Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Rechtsextremismus

Gegen die AfD demonstrieren, aber Antisemitismus und Israelhass goutieren? Was ist los in diesem Land?

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA), 21. Januar 2024

Gestern demonstrierten Hunderttausende gegen die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD), die im November 2023 nahe Potsdam ein Treffen abhielt, an dem Neonazis und andere Rechtsextreme teilnahmen und Ideen für die „Remigration“ von in Deutschland (oder Europa) lebenden Migrant*innen diskutierten. Diese Ideen sind typisch für den Rechtsextremismus seit Jahrzehnten und sicher nichts Neues.

Vorgestern nun verabschiedete der Deutsche Bundestag ein Gesetz, das die „doppelte Staatsbürgerschaft“ enorm vereinfacht und zur Regel macht für Migrant*innen. Es zeigt wie aussichtslos und grotesk die Pläne oder Fantasien der Neonazis und der AfD sind. Dabei ist dieses neue Gesetz der Bundesregierung sehr problematisch. Es erlaubt Menschen mit extremistischen Vorstellungen – wovon wir auch unter Migrant*innen enorm viele haben – die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen und somit alle Reisefreiheiten und sonstigen Annehmlichkeiten, die das so mit sich bringt.

Der Kern meines Problems mit diesen Wohlfühl-Demos gegen Nazis und die AfD in Heidelberg, Stuttgart, Karlsruhe etc. pp. – insgesamt über 300.000 Demonstrant*innen bundesweit, zudem die Tage zuvor weitere Hunderttausende auf Großdemos in Berlin, Hamburg, Köln, Hannover etc. – ist Folgendes:

  •  Wo waren diese Hunderttausenden Menschen nach dem 07. Oktober 2023, als auf unsagbar bestialische Art und Weise jüdische Frauen von Muslimen, Arabern und Palästinensern vergewaltigt, gefoltert, verstümmelt, ermordet oder bei lebendigem Leib verbrannt wurden?
  • Wo waren diese Hunderttausenden Menschen nach dem 07. Oktober 2023, als Babies enthauptet wurden, Männer, Alte, Behinderte, Holocaustüberlebende und Kinder massakriert, 1200 von ihnen ermordet und 240 in den Gazastreifen entführt wurden, wo bis heute 130 Geiseln festgehalten werden und viele tagtäglich unerträgliche Qualen erleiden, manche schon an nicht behandelten Verletzungen und Krankheiten qualvoll gestorben sind?
  • Wo waren diese Hunderttausenden Menschen nach dem 03. November 2023, als 3000 Islamisten und Jihadisten, darunter auch viele verschleierte junge Frauen mit Kopftuch oder/und Gesichtsschleier in Essen ein Kalifat forderten?
  • Wo waren diese Hunderttausenden Menschen, die doch angeblich gegen jede Form von Hass, Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung sind, als in Berlin und anderswo nach dem Massaker der Terrororganisation Hamas und anderer ganz normaler Palästinenser vom 07. Oktober 2023 Judensterne an Häuser und Wohnungstüren gemalt wurden?
  • Wo waren diese Hunderttausenden Menschen, als es darum ging und geht, die Freilassung der jüdischen Geiseln aus den ekligen Klauen der Palästinenser und der Hamas zu befreien?
  • Wo waren die da?
  • Sie haben geschwiegen, weil der überwältigen Mehrheit derer, die gestern gegen die AfD demonstrierten, Judenhass nicht nur völlig egal ist, sondern sie selbst antiisraelische und somit antijüdische Ressentiments pflegen. Anders ist ihr Schweigen nach dem 07. Oktober 2023 nicht zu erklären, denn es gab ja Demonstrationen und Kundgebungen, die aber waren erbärmlich schwach besucht und wurden häufig von migrantischen, muslimischen, arabischen, rechten oder linken Hetzer*innen (auch und häufig migrantischen Jugendlichen) gestört.

Rechtsextremismus ist eine große Gefahr. Der Islamismus ist eine große Gefahr und weltweit betrachtet die viel größere Gefahr, da es über eine Milliarde Muslime gibt, von denen ein Großteil antisemitisch ist, von Indonesien bis Marokko gab es nicht eine Großdemonstration mit Israelfahnen und gegen den islamistischen Terror der Palästinenser und der Hamas.

Das größte Massaker an Juden seit dem Holocaust führte in Deutschland gerade nicht zu Hunderttausenden, die gegen Israelhass, Antisemitismus und Antizionismus demonstrieren. Hingegen führt ein ganz typisches Treffen von Rechtsextremen dazu, dass das Land mal wieder so tut, als sei es offen, tolerant und natürlich für Menschenrechte. Doch wo war der Aufschrei, als nicht nur die Menschenrechte, sondern das Leben von über 1200 Jüdinnen und Juden in Israel durch Muslime ausgelöscht wurde?

Wo war der Aufschrei, als Tausende im ganzen Land die Pogrome der Hamas und der Palästinenser feierten und eine typische antisemitische Täter-Opfer-Umkehr stattfand?

