellschaft von Maskierten ist ein durchgeknallter Maskenball einer homogenen pampigen Masse, aber keine heterogene und demokratische Gesellschaft.

Ohne Maske viel weniger Panik in der Öffentlichkeit, darum geht es. In Holland oder Schweden ging es auch ohne Maske und dort gab es weniger Panik und in Schweden weniger Tote an oder mit Corona (dass zumal Schweden bzw. seine kulturelle Elite aktuell wegen widerlicher antiisraelischer Hetze auffällt und Israel vom Song-Contest ESC ausschließen möchte, steht auf einem anderen, noch zu schreibenden Blatt).

Der regelrechte Hirnriss kannte schon zu Coronazeiten keine Grenzen – wenn eine Maske schützt, warum dann Angst vor maskenfreien Menschen? Weil die Maske eben gerade nicht schützt?

Wenn die Impfung schützt, warum dann Panik vor Ungeimpften? Weil die Impfung eben gerade nicht schützt? Und so weiter und so fort. Das ist das beliebte Regenschirm-Syndrom, wir alle kennen und lieben es.

Die Veranstaltung in Fulda jedoch war meines Erachtens ziemlich sinnlos, da die Zusammensetzung der Moderation – zwei affirmative Journalisten einer Lokalzeitung – und des Podiums es nicht ansatzweise zuließen, dass die Tendenz zum „Totalitären“, die Schütz noch in seinem Text in der Fuldaer Zeitung attackierte, zum Thema gemacht worden wäre.

Dafür hätten da wenigstens drei intellektuelle und scharfe Kritiker*innen sitzen müssen, um die beiden aalglatten, langweiligen Journalisten und den stellvertretenden Landrat auflaufen zu lassen. Aber so war es ein Heimspiel der Zeugen Coronas.

Wenn der Professor Kern meinte, anfangs sei gar nicht klar gewesen, wie hoch die Sterblichkeit sein würde, ist das eben nicht richtig.

Seit Anfang April 2020 (09. April 2020) wussten wir das und zwar aus der Studie von Prof. Streeck in Gangelt im Kreis Heinsberg, der mit seinem Team die Infektionssterblichkeit (in einem sog. Hotspot) mit 0,37 Prozent empirisch (!) gesichert erforschte. Gleichzeit hat ein Team in Kalifornien um Prof. Jay Bhattacharya die Infektionssterblichkeit in Santa Clara County mit 0,12 bis 0,20 Prozent erforscht (17. April 2020).

Zu diesem Zeitpunkt – April 2020 – sprachen die Panikindustrie wie das Robert Koch-Institut (RKI) oder die WHO von einer angeblichen Sterblichkeit von 3-4 Prozent. Unwissenschaftlicher, irrationaler und geradezu panikgeiler als das RKI oder die WHO konnte man zu diesem Zeitpunkt gar nicht arbeiten. Und alle Richter*innen, Medien und die Antifa klatschten!

Das hätte Prof. Kern aus Fulda sagen müssen – vier Jahre später, doch das hat er nicht gesagt, sondern insinuiert, man hätte es damals nicht wissen können, wie niedrig die Sterblichkeit liegen wird. Doch man konnte es wissen, wenn man sich die Anzahl der Infizierten anschaute und dann die Zahl der Toten, zudem derjenigen, die nicht nur mit einem positiven Test, sondern wirklich an dem Virus SARS-CoV-2 starben. Und diese Infektionssterblichkeit war von Anfang an in Deutschland extrem niedrig, siehe Gangelt in NRW. Die Grippe – Influenza – im Winter 1969/70 hatte laut RKI eine  Infektionssterblichkeit von 0,29 Prozent.

Die ungeheuren „Kollateralschäden“ auch der deutschen Coronapolitik im Globalen Süden waren kein Thema auf der Veranstaltung in Fulda, mit keinem Wort. Dabei reden wir hier von vielen Millionen Toten, die nicht hätten sterben müssen, wären nicht Lieferketten unterbrochen, Tourist*innen ausgeblieben, Grenzen und Schulen geschlossen und sogar wichtige herkömmliche Impfungen wie gegen Masern ausgeblieben. Doch das war wie gesagt überhaupt nicht auf dem Radar dieser Koryphäen aus Fulda in Hessen im Herzen dieser tollen Republik.

Dabei hatte Prof. Schütz vom Sozialgericht Fulda gleich zu Beginn einer demokratischen und juristischen, ja gesamtgesellschaftlichen Kritik viel Futter gegeben, als er meinte, zu Recht sei 2017 die NPD vom Bundesverfassungsgericht nicht verboten worden, u.a. wegen GG Art. 20, Absatz 3, worin die Rechtsstaatlichkeit geregelt ist. Bekanntlich hatte das BVerfG geurteilt, dass V-Männer innerhalb der NPD ein rechtsstaatliches Verfahren unmöglich gemacht hätten. Doch Schütz interpretiert das nun so, dass ein funktionierendes Bundesverfassungsgericht die Coronapolitik der Bundesregierung wegen exakt diesem Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz hätte stoppen müssen. Die Coronapolitik war nicht rechtmäßig und nicht verfassungsmäßig. Doch das sei nicht passiert. Das war doch mal eine im besten Sinne polemische Steilvorlage!

Aber diese coole und interessante juristische Kritik wurde jedoch von niemand von der völlig überforderten Runde aufgegriffen. Insofern sprach Schütz in eine Leere – wäre da nicht das Publikum gewesen, das ihn großteils sehr wohl verstand und er bekam auch im Laufe der Veranstaltung den bedeutendsten Applaus. Hätte er einen auch nur ansatzweise ebenbürtigen Gesprächspartner (m/w/d) gehabt oder gleich zwei oder drei, hätte es eine interessante Veranstaltung werden können.

So bleibt sein jüngster Text in der Fuldaer Zeitung vom 10. Februar 2024, worin er schreibt:

Das in der ‚Corona-Zeit‘ zum Volkswissen gewordene ‚Verhältnismäßigkeitsprinzip‘ wurde genau für diese Differenzierung entwickelt. Damit steht das Recht schon im Grundsatz querdenkend zu den heutigen öffentlichen Diskussionen, die von einseitiger Verkürzung leben. Idealtypisch dafür war die ‚Pandemie‘: Handverlesene ‚Virologen‘ trafen Entscheidungen aus ihrer naturgemäß beschränkten Perspektive, die von den Regierungen unter dem Applaus nahezu sämtlicher Medien mit drakonischen Maßnahmen machtberauscht durchgesetzt wurden.

Screenshot, Fuldaer Zeitung, 10. Februar 2024

Er hatte weiter treffend in der Fuldaer Zeitung geschrieben:

Es genügte die spekulative oder falsche Behauptung, irgendeine Maßnahme sei sinnvoll (etwa die glatte Lüge, die Impfung bewirke den Schutz anderer). Es reichten hohle Schlagworte und die Erwähnung des zum legitimationslosen Alleinherrscher über die Freiheit des Individuums avancierten Herrn Drosten – damit blieb jede noch so absurde Freiheitsvernichtung bis hin zum Bundesverfassungsgericht unbeanstandet.

Und auch Aktivistinnen und Aktivisten gegen Nazis, die AfD, ja sogar die besonders kritischen und sensiblen, die auch gegen alle Formen des Antisemitismus, inklusive dem Antizionismus aktiv sind, haben bei der Corona-Pandemie jede irrationale, unwissenschaftliche und die Demokratie zerbröselnde „Maßnahme“ nicht nur bejubelt, sondern Kritiker*innen ganz pauschal ohne individuelle Evidenzprüfung als „Nazis“, „Schwurbler“ oder schlicht „Coronaleugner“ diffamiert. Das geht bis heute so.

Die Richterschaft in Deutschland hat in der Coronakrise komplett versagt. Das sagt Carsten Schütz, der ja selbst Richter ist, Direktor gar des Sozialgerichts in Fulda:

Doch gerade zu ‚Corona-Zeiten‘ wäre es richterliche Pflicht gewesen, zum Schutz des Einzelnen der Regierung Einhalt zu gebieten. Sie hatten die Aufgabe, die ‚Tyrannei der Mehrheit‘, die Alexis de Tocqueville bereits 1835 als Risiko der Demokratie beschrieben hat, zu verhindern. Dem haben sich die Richterinnen und Richter gerade dann, als sie wie nie zuvor gebraucht wurden, verweigert. Ausnahmen sind zu marginal, um dieses Urteil zu relativieren – oder sie werden gar wie in Thüringen strafrechtlich verfolgt.

 

 

Wie rechtsextrem ist die englische Anti-Lockdown-Szene?

Von Dr. phil. Clemens Heni, 1. Juli 2021

Es war seit März 2020 klar, dass die Linke nicht erkannt hat, was eine Gefahr ist, wo der Unterschied zwischen Fall- und Infektionssterblichkeit liegt und dass nie dagewesene Maßnahmen wie Lockdowns eine unermessliche Anzahl von Opfern, vor allem im Globalen Süden, den armen Ländern, fordern würden.

Dieses Versagen ist historisch und übertrifft noch um ein Vielfaches das erbärmliche Kooperieren mit dem Stalinismus und Post-Stalinismus der UdSSR, das Agitieren für China und den Maoismus oder andere autoritäre Regime und Bewegungen seit 1945, da diesmal auch viele neue Linke, die schon immer antistalinistisch und antimaoistisch waren, federführend mit dabei sind (Konkret, Titanic, jungle world, weiteste Teile des Journalismus, der NGOs und der akademischen Elite etc.).

Dieses komplette Versagen, das Aussetzen jeglichen kritischen journalistischen und politischen Verstandes machte es den Rechten sehr leicht, die Bühne der Coronapolitik-Kritik zu übernehmen. Viele aus dieser Szene mögen früher nicht politisch gewesen sein, doch nicht-politisch sein heißt politisch-sein: wer schweigt, affirmiert. Dazu kommen nicht wenige schon vor März 2020 bekannte linke wie rechte verschwörungsmythische sowie Querfront-, neu-rechte und rechtsextreme Agitator*innen, die von fast allen Plattformen der Coronapolitik-Kritik-Szene mehr oder weniger lautstark verlinkt, promotet oder gefeiert werden.

Zwei der bekanntesten Plattformen der Coronapolitik-Kritik in England und Deutschland stehen dafür exemplarisch: Lockdownsceptics und Achgut (Achse des Guten). Viele Fakten werden dort richtig erwähnt, die Coronamassenpanik kritisiert, aber der Grundtenor ist affirmativ, kapitalistisch, familienorientiert, patriarchal und zumal anti-marxistisch. Das zeigt sich exemplarisch bei Lockdownsceptics. Heute verlinkt die Seite zum Beispiel nicht nur Texte von oder über linke Wissenschaftler (und Regierungsberater) wie Professor Robert Dingwall (der sich aktuell sehr rational und scharf gegen das Impfen von Kindern gegen Corona und für eine natürliche Immunität ausspricht),

sondern auch von neuen Rechten beziehungsweise alten Konservativen:

Es geht in dem Artikel „London’s Freedom Fighters“ von Niall McCrae um Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende Demonstrant*innen, die allein letzten Samstag in London gegen die Lockdownpolitik von Boris Johnson demonstrierten. Am Ende habe die Demo eine Art „Woodstock“-Festival-Charakter mit live Musik gehabt. Solche kulturellen Muster, sich an ehemals linke Events wie Woodstock anzulehnen und rechts umzudeuten, sind von der Identitären Bewegung und insgesamt den Neuen Rechten seit vielen Jahren bekannt (bekanntester Protagonist war Henning Eichberg (1942-2017)).

Es ging in London auf der Großdemo (ähnlich den Querdenken-Demos hierzulande) für das sofortige Aufheben aller Lockdownmaßnahmen, gegen den Impfzwang (wie direkt oder indirekt immer) sowie gegen die unerträgliche Heuchelei des Establishments wie von Matt Hancock (bei uns ganz ähnlich Jens Spahn). Hancock hatte es Menschen verboten (wie bei uns), in Krankenhäuser Sterbende zu begleiten (Infektionsgefahr!), ja gar Angehörige zu Festlichkeiten zu treffen, aber selbst traf er eine Angestellte ziemlich abstandslos und küsste sie. Das wurde von einer Kamera im Büro aufgenommen und Hancock trat zurück, das wurde live auf der Demo bekannt gegeben. Großer Jubel, klar.

Doch der Autor, Niall McCrae ist ein neu-rechter Agitator.

Er ist nicht unbekannt in England. 2019 berichtete eine Seite über seine Attacke auf den Anti-Brexit und Pro-Europäische Union Aktivisten Femi Oluwole, den er als „fucking traitor“ diffamierte und mit einer britischen Fahne angriff:

Auch das von mir schon zitierte und kritisierte TalkRadio hat Femi Oluwole wegen seiner Kritik am nationalistischen Brexit-Kurs im Visier und beleidigt bzw. versucht, ihn lächerlich zu machen, da er ein „zu kleines T-Shirt“ während eines Gesprächs mit dem Radiosender angehabt hätte, wie Mike Graham seinem Ressentiment freien Lauf ließ.

Es ist eine ganz typische Taktik der Neuen Rechten, z.B. in Listen von Links oder in der Literatur sehr krasse rassistische, sexistische, antisemitische, nationalistische etc. Texte mit problemlosen oder kritischen Texten zu vermischen, wie hier in der Linkliste von Lockdownsceptics, wo sowohl Dingwall, der Anti-Brexit Linke, mit einem harcore Rechten und Brexit-Nationalisten wie McCrae verlinkt wird.

Wenn man die Seite „The European Conservative“ sich ansieht, hat McCrae vor seinem Artikel zu den Londoner „Freiheitskämpfern“ vom 30. Juni 2021 zuletzt am 16. September 2019 einen Artikel publiziert. Und dieser Text zeigt, für was für eine Ideologie McCrae steht. Es geht ihm um den Kampf gegen den „kulturellen Marxismus„, ein antisemitisches Wort, das als dog whistle wirkt, auch in Deutschland:

Literally, cultural Marxism arose from the shift from the economic determinism of Karl Marx to the postmodern New Left project. As policies to eradicate faith, folklore, and family loyalty floundered in communist states, Marxists realised that nothing changes unless the underlying culture is changed. Guidance for this reorientation came from the ‘critical theory’ of the Frankfurt School, many of whose theorists— including Max Horkheimer, Theodor Adorno, and Herbert Marcuse — were Jews who fled Nazi persecution in the 1930s. But their work was Marxist (and anti-religious).

Der Ton ist ganz typisch für konservative, reaktionäre wie neu-rechte Ideologie: Juden und Marxisten seien gegen die Familie, gegen Folklore und den (christlichen) Glauben. Ganz typisch ist die perfide Betonung, dass die Juden Horkheimer, Adorno und Marcuse zwar vor den Nazis fliehen mussten, ABER dass ihr Werk „marxistisch“ und „anti-religiös“ gewesen sei. Sprich: Eigentlich hatten die Nazis doch Recht. Denn was anderes war die nationalsozialistische Ideologie als die Hetze gegen „den“ Juden, der „zersetzend“ sei, und zwar die deutsche Familienidylle oder Folklore „zersetzend“?

Natürlich ist McCrae kein Nazi, er meint es gut, ist gegen den Lockdown, für den Brexit und nur nebenbei auch gegen Juden wie George Soros, der als Multimilliardär ein besonders hinterhältiger „Marxist“ (!) sei:

Mega-financier George Soros and his Open Society organisation flout national sovereignty to prepare the way for a post-democratic global government. Arguably the world’s leading cultural (but certainly not classic) Marxist, Soros made vast wealth by betting against the pound when the UK was forced out of the European Exchange Rate Mechanism in 1992, and billions more in the Far East financial crisis of 1997.

Dass die Agitation gegen eine „Weltregierung“ oder codiert gegen das ‚Finanzkapital‘ genuin antisemitisch grundiert ist, speziell seit den 1920er Jahren in Deutschland, das kommt hier nicht vor. Soros ist eine dog whistle nicht nur für ungarische Nationalisten und Antisemiten, die ihren Rassismus mit dem antijüdischen Ressentiment koppeln.

Ich habe im Februar 2020 über deutsche Vertreter im Mainstream geschrieben, die auch vor dem „kulturellen Marxismus“ warnen („Die geistigen Brüder des Neonazis in Hanau: AfD, Merkelhasser, Don Alphonsos Agitation gegen „Kulturmarxismus“).

McCraes Co-Autor ist David Kurten von der extrem rechten UKIP Party, die nicht nur turbokapitalistisch, Pro-Brexit, sondern auch im Umfeld von antisemitischen Verschwörungswahnwichteln aktiv ist. Die Beziehung von UKIP und dem Verschwörungsmythen verbreitenden Alex Jones aus den USA hat der Labour Politiker John Mann – der  vor Jahren die Kritik von Prof. Dovid Katz und mir an der Holocaust verharmlosenden „Double Genocide“- und Rot=Braun-Ideologie der Prager Deklaration (Erstunterzeichner Joachim Gauck) in einem Workshop auf einer der größten Konferenzen gegen Antisemitismus, dem Global Forum for Combating Antisemitism in Jerusalem, unterstützte – 2018 scharf attackiert:

Jewish organisations have accused Ukip of embracing antisemitic conspiracy theories through the party’s links to a far-right US website that regularly attacks George Soros and has argued that the Pittsburgh synagogue attack could have been instigated by the US government.

The Board of Deputies of British Jews and the Community Security Trust (CST) has called on Ukip to dissociate itself from Infowars [and Alex Jones, CH] after it brought in one of the website’s editors as a member and used him to promote the party to younger people.

John Mann, the Labour MP who chairs the all-party parliamentary group against antisemitism, said Infowars was a “vile and dangerous” organisation.

McCrae betont in seiner regelrechten Hassrede gegen Marxismus, die Kritische Theorie und den „kulturellen Marxismus“ (früher hieß das „Judeo-Bolschewismus“), dass Antonio Gramsci mehr Einfluss in England und Großbritannien hätte als die Frankfurter Schule bzw. die Kritische Theorie. Aber beide seien eben gegen den Status Quo gerichtet und bekämpfenswert.

Wie z.B. Achgut promotet auch McCrae den patriarchalen Superstar Jordan Peterson. Achgut promotet Hans-Georg Maaßen, der das antisemitische Wort vom „Globalismus“ verwendet und gegen „Globalisten und Sozialisten“ Stimmung macht. Ich habe am 12. Mai 2021 darüber geschrieben.

