Hagalil, 04.05.2005

Das deutsche Feuilleton bzw. das, was sich dafür hält, hyperventiliert. Da haben die Deutschen einen Film wie den Untergang zu einem weltweiten Schlager gemacht, gleichsam der BRD-Hitler-Welle der 70er Jahre eine noch größere folgen lassen – beides Mal war Joachim Fest der praeceptor germaniae -, da wird ein deutscher Katholik erster Stellvertreter in Rom und kluge englische Journalisten bringen alles durcheinander. Auch in Ratzingers frühem Wohnort Traunstein hat es Nazi-Verbrechen gegeben – wer hätte das gedacht?

Nun, in England ist das eine Erwähnung wert, eine Analyse vor Ort. Es wird schnell klar, es gab ein KZ-Außenlager in der Nähe, 1938 die Reichspogromnacht, polnische Sklavenarbeiter machten die Traunsteiner Bauern froh, ein Todesmarsch führte 1945 durch den Ort. Für ganz normale Deutsche keine Frage der Recherche sondern des Ressentiments: Engländer haben kein Recht uns immer mit der Geschichte zu kommen.

Joachim Fest sticht nicht nur als BILD-Ankläger gegen die englische Presse hervor. Auch an unbekannteren Texten von Fest kann sein deutsches Weltbild, das die Ich-schwache Persönlichkeit so gerne und obsessiv ins Gemeinschaftliche, Existentielle zu transzendieren vermag, extrahiert werden. 1986 in „Der tanzende Tod“ versucht Fest sein eigenes gegenaufklärerisches Weltbild als der Aufklärung verwandt zu deklarieren, indem er nicht nur der rationalistischen Aufklärung als movens das ‚Herrsein über den Tod‘ nachsagt, sondern insbesondere den „Tode fürs Vaterland“ predigt, da nur dieser als „Sterben für das Allgemeine die Summe unseres Vergnügens“ sei, wie Fest sich an die Worte Thomas Abbts von 1761 mimetisch anschmiegt. Das „Vorlaufen zum Tode“, das die menschenverachtende Existentialontologie Martin Heideggers so prägnant kennzeichnet, läßt grüßen. Fest kreiert zudem ein antiamerikanisches Ressentiment, wenn er „die übermächtige Neigung“, den Tod „zu vertreiben und gleichsam zum ‚Tod in Hollywood‘ umzubilden“ geißelt. Schuld daran sei eine „Weltkultur“, die „neben anderen Eigenarten auch jene ‚Sympathie mit dem Tode‘“ einzuschmelzen beginne. Dieser Haß auf den melting pot hatte bereits Henning Eichberg, der godfather der Neuen Rechten in der BRD seit den frühen 1970er Jahren, angetrieben, kulturrelativstische und antiuniversalistische Ideologeme zu basteln.

Vom „Untergang“ redete schon Fests Freund, Verleger und HJ-Kollege Wolf Jobst Siedler, der 1986 zu Fests 60. Geburtstag gratulierte und damit die „barocken Städte“ meinte, das „leistungsstarke Bürgertum“ in Deutschland im 19. Jh. mithin, das durch Hitler „in den Strudel gezogen wurde“.

Fest trauert Hitler nach: „Zum Einzigartigen, das mit dem Namen Hitlers verbunden ist, gehört seine unverminderte Gegenwärtigkeit. Selbst fünfzig Jahre nach seinem Ende behauptet er eine Zeitgenossenschaft (…) Sie äußert sich in Exorzismen“. Hitler habe versäumt, so heißt es lamentierend, „dem Feldzug gegen die Sowjetunion europäischen Zuschnitt zu geben“. In einer Art Hassliebe ist Fest in seinen Hitler vernarrt, denn es zeigten sich anthropologische Gewißheiten in dessen Person, die ohne ihn nicht ans Tageslicht gekommen wären, wie Fest betont. Auschwitz gereicht Fest somit zum Beweis des Bösen, das in allen Menschen stecke. Von den 1042 Seiten seiner Hitler-Biographie behandeln läppische 6 die Vernichtung der europäischen Juden, unter dem Titel „Endlösung“, die vor der deutschen Bevölkerung, die als reines Objekt Hitlers vorgestellt wird, geheimgehalten worden sei. Deshalb hat Fest nicht nur eine Hitler- sondern auch eine Albert Speer-Biographie verfasst und vor wenigen Wochen nachgelegt mit einem Band über Speer, in dem es um ‚die letzten Fragen geht‘, deren Antworten auch ein Massenmörder wie Albert Speer, der die letzten gut 15 Jahre seines Lebens gar in Freiheit verbringen durfte und mit Fest die ganze Zeit plauderte, nicht kenne. Fests Agnostizismus ist historistisches Einverständnis mit dem Nationalsozialismus.