Wo ist der Aufschrei, wenn ein Land wie Südafrika die unsagbare Frechheit und Anmaßung an den Tag legt und den Opfern genozidaler Gewalt – Juden und Israel – „Genozid“ vor dem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag vorwirft? Jetzt wäre es doch mal wieder an der Zeit, einen Boykott Südafrikas zu fordern, wie seinerzeit zu Apartheidzeiten.

Da war kein Aufschrei. Und da war und da ist deshalb kein Aufschrei, weil es gegen Juden geht.

Deutsche mögen weiterhin vor allem die toten Juden – Islamisten gar keine.

Und deshalb gibt es in Deutschland Massendemonstrationen gegen Nazis und die AfD und dröhnendes Schweigen und Kichern, wenn Juden durch Muslime abgeschlachtet werden und Muslime in Deutschland das dann feiern und zum Widerstand oder zu „Free Free Palestine“ aufrufen, was einem Genozid gleichkäme.

Wer gegen die AfD demonstriert, fühlt sich gut.

Wer zum Judenmord der Muslime schweigt, fühlt sich offenbar auch gut.

Die Palästinenser wollten Juden auf seit der Shoah nicht gekannte Art und Weise demütigen und ermorden, damit der Staat Israel so geschockt sein würde, dass er handlungsunfähig werden würde. Dabei wollten die Islamisten und antizionistischen Antisemiten auch die enorme innere Spaltung Israels seit Anfang 2023 ausnutzen, als wöchentlich Hunderttausende gegen die Pläne einer „Justizreform“ der rechtsextremen Regierung unter Benjamin Netanyahu demonstrierten. Doch exakt diese Anti-Bibi und IDF-Leute waren es, die sich zu Hunderttausenden als Reservist*innen meldeten. Nie war Israel geschlossener als seit dem 07. Oktober 2023 – und gerade die Friedensaktivist*innen im Süden Israels, im Negev und unweit des Gazastreifens, linke Zionist*innen, die sich für die Palästinenser einsetzten, wurden ermordet und entführt, ihre Häuser mit den Bewohner*innen niedergebrannt.

Die Hamas will ein Land vom Mittelmeer bis zum Jordan – und Israel zerstören. Doch jene, die jetzt gegen die AfD demonstrieren ignorieren das oder sie haben die gleichen antisemitischen Ressentiments.

Der Publizist Volker Weiß brachte es vor einigen Wochen so auf den Punkt:

Die liberale Mitte verharrt in ihrem Bedürfnis nach Äquidistanz – und die meisten Bürgerinnen und Bürger wollen am Sonntagnachmittag lieber einen letzten Kaffee in der Herbstsonne trinken, als auf die Demo für die Opfer der Hamas zu gehen.

Der Kampf gegen Antisemitismus jedoch ist sehr vielfältig, er ist zum Beispiel ein Kampf gegen die AfD und die Nazis auf der einen und ein Kampf gegen muslimischen Antisemitismus, gegen palästinensischen und jeden sonstigen Antizionismus auf der anderen Seite.

Wer schließlich die rassistischen Fantasien von heutigen Nazis und der Abschiebung (!) von Menschen mit der Wannsee-Konferenz, der Deportation und Vergasung/Vernichtung in Beziehung setzt, verharmlost die Shoah.

Wer den Unterschied zwischen Abschiebung und Deportation nicht kennt, sollte mit der Analyse des Nationalsozialismus und der Shoah nochmal ganz von vorne anfangen. Das betrifft auch die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD):

Bundesinnenministerin Nancy Faeser fühlt sich durch das kürzlich bekannt gewordene Treffen von Rechtsradikalen in Potsdam an die Wannseekonferenz der Nationalsozialisten erinnert. „Das weckt unwillkürlich Erinnerungen an die furchtbare Wannseekonferenz“, sagte die SPD-Politikerin der Funke Mediengruppe. Sie wolle beides nicht miteinander gleichsetzen. „Aber was hinter harmlos klingenden Begriffen wie „Remigration“ versteckt wird, ist die Vorstellung, Menschen wegen ihrer ethnischen Herkunft oder ihrer politischen Haltung massenhaft zu vertreiben und zu deportieren.“

Hingegen analysiert der Journalist Peter Nowak:

Politisch noch absurder ist der Vergleich mit der Wannseekonferenz, auf der der Massenmord an den Juden besprochen wurde. Selbst eigentlich progressive Jurist*innenverbände schlagen in diese falsche Kerbe, in dem sie von Wannsee 2.o reden. Das ist aber ein bedeutender Rückschritt in einer linken Debatte, die sich auch etwas genauer mit der Shoah und dem mörderischen deutschen Antisemitismsu befasst hat. Die Vernichtung der Juden war ein deutsches Mordprojekt und ist in keinen Fall mit Diskussionen über Deportationen von Geflüchteten zu vergleichen. Mir ist nicht bekannt, dass jemand behauptet hat, beim Treffen in Potsdam wäre die Vernichtung von Geflüchteten besprochen worden. Die Remigrationskonzepte sind zu bekämpfen, egal, ob sie von SPD, Union oder Rechtsaußen forciert werden. Sie sind aber nicht die Vorstufe der Shoah. Hier werden einfach alle Erkenntnisse der jahrelangen Diskussion über Antisemitismus negiert.