Es ist natürlich lustig, sich mit England zu freuen, wenn sie die Deutschen im Fußball schlagen – und nicht alle Engländer sind UKIP-Rechte, das ist eine kleine, aber üble Minderheit. Aber in der Lockdownsceptics-Szene flutscht so ein Autor wie McCrae eben einfach so durch oder ist elementarer Teil davon, das ist unklar.

Wer jedoch Volksmusik, Anti-Feminismus, Familienidylle und Kapitalismus mag, hat viel mehr Gemeinsamkeiten mit den Lockdown-Fanatiker*innen, als ihm oder ihr lieb sein mag.

Wer vom Antisemitismus der Feinde des „kulturellen Marxismus“ nicht reden möchte, soll vom Totalitarismus der Coronapolitik schweigen.

 

 

Hoch die internationale Solidarität – von antisemitischen Kundgebungen jedoch sollte man nicht auch noch im Livestream berichten

Von Dr. phil. Clemens Heni, 6. April 2021

Es gibt kaum eine Parole, die heute passender wäre als die beliebteste Parole der linxradikalen Szene seit Jahrzehnten:

Hoch die internationale Solidarität!

Gerade angesichts der katastrophalen Konsequenzen der irrationalen Corona-Politik, der „Kollateralschäden“, wie es verwaltungsdeutsch heißt, den schon jetzt Millionen von Toten im Globalen Süden, die nicht allgemein an den Folgen kapitalistischer Weltwirtschaft, sondern ganz spezifisch an den Folgen der westlichen Lockdownpolitik gestorben sind und stündlich sterben, wäre dieser Slogan so wichtig wie schon lange nicht mehr.

Das ist genau das, was die Epidemiologin und Professorin an der Universität Oxford in England Sunetra Gupta seit einem Jahr einfordert: internationale Solidarität. Das wäre ein Public Health-Ansatz, der sich alle Auswirkungen der Politik auf die hiesige wie dortige Bevölkerung vergegenwärtigt.

Gupta und ihre Kollegen Prof. Jay Bhattacharya von der Stanford University sowie Prof. Martin Kulldorff von der Harvard University betonen auch, dass die Coronapolitik der herrschenden kapitalistischen Länder, also vor allem Europas und Amerikas (von Japan, Südkorea und Australien zu schweigen) auch nur die Reichen schützt und die Arbeiterklasse schädigt.

Das zynische Spiel läuft seit März 2020 so ab: Die armen Menschen, die häufig in den Innenstädten leben und die die schlecht bezahlten Jobs haben, als Verkäuferin, Fabrikarbeiter*innen, LKW-Fahrer, Schlachter, Taxifahrer, Pflegekraft, Putzkraft, Haushaltshilfe bei den Alten, Bauarbeiter, Securities bei Atomkraftwerken und Umschaltwerken, Kläranlagenmitarbeiter*innen, Wasserwirtschaftsarbeiter*innen, bei der Müllabfuhr und Kanalreinigung, als Auslieferer, als Busfahrer*innen, die alle jene zur Arbeit bringen, oder als Fahrstuhlreparateure, Klempner und Internettechniker etc., die müssen immer arbeiten – sonst würde selbst bei ZeroCovid-FanatikerInnen das Licht ausgehen -, all diese Menschen müssen also um jeden Preis arbeiten. Sie trugen und tragen die Last, sich mit Corona anzustecken, was mit und ohne Maske exakt genauso oft passiert, wie eine – fast die einzige ihrer Art – Goldstandard-Studie aus Dänemark letzten Sommer gezeigt hat. Die eine Gruppe hatte wochenlang eine Maske auf, die Kontrollgruppe nicht. Am Ende fanden sich fast genauso wenige mit Corona in Berührung gekommene Menschen in beiden Gruppen.

Diese Menschen aus der Arbeiterklasse mussten also arbeiten und steckten sich mehr oder weniger häufig, aber ganz sicher häufiger als die hoch dotierten ARD-Journalist*innen oder Universitätsangestellten und die zynischen Home Office- Protagonist*innen wie Günther Jauch, Tatort-Schauspieler*innen und Musiker wie Udo Lindenberg mit dem Virus SARS-Cov-2 an.

Exakt darauf zielen Gupta, Bhattacharya und Kulldorff mit ihrer Kritik ab: Sie sagen, faktenbasiert, dass es viel solidarischer gewesen wäre und rationaler, wenn die gesamte Gesellschaft offen geblieben wäre, alle Menschen unter 65, also im typischen Alter, wo man zur Arbeit geht, gearbeitet hätten und sehr schnell eine Herdenimmunität sich eingestellt hätte, weil man ja bereits im Frühjahr 2020 wusste, dass weit über 80 Prozent von Corona gar nichts oder kaum etwas merken.

Für kranke und sehr alte Menschen kann Corona gefährlich werden. Und es wäre von Anfang an darum gegangen, diese Menschen gezielt zu schützen – und nicht wegzusperren, wie das bis heute passiert.

In einem aktuellen Artikel betonen Bhattacharya und Kulldorff, dass im Vergleich von Kalifornien mit einer typischen Lockdownpolitik und Florida mit einer Anti-Lockdownpolitik – wo es seit September 2020 sogar keine Maskenpflicht mehr gibt und Restaurants und alle Läden etc. geöffnet sind -, Florida nicht nur weniger Tote insgesamt zu beklagen hat, sondern die Verteilung weniger rassistisch und klassenmäßig zu sein scheint.

Es liegt also wohl nicht an den Genen, dass in Los Angeles viel mehr Hispanics an Corona starben als Weiße, weil in Florida der Unterschied zwischen Weißen, Schwarzen und Hispanics kaum zu erkennen ist. Natürlich muss man sich als Europäer*in an diese Unterscheidung der Menschen etwas irritiert gewöhnen, aber das ist in den USA Usus:

Data from Los Angeles County, where a large fraction of COVID cases in California has happened, put this fact in stark relief. Through March 28, in the wealthiest parts of LA County (those with less than 10 percent of households in poverty), the age-adjusted death rate with COVID-19 was 119 people per 100,000 population. As we look in poorer and poorer areas, the death rate mounts: areas with more than 30 percent of households in poverty have faced a death rate of 394 people per 100,000—a death rate more than three times higher. Hispanics in LA have borne the worst of the pandemic, with a death rate of 338 per 100,000. By contrast, Black, Asian, and White residents have experienced 188, 143, and 119 deaths per 100,000, respectively. The California lockdowns are a form of trickle-down epidemiology. In Florida, by contrast, there is little difference among races in COVID-related death rates throughout the epidemic, with the Black and Hispanic populations dying at lower rates than the White population.

Das große Versagen fast aller „Linken“ in den USA und Europa besteht nun darin, dass sie egoistisch sich um ihre eigene Haut fürchten, aber sowohl die Situation für die Arbeiterklasse hier und jener Milliarden Menschen im Globalen Süden ignorieren. Die Linken haben die internationale Solidarität aufgekündigt. Das ist ein Skandal.

Ein anderer und komplementärer Skandal ist das deutsch-nationale Gerede, das gestern in Berlin auf einer Kundgebung von vor Ressentiment gegen die Coronapolitik triefenden Agitator*innen auf dem Platz des 18. März, direkt hinter dem Brandenburger Tor in Berlin, zu hören war.

Dort sprach unter anderem der Herausgeber des rechtsextremen Compact Magazins Jürgen Elsässer. Er ist ein Hauptvertreter der sog. Querfront, die also rechtsextreme Ideologeme als irgendwie auch links tarnt und beide Richtungen zu verknüpfen sucht. Dazu gehört insbesondere ein antisemitischer Antikapitalismus. In seiner Rede hetzte Elsässer gegen „Bill Gates, George Soros, Klaus Schwab, Jeff Bezos und Mark Zuckerberg“, die dabei seien, „uns auszubeuten und zu entmenschen“ (!). Die antisemitische Verschwörungsideologie zeigt sich in der dog whistle „George Soros“ und dem Begriff „Geldelite“.

Ein anderer Redner fabulierte in gleicher antisemitischer Diktion davon, dass „dank der Bilderberger“ jetzt „alle Fitnessstudios geschlossen seien“.

Die antisemitische Ideologie der Bilderberger (die Bilderberg-Konferenzen) bezieht sich auf regelmäßige Treffen von einer elitären Gruppe, die zu Treffen von Verschwörern herbei halluziniert werden.

In jedem dieser Verschwörungsideologeme steckt ein antisemitisches Motiv und ein antisemitischer Kern: Eine kleine Elite plant demnach Böses und die Welt wird so beherrscht und gar versucht, die Menschen zu „entmenschen“.

Der gleiche Redner sprach auch davon: „Die schlimmsten Worte in diesem Land seit 2015 sind ‚Wir schaffen das'“ und „Das schlimmste Symbol auf dem Planeten ist Merkels Raute“. Hier sieht man also die Mischung aus antisemitischer Verschwörungsideologie und rassistischem Deutschnationalismus ganz exemplarisch – und diese toxische Mischung steht durchaus für relevante Teile des Milieus, das die Corona-Politik kritisiert, auch wenn die Querdenken-Bewegung sich in Ansätzen, jedenfalls öffentlich, davon abhebt. Doch über die Person Samuel Eckert ist der Querdenken Gründer Michael Ballweg auch mit dem organisierten Rechtsextremismus um Jürgen Elsässer (oder auch dem Verschwörungsideologen Daniel Ganser und anderen 9/11-Leugner*innen) verbunden, wie ich zeigte.

Schließlich sprach dann noch eine offenbar deutsch-griechische Rednerin, die betonte, dass sie „einen Migrationshintergrund“ habe, aber in Deutschland geboren sei: „Ich bin Deutsche und verdammt stolz darauf“. Nun, wer stolz ist, Deutsche zu sein, hat offenbar gar keine positiven Eigenschaften vorzuweisen.

Warum erzähle ich von dieser gestrigen Kundgebung, auf der ich logischerweise gar nicht war (als Antifa)? Weil der Journalist Boris Reitschuster offenbar wegen eines Livestreams oder eines Videos von bzw. über diese Kundgebung jetzt wiederum von Youtube für eine Woche gesperrt wurde.

Er war schon am letzten Wochenende vorübergehend gesperrt worden, wegen eines Videos und Interviews von einer ganz anders gelagerten Anti-Coronapolitik bzw. Pro-Grundrechte Demonstration in Stuttgart am Samstag, 3. April 2021.

Diese Sperrung war in der Tat schwer nachvollziehbar, wobei ohnehin in Frage steht, mit welchem Recht ein privates Unternehmen manche Sachen löscht und andere nicht. Strafrechtlich relevante Inhalte müssen gelöscht werden, das ist klar. Sind Videos, die behaupten, Corona sei eine „Jahrhundertepidemie“ seriös? Sind Videos seriös, die von einer Sterblichkeit von 4,3 Prozent fabulieren? Solche Videos finden Sie aber ohne Ende bei Youtube.

Gab es Holocaustleugnung oder eine Leugnung des Virus an und für sich auf der Demo in Stuttgart oder in Interviews? War das bei den Videos aus Stuttgart der Fall? Offenbar doch nicht, denn der Kanal von Reitschuster (der wohl über 200.000 Abonnenten hat) war am Sonntag wieder online. Wer bei Youtube ändert in so kurzer Zeit seine Meinung? Wäre das bei eindeutig strafrechtlichem Inhalt nachvollziehbar?

Von diesem Kanal berichtet Boris Reitschuster auch regelmäßig von der Bundespressekonferenz in Berlin, wo ja regelmäßig Regierungsvertreter oder Vertreter des Robert Koch-Instituts befragt werden können (und selten inhaltsreich antworten).

Reitschuster bezeichnet die antisemitische Ideologie und den Rechtsextremismus, Rassismus und Deutsch-Nationalismus der Kundgebung am Brandenburger Tor vom 5. April 2021 euphemisierend als „starken Tobak“, betont, dass es schade sei, dass keine großen Medien dort gewesen seien und es deshalb „umso wichtiger“ gewesen sei, „dass jemand hingeht und das Ganze dokumentiert“.

Nein, Boris Reitschuster, das ist es nicht. Es ist nicht wichtig, sich antisemitische und rechtsextreme Ideologeme und Hetze anzuhören. Antisemitismus ist für Juden sehr gefährlich und aus diesen zitierten Worten spricht Antisemitismus. Genau wegen solcher Veranstaltungen gibt es die Antifa, die solche Nazi-Events zu verhindern oder stören versucht. Nicht jeder Antifa ist ein ZeroCovid-Schwachkopf.

Erst heute bekam ich wieder als Teil einer mehr oder weniger willkürlich zusammengesetzten kleinen Mailinggruppe von einem Kriminellen (der auch andere Vertreter der Rechtsextremismusforschung in die Adresszeile kopierte) eine Mail von einem Holocaustleugner und Neonazi, der gegen Juden, das Judentum, Israel und den Zionismus hetzt. Zugleich geht es in dieser Hass-Mail um 2015, Merkel, Einwanderung, eine „deutsche“ 3-Kind-Politik, um den armen „Iran“, der am Pranger der bösen Juden stehe und so weiter und so fort. Die Mail fordert das Einreissen aller Holocaustdenkmäler. Das erinnert an Björn Höcke und die AfD, Höcke ist schon mit Elsässer aufgetreten.

Solche Nazis wie jener Mailschreiber haben linke Coronapolitik-Kritiker wie mich im Visier. Das wundert mich nicht.

Das ist aber exakt so ein Neonazi, der anonym solche Hetze verbreitet, wie sie weniger anonym und in anderer Sprache von manchen Rednern gestern in Berlin am Brandenburger Tor zu hören war. Ich hatte schon mal auf Reitschuster wegen seiner Nähe zu Rednerinnen, die sehr wohl die QAnon-Verschwörungsideologie der pädophilen Hillary Clinton etc. zu vertreten scheinen, hingewiesen.*

So eine Hetze wie gestern in Berlin muss man nicht dokumentieren oder gar live streamen. Nicht zuletzt das Portal Achgut hat mit Reitschuster die Agitation gegen 2015 und das Hereinlassen von Flüchtlingen, die primär aus den Bürgerkriegsländern Syrien und Irak geflohen waren, gemein.

Schließlich wurde am 5. April in Berlin das gleiche skandiert wie in Stuttgart am 3. April 2021: „Frieden Freiheit keine Diktatur“, was arg inhaltsleere Phrasen sind, was hieß vor März 2020 schon „Freiheit“, was „Frieden“? Und wer so deutschnational, rassistisch und antisemitisch agitiert, hat keinen positiven Begriff von Frieden, Freiheit und ist nicht gegen Totalitarismus – nur halt nicht für den Corona-Totalitarismus, aber dafür z.B. einen 3-Kind-Deutschland-den-Deutschen-Totalitarismus.

Eine seriöse Coronakritik jedoch hat seit 2020 demokratische Kritik, massive Kritik, am nicht evidenzbasierten und nicht demokratisch legitimierten Kurs von Merkel – aber wir linken Kritiker der Coronapolitik haben 2015 ff. Merkel gegen die Nazis in Schutz genommen. Das ist der Unterschied ums Ganze.

Bei aller Kritik an gewissen postkolonialen Tropen, die ich dort schon kritisiert habe, bringt das Blog Corodok die Grundrichtung einer linken Coronapolitik-Kritik auf den kritischen Punkt:

Es wimmelt von Infos und fake news in allen Medien.

Hier finden sich veröffentlichte, aber irgendwie wenig sichtbare Informationen.
Nein, keine in der Art:
Verschwörer in der Wall Street oder im Mossad oder beim Bilderberg hätten ein Virus in die Welt gesetzt, um sich diese untertan zu machen.
Keine rassistischen Dummheiten wie die vom ‚chinesischen Virus‘.
Keine Behauptungen, wir hätten es gerade mit einem simplen Schnupfen zu tun.

Sondern solche, die helfen, einen kritischen Abstand zu regierungsamtlichen Verlautbarungen zu halten.

Denn erinnern wir uns: Es sind die gleichen Experten und Regierenden, die gestern unser Gesundheitssystem planmäßig (nicht etwa nur fahrlässig) ruiniert haben, die uns jetzt vorschreiben, was richtig und was verboten ist. Und Vorsicht: Die Grundhaltung ist links, auch wenn hier merkwürdige Positionen in der Linken befragt werden.

 

 

  • Clemens Heni (2021): Antisemitismus im Zeitalter von Corona (BICSA Working Paper, Januar 2021 – Jubiläum, 10 Jahre BICSA), 31. Januar 2021
    „Die beiden Initiatoren Gunnar Kaiser und Milosz Matuschek haben im September 2020 einen Appell publiziert, der sich gegen die ‚Cancel Culture‘ wendet. Aufhänger war u.a. die Ausladung der österreichischen Kabarettistin Lisa Eckhardt von einem Hamburger Kulturfestival. Doch der eigentliche Anlass ist ein typischer neu-rechter Ansatz: Alle sollen zu jedem Thema immer und überall sprechen dürfen. Es dürfe keine Sprechverbote geben. In dem Appell ‚Für freie Debattenräume‘ heißt es: (…)Zu den Unterzeichnern des Aufrufs gehören bekannte konservative, rechte, neu-rechte und extreme Rechte, liberale und manche linke Publizist*innen und Aktivist*innen, von Dieter Nuhr (ARD) über Matthias Matussek bis hin zu Rüdiger Safranski sind viele bekannte Namen mit dabei. Matuschek publizierte am 22. Januar 2021 einen Text zu aktuellen Formen des Widerstands gegen die Coronapolitik.So wichtig grundsätzlich der Widerstand gegen diese menschenfeindliche Politik ist, so bezeichnend ist, dass er ein Video des Journalisten Boris Reitschuster vom 18.01.2021 teilt, in dem eine Frau zu sehen ist, die in Bayern (Fürth) eine „Spontandemonstration“ zuerst ganz alleine durchführte und mit einem Megafon sprach. Nach wenigen Minuten kam sie auf die Polizei zu sprechen, die sich doch besser um die vielen ‚Pädophilen‘ kümmern sollte, die frei herumliefen. Das erinnert sehr stark an rechtsextremes Vokabular und an die Verschwörungsideologie der QAnon-Bewegung. Reitschuster selbst hat eine Nähe zu reaktionären und homophoben politischen Kreisen, wie sich anlässlich einer Kundgebung im September 2020 in Berlin zeigte.[152]

 

Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus (Rezension zu Norbert Frei u.a.)

Von Dr. phil. Clemens Heni, 13. November 2019

Die ganze Rezension auf dem „Portal für Politikwissenschaft“ lesen.