In diesen Tagen gab er in einer RTL Dokumentation, für die er neben Peter Kloeppel verantwortlich zeichnet, bekannt, dass die Deutschen Hitler eben gewählt hätten, weil er 1933 derjenige war, der ein Eisernes Kreuz aus dem I. WK vorzuweisen gehabt hätte. Mit solchen Phantasmen lenkt Fest von der deutschen Sehnsucht nach einem nationalen Sozialismus und völkischer Homogenität ab, deren Kern, der eliminatorische Antisemitismus, allerdings auch von Hans Mommsen oder Götz Aly verleugnet wird. In Kontrast zu diesen Sozialhistorikern jedoch beschuldigt Fest nicht seinen von ihm verehrten Vorgänger als Feuilleton-Chef der FAZ, Karl Korn, den Nationalsozialismus bestärkt zu haben und die antisemitische Volksgemeinschaft der Deutschen tagtäglich als Journalist mit seinem Dienst am REICH (so hieß die Zeitung, für die Korn arbeitete, bis 1945) perpetuiert zu haben; Nein: die ’68er seien die wahren Nazis von heute, wenn sie am Begriff der „Gesellschaft“ festhielten und nicht anthropologisch und historistisch, den Blick auf die großen Männer gerichtet – nichts „interessiere den Menschen so sehr wie der Mensch“, so Fest in Unterprimaner-Diktion 1982 – dächten: „Denn vielleicht sind es die Söhne Adolf Eichmanns, die hier ihren Fluchtbedürfnissen nach gehen. Dieser hatte ja, wieder und wieder, behauptet, an der moralischen Katastrophe seines Lebens sei niemand anderes als die Gesellschaft schuld; er sei nur immer deren Reflex gewesen. So, wörtlich, sagt das der Linke Schicksalsglaube von heute auch,“ so Fest 1981 in seinem Band „Aufgehobene Vergangenheit.“ Da lacht die Deutsche Stimme.

Schließlich erschien in der Berliner Zeitung am 09. April 2005 ein Interview mit Fest, das die Deutschen in die Ecke getrieben sieht. „Die Deutschen sind ein wunderbarer Sündenbock, und sie spielen diese Rolle auch sehr gut.“ Er kramt die in rechtsextremen Kreisen, aber durchaus auch im deutschen mainstream beliebte Figur des jüdischen Kronzeugen hervor: Hannah Arendt, mit der Fest meint befreundet gewesen zu sein, habe auch etwas gegen „Reue-Deutsche“ gehabt. Er will nicht glauben, dass „die Französin Simone Veiel [!] in Auschwitz sagte, sie müsse jeden Tag beim Gedenken an die Opfer weinen“.

Simone Veil, Präsidentin der französischen Stiftung Fondation pour la Mémoire de la Shoah, hatte in einer Gedenkansprache am 27. Januar 2005 im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz gesagt, dass sie immer, wenn sie an die in Auschwitz und an anderen Orten ermordeten Millionen Kinder, Frauen und Männer denkt, weine und sich frage: was wäre aus diesen Menschen geworden? Welche Hoffnungen wurden da zerstört? Sie selbst wurde im April 1945 von der Britischen Armee in Bergen-Belsen befreit. Bald wurde ihr bewußt, dass die Deutschen nichts wissen wollten von ihren unsagbaren Leiden, von ihrer ermordeten Familie, von den ermordeten Juden Europas. So wie der Sozialphilosoph Hermann Lübbe 1983 sagte, dass das Beschweigen der deutschen Verbrechen notwendig gewesen sei für die Deutschen um stabile Demokraten zu werden, um so mehr wollen sie jetzt reden, die alten deutschen Männer und Frauen, die ihre Ich-Schwäche allzu extrovertiert nach außen kehren im Schwelgen ob des Reitens, Schwimmens, Wanderns und Singens bei den gemeinschaftsorientierten Massenorganisationen des NS wie der HJ oder dem BDM. Darüber hinaus ist, wie Esther Dischereit einmal schrieb, schon das Bildchen auf der Wohnzimmerkommode des im II. Weltkrieg gefallenen Sohnes, wo auf der Uniform noch das kleine Hakenkreuz oder die SS-Rune zu sehen sind, ein allzu beredter Ausdruck der nachtrauernden Liebe zum NS. Die (Erinnerungs)Todesanzeigen in der FAZ bestätigen das auf ihre Weise tagtäglich.

Auf alle Fälle wollen die Deutschen 60 Jahre nach Auschwitz ohne antifaschistische oder gar englisch-antideutsche Kommentare ihren Untergang, ihren Hitler, ihre HJ-Generation abfeiern. Fest bemängelt im Interview, Jugendliche wüßten zu wenig über den Nationalsozialismus, weil sie zuviel davon erführen: „Am Tage des 60. Jahrestages der Auschwitz-Befreiung hat ein Bekannter von mir im Fernsehen alleine 32 Beiträge gezählt, die sich mit dem Dritten Reich beschäftigt haben.“ Denn: „Auschwitz wird als eine jüdische Ikone präsentiert.“ Eine Ikone ist ein Bild der Verehrung in der christlichen Malerei, dessen Hintergründe meist in Gold gehalten werden. Man kann in Fests ungeheuerlicher Aussage den antimammonistischen Topos der um das goldene Kalb tanzenden Juden unschwer herauslesen. Auch hier gereicht Juden die Verehrung einer Ikone zu Ruhm und Macht. Heute tanzen sie um Auschwitz herum, möchte der antisemitische Deutsche insinuieren, und kriegen dafür prompt an einem Tag 32 TV-Sendungen über ‚ihre Ikone‘.

Da helfen nur englische Fußball-Fans, die in London beim Spiel Chelsea gegen München die Arme zu Flügeln ausbreiteten und – Deutschland vor Augen – in historischer Reminiszenz Flugzeug-Fliegen spielten. Wenigstens etwas.

hagalil.com 04-05-2005