Es gab gestern sicherlich auch seriöse Demonstrant*innen, die nicht anti-israelisch sind und die auch auf Kundgebungen für Israel und gegen die Hamas teilnahmen. Die übergroße Mehrheit aber, die gestern und die letzten Tage gegen die AfD und den Rechtsextremismus auf die Straße ging, die war empirisch verifiziert nicht auf der Straße als es um die Solidarität mit Israel und den Juden ging. Und das sagt uns alles.

Das ist ein Zeichen der politischen Kultur in diesem Land, es indiziert, was als schockierend empfunden wird und wogegen Hunderttausende demonstrieren – Treffen von Neonazis und der AfD – und was nicht als schockierend empfunden wird und wogegen nur ganz wenige in Deutschland demonstrieren – Vergewaltigungen von jüdischen Frauen und das Abschlachten von 1200 Juden am 07. Oktober 2023 im Süden Israels und das Entführen von 240 jüdischen Geiseln durch Palästinenser und die Hamas, von denen noch heute 130 festgehalten und gequält werden.

 

Gibt es eine linke Kritik der Zeugen Coronas? Wer die irrationale Coronapolitik kritisiert, sollte vom Antisemitismus im Libanon, der Hisbollah oder der Deutschen Welle nicht schweigen

Von Dr. phil. Clemens Heni, 20. Dezember 2021

Ich hab mehrfach und ausführlich über problematische Aspekte beziehungsweise Ideologeme in der Coronakritiker*innenszene berichtet. Seien es Verschwörungsideologien bei Portalen wie Rubikon, Multipolar, Ressentiment gegen das Geld bei Lisa Fitz und ihren Fans bei den NachDenkSeiten, ein entspanntes Verhältnis zum Verbrennen von Israelfahnen bei Ulrike Guérot, noch viel krassere connections wie jene des Basis-Bundestagskandidaten Ernst Wolff zur Anti-Zensur-Koalition … Ausführlich zu Achgut, Kaiser TV, NDS, Rubikon und anderen schreibe ich in meinem Buch „Die unheilbar Gesunden„, z.B. das hier:

Die AfD plakatiert zum Bundestagswahlkampf 2021 „Deutschland. Aber normal“. Diese Normalität schon lange vor Corona ist das Problem. Deutschland ist das Problem. Am 11. Mai 2019 fand die „Erste Konferenz der freien Medien“ der AfD im Deutschen Bundestag statt. Geladen waren bekannte rechte Redner*innen, eine Stellwand zeigte eine Liste derjenigen, die unter „freien“ oder nicht-mainstreamigen Medien gemeint sind: Vom rechtsextremen Compact Magazin von Jürgen Elsässer über PI-News hin zu Kla.TV und AZK, der Anti-Zensur-Koalition und vielen anderen.[1] Die AZK ist eine vom Sektenführer (Organische Christus-Generation, OCG) Ivo Sasek aus der Schweiz gegründete Gruppierung. 2012 sprach die Holocaustleugnerin Sylvia Stolz auf der AZK Konferenz und Sasek war ganz gerührt von ihrem Vortrag, für den sie später verurteilt wurde.[2] Kla.TV (Klagemauer TV) ist auch ein Projekt, das Saseks Ideologie promotet, gegen Israel Stimmung macht, es als „Apartheid“ diffamiert und z.B. die mit der BDS-Bewegung sehr wohl kokettierende Nirit Sommerfeld interviewt.[3] Auch der Querdenken-Redner Heiko Schrang, der im August 2020 in Berlin auf einer großen Demonstration sprach, wurde von Kla.TV schon interviewt.[4]

(…)

Die radikalen Abtreibungsgegner*innen und Antifeminist*innen von Kla.TV[1] promoten weite Teile der Coronapolitik-Skeptiker*innen-Szene wie Samuel Eckert, Oliver Janich und Heiko Schrang.[2] Kürzlich wies mich ein linker und kritischer Leser meiner Seite darauf hin, dass in dem eigentlich in vielen Punkten interessanten und wichtigen Papier „Covid-19 ins Verhältnis setzen“[3] einer Arbeitsgruppe um die Professorin für Politikwissenschaft Ulrike Guérot und die Rechtsanwältin Jessica Hamed (die beiden sind die bekanntesten Namen der Gruppe), auf das ich ja in diesem Buch ausführlich eingehe, zum Beispiel die Fußnote 247 auf Seite 40 irritiere. Diese Fußnote zitiert eine Homepage mit dem Namen „wissenschaftstehtauf“.[4] Das ist ein Zusammenschluss von aktuell 60 Personen (Stand 21.08.21), der sich auf Anregung des Corona-Untersuchungsausschuss zusammengefunden hat und dem Mantra, es gebe nur die eine wissenschaftliche Position zu Corona, völlig zurecht widerspricht. Doch ist „wissenschaftstehtauf“ seriös? Mit dabei sind viele der bekanntesten Gesichter der Corona­politik-Kritiker- oder Skeptiker*innen-Szene: der Philosoph Michael Esfeld, der Kinderarzt Steffen Rabe, der Arzt Gunter Frank, der YouTuber Gunnar Kaiser, die Basis-Politiker Wolfgang Wodarg und Sucharit Bhakdi, der Verschwörungsideologe Daniele Ganser, der konservative Publizist Raymond Unger,[5] der AfD-nahe CDU-Politiker Max Otte oder eben auch und insbesondere der ehemalige Referent bei der Anti-Zensur-Koalition (AZK) Ernst Wolff.