„Dieser auf Initiative des Verlags entstandene Band von Norbert Frei und seinen Koautor*innen besteht aus acht Kapiteln, von denen jeder Autor und jede Autorin zwei verfasst hat, sowie den beiden gemeinsam geschriebenen einführenden und abschließenden Abschnitten.

(…)

Zentrale Elemente des neuen Nationalismus wie das „Sommermärchen“ von 2006 oder die höchst problematische Rolle der Massenmedien im Umgang mit der AfD wie beispielsweise in Talkshows in ARD und ZDF werden in dem Band nicht touchiert.

Unter dem Strich merkt man dem Buch an, dass Frei vom Ullstein Verlag zweimal gebeten werden musste, es auf den Weg zu bringen. Einzig Tändler hat einige interessante Abschnitte, die auch für die politikwissenschaftliche Forschung zur Neuen Rechten und dem erstarkenden Nationalismus relevant sind. Entgegen den Autor*innen geht es meines Erachtens gerade nicht um die richtige „Dosis“ an „Patriotismus“ ( 216), sondern um eine klare begriffliche und ideologiekritische Analyse und Kritik gerade auch des Begriffs „Patriotismus“ in Deutschland, um dem Nationalismus in die Schranken zu weisen. Die vier Autor*innen wenden sich gegen die „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ (207), wie sie von Björn Höcke und der AfD vertreten wird. Dabei unterstützen sie doch nicht weniger eine solche erinnerungspolitische Wende, wenn sie, wie gezeigt, Rot und Braun analogisieren.“

 

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Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus
Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus
Ullstein Buchverlage
Berlin

Norbert Frei und seine Ko-Autor*innen sehen die Gefahr, dass „Deutschland derzeit von rechts zusammenzuwachsen“ drohe. Viele Positionen von AfD, Pegida und der Neuen Rechten seien in der Mitte der Gesellschaft angekommen und die liberale Demokratie sei durch eine neue nationalistische Formation bedroht. Mit dem Buch sollen die Kontinuitäten rechten Denkens seit 1945 und dann wieder seit 1989/90 aufgezeigt werden. Es geht dabei jedoch weniger, wie Rezensent Clemens Heni anmerkt, um die heutige Neue Rechte und deren zeithistorische Einordnung, sondern einzelne Kapitel beleuchten die Adenauerzeit, die DDR sowie rassistische Umtriebe in den 1970er und 1990er-Jahren.

 

Von Walser (1998) bis Özdemir (2018): Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Uni Tübingen, die „Rede des Jahres“, deutscher Antisemitismus und Nationalismus

Von Dr. Clemens Heni, 13. Dezember 2018

Der Autor war vom Sommersemester 1991 bis einschließlich dem Sommersemester 1996 Student an der Uni Tübingen (Philosophie, Geschichte, Empirische Kulturwissensschaft (EKW) und Politikwissenschaft) und wohnte u.a. im Annette Kade Wohnheim (sehr günstig auf 8,95 qm, plus 1qm Vorraum mit Waschbecken und einem weiteren Bücherzimmer mit 1qm), schräg gegenüber des Instituts für Politikwissenschaft, wo der alte Nazi (SS-Mann) Theodor Eschenburg noch ein Arbeitszimmer hatte. 1996 während der Goldhagen-Debatte meinte eine Kommilitonin, die „rote Uni Bremen“ sei doch wohl besser für ihn und für die Uni Tübingen sei das auch besser. Und so kam es 😉

 

Im Dezember 2018 gab eine Jury des Seminars für Allgemeine Rhetorik der Eberhard Karls Universität Tübingen bekannt, dass die von ihr verliehene Auszeichnung für die „Rede des Jahres“ 2018 an den Politiker Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) geht.[i] Seine Rede im Bundestag am 22. Februar 2018 habe sich mit „ciceronianischer Wucht“ gegen die Alternative für Deutschland (AfD) und deren Agitation im Bundestag gewandt.

Doch Özdemir hat in dieser Rede gerade nicht nur die Neuen Rechten oder die neuen Nazis im Bundestag attackiert, sondern vor allem selbst massiv nationalistische und verschwörungsmythische Topoi gesetzt. Das hatte ich als Teil eines längeren Textes am 7. März 2018 analysiert, unten gebe ich jenen Abschnitt des Textes wieder, der sich mit Özdemir befasst.

Übrigens wird diese anmaßende Auszeichnung einer „Rede des Jahres“ seit 20 Jahren verliehen. Erster Preisträger war Martin Walser mit seiner berüchtigten Paulskirchenrede, die als eine der antisemitischsten Reden in die Geschichte der Bundesrepublik einging.[ii]

Die Jury (Prof. Dr. Gert Ueding) sagte damals über Walsers Rede:

Zur „Rede des Jahres 1998“ hat das Institut für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen Martin Walsers Frankfurter Friedenspreisrede gewählt, weil sie in der Tradition der großen humanistischen Beredsamkeit in Deutschland für die ideologisch verfestigten Meinungsschranken unserer Mediengesellschaft die Augen öffnet, sich gegen das organisierte Zerrbild von Gewissen, Moral, Schuldbewußtsein wehrt, das in Grausamkeit gegen die Opfer umschlägt, und schließlich für Vertrauen und Hoffnung in die Zukunft plädiert, ohne die Kraft zur Trauer zu schwächen.

Martin Walser hat mit selbstkritischen und ironischen Untertönen den Meinungsbetrieb in seiner manchmal gutgläubigen, doch meist zynischen Doppelbödigkeit aufgedeckt und als Instrument der ideologischen Macht­ausübung, als profitables Mediengeschäft und intellektuelle Inszenierung erkennbar gemacht. Die maßlose und hämische Kritik an dieser in rhetorischem Ethos, schlüssiger Argumentation und leidenschaftlichem Engagement für eine menschenwürdige Zukunft vorbildlichen Rede bestätigt deren Thesen so eindrucksvoll wie bedrückend.“

 

Entgegen Uedings und der Uni Tübingens hoher Meinung von Martin Walser gab es auch seriöse und kritische, gegen den Antisemitismus gerichtete Analysen wie jene in der Doktorarbeit des Politologen Lars Rensmann:

„Auschwitz gerät von der Chiffre für das unvorstellbare Verbrechen zur bloßen intellektuellen ‚Vorhaltung‘ gegenüber den Deutschen: ‚Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird.‘ Nicht der Holocaust, die Grausamkeit gegenüber Juden, sondern, im Gegenteil, ein an den Deutschen verübter ‚grausame[r] Erinnerungsdienst‘ der ‚Intellektuellen‘, die den Terror erinnern, wird als Gewalt projiziert; die Erinnerung an den Schrecken an sich wird von Walser abgewehrt.“[iii]

Rensmann resümiert:

„Nach den ‚Walser-Debatten‘ lässt sich jedoch begründet eine zunehmend erodierende Grenzziehung im politischen Diskurs gegenüber erinnerungsabwehrenden Formen des Antisemitismus als ‚legitime Meinungsäußerung‘ befürchten. Seit der Walser-Debatte glauben die antisemitischen Briefeschreiber in der Bundesrepublik kaum mehr anonym bleiben zu müssen, weil sie, nicht ganz zu unrecht, ihre Ansichten und Drohungen wieder für salonfähig oder zumindest für legitim und akzeptabel halten. Das antisemitische Judenbild, das Walser wie auch [Rudolf] Augstein und andere in der politischen Öffentlichkeit rehabilitieren und am Leben erhalten, stößt gesellschaftlich zumindest kaum auf energische Ablehnung. Die Diskussion bezeugt insofern bisher einen ersten Höhepunkt affektiver, gegen Juden gerichteter öffentlicher Tabubrüche in der politischen Kultur der ‚Berliner Republik‘, dessen Folgen und Effekte nachwirken und in den nachkommenden Debatten Widerhall finden.“[iv]

Wenn Özdemir seinen nationalistischen Eifer vom Februar 2018 wieder gutmachen möchte, könnte er nun diese Auszeichnung ablehnen. Das wird Özdemir aber ganz sicher nicht tun, dafür ist er viel zu stolz auf dieses Land.

Cem Özdemir und die „gute“ Heimat, 2018

Es gibt kaum einen besseren Indikator für die politische Kultur in diesem Land, wenige Monate nach dem Einzug der rechtsextremen AfD in den Deutschen Bundestag, als die Rede des Grünen Cem Özdemir in jenem Parlament am 22. Februar 2018 und die überschwängliche Begeisterung derer, die sich im Anti-AfD-Lager befinden. Aufhänger für die neuen Nazis im Bundestag waren vorgeblich „antideutsche“ Texte des Journalisten Deniz Yücel, der dank des Einsatzes der Bundesregierung aus dem Gefängnis in der Türkei entlassen wurde. Zu Recht attackierte Özdemir in seiner Wutrede am 22. Februar 2018[v] die AfD als „Rassisten“, attackierte lautstark die rassistische Hetze gegen ihn, den die AfD am liebsten „abschieben“ wolle, während er aber natürlich ein Deutscher aus „Bad Urach“ ist. Das ist alles sehr gut und treffend. Özdemir sagte aber auch:

„Wie kann jemand, der Deutschland, der unsere gemeinsame Heimat so verachtet, wie Sie es tun, darüber bestimmen, wer Deutscher ist und wer nicht Deutscher ist? (…) Sie verachten alles, wofür dieses Land in der ganzen Welt geachtet und respektiert wird. Dazu gehört beispielsweise unsere Erinnerungskultur, auf die ich als Bürger dieses Landes stolz bin. (…) Dazu gehört – das muss ich schon einmal sagen; da fühle ich mich auch als Fußballfan persönlich angesprochen – unsere großartige Nationalmannschaft. Wenn Sie ehrlich sind: Sie drücken doch den Russen die Daumen und nicht unserer deutschen Nationalmannschaft. Geben Sie es doch zu!“

Was macht Özdemir mit jenen Antifas oder Antideutschen, die „unsere Heimat“ tatsächlich verachten? Sind Antifas oder Antideutsche keine Menschen? Der Logik zufolge verabscheut Özdemir Kritik an den deutschen Zuständen so sehr, wie das die AfD verabscheut und er kategorisiert völlig realitätsblind die AfD in das Lager der Heimatfeinde.

Gerade den aggressivsten Nationalisten, die jemals in solch einer Fraktionsstärke im Bundestag gesessen haben, vorzuwerfen, nicht deutsch-national genug zu sein, ist völliger Blödsinn. Es ist eine absurde Idee und wird exakt auf jene zurückschlagen, mit schwarzrotgoldenem Fanatismus, wie wir ihn namentlich und verschärft seit dem ach-so-zarten „Sommermärchen“ 2006 alle zwei Jahre erleben, die eben tatsächlich nicht für dieses Land mitfiebern, sondern für seine sportlichen Konkurrenten zum Beispiel, oder denen das schnuppe ist. Und das Argument, quasi „Volksverräter“ zu sein, kann bei Nazis nur dazu führen, dass bei nächster Gelegenheit die Anti-AfDler mal wieder als solche bezeichnet werden. Heimat ist auch für Neonazis von allerhöchster Bedeutung.[vi]

Selbstredend hat Özdemir recht, wenn er sich gegen die Hetze gegen das Holocaustmahnmal aus dem Munde von Björn Höcke wendet, was aber wiederum gar nichts darüber aussagt, was für eine stolzdeutsche Ideologie in diesem Mahnmal, zu dem man „gerne gehen soll“ (Gerhard Schröder), und wieviel Degussa-Material darin steckt.

Warum Stolz auf die deutsche Erinnerungskultur? Eine „Kultur“, die es gar nicht ohne die sechs Millionen von Deutschen ermordeten Juden geben könnte?

Stolz zudem auf die Verdrängung der deutschen Verbrechen bis in die 1980er Jahre hinein und dann das unerträgliche Eingemeinden der jüdischen Opfer mit SS-Tätern in Bitburg durch Bundeskanzler Helmut Kohl und später die Trivialisierung des Holocaust durch Typen wie den späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck, der den Kommunismus wie den Nationalsozialismus als ähnlich schrecklich empfindet und Beiträge in den Holocaust verharmlosenden Büchern wie „Roter Holocaust“ (Herausgeber war der Historiker Horst Möller, 1998) publizierte und 2008 die aus dem gleichen totalitarismustheoretischen und Auschwitz nivellierenden Eichenholz geschnitzte Prager Deklaration unterschrieb? Stolz auf ein Land, das derzeit Phänomene erlebt wie Dorfbevölkerungen in Rheinland-Pfalz oder in Niedersachsen, die mit Hitlerglocken oder Nazi-Glocken in ihren Kirchen kein Problem haben, ja stolz auf die lange Tradition sind?

Das sind nur einige wenige Elemente der Kritik, warum Özdemir einen großen Fehler begeht, wenn er ernsthaft meint, Nazis rechts überholen zu können mit noch mehr Stolz auf Deutschland und namentlich auf dessen „So geh’n die Deutschen“[vii] -Fußballnationalmannschaft (2014). Das „Sommermärchen“ 2006 war absolut grundlegend für den schwarzrotgoldenen Wahnsinn von Pegida im Oktober 2014 bis zum Einzug der AfD in den Bundestag und bis heute.[viii] Dabei hatte es so wundervolle Momente wie das Vorrundenaus der Deutschen bei der WM 2018 zuvor bei Fußballweltmeisterschaften eher selten gegeben.

Das Bittere, das so gut wie niemandem auffällt, an Özdemirs Vorwurf an die Nazis, doch nicht deutsch genug zu sein, hat wiederum Pohrt schon am Beispiel eines Textes vom 14.5.1982 in der taz untersucht, dessen Autor Hilmar Zschach die Nazivergangenheit des schleswig-holsteinischen Landtagspräsidenten Helmut Lembke erwähnt, aber das als untypisch für die feschen Schleswig-Holsteiner abtut. Pohrt kommentierte:

„Die gemeinsame völkisch-nationalistische Basis bringt Linke und Rechte dazu, einander undeutsche Umtriebe vorzuwerfen. So irrational, wie die Kontroverse dann geworden ist, so mörderisch sind auch ihre potentiellen Konsequenzen. Es geht eigentlich darum, den Volkskörper von volksfremden Elementen zu säubern, damit endlich das andere, das wahre Deutschland erscheine. Unter dieser Voraussetzung ist es gleichgültig, ob die ‚Antifaschisten‘ oder die Faschisten gewinnen, denn die Verlierer werden allemal Leute sein, die keine Lust haben, sich Deutsche zu nennen.“[ix]

 

[i] „Mit seinem Debattenbeitrag hat Özdemir gezeigt, wie wirksam und kraftvoll eine Parlamentsrede sein kann, wenn ein Redner mit Überzeugung und Leidenschaft antritt – ein herausragendes Beispiel dafür, wie man den Populisten im Parlament die Stirn bieten kann. Jury: Simon Drescher, Pia Engel, Dr. Gregor Kalivoda, Rebecca Kiderlen, Prof. Dr. Joachim Knape, Sebastian König, Prof. Dr. Olaf Kramer, Viktorija Romascenko, Oliver Schaub, Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr. Thomas Zinsmaier. Im Jahr 2018 war mit Oliver Schaub erstmals auch ein von den Studierenden bestimmtes studentisches Mitglied Teil der Jury“, http://www.rhetorik.uni-tuebingen.de/portfolio/rede-des-jahres/.

[ii] Joachim Rohloff (1999): Ich bin das Volk. Martin Walser, Auschwitz und die Berliner Republik, Hamburg: KVV Konkret (Konkret Texte 21); Lars Rensmann (2004): Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 356–414;

[iii] Rensmann 2004, S. 364.

[iv] Ebd., S. 414.

[v] http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19014.pdf.

[vi] Zur Kritik siehe z.B. Lucius Teidelbaum (2018): Kritische Heimatkunde, 05.03.2018, http://emafrie.de/kritische-heimatkunde/.

[vii] https://www.youtube.com/watch?v=6lcaRA4sr4o.

[viii] Clemens Heni (2017a): Sommermärchen bereitete der AfD den Boden, Frankfurter Rundschau, 16./17. Dezember 2017, online: http://www.fr.de/kultur/antisemitismus-sommermaerchen-bereitete-der-afd-den-boden-a-1409276.

[ix] Wolfgang Pohrt (1982): Endstation. Über die Wiedergeburt der Nation. Pamphlete und Essays, Berlin: Rotbuch Verlag, 127 f., Fußnote 4.

©ClemensHeni

Radio-Gespräch auf WDR 5 (Koch/Heni): Bei „Schalke 05“ gibt’s nen riesen Aufschrei – aber bei dem „inneren Reichsparteitag“ nicht! Antisemitismus und Deutschland

Neugier genügt:

WDR 5 Moderator Thomas Koch im Gespräch mit Clemens Heni

Mittwoch, 17. Januar 2018, ab 11:05 Uhr, ca. 28 Min., live aus Köln

Die Sendung als Podcast hier anhören:

Inoffizielle Transkription (typische Wörter der gesprochenen Sprache wie „äh“, „mhm“ etc., wurden nicht aufgenommen):

Clemens Heni in Köln vor dem WDR Studio, Foto: privat

Intro: WDR 5 Neugier genügt mit Thomas Koch –

Im WDR Gebäude in Köln, Foto: privat

Koch: … „und einem Mann zu Gast in der ‚WDR 5 ‚Redezeit‘, dessen Lebensthema der Antisemitismus in Deutschland ist, er schreibt darüber, er diskutiert mit großer Leidenschaft und untersucht ihn als Politikwissenschaftler und als Leiter des Berliner International Center for the Studies of Antisemitism. Den Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag hält er für die größte politische Katastrophe und größte Krise des Parlamentarismus seit Jahren. Darum soll es jetzt gehen in der ‚Redezeit‘ mit Clemens Heni. Schönen guten Tag, Herr Heni.

Heni: Ja, guten Morgen, Herr Koch.

Koch: Schön, dass Sie da sind, aus Berlin gekommen

Heni: Genau.

Koch: Und in Köln übernachtet.

Heni: Genau.

Koch: Die Nacht gut überstanden?

Heni: War sehr schön, Zülpicher Straße.

Koch: Kann man machen.

Heni: Absolut.

Koch: Auch bei dem Wetter, war‘s die sichere Variante. Ja, heute ist mal wieder ne Bundestag-Sitzung mit wohl allen 92 Abgeordneten. Die kommen immer alle, was die anderen Parteien nicht so streng machen offensichtlich. Was ist schlimm daran, dass die AfD im Bundestag sitzt und dass sie heute dort auch als politische Kraft vertreten ist?