(…)

Ernst Wolff sprach 2021 mit dem Internetportal NuoViso.[1] Auch die von Main­stream­medien wie Sat1 bekannte Journalistin Milena Preradovic sprach 2021 mit NuoViso und dem Sendungsmacher Robert Stein.[2] NuoViso hat eine eindeutige extrem rechte Ausrichtung, wie die taz 2017 berichtete (…).

[1] https://nuoviso.tv/steinzeit/steinzeit-tv/der-digital-finanzielle-knast-ernst-wolff-bei-steinzeit/. Wolff tritt am zur Bundestagswahl 2021 in Sachsen-Anhalt im Wahlkreis 70 Dessau-Wittenberg als Direktkandidat für die Partei Die Basis an, https://diebasis-st.de/allgemein/diebasis-stellt-direktkandidaten-auf/.

[2] https://nuoviso.tv/steinzeit/steinzeit-tv/die-zeit-des-hypermoralismus/.

[1] https://www.kla.tv/Abtreibung.

[2] https://www.kla.tv/HeikoSchrang/16959.

[3] https://coronaaussoehnung.org/wp-content/uploads/2021/07/Corona_ins_Verhaeltnis_setzen_Update_15-Juli-2021.pdf.

[4] https://www.wissenschaftstehtauf.de/.

[5] https://www.editioncritic.de/allgemein/autorin-des-verlags-edition-critic-widerrechtlich-zitiert-von-raymond-unger/.

[1] https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2019/05/21/erste-konferenz-der-freien-medien-wie-die-afd-rechte-blogger-und-identitaere-in-den-bundestag-einlud/. Bei der Ausgabe  dieses Who is Who der rechten Medien von 2020 sprach auch der Publizist Norbert Bolz vor der AfD, https://www.youtube.com/watch?v=2Sy21OyseFg&list=PLqubM6Pk6_adVa5Ywrt1FSskc2JNrzp1U&index=11.

[2] https://www.sueddeutsche.de/muenchen/urteil-des-landgerichts-rechtsextreme-ex-anwaeltin-muss-in-haft-1.2367053; https://www.derstandard.de/story/2000118879081/holocaust-verschwoerung-und-diverse-dunkelziffern-die-irre-welt-des-ivo.

[3] „Wenn der Jerusalemsverein doch einmal Israelis zu Wort kommen lässt, dann sind es vorzugsweise solche wie Nirit Sommerfeld von der ‚Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost‘, einer Initiative, die wiederum eng mit der Boykott-Bewegung verwoben ist. Und auch der ‚Weihnachtsaufruf aus Bethlehem 2020‘ beinhaltete zahlreiche Passagen aus ‚Ein Moment der Wahrheit‘, in denen ebenfalls zum Boykott gegen Israel aufgerufen wird“, Ralf Balke (2021): Jerusalemsverein. Dringender Handlungsbedarf, https://www.juedische-allgemeine.de/politik/dringender-handlungsbedarf-2/, 18.03.2021.

[4] https://www.kla.tv/HeikoSchrang.

Wenn man dann zum Beispiel bei einem der Top-Wissenschafts-Blogger zu Corona im deutschsprachigen Raum, Dr. Peter Mayer aus Österreich, in einem Reisebericht vor wenigenWochen lesen kann:

Der Libanon

Einstmals als die Schweiz des Ostens berühmt, leidet das Land seit Jahrzehnten unter seinen Nachbarn, insbesondere Syrien und Israel, sowie der seit dem Bürgerkrieg vorgenommenen Aufteilung der politischen Ämter und Posten auf die einzelnen religiösen Sekten.

, dann werde ich da skeptisch. Denn von wem geht im Libanon die Gefahr aus? Von der Korruption, ja, aber doch vor allem von der islamistischen Terrororganisation Hisbollah. Dass der Libanon von Israel bedroht sei, ist völlig widersinnig: die Israelis zogen sich sogar aus dem Südlibanon zurück und werden seither in regelmäßigen Abständen von der Hisbollah und ihren Freunden bedroht, und zwar mit ideologisch-antisemitischer Hetze wie auch mit Terroranschlägen oder Raketenangriffen. Doch davon nicht ein Wort bei tkp.at Peter Mayer. Warum?

Was sagt er zu Jordanien?

Jordanien ist hervorragend organisiert, Sicherheit wird penibelst betrieben, Koffer beim Check in im Hotel durchleuchtet. Die Fahrt von Amman am Toten Meer vorbei ist ein Erlebnis. Man kommt relativ rasch von 1000 Meter Höhe auf 400 Meter unterhalb des Meeresspiegels und spürt das durchaus. Und die ganze Zeit gegenüber nur einige Tausend Meter entfernt Palästina oder Israel.

Da würde ich erstmal aus eigenem Erleben ergänzen: Die Fahrt von Jerusalem ans Tote Meer ist übrigens auch ein berauschendes Erlebnis, zumal wenn man zuvor den Blick hinunter vom Mount Scopus an der Hebräischen Universität Jerusalem genossen hat. Problem: Auf dem Weg dorthin kommt man bei den Palästinensern vorbei, es kann passieren, dass man an einer Raststätte „NGO-Mitarbeiter“ trifft, die sich nach einigen mega lustigen „you are from Germany, great!“-Augenzwinkern als Hamas-Leute entpuppen. Also am besten auf dem Weg zwischen Jerusalem und dem Toten Meer keine Stopps einlegen.

Zurück zu Peter Mayer: Jordanien mag „gut organisiert“ sein und hat ja sogar einen Friedensvertrag mit Israel, aber vom auch heute virulenten Antisemitismus kein Wort. Dagegen berichtete jüngst wieder die FAZ zum Antisemitismus im Libanon sowie in Jordanien am Beispiel der „Deutschen Welle“:

Abermals muss sich die Deutsche Welle (DW) mit Antisemitismus-Vorwürfen gegen einen ausländischen Medienpartner beschäftigen. Nachdem der deutsche Auslandssender die Kooperation mit dem jordanischen Sender Roya TV unter anderem wegen antisemitischer Karikaturen ausgesetzt hat, veröffentlichte das Magazin „Vice“ am Mittwoch eine weitere Recherche, wonach der libanesische Kooperationspartner Al Jadeed TV ebenfalls antisemitische Inhalte verbreiten soll. In einem Bericht von Al Jadeed TV im Jahr 2015 sollen etwa Funktionäre der Schiitenmiliz Hizbullah unwidersprochen von den „Heldentaten“ eines Terroristen erzählen, der in einer israelischen Kleinstadt eine Familie ermordet haben soll. Der Sender soll zudem ohne Einordnung „minutenlang Propaganda-Videos“ der Schiitenorganisation gesendet und Israel immer wieder als „zionistischen Feind“ oder „räuberische Zionisten“ bezeichnet haben. Attentäter, die Israelis angreifen, würden als „Märtyrer“ oder „Helden“ bezeichnet.

Rückblick und ideologiekritischer Ausblick: In meinem Verlag Edition Critic habe ich 2011 das Buch „Muslimischer Antisemitismus“ des zu Lebzeiten weltweit renommiertesten Antisemitismusforschers Professor Robert S. Wistrich (1945-2015) aus dem Englischen übersetzt, darin steht:

Eine ähnlich radikale Ideologie motiviert die schiitisch-libanesische Bewegung Hizballah („Partei Gottes“), die im Zuge der Invasion Israels in den Libanon im Jahr 1982 zu Bekanntheit gelangte. Ihre totale Ablehnung der Existenz Israels und ihre Sicht des Judaismus als dem ältesten und erbittertsten Feind des Islam verdankt sie hauptsächlich den „antizionistischen“ Predigten Ayatollah Khomeinis und der symbiotischen Beziehung, die sie mit der Islamischen Republik Iran pflegt.

(…)

Der Rückzug Israels aus dem Libanon im Jahr 2000 wird als nicht mehr denn ein Vorgeschmack der zukünftigen Vernichtung des großen „gewaltigen Feindes“ des Islam gesehen – Israel wird von der Hizballah (wie auch in der iranischen Propaganda) häufig als ein „Krebs“ und als Gift beschrieben, das die ganze Welt bedrohe.

Der führende Kleriker der Hizballah, Scheich Husayn Fadlallah [1935–2010], betonte in den 1990er-Jahren immer wieder, Israel sei nicht nur ein jüdischer Staat im formalen Sinne des Wortes. Vielmehr sei es der absolute Ausdruck des korrupten, betrügerischen und aggressiven „Jüdischen“ an sich. Juden seien tatsächlich aufgrund ihres „Rassismus“ und ihrer herablassenden Haltung gegenüber anderen Völkern, sowie wegen ihrer unbarmherzigen Zuneigung zu globaler Dominanz „die Feinde der ganzen Menschheit“. In einem Interview in den späten 1980er-Jahren drückte Fadlallah bereits eine weithin geteilte fundamentalistische Haltung über die angeblich unbegrenzten jüdischen Ambitionen aus:

„Die Juden wollen eine Weltsupermacht sein. Dieser rassistische Zirkel von Juden will an der ganzen Welt Rache für ihre Geschichte der Verfolgungen und Demütigungen nehmen. Angesichts dessen arbeiten die Juden auf der Grundlage, dass jüdische Interessen über allen Weltinteressen stehen.“[i]

Die durchweg kompromisslose Philosophie der Hizballah, die einen umfassenden Krieg gegen Israel, den Zionismus und die Juden führt, hat eine unmissverständliche, virulent antisemitische Basis, die verknüpft ist mit ihrer alles bestimmenden panislamischen revolutionären Perspektive.