Heni: Ja, ich denk mal, die AfD verändert das politische Klima im Bundestag massiv. Sie hat eine sehr deutsch-nationale, nationalistische, würde ich sagen, und rassistische Agenda und verändert auch das Verhalten im Parlament. Ich habe vor kurzem einen Bericht über einen FDP, einen jungen FDP-Bundestagsabgeordneten gesehen, der fassungslos in der ARD in einer Sendung erzählt hat, er hört oftmals überhaupt nicht, was gesprochen wird, weil die einfach krakeelen. Also, das ist Tumult, ja. Das kriegt man gar mit so hier, wenn man Zeitung liest oder im Radio. Also die Sitzungen müssen komplett anders ablaufen. Das wird sich jetzt die nächsten Monate und eventuell Jahre auch für die Forschung als Thema zeigen. Wie verändern die das Klima. Historisch haben wir einfach die schlimmste aller Erfahrungen, was passiert, wenn ein Parlament von Rechtsextremen zerstört wird.

„Historisch haben wir einfach die schlimmste aller Erfahrungen, was passiert, wenn ein Parlament von Rechtsextremen zerstört wird.“

Koch: Es laufen jetzt Dinge ab, die eigentlich ja so Formalien sind im Bundestag auch, die sind drin, und wenn die Groko kommt, die stärkste Oppositionspartei, die AfD will auch einen Bundestagsvizepräsidenten stellen mit Albrecht Glaser, dann den Vorsitz im Haushaltsausschuss sollen sie bekommen und der AfD-Mann Roman Rausch, ehemaliger Oberstaatsanwalt aus Berlin, soll ins Parlamentarische Kontrollgremium berufen werden des Bundestages, das die Geheimdienste kontrolliert. Man könnte das jetzt ganz nüchtern sehen und sagen: ja da ist ne neue Partei, das steht denen eigentlich zu, in diese Funktionen dann auch zu kommen – oder man sagt, das darf auf keinen Fall passieren, weil daraus etwas Schlimmes resultieren würde. Welche Position haben Sie?

Heni: Absolut, also das sollte nicht passieren, weil die politische Kultur, also wie wir in diesem Land über andere Menschen reden, ja, was für Vorstellungen wir in der Öffentlichkeit diskutieren, ändert sich massiv. Also, wir hatten jetzt ja den Skandal mit nem Bundestagsabgeordneten, Jens Maier, der auf ungeheuer rassistische Weise, wie wir das früher wirklich nur von Neonazis in den 1980er und 90er Jahren kannten, einen schwarzen Deutschen beleidigt hat, Noah Becker, der Sohn von Boris Becker und Barbara Becker. Und solche Sachen von einem Bundestagsabgeordneten. Und das ist in diesem Land zwar in einigen Medien ein Skandal, aber nicht wirklich für die ganz große Gesellschaft, dass es jetzt Massendemos gibt mit 10, 100.000 Leuten, die sagen, Menschen mit schwarzer Hautfarbe werden auf diese Weise nicht beleidigt. Das müsste es geben, gibt’s aber nicht. Und da sehe ich eine große Gefahr, weil natürlich viele Menschen sagen, „der ist ja Bundestagsabgeordneter und wenn der sich dann halt so äußert mit nem Tweet dann ist das halt ein Bundestagsabgeordneter“. Und das legitimiert dann einen solchen Rassismus.

Koch: Aber was wird das jetzt konkret heißen für die Besetzung von Ämtern im Bundestag? Weil die AfD natürlich sich in der Opferrolle sehr gut gefällt wenn man sagt, „ihr dürft das nicht und wir werden das mit aller Macht verhindern“, gibt man natürlich was auf diese Mühle auch.

Heni: Klar, die versuchen sich natürlich immer als Opfer zu gerieren, das ist klar, vermutlich wird das formal grad bei dem Haushaltsausschuss schwer werden. Entscheidend ist, denk ich, dass die Gesellschaft insgesamt einen Blick drauf hat, was für ne extremistische Partei das ist, ja, unabhängig davon, welche konkrete Posten die haben. Und richtig gefährlich, in Österreich haben wir das jetzt ja auch, kann das werden, wenn wir über Geheimdienste reden oder über Verfassungsschutz, wo dann teilweise Leute sitzen, also in Österreich haben wir das Beispiel und bei uns wird es ähnliche geben, dass Leute die Beziehungen, also connections zu Neonazis, dann durchaus Daten bekommen, persönliche Daten von Leuten, die z.B. Demonstrationen anmelden usw. Das kann in Deutschland, wo wir nun 190 Tote haben durch Rechtsextreme haben die letzten 30 Jahre, sehr gefährlich werden.

Koch: Wie wirkt das in die Gesellschaft, was verändert sich dadurch im Alltag der Menschen, was auch Antisemitismus angeht aus Ihrer Sicht?

Heni: Also das ändert massiv etwas, wenn wir jetzt Leute haben im Bundestag wie Gauland, die ganz offen stolz sind auf die deutschen Soldaten in zwei Weltkriegen, dann heißt das ja, sie sind stolz auf das, was die getan haben. Und wir wissen, die Wehrmacht war beteiligt am Holocaust. Also haben die Leute überhaupt kein Problem mit dem Holocaust, sie leugnen den Holocaust gar nicht, obwohl sie ja auch Holocaustleugner haben bei der AfD, wie den Gedeon, sondern die sind sogar stolz auf die „Leistungen“ der deutschen Soldaten. Das würde ich als klar antisemitisch bezeichnen. Oder Begriffe wie „völkisch“ von Frauke Petry, die ja nun gar nicht mehr dabei ist bei der AfD oder „Volksgemeinschaft“; das sind Begriffe, die sind aus der Nazizeit und die haben damit einen antisemitischen Charakter. Und die sollte man nicht verwenden und die werden aber in der Öffentlichkeit immer schamloser verwendet, weil Bundestag ist natürlich salonfähig.

Koch: Aber nochmal zurück zu dem Punkt was man jetzt damit machen soll. Weil die fünfeinhalb Millionen Wählerinnen/wähler haben die AfD gewählt.

Heni: 5,8

Koch: 12,6%, sie sind da und sind auf demokratischem Weg in diese Position gekommen. Was sollte man damit tun jetzt aus Ihrer Sicht?

Heni: Richtig. Also erstmal muss man erkennen, wir haben ein Problem mit der Bevölkerung. Also, ich würde nicht sagen, wie das viele tun, z.B. auch in der Linkspartei, dass die Leute abgehängt sind oder besorgt sind oder irgendwie so was, aber ich denke mal, wenn man zu wenig Bushaltestellen hat irgendwo auf dem Land in Sachsen-Anhalt muss man deswegen nicht Nazis wählen. Und man muss das im Blick haben, dass die Bevölkerung weiß, was sie tut, indem sie Leute wählt, die einen bestimmten Nationalismus in Deutschland befördern und das muss man thematisieren. Das ganz konkret, da haben Sie völlig Recht, man kann da vermutlich formal erstmal wenig tun. Der Herr Glaser wird ganz sicher nicht Bundestagsvizepräsident werden, weil sich alle anderen demokratischen Parteien gegen ihn ausgesprochen haben. Insofern denke ich mal, gibt’s auch ganz klare Grenzen und so.

„Wir haben ein Problem mit der Bevölkerung“

Koch: Sie haben grade was Interessantes gesagt: Wir haben ein Problem mit der Bevölkerung. Wer sind „wir“?

Heni: Wir, wir ist gut, also wir beide vielleicht, aber ich sag mal, die kritische Öffentlichkeit oder die Leute, die die nicht gewählt ham. Ich würde jetzt nicht so weit gehen, was es ja auch gibt, dass man sagt, die 87% sind alle super, wir kommen ja vielleicht nachher noch drauf, dass die auch nicht alle super sind, aber, wir, sag ich mal, diejenigen zum mindesten diejenigen, die sie nicht gewählt haben. Also, das ist nun mal die große Mehrzahl des Landes, die haben nicht AfD gewählt. Aber wir haben ein Problem, weil die sitzen im Parlament und hatten eine ungeheuerliche – und Sie haben es angesprochen – das zeichnet natürlich extreme Rechte aus, die haben ne klare Ideologie und die wollen Präsenz zeigen, die wollen ja was erreichen. Während jetzt z.B. alle anderen Abgeordneten die arbeiten ganz stringent an Sachthemen, daran sind die nicht interessiert, die wollen ne bestimmte Agenda durchsetzen und das sind nicht unbedingt Sachthemen, wo CDU, SPD, Grüne und Linkspartei in irgendwelchen Ausschüssen sitzen und verpassen, ins Parlament zu gehen.

Koch: Jetzt gibt’s ja die Theorie, dass sie sich selbst entzaubern. So ist es ja auch bei rechten Parteien häufig gewesen, wenn sie in der Verantwortung waren. Würden Sie diesem Mechanismus trauen auf die AfD bezogen?

Heni: Also, viele dachten das, nachdem z.B. auch Frauke Petry und es diesen kleinen Bruch sag ich mal, gab. Aber es sieht nicht so aus. Es gibt ja auch Umfragen, nach der Bundestagswahl im September, wo man sieht, die haben nicht wirklich abgebaut. Aber, man kann das nicht wissen. Niedersachsen beispielsweise war die erste Landtagswahl nach der Bundestagswahl, da haben die, weiß nicht, 8% bekommen, da hat man gesehen, dass es vielleicht doch ein massiveres Ost-West-Gefälle gibt. Man kann das nicht wirklich wissen. Aber die politische Kultur hat sich jetzt schon massiv verändert. Und das ist ja nicht ein spontaner Prozess, sondern eben schon länger anhaltender Prozess.

Koch: So sieht das der Politikwissenschaftler und Antisemitismusforscher Clemens Heni, zu Gast hier in der WDR 5 Redezeit. Auch hier, weil Sie ein Buch aktuell veröffentlich haben in dem Essays von Ihnen zu finden sind – „Eine Alternative ZU Deutschland“ ist der Titel des Buches und der erst Satz darin lautet: „Für Otto Normalvergaser wie die Politiker- und Wähler/innen der Alternative für Deutschland ist die Welt von gestern noch in Ordnung gewesen.“ Otto Normalvergaser – warum haben Sie diesen Begriff gewählt? In Anführungszeichen.

„Otto Normalvergaser“…

Der Ausdruck „Otto Normalvergaser“ stammt von dem Publizisten Eike Geisel (1945-1997), Foto: privat

Heni: Ist ein Zitat von dem Publizisten Eike Geisel und ich denke mal, er hat mit diesem Satz den Kern oder einen Kern der politischen Kultur in der Bundesrepublik auf den Punkt gebracht. Weil für die Leute war offensichtlich der Holocaust, der Nationalsozialismus nicht wirklich das Problem. Weil für die Otto Normalvergaser soll darauf hinspielen, es waren eben nicht nur Himmler, Hitler und Heydrich oder Goebbels, sondern es waren Millionen Menschen. Nicht nur die NSDAP–Mitglieder, sondern auch die Wehrmachtssoldaten oder die Polizeibataillone, in allen Bereichen der Gesellschaft. Und für diese, wie er das nennt, und ich denke mal das ist ein polemischer Begriff, weil wir reden meistens von Otto Normalverbraucher und da ist Otto Normalvergaser eben ein polemischer Begriff, der denke ich mal die Deutschen auf ne sehr zugespitzte Weise charakterisiert.

Koch: Das ist ihm gelungen, glaube ich, dem Satz, ja. Darin steckt aber auch nicht unbedingt ein Gesprächsangebot. Weil, wenn ich jetzt als Wähler oder Wählerin der AfD mir das vorstelle, dann würde ich sagen, ja ok, für den bin ich ein Nazi, der wird gar nicht mehr mit mir diskutieren. Und das wird auch immer so bleiben. Ist das so?

Heni: Man muss erstmal nicht mit allen Leuten reden, das würde ich mal so sehen. Also, ich komm aus ner antifaschistischen Grundhaltung, als Student war ich in ner Gruppe, antifaschistische Gruppe, da ist klar, mit bestimmten Menschen redet man nicht, sondern ÜBER sie natürlich, ja. Also, Rechtsextremismus ist ein großes Thema in der Gesellschaft, über das muss man diskutieren. Und es wird meines Erachtens viel zu wenig über sie diskutiert.

Koch: Aber sind denn die Wähler der AfD für die Demokratie verloren aus Ihrer Sicht für alle Zeiten?

„existentialistischer Kern“ …

Heni: Nee, so was wie für alle Zeiten gibt es nicht. Aber, erstmal würde ich sagen, das Klima im Land muss sich ändern. Und das muss sich ändern, indem Demonstrationen, öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen, die sich mit der Kritik am Nationalismus beschäftigen, stattfinden, über Jahre hinweg, Jahrzehnte. Und dann ist das bei keinem Menschen verloren, weil, das ist ja der Kern sag ich mal, auch meines Buches, den ich als existentialistischen Kern – das ist ein philosophischer Begriff von Sartre der in ganz anderem Kontext verwendet wurde –, aber eigentlich heißt, der Mensch ist nicht festgelegt, sondern er wählt sich seine Welt selber.[i] Und dann ist es ne freie Entscheidung ob ich mich für eine homophobe oder rassistische oder antisemitische Partei entscheide, oder auch nicht. Was auch wiederum heißt, man hat sich mal dafür entschieden, kann sich aber das nächste Mal anders entscheiden. Das ist nicht festgelegt.

Koch: Dann würde der Begriff erstmal vielleicht daran gerüttelt haben, den Sie da gewählt haben. Aus Ihrer Sicht haben Plasberg & Co., die Medien, auch öffentlich-rechtlich, durch ihre Sendungen in der Wahlkampfzeit die AfD mit erfolgreich gemacht. Was hätten die Medien aus Ihrer Sicht anders machen sollen?

Heni: Richtig. Also Günther Jauch, Anne Will, sag ich mal auch, die hätten ganz viel anders machen müssen. Die hätten von Anfang an, öffentliche Veranstaltungen, wir reden ja über nun einstündige Talkshows oder dreiviertel Stunde, je nachdem, und diese Talkshows hätten sie Expertinnen und Experten bringen können, die aufklären. Was haben sie gemacht? Sie haben gedacht, und das war ein unglaublicher Reflex, dass dieser Nazibegriff von der sog. Lügenpresse, den haben sie aufgenommen und haben gedacht, wir müssen die Leute unbedingt ins Studio holen. Die Pegida hat das nicht gemacht, im Wesentlichen, aber die AfD hat das gern gemacht, weil sie gemerkt haben, ja wir sind ja ne Partei, sie wollen ja die Macht, sie wollen ja den O-Ton und zwar fünf Minuten ungeschnitten, und nicht irgendwie eingeordnet von einem Journalisten oder ner Journalistin, reden. Und da hat Anne Will oder Sandra Maischberger, Plasberg und wie sie heißen, denk ich, riesige Fehler gemacht, weil je mehr die auch provoziert haben mit rassistischen oder rechtsextremen Begriffen oder Äußerungen, sie immer wieder eingeladen. Selbst wenn die rausgegangen sind, wie Alice Weidel das gemacht hat, mitunter, hat das nicht geschadet. Am nächsten Tag kamen schon wieder die großen Anstalten ARD ZDF und wollten sie schon wieder haben. Wo man gemerkt hat, die wollen ja gar nicht diskutieren. Und das ist der Kern, was man kapieren muss, denk ich, und das sollten auch Journalistinnen und Journalisten verstehen, zu versuchen, die wollen nicht diskutieren, sondern sie wollen ihre rechtsextreme Agenda durchsetzen, auf die eine oder andere Weise. Mal mehr militant, mal weniger. Aber das ist der Kern des gesamten Projekts AfD.

Koch: Sind die Zuschauer und Zuschauerinnen denn aus Ihrer Sicht so leicht verführbar? Also merken die Menschen das denn nicht, wenn sich das wiederholt und wenn das menschenverachtend ist? Oder sind das dann die, die sagen, das finde ich genau richtig und endlich sagt es mal jemand. Das ist ja häufig ne Reaktion. Waren die nicht vorher auch schon dieser Meinung? Oder ist da doch tatsächlich aus Ihrer Sicht noch viel in Bewegung geraten auch was Wählerverhalten angeht?

Heni: Ja, das ist richtig, denke ich. Es ist, was quasi Leute schon davor dachten, wurde dann laut artikuliert. Und die Leute hatten ne Partei, die sie wählen können oder ne Bewegung, wo sie hingehen können, Pegida war ja quasi ein Teil oder Beginn, würd ich sagen, von der AfD, wo sie zu Tausenden, teilweise Zehntausenden auf die Straße gehen konnten. Und das ist glaub ich ein ganz entscheidender Punkt, dass die Leute davor natürlich schon bestimmte extrem rechte Einstellungen hatten, die aber nie irgendwie im Parteienspektrum sich so klar äußern konnten, weil die NPD war natürlich nun ne Neonazipartei, das war den Leuten irgendwie schon klar. Aber bei der AfD, auch wenn das teilweise ähnliches Personal und ähnliches Fußvolk, sag ich mal, ist das dann nicht mehr so klar für viele. Oder sie fühlen sich bestätigt, wie Sie ja sagten. Es gibt Leute, die hatten die gleichen Vorstellungen schon vor dem Aufkommen der AfD.

Koch: Genau. „Endlich sagt es mal jemand“ mit einem beherzten Schlag. Erfährt man immer häufiger und man begegnet diesen Stimmen auch in seinem eigenen Umfeld. Nun sind wir hier im öffentlich-rechten Sender. Sie sagen, ich muss nicht mit allen reden, als Wissenschaftler oder als politisch positionierter Mensch, sagen Sie, bestimmte Sachen mach ich nicht. Wir schon. Wir machen z.B. in der nächsten Stunde auch eine Call-in-Sendung, zu allen möglichen Themen, auch natürlich tagesaktuellen Themen, auch im Vorfeld der Wahl zum Thema AfD. Und es rufen uns Menschen an, die sagen z.B., sie haben Angst vor Islamisierung und wollen da etwas loswerden. Was tun mit diesen Stimmen aus Ihrer Sicht? Wenn einfach das Thema kommt, wenn Positionen kommen, die ganz klar auch durch die AfD abgedeckt werden?