(…) Manchmal werden auch Holocaustleugnung und der „Zionismus ist Nazismus“-Mythos gekoppelt, wie in einer Antwort des staatseigenen syrischen Radios Ende Februar 2000 in Bezug auf den damaligen israelischen Außenminister David Levy und dessen in der Knesset vorgetragene deutliche Warnung an den Libanon, die Hizballah endlich in die Schranken zu weisen. Das syrische Radio beschuldigte Israel prompt, „die Rolle der Nazi-Massenmörder zu spielen, die, laut den Zionisten, die Juden in Auschwitz verbrannt hätten“. Das staatlich betriebene libanesische Fernsehen sendete am 28. Februar 2000 ein Echo zu dieser syrischen Propaganda, indem es Bilder von Opfern von Angriffen der IDF im Libanon mit solchen aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern in Beziehung setzte, umschrieben mit den Worten: „Gleicher Hass. Gleicher Rassismus. Gleiche Kriminalität. Gleiche Geschichte.“[i]

(…)

Es wird oft übersehen, dass die arabische Welt schon vor siebzig Jahren stark mit dem Gift der Nazis infiziert war. In Ägypten, Syrien, dem Libanon, im Irak und in Palästina wurde das Beispiel Hitlers vielfach bewundert, und die arabische Identifikation wie auch Kollaboration mit dem deutschen Nationalsozialismus waren weitreichend.

Ein bedeutendes Beispiel für diesen Einfluss war die ägyptische Muslimbruderschaft, die 1928 von Hasan al-Banna gegründet wurde. Ein anderes notorisches Beispiel stellte die palästinensische arabische Nationalbewegung dar, angeführt von Haj Amin al-Husaini, der ein enger Vertrauter Hitlers und ein rabiater Antisemit war. Wie der Politikwissenschaftler und Antisemitismusforscher Clemens Heni in seiner neuen, umfassenden, sehr wichtigen und aktuellen Studie Schadenfreude. Islamforschung und Antisemitismus in Deutschland nach 9/11 zeigt, wurde dieser Einfluss bereits 1947 in einer Broschüre des Holocaustüberlebenden Simon Wiesenthal dokumentiert.

(…)

Abbildung 18–25

Antisemitische Karikaturen in der arabischen Welt während der Operation Cast Lead („Gaza-Krieg“, Dezember 2008/Januar 2009); 1. Reihe links: Al-Bayyan (Vereinigte Arabische Emirate), 28. Dezember 2008; Karikaturist: Hassan Idleby; rechts: Al-Ghad (Jordanien), 4. Januar 2009, Karikaturist ‚Imad Hajjaj; 2. Reihe links: Al-Ahram (Ägypten), 5. Januar 2009; rechts: Al-Ahram, 5. Januar 2009. 3. Reihe, links: Al-Hayat (London), 6. Januar 2009, Karikaturist: Habib Haddad; rechts: Al-Rays (Qatar), 27. Dezember 2008, Karikaturist: Fares Qarabet; Unterste Reihe, links: Al-Mustaqbal (Libanon), 29. Dezember 2008, Karikaturist: Hassan Bleibel; rechts: Al-Ghad (Libanon), 31. Dezember 2008, Karikaturist: ‘Imad Hajjaj.

[i]                       Filmmaterial des libanesischen Fernsehens vom 28. Februar 2000, das David Levy’s Rede in der Knesset, in der er (als Antwort auf Attacken der Hizballah) drohte, „die Erde im Libanon zu verbrennen“, mit Filmmaterial von Hitler’s Naziaufmärschen analogisierte.

[i]                       Middle East Insight, März–April 1988, S. 10.

 

Da wäre also ein kritischerer Blick auf den Antisemitismus im Libanon von Seiten Peter Mayers sicherlich nicht schlecht.

Also: die Coronapolitik-Kritiker*innenszene ist ein ganz typisches Abbild der Gesellschaft. Antisemitismus ist da ein typischer Bestandteil, nicht nur Kritiker*innen der Regierungspolitik zu Corona sind häufig Verschwörungsideologien gegenüber aufgeschlossen, sondern auch Anhänger*innen der ZeroCovid-Fraktion im Bundeskanzleramt und in der Gesellschaft. Antifeminismus und Pro-Natalismus und völliges Unverständnis für die Probleme einer zu stark mit Menschen bevölkerten Erde finden sich bei der Corona kritischen Seite Achgut nicht weniger als bei der die Corona Panikindustrie fütternden Bundesregierung und ihrer neuen Familienministerin (4 Kinder, wäre sie nicht besser bei der AfD aufgehoben, die Frau Spiegel?).