Deutschland ist Exportweltmeister bei dem Thema Antisemitismus

Heni: Ja, also Thema Islamismus ist natürlich ein sehr zentrales Thema. Ich selber habe mich viel beschäftigt mit dem Thema Islamismus, weil ich das als Gefahr betrachte und da muss man ganz klar machen, dass es einen Unterschied macht, ob man das auf demokratische Weise thematisiert, den Islamismus, oder auf eine völkische Weise, in dem man sagt, nur die Nicht-Deutschen oder die Muslime würden auf einmal den Extremismus oder den Islamismus und Antisemitismus nach Deutschland bringen. Und wir haben Antisemitismus, ja, ich wir sind würde ich mal sagen Exportweltmeister bei dem Thema Antisemitismus. Ohne Hitler würde es keine Rufe geben „Juden ins Gas“ in allem möglichen Stadien in Holland, oder in Kroatien beispielsweise oder in der arabischen Welt. Da haben die Deutschen dieses Produkt Antisemitismus exportiert und tun das in gewissen Dosen wieder reimportieren. Aber der Kern des Problems ist die deutsche Bevölkerung und der Islamismus ist ein spezifisches Problem und man muss sich ja immer angucken, im Wesentlichen ist er ein großes Problem für die muslimische Welt, weil viele Muslime ja auch keine Islamisten sind und unter den Opfern sind, im Irak, Syrien und vielen anderen Ländern.

Koch: Was heißt das konkret wie man aus Ihrer Sicht damit umgehen sollte, wo wird dann eine Diskussion darüber, was ist Ihre Sensorik, wo Sie merken, jetzt wird es in einem Bereich kompliziert und dass Positionen da auftauchen, die nicht mehr zu einer, wie Sie gesagt haben, demokratischen Diskussion gehören.

Islamismus ist eine Gefahr, die man nicht „abbügeln“ sollte

Heni: Ja, also beim Thema Islamismus beispielsweise würde ich ganz klar sagen, wenn da jemand anruft und meint, es wäre eine große Gefahr, würde ich das jetzt nicht abbügeln und sagen, es ist keine Gefahr, weil es ist eine Gefahr. Und da haben glaube ich auch viele sich selber vielleicht als links-liberale oder links betrachtende Forscher*innen oder Journalist*innen vielleicht viele Jahre, wir reden meistens über die Zeit nach dem 11. September, da zu wenig drauf geachtet. Da würde ich also erstmal sagen, das ist ein Thema. Und dann muss man aber ganz klare Points machen, indem man sagt, na ja, der Antisemitismus ist im Wesentlichen auch ein deutsches Phänomen, dazu kommt auch noch ein von Muslimen getragener. Wobei viele Muslime auch Deutsche sind, muss man auch wissen. Viele Demonstrationen, die wir haben in Deutschland, in Berlin haben wir das häufig, von Antisemiten, das sind Muslime, die sind aber auch Deutsche häufig, also die haben nen deutschen Pass. Also muss man auch sehen. Flüchtlinge sind da ganz selten dabei, bei öffentlichen Demonstrationen. Da würde ich einfach, ist natürlich in 3 Min. vielleicht schwierig, am Telefon bei Ihrer Sendung heute Mittag, klar abstecken, dass das nicht das einzige Problem ist, sondern dass in Deutschland Antisemitismus weit in die Mitte in die Gesellschaft ragt. Und da merkt man das meistens, ob die Leute dann sagen, nee, sie sehen das nur bei Muslimen oder bei Einwanderern oder ob die sagen, na ja, wir haben das als gesamtgesellschaftliches Problem.

Koch. Dann nehmen wir das als kleine Coaching–Einheit noch mit in die nächste Stunde. Clemens Heni, Politikwissenschaftler, Antisemitismusforscher. Eine Alternative ZU Deutschland heißt die Sammlung Ihrer Essays und darin zeigen Sie auf, aus Ihrer Sicht, dass das deutsche sog. Sommermärchen, die Fußballweltmeisterschaft von 2006, die Pegida-Bewegung und den Einzug der AfD in den Bundestag letztendlich geistig vorbereitet hat. Sehen in dem schwarzrotgoldenen Fahnenmeer vor 11, 12 Jahren die Keimzelle für diesen Rechtsdrall, den wir jetzt erleben. Wie bauen Sie diesen Bogen zur Fußball-Weltmeisterschaft von 2006?

Heni: Also den Bogen baue ich über den Stolz auf Deutschland und dieser Stolz ist nur möglich, indem man auf ne offenere oder etwas verdruckstere Art und Weise die Vergangenheit abwehrt. Also den Holocaust oder den Nationalsozialismus, die werden nicht mehr Themen betrachtet, sondern die werden einfach hinweggefegt. Es gibt Publizisten, Matthias Matussek beispielsweise, der früher beim Spiegel war, dann bei Welt, bei Springer, auch rausgeflogen, aber der ist ein bekannter, mittlerweile katholischer Publizist, und der hat auf ne sehr aggressive Art und Weise genau 2006 ein Buch geschrieben, wo man genau merken kann, wie dieses deutsch-nationale Gefühl bei einem Publizisten, bei einem ganz bekannten Publizisten in Deutschland, sich Bahn bricht. Das hat erstmal mit der WM nichts zu tun, aber hat genau rein gepasst in dieses Schema, dass die Leute sagen, wir sind jetzt wieder wer. Und wir sind ganz unbefangen. Und es gibt ja auch empirische Studien, Dagmar Schediwy beispielsweise, ne Soziologin, die hat sich, was ich bemerkenswert, ja beeindruckend finde, wie die es geschafft hat, rein psychisch, auf diese Fanmeilen begeben als Wissenschaftlerin und Interviews gemacht. Und ein Buch gemacht und rausbekommen: die meisten Leute waren da nicht wegen dem Fußball da, sondern sie waren schwarzrotgold angezogen und waren ganz glücklich, rumzugrölen. Das war ein deutsches Fest für diese Leute, kein Fußballfest. Und ich denk mal, das muss man wirklich im Blick haben. Und ich hab ja dann später, bei der Ankündigung vom WDR 5 haben wir das ja, den „innerer Reichsparteitag“, ein Nazibegriff, der 4 Jahre später bei ner WM wieder aufgetaucht ist, von ner ZDF – Moderatorin, Katrin Müller-Hohenstein, wo ich dann denke, so ein Begriff, einfach so, das war ja nicht witzig, sondern hat sie verwendet …

Screenshot, Katrin Müller-Hohenstein, 2010, https://www.youtube.com/watch?v=tuqUIUQ0Af0

Koch: Miroslav Klose hat ein entscheidendes Tor geschossen, das war’s glaub ich, mit polnischem Hintergrund.

Heni: Gegen Australien, ja.

Koch: Ja, für Schalke 05 fliegt man raus und da geht’s noch weiter.

Heni: Ja.

Koch: Ist das auch so etwas …

Heni: Schalke 04 heißen die.

Koch: Eben, aber es hat mal Carmen Thomas hat Schalke 05 gesagt und ist rausgeflogen.[ii]

Heni: Ach verstehe.

Koch: Ich weiß, dass Schalke 04 heißt!

Heni: Ich dachte, Sie wussten das nicht, als Dortmunder.[iii] Ja, nee, klar, und ich denk mal da ist vielleicht die Sensibilität wirklich nicht sehr groß. Ich hab durch Zufall bei der Recherche dann ein Buch gefunden von irgend einem Opa, Opa Kalli heißt der, der hat für seine Enkel ein Buch geschrieben, vor einigen Jahren und genau sich mit diesem Begriff beschäftigt, weil der war so Jahrgang, weiß nicht was, 31 und war als Jugendlicher zur Nazizeit und hat diesen Begriff gehört, „innerer Reichsparteitag“, und hat ihn dann bis in die 70er Jahre hinein gehört und erinnert sich, wer den bis in die 70er benutzt hat und das war halt ein sehr strammer alter Nazi, den er kannte von seinem Freundes- und Bekanntenkreis.

Koch: Aber, im Umkehrschluss: hätte Katrin Müller-Hohenstein diesen Begriff nicht verwendet, hätte die AfD dann weniger Stimmen bekommen?

Heni: Ganz sicher. Ich denke mal, dann wären sie gar nicht …

Koch: Wow, das ist mal ne steile These. Wir haben sie, Katrin Müller-Hohenstein, ja!

„Wow, das ist mal ne steile These. Wir haben sie, Katrin Müller-Hohenstein, ja!“ (Thomas Koch)

Heni: Wobei, ich würde sie gar nicht, es geht mir jetzt gar nicht um sie jetzt als Journalistin, sondern ich denk mal, sie steht ja doch vielleicht eher für eine Tendenz, weil viele das einfach goutieren, es war kein Skandal, wie Sie es sagten. Schalke 05 gibt’s nen riesen Aufschrei, ja, aber bei dem „inneren Reichsparteitag“ nicht. Wir haben bis heute viele Rechtsextreme und die merken das, ich hab das im Buch zitiert, am gleichen Tag haben Neonazis in nem Medium, das mittlerweile verboten wurde, altermedia, sich genau darauf bezogen und waren happy und haben sich bedankt beim ZDF, weil sie merkten, endlich sagt‘s mal jemand. Also, die merken das.

Koch: In der Rückschau tun Sie uns damit natürlich Furchtbares an. Das Sommermärchen jetzt da in diesen Zusammenhang zu stellen. Ich war auch auf einigen Fanmeilen unterwegs, habe ganz andere Erfahrungen gemacht, dass es wirklich große Verbrüderungen gab, das was der Fußball auch bei diesen Massenveranstaltungen leistet, wunderbare Begegnungen gibt, die auch von Respekt und Toleranz und auch von einer gesunden Rivalität geprägt sind, und nicht von Nationalismus, das funktioniert aus meiner langjährigen Erfahrung als Fußballfan ganz hervorragend.

Heni: Ja…

Koch: Aber es haben ja viele so gesehen und ich kann mich noch genau daran erinnern: Ach, endlich dürfen wir auch mal so einen positiven Patriotismus entwickeln, dass wir uns auch mal uns die Landesfarben ins Gesicht malen dürfen. Viele Frauen waren plötzlich dabei, die vorher beim Fußball gar nicht so dabei waren. Die fanden das total klasse, dass sie da mitfeiern konnten und natürlich in den Farben. War das ein Trugschluss aus Ihrer Sicht?

Heni: Absolut, absolut. Man muss sie mal sehen, die deutsche Hymne. Ich hab im Buch hier ein Beispiel von 1933 bei der Einweihung von einer Siedlung, einer Wohnsiedlung in Stuttgart, Kochenhofsiedlung. Ich komme aus der Gegend und hab mich auch mit Architektur beschäftigt in dem Buch. Und da geht’s um ne völkische Siedlung, die also Satteldachpflicht hatte und so, wo dann die Häuser nicht so Flachdach sind wie in Israel, weil da war bereits damals, also Palästina damals, jedenfalls…

Koch : Liegt aber auch daran, dass es häufiger regnet, hier

Heni: Ja, ja, wahrscheinlich … Aber trotzdem: Architektonisch ist es interessant. Jedenfalls gibt’s die heute noch, die Weißenhofsiedlung in Stuttgart. Und das Gegenmodell war die Kochenhofsiedlung. Und in dieser Siedlung gabs dann ne Einweihungsparty mit „deutschem Holz“ und dem Horst-Wessel-Lied und dem Deutschland-Lied. Und es ist eben das gleiche Lied, das wir heute haben, auch wenn nicht alle Strophen gesungen werden von manchen. Ab und zu gibt’s auch Leute, die singen alle Strophen. Stefan Krawczyk hatte mal nen Empfang beim Bundespräsidenten, ich weiß nicht bei welchem, und hat alle drei Strophen singen wollen. Da musste man ihm sagen, das ist nicht angesagt. Es ist aber die gleiche Melodie, muss man ganz klar sagen. Oder ich nehme das beste Beispiel, ARD, Ingo Zamperoni. Der hat sich einmal getraut, vor 5,6 Jahren, beim Spiel

Ingo Zamperoni und die Ambivalenz …

Screenshot einer youtube-Seite mit Ingo Zamperoni von Juni 2012

Koch: Gegen Italien …

Heni: Ja, Italien, sozusagen er hat ein gespaltenes Herz, weil er eben ein Elternteil italienisch, eines deutsch ist. Und er hat so ein bisschen gelächelt, weil er wahrscheinlich ahnte, dass Balotelli hier die Sache zumachen wird und Italien gewinnen wird. Und das hat zu einem Shitstorm für den armen Mann und ich weiß nicht, ob er sich das nochmal getrauen wird, diese Ambivalenz … Und ich meine in Deutschland: Wir haben 18 Millionen ungefähr mindestens Leute, die haben unterschiedliche Herkünfte, die sind nicht alle, migrantische Gesellschaft, insofern…

Koch: Was ist denn dann der Unterschied, wenn ein 15jähriger, sagen wir mal Belgier, voller Begeisterung seine Landesfahne schwenkt bei einem Fußballspiel oder jetzt ham wir Handball-Europameisterschaft und wenn das ein deutscher 15jähriger macht. Wie können sie dem erklären, dass das nicht dasselbe ist.

Heni: Weil eben Belgien eine andere Geschichte hat als Deutschland. Also in Deutschland hatten wir eben die Geschichte dass übersteigerter Nationalstolz, wie das dann immer bezeichnet wird, 1933 zum Nationalsozialismus führte, also ein übersteigerter Nationalstolz oder überhaupt ein Stolz auf das Land. Ich würde noch ne ganz andere Dimension, das hab ich im Buch auch drin, das ist der sogenannte sekundäre Antisemitismus, das ist ein Antisemitismus der Abwehr der Erinnerung. Das heißt, wenn die Leute wir haben Umfragen, bis zu 80% wollen nichts mehr hören von der Nazizeit, 40% der unter 30jährigen wissen nicht, was Auschwitz war. Das sind schockierende empirische Ergebnisse. Und dann denke ich ist der große Unterschied zu Belgien, oder England und auch zu Holland, im Zweifelsfall, weil diese Länder eben nicht den Zweiten Weltkrieg verbrochen haben und eine ganze andere Geschichte haben.

Koch: Und sie würden ihm die Fahne wegnehmen deswegen?

Heni: Nee, aber ich würde ihn darauf hinweisen. Ein 15jähriger ist ein 15jähriger. Aber, wir reden ja im Wesentlichen über Erwachsene, die das organisieren. Bei Jugendlichen ist es ne ganz andere Story, um die geht’s jetzt mir hier nicht primär.

Koch: Wird das jetzt aus Ihrer Sicht, diese Verpflichtung und diese Verantwortung der Vergangenheit, der Geschichte gegenüber, wird das immer so bleiben müssen?

„keine Halbwertszeit für die Erinnerung an Auschwitz“

Heni: Also ich seh da jetzt keine Halbwertszeit für die Erinnerung oder so an Auschwitz. Also ich meine, das waren nie dagewesene Verbrechen und die werden erinnert. Man muss sich mal manche Sachen vorstellen: Wir erinnern heute alle möglichen positiven Aspekte, Französische Revolution ist ein großes Thema. Das ist 200 Jahre her und ist ja auch wichtig, zu erinnern. Und nach 70 Jahren nach den größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte ist seit Jahrzehnten das Thema, wann ist damit Ende. Ich meine, das muss man sich mal klar machen. Die meisten wichtigen Ereignisse, und das war das schrecklichste Ereignis, werden einfach tradiert und werden erinnert.

Koch: Nee, ich meine jetzt auch darauf bezogen, dass man sich nicht so daran erinnert, wie das der belgische Junge macht. Also dass es eine spezielle deutsche Erinnerung geben muss darauf.

„Die Belgier haben eben nicht sechs Millionen Juden umgebracht“

Heni: Das ist wichtig, natürlich. Ich meine, die Belgier haben eben nicht sechs Millionen Juden umgebracht. Und in Deutschland, wir haben jetzt Diskussionen beispielsweise mit den Besuchen im KZ. Wenn man sieht, dass 40% der unter 30jährigen, vor allem die Schülerinnen und Schüler, nicht mal wissen, was der Begriff bedeutet, dann ist das offensichtlich enorm notwendig, dass grade auch junge Leute, 15jährige einen Besuch machen im Rahmen eines Geschichtsunterrichts in einem Konzentrationslager, in einer Gedenkstätte. Denke ich, ist wichtig. Und das ist eben der Unterschied. Weil das in Belgien, Belgien war eben ein Opfer der deutschen Aggression im Zweiten Weltkrieg und nicht der Täter. Und deswegen ist das ein Unterschied. Und ich denke, das versteht ein 15jähriger Belgier dann schon auch und ein deutscher auch, im Zweifelsfall, wenn er eben in der Schule entsprechend oder in der Gesellschaft da drauf hingewiesen wird. Das heißt nicht, dass der Schuld ist, das wissen wir, darum geht’s ja immer, sind die schuld, das ist Blödsinn, aber er muss das anders erinnern, weil eben im Zweifelsfall sein Großvater ne andere Rolle spielte, 1941, als der von dem belgischen Kollegen.

Koch: Dann nehmen wir das als Schlusswort in dieser WDR 5 Redezeit, die sehr schnell verging, für Sie auch?

Heni: Ja, sehr schnell, ich dachte, wir sind grad 5 Min. vorbei.

Koch: Nee, das war fast ne halbe Stunde.

Heni: Ok.

Koch: Clemens Heni, Politikwissenschaftler, Antisemitismusforscher, Autor der Essaysammlung „Eine Alternative zu Deutschland“. Dankeschön für den Besuch in der WDR 5 Redezeit, alles Gute.

Heni: Ja, Dankeschön, schönen Tag.

Berlin: Edition Critic, 2017

ISBN 978-3-946193-17-3 | Softcover | 14,8x21cm | 262 Seiten | Personenregister | 15€

Bestellbar in jeder Buchhandlung oder versandkostenfrei direkt beim Verlag:

info[at]editioncritic.de

[i] Jean-Paul Sartre wiederum hat diesen philosophischen Gedanken von Günther Anders (Günther Stern) übernommen: „Allerdings, eine eigentümliche Sonderstellung des Menschen konstatierte auch Günther Anders. Immer wieder machte er darauf aufmerksam, daß er schon sehr früh, 1929/30, in zwei Vorträgen über die Weltfremdheit des Menschen darauf verwiesen hatte, daß ‚wir Menschen auf keine bestimmte Welt und auf keinen bestimmten Lebensstil‘ festgelegt sind, die ‚Spezifizität‘ des Menschen also seine ‚Unspezifizität‘ ausmacht, Freiheit die Interpretation eines anthropologischen Defekts darstellt. Publiziert wurden diese Thesen 1934 und 1936 unter den Titeln Une Interpretation de L’Aposteriori und Pathologie de la Liberté. Zweifellos antizipierte Anders in diesen Reflektionen viel vom späteren Freiheitsbegriff Sartres (…)“ (Konrad Paul Liessmann (1993): Günther Anders zur Einführung, Hamburg: Junius, 25f.). Bereits 1988 als Teenager hatte ich mir im lokalen, gut sortierten, linken Buchladen Günther Anders‘ „Antiquiertheit des Menschen. Band 1“ gekauft und wenig später diese Stelle markiert: „Die ‚Unfestgelegtheit des Menschen‘, d.h.: die Tatsache, daß dem Menschen eine bestimmte bindende Natur fehlt; positiv; seine pausenlose Selbstproduktion, seine nicht abbrechende geschichtliche Verwandlung – macht die Entscheidung darüber, was ihm als ‚natürlich‘ und was als ‚unnatürlich‘ angerechnet werden solle, unmöglich. Schon die Alternative ist falsch. ‚Künstlichkeit ist die Natur des Menschen‘“ (Günther Anders (1956/1988): Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: C.H. Beck, 309).

[ii] https://www.mopo.de/sport/40-jahre-danach-carmen-thomas-spricht-ueber-ihren–schalke-05–klops-6425110: „Es war ein kleiner Versprecher mit großer Wirkung, als Carmen Thomas am 21. Juli 1973 im ‚Aktuellen Sportstudio‘ aus Schalke 04 ‚Schalke 05‘ machte.“

[iii] „Ewig spült der Ozean
Sein Wasser an die Küsten dran
Ewig regnet’s oder schneit es
Oder grade nichts von beides

Ewig ist der Sonnenlauf
von oben und unten auf die Erde drauf
Ewig spricht um Acht genau
Zu uns, dem Volk, die Tagesschau
(…)
Doch am allerewigsten
Das Einzigste seit eh und je
Das wissen nur die wenigsten
Das ist der BVB!“
(Thomas Koch (2016): Ernsthaft, Paderborn: Lektora, 36).

Foto: privat

 

P.S.: Aufgrund des Interviews in der FR vom 16.12.2017 bzw. 18.12.2017 (Online-Version) sowie der Ankündigung des WDR 5 Gesprächs mit dem Autor am 17.01.2018 wurden in NRW spontan ein Berg und eine Hütte nach mir benannt, was ich übertrieben finde, aber auch eine sehr nette Geste:

Foto: privat

Foto: privat

©ClemensHeni

Die Welt schaut auf diese Stadt: Nazis, die AfD und das „Pack“ in Berlin stehen wieder vor dem Einzug ins Parlament

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

 

Wer AfD wählt hat offenkundig kein Problem mit Rassismus, Deutschnationalismus und Antisemitismus.

Jede Wählerin und jeder Wähler bekommt seit über zwei Jahren mit, wie nazistisch, rassistisch, antisemitisch, völkisch und deutschnational die AfD ist.

Alle wissen das, da es noch nie eine so massenmediale Verbreitung der Hetze einer nicht mal im Bundestag vertretenen Partei wie der AfD gab, von Günther Jauch über Anne Will und Fank Plasberg hin zu Sandra Maischberger etc. pp.

Wir müssen weg von der „Konsensdemokratie“, die noch mit jedem Nazi ernsthaft redet und ihn „zurückholen“ möchte – es geht um klare Grenzen, z.B. Rassisten oder Antisemiten gerade nicht medial zu promoten und nicht in TV-Talkshows einzuladen. Das ist eine Message und Kritik des Spiegel Kolumnisten Georg Diez. Weniger die AfD promoten, denn sie ignorieren oder kritisieren. Ich würde sagen: über die AfD reden, nicht mit ihr. Das ist antifaschistische Grundausbildung.

Antifa (nicht Carl Schmitt) statt Habermas. Kritik statt Konsens.

In der AfD sprechen Agitatoren wie Goebbels, spielen mit einem Schießbefehl auf Flüchtlinge an der Grenze, promoten die antisemitischen Protokolle der Weisen von Zion, diffamieren das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und sind gegen Abtreibung, alle zusammen hetzen gegen Angela Merkel und wollen am liebsten eine demokratisch gewählte Kanzlerin wegputschen oder gewaltsam entfernen.

Galgen für Gabriel und Merkel auf Pegida-Demo in Dresden – Pegida ist ein ungeistiger wie praktischer Verbündeter der AfD und Pegidisten sprachen schon auf AfD-Veranstaltungen, die AfD ist gegen Moscheebauten wie in Erfurt.

Auf einer AfD-Demo wird gegen die USA agitiert und antiamerikanische Verschwörungsmythen werden promotet. Das vom extremen Rechten Jürgen Elsässer geführte Compact-Magazin fantasiert hierbei davon, das ganze Land sei von NSA und USA  besetzt – so Poster auf der großen bundesweiten AfD-Demo am 7.11.2015 in Berlin:

AfD-Demo, 7. November 2015, Berlin; Foto: Sören Kohlhuber

AfD-Demo, 7. November 2015, Berlin; Foto: Sören Kohlhuber

 

In Berlin fordert ein AfD-Mann alle Flüchtlinge in „Lager“ zu stecken, in unbewohnten Gebieten.

Jene „Klimaverschärfung“, von der die Journalistin der Stuttgarter Zeitung Katja Bauer im November 2015 sprach, ist in einem Maße eingetreten, dass es wohl nur sehr wenige AnalystInnen zu ahnen vermochten.

JEDE Wählerin und JEDER Wähler der Alternative für Deutschland (AfD), von den Funktionären nicht zu schweigen, agieren de facto antisemitisch und rechtsextrem. Es zählt die gesamte Partei und die steht – vorneweg Petry, Gauland, Meuthen, Höcke – für Antisemitismus, Rassismus, Deutschnationalismus und Kokettieren mit dem Nationalsozialismus wie der Trivialisierung und Verhöhnung der Opfer von Auschwitz, wenn Holocaustopfer mit heutigen Flüchtlingen in Zügen analogisiert werden, wie es der Berliner AfD-Vize Hugh Bronson tut.

Ein bekannte Neo-Nazi-Taktik ist heutzutage, die ungeheuerlichsten Sachen zu sagen, die entsprechende Reaktionen zu bekommen, zumindest von dem Teil der Bevölkerung, der nicht antisemitisch, rassistisch und deutschnational oder eiskalt abgeklärt ist, und dann scheibchenweise Nazi-Ideologeme oder andere problematische Topoi wieder zurückzunehmen, was in jedem einzelnen Fall unglaubwürdig ist und die WählerInnen das Augenzwinkern jeder Rücknahme natürlich sehen.

Andere wie die CSU nehmen de facto bestimmte Teile der AfD-Ideologie auf und verschärfen sie sogar noch, wie Claus Kleber im ZDF am Beispiel Horst Seehofer verdeutlichte.

Jeder Wähler und jede Wählerin in Berlin, der oder die AfD wählt, verdient Verachtung und politische und soziale Isolation. Diese Menschen gehören nicht zu einer demokratischen Gesellschaft. Sie gehören bekämpft. Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.

Nehmen wir als letztes ein besonders krasses und abstossendes Beispiel (als ob es da eine Hierarchie des Ekels geben könnte bei der AfD):

Der Berater der Vorsitzenden der AfD, Frauke Petry, Michael Klonovsky, schreibt am 11.09.2016 auf seinem Blog:

„eine Frau ohne Kinder ist eine traurige, zuweilen sogar tragische Figur. Sie hat den eigentlichen Zweck ihres Daseins verfehlt.“ –

Angesichts dieser Frauenverachtung, die zu den „Lebensschützern“, die am 17. September 2016 in Berlin wieder aufmarschieren,  passt, gilt:

Kein Platz für die AfD, andere Mutterkreuz-Nazis, Frauenverachter und christliche FanatikerInnen in Berlin und nirgendwo sonst.

Die Ideologie der AfD ist ganz offen völkisch.

Es ist moralisch noch viel schlimmer nach 1945 das Wort völkisch zu benutzen denn z.B. 1897, damals bereitete es den Judenmord vor, ohne zu ahnen, ob und wie er passieren wird – nach 1945 ist es eine Zustimmung zu Auschwitz. Ein Wörtchen, das für die Affirmation des deutschen Verbrechens der Vernichtung des europäischen Judentums steht. Natürlich augenzwinkernd, AfD-Taktik.

Doch nicht wenige Journalisten und Historiker (gerade solche, die gegen die AfD sind) scheinen nicht zu verstehen, dass die Neue Rechte nach 1945 agiert und diese Bejahung der deutschen Verbrechen im Wieder-Verwenden eines Adjektivs wie „völkisch“ drin steckt und gerade kein Zurück ins Kaiserreich oder der Weimarer Zeit meint.

Wer heute von völkisch redet wie Petry zwinkert den AnhängerInnen zu: „Auschwitz, not sooo bad“ … Sie weiß ob der Perfidie ihrer Strategie, ohne den Holocaust zu leugnen oder offensiv zu bejahen.

Zur völkischen Ideologie der AfD gehört das Nazi-Mutterkreuz wie die neonazistische Identitäre Bewegung zur ideologischen wie organisatorischen Grundausstattung.

Gerade die Linkspartei versteht jedoch häufig gar nicht den völkischen und nazistischen Charakter der AfD, sondern kapriziert sich oft auf die „soziale Frage“, den „neoliberalen Charakter der AfD“ oder äfft die AfD nach, wie die „heilige Johanna der deutschen Nationalbewegung“, Sahra Wagenknecht. Falsch. Es geht nicht um die „soziale Frage“ bei der AfD. Es geht um Deutschland, Rassismus, Hetze gegen alle Nicht-Deutschen bzw. Deutsche mit der aus Rassistenperspektive „falschen“ Hautfarbe wie Boateng, es geht um Nationalismus, Antisemitismus und das Kokettieren mit dem Holocaust und dem SS-Staat.

Das ist der Kern der Salonfähigkeit der Neuen Rechten und nicht „Abstiegsängste“, geringe Renten oder Arbeitslosigkeit und wie die Ausreden für völkische WählerInnen alle heißen.

Wählt morgen demokratisch und lasst euch vom AfD-Kuschelkurs und der Trivialisierung der Nazi-Gefahr der AfD einer Margarete Stokowski auf SpiegelOnline (SPON) oder eines Gerhard Appenzeller im Tagesspiegel nicht aus dem antifaschistischen und demokratischen Konzept bringen.

Stokowski hatte auf SpiegelOnline ernsthaft geschrieben, dass gerade die deutsche Geschichte doch gezeigt habe, Antifaschismus sei manchmal erfolgreich und manchmal halt nicht. Keine Panik also:

Deutschland ist ein Land, das eine außerordentlich gründlich dokumentierte historische Vorlage hat, auf die man jetzt zurückgreifen könnte, um sich zu informieren, wie rechtes Denken sich verbreitet, wie Widerstand dagegen aussehen kann, warum er manchmal scheitert und manchmal erfolgreich ist.

„Manchmal“ ist der „Widerstand“ halt „gescheitert“. Manchmal!

Auschwitz, Sobibor, Bergen-Belsen, Oranienburg, Majdanek sind halt passiert, Pech. Das seien lediglich Zeichen, dass „manchmal“ der Widerstand nicht erfolgreich war. „Manchmal“, Leute, also bitte nicht aufregen oder das Präzedenzlose, nie Dagewesene der Shoah thematisieren. Die ist nur ein Beispiel, wo es halt schief ging mit dem Widerstand.

Ist halt passiert. Dieses flapsig-lässig-geschwätzige Hinweggehen über das präzedenzlose Verbrechen der Shoah durch Margarete Stokowski ist typisch für viele heutige AutorInnen. Was es z.B. für Nachkommen von Holocaustopfern oder für Holocaustüberlebende und deren Nachfahren bedeutet, wenn eine Partei wie die AfD in Parlamente einzieht, ist ihr mit solchem Gerede offenkundig völlig schnuppe.

Und Gerd Appenzeller vom Tagesspiegel, ein erfahrener Journalist, der während des Zweiten Weltkrieges 1943 in Berlin geboren wurde, attackiert gar den Berliner Regierenden Bürgermeister Michael Müller für dessen „Alarmismus“, weil dieser auch AfD-WählerInnen scharf angeht, da die Wahl der AfD als Nazi-Revival weltweit Schlagzeilen machen würde.

Ja, würde es, lieber Tagesspiegel, und dank dem Tagesspiegel wird die AfD auch weiter trivialisiert und lieber die SPD diffamiert in ihrer scharfen Attacke auf die AfD und – das ist so wichtig – dem Fokus auf die WählerInnen der AfD, ganz normale Deutsche.

Bei aller so scharfen Kritik an Sigmar Gabriel, der aus der SPD das gemacht hat, was sie heute ist (inklusive des Kungelns mit dem islamistisch-antisemitischen Regime in Teheran), sein Wort vom deutschen „Pack“ (nicht nur in Heidenau und Sachsen) geht in die Geschichtsbücher ein, weil es die Wahrheit ist. Auch sein Mittelfinger für die Nazis der Identitären Bewegung kam aus tiefstem Herzen und das ist gut so.

Und ganz zu Recht hat Gabriel in seinem Statement in Heidenau deutlich gemacht, dass Nazis auch im Sportverein, auf der Arbeit, im Kirchenchor oder beim Rockfestival, auf der Autobahnraststätte, beim „Odin-sei-bei-mir“-Rufen im Schwarzwald, beim Paintball-Spielen in der Lüneburger Heide, beim Einkaufen, im Fußball-Stadion nicht nur in Dortmund oder Dresden, dem Boxring oder beim Rumlungern und Warten auf das nächste „du Opfer“ oder „du Jude“ (wobei sie diese Ressentiments mit nicht wenigen muslimischen Jugendlichen teilen!) isoliert, attackiert und kritisiert gehören.

Wer nicht erkennt, in welcher gesamtwestlichen, zumal gesamteuropäischen Situation wir uns befinden, wo Rechtsextreme (darunter all jene zärtlich als „besorgte Bürger“, „Rechtspopulisten“, „Protestwähler“ etc. Kategorisierten) Wahlerfolge feiern und die politische Kultur massiv nach rechts verschieben, wie in Ungarn, Österreich, Schweden, Holland, Frankreich, England (und Trump in USA) – die oder der hat nicht kapiert, was diese Zeit auch hierzulande geschlagen hat.

Es geht um die Verteidigung der Demokratie, nicht mehr und nicht weniger, egal welche demokratische Partei man wählt – wobei die CSU eine Art zweite AfD in Bayern ist und es ist wiederum der nach extrem rechts abdriftende Berliner Tagesspiegel, der für eine erzkonservative oder „stramm konservative Politik“ plädiert bzw. sie lobt:

Ist es echt so schlimm? Gehen wir mal kurz die zentralen Forderungen der CSU durch: Flüchtlingsobergrenze von 200.000 Menschen, Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft, Burka-Verbot, Vorrang für Zuwanderer „aus dem christlich-abendländischen Kulturkreis“. Sind das verbotene Forderungen, ist es rechtsradikal, gefährden solche Ansichten den sozialen Frieden? Natürlich nicht. Es ist stramm konservative Politik.

Sicher ist ein Burkaverbot höchst angesagt. Die Würde der Frau ist unantastbar.

Aber alles andere ist Rassismus, namentlich der „Vorrang für Zuwanderer aus dem christlich-abendländischen Kulturkreis“ wie auch eine „Obergrenze“ für Flüchtlinge (!).

Wenn Michael Müller in der taz schreibt:

Die Tage der politischen Leichtigkeit sind vorbei, wir erleben eine Zeit, die mehr Ernsthaftigkeit von allen erfordert.

dann hat er die Zeichen der Zeit klar erkannt. Sicher ist das auch Teil des Wahlkampfes und das heißt nicht, dass man die SPD super-duper-toll finden muss, alleine schon das Ausgrenzen eines anti-islamistischen SPDlers wie Erol Özkaraca ist problematisch und sollte kritisiert werden:

Im Sommer 2015 hatte sich Özkaraca mit seinem Fraktionsvorsitzenden Raed Saleh, wie er Muslim, überworfen. Es ging um die Frage, wie nah Islam und Staat sich kommen dürfen. Özkaraca interpretiert seinen Glauben liberal, er besteht auf einer strikten Trennung zwischen Religion und Staat. Saleh trat dagegen ein für einen Staatsvertrag mit Berlins muslimischen Verbänden, wie in Hamburg und in Bremen. Und er zeigte sich offen für eine Änderung des Berliner Neutralitätsgesetzes, das Lehrern sichtbare religiöse Symbole verbietet, also auch Frauen ein Kopftuch.

Vor dem Bürofenster Özkaracas ist eine ganze Batterie von seinen Wahlplakaten aufgestellt, versehen mit dem Konterfei des Kandidaten sowie politischen Slogans, die angesichts der allgemeinen Einfallslosigkeit der sonstigen gedruckten politischen Aussagen teils frech, teils provokant erscheinen. „Der Rechtsstaat gilt überall. Sogar in Neukölln“ steht dort zu lesen, oder „Religion ist Privatsache. Extremismus nicht“.

Die SPD hat sich als Partei ganz klar als Anti-AfD-Partei gezeigt.

Es gibt auch in Berlin viel zu viele Menschen, die die AfD wählen werden. Es geht darum, den Prozentsatz der AfD so gering wie möglich zu halten und die Neue Rechte auch im Parlament zu bekämpfen, mit allen Mitteln. Das ist Realpolitik.

Auch bisherige oder häufige NichwählerInnen, AnarchistInnen (solange sie nicht eh libertäre Nazis sind), Antideutsche und SkeptikerInnen sollten diesmal wählen gehen, demokratisch.

Die AfD ist nicht nur eine etwas erfolgreichere NPD. Die AfD steht für eine neue deutsche Volksgemeinschaft und für das Mainstreamen von Rassismus, Deutschnationalismus und Antisemitismus. Davon konnte die NPD niemals auch nur träumen.

Leute: Es sind krasse Zeiten und krasse Zeiten verlangen krasse Handlungen. Und sei es, die AfD parlamentarisch zu bekämpfen und wählen zu gehen.

 

 

 

Von der SED zur AfD? Warum die Neue Rechte die DDR schon 1981 als besonders „deutsch“ wahrnahm

Update und verändert, 5.9.16, 17:30 Uhr

Folgendes Zitat aus einer Studie der Linkspartei/PDS des Publizisten Erhard Crome aus dem Jahr 2001 könnte als Indikator dienen, warum die extreme Rechte in der Ex-DDR so viel Erfolg hat:

»Eins hat die DDR im Laufe ihrer 40jährigen Existenz geschafft, was in der BRD nie gelungen war, nämlich die Wörter ›Liebe‹ und ›Vaterland‹ immer wieder in einem Satz unterzubringen, z. B. in der Wendung ›Liebe zum sozialistischen Vaterland‹.“

Der Wahlerfolg für die Rechtsextremen der AfD vom 4. September 2016 ist schockierend. Vor allem an der Ostseeküste, Greifswalder Gegend vorneweg plus Rügen, haben die extremen Rechten, Rechtspopulisten, besorgten Bürger und Nazis teils um die 35% der Stimmen und mehr, wenn man dann noch die NPD dazu nimmt, die dort auch auf über 5% der Zweitstimmen kommt.