Stolz auf Deutschland findet sich beim Ex-Bundesinnenminister und Auftraggeber für das präzedenzlose Panikpapier schwarzer Pädagogik vom März 2020, CSU-Horst-Seehofer – die Blaupause für den gesamten totalitären Umbau unserer Gesellschaft – wie auch bei Querdenkern, die z.B. in Heilbronn am Wochenende auf einer Abschlusskundgebung einer Corona kritischen Demonstration mit über 1000 Teilnehmer*innen fabulierten, dass „wir mehr Nationalstolz“ brauchen würden und es „keine Schuld für Weltkriege vor 80 Jahren“ gebe (es gab auf der „Theresienwiese“ eine „Querdenken“-Fahne).

Die selbstverliebten „Guten“, die Antifa, sind zu den Fanatiker*innen geworden, die alle Menschen zwangsimpfen wollen gegen ein Virus, das für fast alle Menschen harmlos ist. Es kann jeden treffen, wie die Influenza oder ein Herzinfarkt, aber die Wahrscheinlichkeit ist in jungen Jahren und ohne Vorerkrankung unter 65/70 eben sehr gering. Als ich jüngst so eine fanatische, irrationale und aggressive Antifa-Frau in einem Video sah, musste ich nur lachen, da sie ca. 25 Jahre alt war und locker 95 kg wog bei einer Körpergröße von ca. 1,64 Meter. Da sollte sie sich mal überlegen, ob sie wegen ihrer Vorerkrankung nicht alle möglichen Krankheiten bekommen kann, egal wie oft sie geboostert ist. Aber klares Denken und rationales Analysieren der Gefahr eines Virus ist nicht angesagt, es gilt brutal die Impf-Apartheid durchzuboxen. Und ich sage es voraus: in einigen Jahren werden sich die Antifa-Historiker*innen für die heutige Antifa schämen wie für keinen anderen Vorgang in der langen Liste der Fehler der radikalen Linken in der BRD oder in Österreich, vom Judenhass und Entebbe etc. mal abgesehen, aber da gab es wie zu 9/11 immerhin noch Gegenstimmen, heute steht fast die ganze Linke stramm hinter „es-gibt-keine-roten-Linien-mehr“-Olaf S.

Und bei den Kommentaren auch hier auf meiner Seite gibt es leider zu viele Hirnlose – nicht nur Pro-Covid-Impf-Apartheidsfaschos, sondern auch andere Spinner aus dem Anti-Coronapolitik-Lager -, dass ich mir das nicht weiter antue, das versteht jeder, denke ich.

Jedenfalls nerven mich anti-israelische Texte oder Anti-Gender-Agitatoren und -Kommentator*innen, die es bei tkp.at und der gesamten Anti-Corona-Maßnahmen-Szene häufig gibt, da jene Ideologeme transportieren, die nicht minder gefährlich sind für eine demokratische Gesellschaft wie Impf-Apartheids-Wahnwichtel der deutschen Landesregierungen und der Bundesregierung.

 

 

Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus (Rezension zu Norbert Frei u.a.)

Von Dr. phil. Clemens Heni, 13. November 2019

Die ganze Rezension auf dem „Portal für Politikwissenschaft“ lesen.

„Dieser auf Initiative des Verlags entstandene Band von Norbert Frei und seinen Koautor*innen besteht aus acht Kapiteln, von denen jeder Autor und jede Autorin zwei verfasst hat, sowie den beiden gemeinsam geschriebenen einführenden und abschließenden Abschnitten.

(…)

Zentrale Elemente des neuen Nationalismus wie das „Sommermärchen“ von 2006 oder die höchst problematische Rolle der Massenmedien im Umgang mit der AfD wie beispielsweise in Talkshows in ARD und ZDF werden in dem Band nicht touchiert.

Unter dem Strich merkt man dem Buch an, dass Frei vom Ullstein Verlag zweimal gebeten werden musste, es auf den Weg zu bringen. Einzig Tändler hat einige interessante Abschnitte, die auch für die politikwissenschaftliche Forschung zur Neuen Rechten und dem erstarkenden Nationalismus relevant sind. Entgegen den Autor*innen geht es meines Erachtens gerade nicht um die richtige „Dosis“ an „Patriotismus“ ( 216), sondern um eine klare begriffliche und ideologiekritische Analyse und Kritik gerade auch des Begriffs „Patriotismus“ in Deutschland, um dem Nationalismus in die Schranken zu weisen. Die vier Autor*innen wenden sich gegen die „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ (207), wie sie von Björn Höcke und der AfD vertreten wird. Dabei unterstützen sie doch nicht weniger eine solche erinnerungspolitische Wende, wenn sie, wie gezeigt, Rot und Braun analogisieren.“

 

1 Ergebnisse
Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus
Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus
Ullstein Buchverlage
Berlin

Norbert Frei und seine Ko-Autor*innen sehen die Gefahr, dass „Deutschland derzeit von rechts zusammenzuwachsen“ drohe. Viele Positionen von AfD, Pegida und der Neuen Rechten seien in der Mitte der Gesellschaft angekommen und die liberale Demokratie sei durch eine neue nationalistische Formation bedroht. Mit dem Buch sollen die Kontinuitäten rechten Denkens seit 1945 und dann wieder seit 1989/90 aufgezeigt werden. Es geht dabei jedoch weniger, wie Rezensent Clemens Heni anmerkt, um die heutige Neue Rechte und deren zeithistorische Einordnung, sondern einzelne Kapitel beleuchten die Adenauerzeit, die DDR sowie rassistische Umtriebe in den 1970er und 1990er-Jahren.