Flüchtlinge spielen in diesem Bundesland so gut wie keine Rolle. 2015 kamen 23.000 Flüchtlinge nach MeckPomm, davon sind ca. 1/3 geblieben.

„Im vergangenen Jahr wurden 23.080 Menschen in Mecklenburg-Vorpommern registriert. 2016 sind es bislang 3.180 (Stand Ende Februar). Das Land muss exakt 2,03 Prozent aller Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen. Das sieht der ‚Königsteiner Schlüssel‘ vor, eine Quote, die sich nach Bevölkerungszahl und Steueraufkommen richtet.“

So wenig wie der Antisemit Juden benötigt, so wenig braucht der Rassist sein Objekt der Begierde zu sehen etc. – es findet im Kopf statt, ohne hier den Verschwörungswahnsinn des Antisemitismus und die Vernichtungsabsicht gegenüber Juden oder Israel auf den Rassismus zu übertragen oder gleichzusetzen.

Das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern stirbt eh aus, seit 1990 hat es 300.000 BewohnerInnen verloren und hat jetzt 1,6 Mio. Dass die Menschen dort gar kein Interesse am Überleben haben, zeigt sich daran, dass sie die wenigen Flüchtlinge, die dort ankamen, auch noch weghaben wollen und AfD wählen.

Der Rassismus in Mecklenburg-Vorpommern ist also extrem und beweist, dass Rassisten keine sichtbaren Flüchtlinge brauchen für ihren Hass und ihr völkisches Deutschtum.

Dass mittlerweile massive Teile der Bevölkerung, zwischen 15% (BaWü) und ca. 25 % in MeckPomm (AfD plus NPD) bzw. Sachsen-Anhalt rassistisch und deutschnational wählen, zeigt an, dass dieses Land ein enormes Problem mit der Bevölkerung hat.

Die Medien spielen eine entscheidende Rolle hierbei. Ohne die Auftritte bei Jauch, Maischberger oder Soft&Blöd wäre die Partei nicht da, wo sie jetzt ist, das wäre eine eigene medienpolitische Studie wert.

Nicht nur der Springer-Konzern beschäftigt (nicht nur einen, wie zu vermuten ist) Publizisten, die seit Jahren der Neuen Rechten Nahrung bieten und von der „öffentlichen“=guten, AfD-nahen und der „veröffentlichten“=bösen, nicht-nazistischen Meinung daher schwadronieren.

Auch die SPD muss gar nicht drum herum reden, sie selbst ist mit verantwortlich für die Hetze gegen Merkel, Erwin Sellering z.B., der alte und neue oberste Seemann im nordöstlichsten Bundesland, der Merkel mit verantwortlich machte für den Aufstieg der AfD.

Den Aufstieg der AfD verdankt die Partei dem Rassismus und Deutschtum, dem Antisemitismus und der Erinnerungsabwehr an Auschwitz durch weite Teile der Bevölkerung und der Medien. Ein obsessiver Hass auf Political Correctness, auf Gender, Homosexualität, alles irgendwie Linke oder so Kategorisierte, auf ökologisch Sensible wie gewerkschaftlich Organisierte wie auch die Sehnsucht nach einem Schießbefehl (nicht nur) an der Grenze ist typisch für die „besorgten Bürger“, wie Rechtsextreme heute bevorzugt genannt werden. Es geht ihnen um kollektive deutsche Identität, die das Fehlen einer Ich-Identität zu kompensieren verspricht, wie die Sozialpsychologie analysieren würde.

In einer Demokratie muss es dazu gehören, Teile der Bevölkerung zu beschimpfen und sie als „Pack“ zu bezeichnen und sie nicht als Wähler „zurück“ zu gewinnen. Die Menschen können sich ändern – oder auch nicht. Wir haben Aktionen erlebt, wo ganz normale Deutsche Flüchtlinge als „Dreck“ bezeichnet haben. Das führte Sigmar Gabriel seinerzeit dazu, von diesen Menschen ganz gezielt von „Pack“ zu reden.

Wer in einem Bundesland, das so gut wie keine Flüchtlinge je gesehen hat, diese zu DEM Thema macht, ist wahnsinnig und obsessiv rassistisch. Das trifft auf weite Teile der Ex-DDR zu, Sachsen vorneweg als bevölkerungsreichstes Ossi-Land. Und wer angesichts von Familien oder Alleinstehenden, die dem Horror Syriens entkommen sind, gegen diese Menschen hetzt und sie als „Dreck“ diffamiert – hat selbst jede Menschlichkeit verloren.

Der autoritäre Charakter Vieler in der Ex-DDR kommt auch von der DDR Sozialisation her, aber nicht nur.

Doch jetzt wird es interessant: in einem extrem rechten, konservativen, schwarzrotgold illustrierten Sammelband mit dem Titel „Das Volk ohne Staat. Von der Babylonischen Gefangenschaft der Deutschen“ aus dem Jahr 1981 wird das deutsche Moment der SED und der DDR hochgehalten.

In einem Beitrag des extrem rechten Publizisten Klaus Motschmann heißt es, nachdem er bereits (seiner Lesart zufolge) pro-deutsche Passagen aus dem Werk von Friedrich Engels und Karl Marx wohlwollend zitierte:

„In der DDR-Verfassung ist die gesamtdeutsche Komponente dadurch unterstrichen worden, daß in Artikel 8 die ‚Überwindung der vom Imperialismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung‘ als ‚nationales Anliegen‘ in den Rang eines Verfassungsauftrages erhoben wurde. Der damalige Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht erkläre dieses ‚Anliegen‘ aus der ‚festen Überzeugung, daß der Sozialismus keinen Umweg um Westdeutschland machen wird, und daß der Tag kommt, wo die westdeutschen Arbeiter und ihre Verbündeten mit uns gemeinsam den Weg zu einem vereinigten sozialistischen Deutschland beschreiten werden.‘“

1984 schrieb DER Vordenker der Neuen Rechten in der Bundesrepublik, Henning Eichberg, mal wieder über die DDR. Eichberg erkannte nach seinen Versuchen u. a. die Grünen, die Republikaner und auch die SPD für das neu-rechte Projekt zu begeistern in den 1990er Jahren in der deutschen politischen Landschaft eine neue und weitere Möglichkeit für ›nationale‹ Politik: die PDS. Als Nachfolgepartei der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bot sie sich durchaus an.

Eichberg hat sich schon 1973 über die DDR-Forschung zu ‚Turnvater‘ Friedrich Ludwig Jahn anerkennend geäußert, weil sie dessen nationalrevolutionäre Theorie nicht kritisiert habe, wie es in der BRD Usus gewesen sei (was natürlich in West-Berlin niemand davon abhält, ein Jahn-Denkmal in der Hasenheide aus dem 19. Jahrhundert, das nicht nur zu Nazizeiten geehrt wurde, stehen zu lassen und heute wird Jahn auch in der ‚gesamtdeutschen‘ Sportwissenschaft nicht selten wohlwollend rezipiert). Der Leipziger Sporthistoriker Willi Schröder wird dabei von ihm im Gegensatz zur BRD-Forschung positiv gewürdigt, da er Jahn als Beispiel für »Turnen und Nationalismus« gelobt und den ›Turnvater‹ vor Kritik an dessen Nationalismus in Schutz genommen habe:

»Die Verbindung dieses Patriotismus mit der Turner- und der Studentenbewegung wird in der DDR-Literatur positiv gewertet und detailliert aus den Quellen erforscht. Aus der reichhaltigen Literatur seien nur genannt: die für das folgende vor allem benutzte Habilitationsschrift von Willi Schröder: Burschenturner im Kampf um Einheit und Freiheit, Berlin 1967.«

In der BRD hingegen behandle man das Thema Jahn und Nationalismus »gern polemisch abwertend«. Eichberg schätzt die DDR übrigens auch in anderen Bereichen wegen ihres ›deutschen‹ Charakters, wie er in einem Text 1984 ausplaudert:

»›Westdeutschland geht den amerikanischen Weg. Das sieht man schon an den McDonald-Geschäften überall am Wege. Die Deutschen in der Bundesrepublik gleichen nicht mehr sich selbst. Wenn man die Deutschen als Volk erleben will, muß man in die DDR reisen. Dort stellen die Leute noch ihren Käse und ihre Würste selbst her.‹ – So sagt Lahmer Hirsch, Medizinmann der Lakota Sioux. Ich möchte grinsen, weil ich mir vorstelle, wie die Arbeiter von Leuna sich ihren Käse selbst herstellen. Aber dann sehe ich den Lahmen Hirsch selbst grinsen. Hat er nicht recht? Oft sagt ein Medizinmann nur das, was alle anderen in ihrem Innern schon wissen.«

So verwundert es nicht, wenn Eichberg in seinem wohlwollenden Gespräch mit der „linken“ Szene-Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation (Ä&K) 1979 von der »Körpersprache« spricht, die ihn mit »Freunden aus der DDR« verbinde und er sich in solchen gleichsam ›körperlichen‹ Situationen »als Deutscher« empfinde …

Soviel zum deutschnationalen Potential in der DDR, das seit 1990 in einem Maße losschlug, wie es selbst die Neue Rechte kaum für möglich gehalten hat.

Solange die demokratische politische Klasse es jedoch nicht lernt, Menschen mit Inhalten zu konfrontieren und nicht auf sie als mögliche Wähler zu schielen, so lange wird der Aufstieg der Nazis sich fortsetzen, nächstes Mal in Berlin. Man muss diese WählerInnen der AfD verachten dürfen, wie es der Publizist Christoph Giesa tut.
Wenn es eine einzige Politikerin in Europa und der westlichen Welt gab in den letzten 12 Monaten, die Anstand bewiesen hat und menschliche Wärme wie Weitsicht, war es Angela Merkel.
Das ist gar keine Apologie aller ihrer Politiken wie dem elenden Iran-Deal, der unerträglichen Austeritätspolitik, ihrer Erdogan-Politik und vielem anderen mehr. Sie ist eine Konservative und das ist keine fortschrittliche Perspektive im 21. Jahrhundert. Aber eben um Welten harmloser als der Neo-Nazismus und Rechtsextremismus, wie wir ihn heute wieder in Parlamenten und auf den Straßen wie in Dresden (Pegida) erleben.

Also: Der Hass, der Merkel von Rechtsextremen in Frankreich (Front National) über Faschisten, Rechtspopulisten, autoritären, völkischen, vom Ressentiment getriebenen PolitikerInnen in Holland (Wilders), Ungarn (Orbán), Österreich (Hofer, FPÖ) und Deutschland (AfD, NPD, Sahra Wagenknechts Linkspartei) und vielen Publizisten weit in der sog. bürgerlichen Mitte entgegenschlägt, ist unfassbar und zeigt an: die Neue Rechte strebt zur Macht. Und noch nie musste eine Kanzlerin oder ein Kanzler so stark gegen so widerwärtige Kräfte bestehen, denn dazu kommt ja noch die bayerische AfD-Light, die CSU.
Dabei will die AfD primär zerstören, die Demokratie zerstören um den Weg für eine Führerin (LePen) oder einen Führer (Höcke, Gauland, Hofer, Wilders etc.) freizuschießen.

Wer meint, WählerInnen von Nazis, die mit Aufmärschen der SA durchs Brandenburger Tor kokettieren und sie nachmachen (AfD, flankiert von den Neonazis der Identitären Bewegung) als „Protestwähler“ klein zu reden, hat gar nicht kapiert, was die neu-rechte Stunden geschlagen.
Man muss das Pack angreifen und als solches benennen und das „demokratische Versagen“ klar auf den Punkt bringen, wie es Charlotte Knobloch tut.

Und man muss kein CDU-Fan sein um den Slogan „Merkel wird bleiben oder dieses Land wird untergehen“ als geradezu emanzipatorischen Schlachtruf unserer Zeit zu erkennen. Und das wird kein fortschrittliches Ende sein, sondern ein rechtsextremes Fanal – auch für Europa.

Merkel steht dabei gleichsam als Begriff (und nicht nur als bürgerlicher Name) für antirassistisches, menschliches Handeln angesichts unfassbar brutaler Kriege unweit der Grenzen Europas in Syrien und dem Irak, aber auch der jihadistischen Gefahr in anderen Ländern wie Afghanistan, Pakistan und vielen weiteren Kriegen und lebensbedrohlichen Lebensumständen in vielen Ländern Afrikas.

Das nationale Denken in der DDR ist ein massives Problem und rührt auch von der Ideologie der SED her, wie schon vor 30 und 40 Jahren die rechtsextreme Neue Rechte in der Bundesrepublik erkannte und sich ein deutschnationales Potential in der DDR mit Strahlkraft in die BRD erhoffte. Jetzt ist es in vollem Wichs da.

Wie jetzt zum Beispiel Roland Nelles, Politik-Ressortleiter bei Spiegel Online in einem Video-Beitrag sagt, sind die Wähler der AfD sehr wohl als „Rassisten“ zu bezeichnen.

Diese scharfe Kritik ist es, die in diesem Land viel zu lange gefehlt hat.

 

Der Verfasser, Dr. phil. Clemens Heni, promovierte 2006 an der Uni Innsbruck mit einer Studie über die Neue Rechte. Teile dieses Textes sind aus dem Kapitel „Eichberg und die DDR/PDS (1973–1998 ff.) dieser Dissertation, „Salonfähigkeit der Neuen Rechten“, Marburg 2007 (zweite Auflage Berlin 2017)

PEGIDA und die politische Kultur

Eine Selbstkritik der »Israelsolidarität«, DDR-»Wirtschaftsflüchtlinge« 1989, die Verteidigung des »Abendlandes» und das deutsche Weihnachtsfest 1939: »Ein Fest des Herzens, des inneren Reichtums«

 

Bundesjustizminister Heiko Maas hat völlig Recht: »PEGIDA ist eine Schande«. Die Zeitung für Deutschland hingegen, die FAZ, sieht in PEGIDA den Ausdruck einer Sehnsucht nach »Heimat«, die armen Dresdner seien »heimatlos«, wie es am 17.12.2014 auf Seite eins der FAZ heißt: »Pegida ist ein anderes Wort für die Sehnsucht nach politischer Führung. Wer nimmt sie wahr?« Der »Führer« vielleicht? Auch viele andere Medien nehmen PEGIDA mittlerweile in Schutz, von der ZEIT, die meint »echte Gefühle« bei den Aufmärschen zu erkennen, bis hin zu CICERO, das Kritiker wie Wolfgang Bosbach (CDU) oder Ralf Jäger (SPD) abmahnt und ernsthaft meint, man könnte und sollte mit PEGIDA reden bzw. müsse deren »Argumente« wahr- und ernstnehmen.

 

Angesichts von ca. 300.000 Toten in Syrien, Unruhen, Verfolgung, Mord und Krieg in weiten Teilen des Nahen Ostens, vor allem in Libyen, Syrien, Irak oder Yemen, sowie desolater ökonomischer Verhältnisse zumal in Afrika oder Osteuropa, hetzen Deutsche gegen Flüchtlinge. Ganze Familien von »Wirtschaftsflüchtlingen« aus Chemnitz, Dresden und Hoyerswerda verbrachten 1989 Weihnachten in Stuttgart, München oder Frankfurt bei gastgebenden »Wessis«. Diese Ex-Flüchtlinge aus der DDR agitieren jetzt gegen eine verglichen damit minimale Anzahl von Flüchtlingen, die aus viel katastrophaleren und lebensbedrohlicheren Zuständen fliehen. Dabei kommt nur ein Bruchteil der Flüchtlinge lebend in EUropa an, die EU-Außengrenze degradiert die Mauer in Berlin zu einem geradezu läppischen Bauwerk.

Es gibt heute Unterstützung oder zumindest mal symbolisch Geschenke für Flüchtlinge, das ist ein großer Unterschied zum Beginn der 1990er Jahre, als sich nur kleine Gruppen von ANTIFAs und antirassistischen, autonomen Gruppen um den Schutz von und die Unterstützung für Flüchtlinge kümmerten.

Doch es geht auch um Selbstkritik: haben Autoren, wie der Verfasser, in den letzten Jahren immer deutlich genug gemacht, dass es nicht gegen »den« Islam geht bei der Kritik am Islamismus? Wurde die Kritik an Thilo Sarrazin ignoriert oder nicht bemerkt, dass andere sie ignorierten? Haben »wir« immer und jederzeit betont, dass es zwischen Islam als Glauben und Islamismus als Ideologie eine Differenz gibt? Damit wird man nicht zu einem Apologeten von Religion. Wo bleibt der Aufschrei, wenn ein sehr bekanntes Blog der »Szene« einen Autor zu Wort kommen lässt, der von einer »zweiten Shoah« daher redet und den Holocaust auf groteske Weise trivialisiert und Morde an Juden von Islamisten oder Muslimen nur dazu benutzt, um gegen »den« Islam aufzuwiegeln und die Deutschen zu entschulden, wenn in dem Text einzelne Morde und Pogrome von Muslimen an Juden von 1929 oder 1840 als »zweite Shoah« rubriziert werden? »Zweite Shoah« 1929? Oder heute? Wo bleibt da der Aufschrei? Wo bleibt da die Selbstkritik, mal einen Fehler gemacht zu haben?

Haben viele Kritiker der Israelfeindschaft einfach nur weggesehen, als die übelsten rechten Sprüche von Leuten kamen, die aus welchen Gründen auch immer für Israel sind? Wurden nicht auch höchst problematische, evangelikale oder sonstige fanatische Gruppen auf Israelkongresse eingeladen oder auf Konferenzen und Veranstaltungen toleriert und nicht konfrontiert? Haben viele gar nicht gemerkt, dass ein regelrechter Hass auf alles »Liberale« und »Linke« besteht, der durch eine Kritik am Antizionismus einiger Teile der Linken (damit ist nicht nur die Partei gemeint) rationalisiert werden konnte? Wie oft haben Leute zum Beispiel misogyne Sprüche und Tendenzen goutiert, weil die Autoren oder Redner sonst »ganz ok« drauf seien?

Sodann: haben Kritiker des Antisemitismus deutlich genug gemacht, dass es um Kritik geht und nicht um die Exkulpation des deutschen Normalzustandes, wenn der Antisemitismus primär als Phänomen von Muslimen und Arabern betrachtet wird? Haben viele nicht Kompromisse, faule oder klammheimliche, mit Christen, Konservativen und Rechten gemacht, nur weil es »um Israel« geht? Wurde nicht von vielen übersehen, dass es wie ein Schlag ins Gesicht eines Kritikers der eingebildeten »deutsch-jüdischen Symbiose« wie Gershom Scholem ist, wenn all die letzten Jahren von einem angeblich »christlich-jüdischen Abendland«, zumal in Deutschland, geredet wird?

Wer nimmt schon Kritik am existierenden Rassismus in Israel zur Kenntnis, ohne damit zu einem Israelgegner zu werden? Sicher ist es einfacher, immer nur Kritik am Antisemitismus, den es ja in unglaublichem Ausmaß gibt, weltweit, zu üben, als sich auch mal realitätsgetreu mit den Zuständen in Israel zu befassen. Warum wird fast immer, wenn wieder ein Skandal aus der Palästinensischen Autonomiebehörde zu vernehmen ist, Mahmud Abbas‘ Holocaust leugnende Dissertation von Anfang der 1980er Jahre aus Moskau zitiert, ohne auch nur wahrzunehmen, dass Politikerinnen und Politiker in Israel wie die linken Zionist_innen Tzipi Livni oder Isaac Herzog in persönlichen Gesprächen in Abbas in den letzten Jahren evtl. eine moderatere und reflektiertere Stimme zu hören in der Lage sind? Sind dadurch Livni und Herzog »Verräter« und unglaubwürdig? Wissen deutsche Blogger, Schweizer oder österreichische Referenten grundsätzlich besser Bescheid als israelische, zionistische Politiker_innen wie Livni oder Herzog?

Fast alle in der Israelszene aktiven Gruppen schweigen brüllend zu PEGIDA, finden den nationalen Taumel gar prickelnd oder wiegeln ab. Wer aber gegen die iranische Gefahr, für Israel, gegen alle möglichen Formen von Antisemitismus sich engagiert aber zu rechtsextremen, volksgemeinschaftlichen Aufmärschen, die gegen Muslime hetzen, schweigt, verrät jede Idee von Aufklärung, Emanzipation, und, ja, Zionismus. Der Zionismus David Ben-Gurions, Ze’ev Jabotinsky oder Kurt Blumenfelds basierte darauf, dass Juden zwar eine Mehrheit in Israel, aber die arabischen und muslimischen bzw. christlichen und sonstigen Minderheiten »gleiche Rechte« gewährt bekommen sollten im jüdischen Staat. Israel ist eine multikulturelle Gesellschaft mit einem Anteil von über 20% Arabern/Muslimen. In der Bundesrepublik leben ca. 5% Muslime.

Auf die Bedeutung Jabotinskys Verständnis von Zionismus, das keineswegs einen homogenen, rein jüdischen Staat avisierte, sondern einen dezidiert jüdischen (und keinen binationalen!) Staat mit einer mit gleichen Rechten ausgestatteten arabischen Minderheit, wies kürzlich der britische Politikwissenschaftler und pro-israelische, aber linke Autor Alan Johnson, Herausgeber der Zeitschrift Fathom, hin. Und in Israel ist das alles auch bekannt, aber hierzulande wird in gewissen Kreisen jede Kritik an »Bibi« oder dem rechten Rand des politischen Spektrums in Israel als antizionistisch verfemt. Es geht derzeit in Israel um Zionismus versus die extreme Rechte, die natürlich auch Teil Israels ist, aber eben nicht unwidersprochen. All das wird hierzulande kaum zur Kenntnis genommen, und diese Ignoranz wird sich rächen.

Schließlich bekommt die »Israelszene« jetzt die Rechnung aus Dresden. Entweder die pro-israelischen und anti-islamistischen Aktivistinnen und Aktivisten bzw. Blogger_innen und Forscher/innen kriegen die Kurve und kehren zu einer seriösen Beschäftigung mit Antisemitismus, Islamismus und Nationalismus zurück oder PEGIDA wird dafür sorgen, dass die »Israelsolidarität« und »Islamkritik« in PEGIDA auf- und untergeht. Entweder Islamismuskritik, Israelsolidarität und Kritik am Antisemitismus und ein Lob der Vielfalt oder PEGIDA.

2006, zur Zeit des »Sommermärchens« und acht Jahre vor dem noch größeren WM-Wahnsinn, kam das nationale Apriori ins Gerede, aber nur von einer marginalen Gruppe von Autorinnen und Autoren. Man hätte die Warnzeichen sehen können. Doch dann ging es wieder um die Kritik am ubiquitären Antizionismus, eine in der Tat wichtige Kritik, bis heute und in Zukunft.

Das alles darf nicht blind machen für die Gefahr, für die PEGIDA steht. Und vieler meiner Bekannten, nicht nur auf Facebook oder auf Blogs, sehen die Zeichen der Zeit nicht und sind unfähig, Selbstkritik auch nur zu versuchen, wie es scheint.

PEGIDA, die Dresdner Volksbewegung gegen alle Nicht-Deutschen und für ein homogenes Sachsen bzw. Deutschland, möchte am 22. Dezember 2014 bei ihrem nächsten Aufmarsch Weihnachtslieder singen, wie am 15.12 angekündigt wurde. Das mag der heidnischen Tradition weiter Teile des Rechtsextremismus und der a-christlichen Vieler in der Ex-DDR entgegenstehen, aber natürlich wissen auch Neue Rechte, Heidnische und Völkische dass man in der Not Kompromisse machen muss. Schließlich gab es Millionen NSDAP-Mitglieder, ganz normale Deutsche, die Christen waren und Teil der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Zudem gab es bekanntlich den heidnischen Zug des SS-Staates wie die »Deutsche Glaubensbewegung« um Jakob Wilhelm Hauer, wie der israelische Religionswissenschaftler Schaul Baumann in seiner Dissertation herausgearbeitet hat.

Der katholische Bund Neudeutschland war ob des Nationalsozialismus begeistert. Der Jurist und spätere Ministerpräsident von Baden-Württemberg Han(n)s Filbinger steht dafür ebenso wie der Heidegger-Schüler und Philosoph Max Müller, der nach 1945 in München und Freiburg Karriere machte. Angesichts der völkischen Bewegung »Patriotische Europäer gegen Islamisierung des Abendlandes« sei zum Anlass des bevorstehenden Weihnachtsfestes auf die nationalsozialistisch-deutsch-abendländische Tradition eingegangen.

Ideologisch für ›Volk‹ und ›Vaterland‹ gerüstet, ging es am 1. September 1939 in den Zweiten Weltkrieg. Ein Neudeutscher, ein Mitglied des Bundes Neudeutschland, Heinrich Jansen Cron, Herausgeber des Leuchtturm, schreibt in einem kleinen Buch, in welchem er Lieder, Gedichte, Gebete und Geschichten u.a. von Gertrud Bäumer, Ernst Moritz Arndt, Adalbert Stifter oder auch Walter Flex zusammenbringt, zu Weihnachten 1939:

Es ist ein Fest des Herzens, des inneren Reichtums. Nicht das Äußere entscheidet. Gott wird – Mensch. Der Gottesmensch ist ein – Kind. Das Kind liegt in einem – Stall. Und ist doch der Herr der Welt! Mehr sein, als scheinen, den inneren Reichtum über den äußeren stellen, das ist weihnachtliche Haltung. Das ist es, was uns auch in Not, in der Fremde, im Felde sicher macht, froh und stark. Was will aber dieses Heft? Es will das Gute, das Edle, das Heilige, das in Gott und Heimat Tiefverwurzelte wecken und heben; eine Hilfe sein, Weihnachten draußen christlich und deutsch zu erleben, jegliche Ferne zu überwinden.[i]

Wenig später, zu Ostern 1940, publiziert Cron noch so ein kleines Erweckungsbüchlein:

Die großen Aufgaben, die uns in dieser Zeit Heimat und Familie, Volk und Vaterland stellen, verlangen einen kräftigen Willen. (…) ›Jesus ist wahrhaft auferstanden!‹ Also werden auch wir auferstehen. Also hat unser Erdenleben auf alle Fälle einen Sinn; also gibt es eine ewige Gerechtigkeit; also nehmen wir das Leben und auch sein Kreuz tathart und gelassen auf uns. Denn nur so erringen wir das ewige Leben; nur wenn wir nach Kräften Christi Tapferkeit erstreben, werden wir auch mit ihm auferstehen! Mit diesem Leben ist nicht alles aus. Der Tod verliert seinen Stachel, die Gefahr die Lähmung, die Zukunft wird licht. Wir erheben die Herzen, tragen hoch das Haupt; denn uns erfüllt eine gewaltige Hoffnung. Gott wird unsere Treue krönen, unsere Familie schützen, unser Volk erretten; wir wissen ja: Christ ist erstanden![ii]

Am Beginn des Holocaust und des (Vernichtungs-)Krieges in Polen sowie im Westen Europas segnen deutsche Christen den Weltkrieg und feiern ein fröhliches Osterfest. Das Motto könnte nicht heideggerscher oder djihadistischer lauten: »Der Tod verliert seinen Stachel«. Salafisten, Islamisten und Jihadisten aller Länder könnten sich an diesen Deutschen ein Vorbild nehmen.

Der Publizist Henryk M. Broder mag symptomatisch für das Nicht-Erkennen der Gefahr, für die PEGIDA steht, zitiert werden. Er hat die Sache komplett auf den Kopf gestellt – angesichts von Nazis, Populisten und einem rassistischen Mob in Dresden schreibt er: »Das, was früher der Nationalsozialismus war, das ist heute der Islamismus«. Dabei gibt es genügend Beispiele, wo Islamisten wie Yusuf al-Qaradawi, einer der alten aber führenden Sunni-Islamisten, Hitler öffentlich lobten. Aber darum geht es PEGIDA gar nicht. Sie wollen ein »reines« Deutschland. 1978 hätte Broder das noch erkannt, als er ein Buch herausgab mit dem Titel »Deutschland erwache. Die neuen Nazis. Aktionen und Provokationen.«

Nein: das, was früher der Nationalsozialismus war, ist heute in Deutschland eher schon PEGIDA, jedenfalls laufen da auch Leute mit, die den SS-Staat gut finden.

Die wollen ein »arisches« Dresden, selbst 2,5% Nicht-Deutsche sind denen zu viel. Und sie wollen die wundervollen deutschen Traditionen bewahren, man denke nur an Höhepunkte des »christlichen Abendlandes« wie Weihnachten 1939 im »Deutschen Reich«.

Einer der PEGIDA-Mitmacher ist der Bundesvorsitzende der Partei Die Freiheit, Michael Stürzenberger, der auch für das extrem rechte Internetportal »Politically Incorrect« (PI) schreibt, das ganz begeistert ist ob PEGIDA und live davon berichtet. Stürzenberger sprach am 15.11.2014 auf der Hooligan-Kundgebung in Hannover und peitschte die Hooligans und Neonazis ein: »Wo sind die Freunde unseres deutschen Vaterlandes?«, woraufhin der Mob unter anderem mit unschwer als Hitlergrüßen zu erkennenden Bewegungen antwortete.

Stürzenberger agitiert gegen die jüdische Beschneidung, so wie er denken viele bezüglich der Beschneidung, das ist mehrheitsfähig in einem Land wie Deutschland, von der FAZ zur jungle world und der Giordano Bruno Stiftung.

Wie Anhänger von Verschwörungsmythen glauben die PEGIDA-Rechten dem »System« nicht, sie reden von »der« »Lügenpresse« und glauben einer Presse, die in der Tat an Propaganda schwer zu überbieten ist: Russia today.

Gegen die freie Presse, gegen die jüdische und muslimische Beschneidung und gegen Einwanderung – PEGIDA steht für »Ausländer raus«. Doch selbst Antisemitismus und Antiintellektualismus aus den Reihen der PEGIDA-Protagonisten und Aktivisten, darunter zählen auch Autorinnen für das verschwörungsmythische Magazin Compact, halten offenbar viele in der Pro-Israel-Szene nicht davon ab, den Rassismus von PEGIDA zu unterstützen. Eine Compact-Autorin und »Kameradin« von Jürgen Elsässer ist Melanie Dittmer, die früher bei der Jugendorganisation der NPD, den »Jungen Nationaldemokraten« (JN) aktiv war und heute im Umfeld der rechtsextremen »Identitären Bewegung«. Sie sprach z.B. bei einem DÜGIDA (Düsseldorf gegen…) Aufmarsch am 8.12.2104 und ist die Anmelderin der BOGIDA (Bonn gegen …).

Broder kritisierte 2012 die Agitation gegen die jüdische und muslimische Beschneidung. Doch er sieht offenbar nicht, dass der deutsche Mainstream gegen das Judentum und die Beschneidung ist. Viele bei PEGIDA sind Leser von Seiten wie PI im Internet, die wie dokumentiert gegen die Beschneidung und somit gegen jüdisches und muslimisches Leben hetzt.

Doch wen verteidigt Broder, wenn er Kritik an PEGIDA abwehrt und PEGIDA kleinredet, affirmiert und sich über Kritikerinnen des Rassismus wie Gesine Schwan lustig macht? Ich hatte schon 2007 rechte Tendenzen bei Broder und ACHGUT analysiert und resümierte:

Der Kampf gegen den Djihad jedoch lediglich als Vorwand, gerade für die BILD-Zeitung, den Spiegel, die WELT, sich noch gemütlicher einzurichten, gerade in Deutschland, dem Land der unbegrenzten Schuldabwehrmöglichkeiten?

Wer vom verbrecherischen Alltag des Nationalsozialismus nicht mehr reden möchte, sollte vom politischen Islam schweigen.

Die Juden sind die Juden von heute und nicht die Muslime, wie Jascha Nemtsov zu Recht gegen Armin Langer einwendet. Es geht jetzt aber nicht um die falsche Analogie von Antisemitismus und Islamkritik. PEGIDA ist ein Ausdruck von Rassismus, von Nationalismus, Islamhass und von Antisemitismus gleichermaßen, das Beispiel Stürzenberger und PI zeigen das anschaulich. Das Problem ist PEGIDA und nicht die Antifa und auch nicht Gesine Schwan.

Der Islamfaschismus wie in Iran ist schlimm genug, und die Hitler-Fans unter nicht wenigen Islamisten und Muslimen in Deutschland sind auch übel genug. Aber angesichts von Deutschlandfahne und »Wir sind das Volk« Gebrülle so die Realität zu derealisieren, wie Broder und sein Fanclub es tun, das ist bezeichnend.

Als Forscher/in sollte man sich einfach mal anschauen, wie die »abendländische Tradition« in Deutschland aussah. Dass Deutschland gar nicht abendländisch war, sondern antiwestlich, völkisch und nationalsozialistisch, wie der Historiker Peter Viereck bereits 1941 in seiner Dissertation »Metapolitics« auf beeindruckende Weise analysiert hat und von niemand anderem als Thomas Mann dafür in einem Brief vom 7. September 1941 gelobt wurde, spielt hier gar keine Rolle. PEGIDA sieht sich ja als deutsch und abendländisch.

Weihnachten 1939, Ostern 1940 und die diesbezüglichen Texte eines »Neudeutschen« oder Vertreter des »christlichen Abendlandes« wie Heinrich Jansen Cron sind nur Beispiele für das, was PEGIDA in Dresden, der Stadt, die nicht gerade für Toleranz und Vielfalt steht, hingegen für Antisemitismus 1848, für Richard Wagner und Michail Bakunin, verteidigen möchte: das christliche Abendland oder das, was Deutsche darunter verstehen.

Wie die Politikerin und Publizistin Jutta Ditfurth am 16.12.2014 auf 3Sat im Fernsehen sagte, erleben wir derzeit die wohl »schlimmsten rechtspopulistischen, antisemitischen, rassistischen Aufmärsche seit 1945«; hinzufügen würde ich: die schlimmsten Aufmärsche in Ergänzung zu den antisemitischen Aufmärschen im Sommer 2014, als vor allem Islamisten und Muslime, eskortiert von Neonazis und Linken, Pro-Hitler und »Juden-ins-Gas«-Parolen brüllten, im ganzen Land. Doch das war eben nicht »der« Islam und es waren nicht »die« Muslime und schon gar nicht »die Flüchtlinge«, die zu großen Teilen aus islamistischen Ländern geflohen sind. Jihadisten gehen ja vielmehr von Düsseldorf, Berlin oder Neu-Ulm in den »Heiligen Krieg« in den Nahen Osten und nicht andersherum.

PEGIDA indiziert, zu was das WM-Wahn-Land Deutschland im Jahr 2014 fähig ist und in den kommenden Jahren fähig sein wird. Für was stehen PEGIDA, DÜGIDA, BOGIDA und alle anderen rechten Aufmärsche? Wer sich die Aufmärsche anschaut, erkennt neben vorbestraften Kriminellen und Neonazis vor allem ganz normale deutsche Spießbürger auf der Straße. Schwarzrotgold ist ihre Fahne und Strategie, »wir sind das Volk« und »IHR nicht« ihre Parole und »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus« der Sinngehalt, Agitation gegen »das System« aus Medien und Politik die Taktik, das als Fackel umfunktionierte Mobiltelefon ihr Symbol, die Gleichsetzung von Täter (SS-Staat) und Befreier (UdSSR) ihre mainstreammäßige Ideologie, dazu als altdeutsches Pendant »Familie, Heimat und Patriotismus« statt »Gender-Mainstreaming und Diversität«, Nationalismus, völkische Homogenität und Hass auf Andere ihr Motiv und Weihnachtslieder ihre Melodie.

Angesichts von Millionen Flüchtlingen weltweit ist die Anti-Flüchtlingsbewegung PEGIDA eine Schande für die Menschheit. PEGIDA ist ein Indikator für die politische Kultur in der Bundesrepublik. Sie zeigt die »Salonfähigkeit der Neuen Rechten« an.

 

[i] Heinrich Jansen Cron (1939): Weihnachten fern der Heimat. Ein Heft der einsamen oder gemeinsamen Weihnachtsfeier draußen, Köln: J.P. Bachem, S. 3.

[ii] Heinrich Jansen Cron (1940): Neues Leben. Ein Ostergruss seelischer Erstarkung, Köln: J. P.. Bachem, S. 3, Herv. d.V.

 

Dr. phil. Clemens Heni ist Politikwissenschaftler und Direktor des Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA). Er ist Autor von fünf Büchern, zuletzt erschien „Kritische Theorie und Israel“ (Berlin 2014).

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