 

Spatial turn goes Antifa – Arch+ 235, die Neue Rechte und der antisemitische Fleck des Postkolonialismus

Ein Rezensionsessay

Von Dr. phil. Clemens Heni, 4. September 2019

Man musste nicht bis zum 1. September 2019 warten, als ein Viertel der Wähler*innen in Brandenburg bzw. Sachsen eine Partei wählten, die Spitzenkandidaten[1] hat, die vor wenigen Jahren mit einer Hakenkreuzfahne auf dem Balkon in Griechenland im Kreis von anderen Neonazis aktiv waren,[2] um die enorme Bedeutung des Themas Rechtsextremismus und Neue Rechte zu sehen. Das Volk ist nicht gut oder neutral, sondern häufig sehr böse. Das deutsche Volk liebt es offenkundig, Nazis zu wählen, nicht nur 1933 und davor, auch 2019, was moralisch noch unendlich schlimmer ist – diese deutschen Wähler*innen wissen, was nach 1933 passierte, sie wissen, dass sechs Millionen Juden vergast und massakriert wurden und sie haben damit kein Problem.

Am 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs wählen die Deutschen wieder Nazis in extremer Anzahl in zwei Landesparlamente und alle Mainstreamjournalist*innen interviewen freudestrahlend die AfD-Rechtsextremen. Kein/e Journalist*in weigerte sich, solchen Nazis die Hand zu geben oder sie einfach zu boykottieren, weil das Leute sind, die alle Antifas oder weltoffenen CDUler bei nächster Gelegenheit erschießen würden (die Frauen davor vergewaltigen). Zum ersten Mal seit 1945 haben wir Neonazis im Bundestag und allen Landesparlamenten. Die Fernseh-Journalist*innen grinsen blöd um die Wette, machen Späßchen am Wahlabend und laden seit Jahren die neuen Nazis in die unerträglichen, nicht nur kulturindustriellen, sondern den Faschismus mit vorbereitenden Talkshows ein und bewerfen die neuen Nazis mit Wattebällchen und schauen blöd, wenn mit scharfer Munition zurückgeschossen wird.

Die Journalistin Mely Kiyak ist fassungslos ob Bettina Schausten, stellvertretende Chefredakteurin des ZDF, die nur pars pro toto für wirklich alle Mainstream-Journalist*innen steht, die am Wahlabend in ARD und ZDF moderieren durften, und bringt es auf den Punkt:

Der Faschismus hat keinen moderaten Flügel.[3]

Daher ist seit jeher die Analyse rechter Räume eine Unabdingbarkeit für jede linke Theorie und Praxis. Das Heft 235 von Arch+. Zeitschrift für Architektur und Urbanismus von Mai 2019 hat das aktuelle Thema „Rechte Räume. Bericht einer Europareise“. Die 27 Autor*innen plus ein Autorenteam von Arch+ 235 haben im Editorial, der Einführung und 33 Texten (oder Fotoessays) sehr wichtige, eingreifende, kritische, faszinierende, häufig klar antifaschistische und teils scharfe Texte gegen die (Neue) Rechte und ihre Räume vorgelegt.

Literaturwissenschaftliche, soziologische, politologische, historische, kulturwissenschaftliche, geografische, kunsthistorische, polit-ökonomische und architekturtheoretische Zugänge ergänzen sich auf vielfältige Weise. Die europäische Dimension des Projektes macht es umso spannender und bedeutender: es geht um eine 7-tägige Reise durch Europa und seine extrem rechten Räume. Der Großteil der Texte ist in diese 7 Tage eingeteilt, beginnend in Rom und endend in Berlin – die Achse Berlin-Rom. Die Reise im November 2018[4] führte also von Italien über Österreich nach Deutschland. 7 Tage (oder 7 x 24 Stunden) dauerte auch meine Rezension des Heftes 235 von Arch+.

Der folgende Rezensionsessay würdigt den großen Einsatz Trübys und seines Teams, die sich der Neuen Rechten in der Architektur, dem Feuilleton und der Gesellschaft insgesamt entgegenstellen. Je länger und intensiver meine Beschäftigung mit dem Heft jedoch wurde, desto klarer traten dann zwar vereinzelte, aber eben doch massive Irritationen auf, die wiederum viel über den postkolonialen Mainstream in den Sozial- und Geisteswissenschaften aussagen.

In dem Heft gibt es ergänzend zu den Reiseberichten eine Vielzahl an Beiträgen über das Gebiet von Ex-Jugoslawien, Ungarn, Spanien, Griechenland, Frankreich, die Schweiz, Holland, Polen, England, USA und die Türkei. Neu-rechte Agitator*innen drehten schon im Frühjahr 2018 durch, als der Protagonist des Heftes, Professor Stephan Trüby vom Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart, seine Analyse und Kritik der Rekonstruktionsarchitektur am Beispiel der von Neuen Rechten wie Claus M. Wolfschlag initiierten neuen Altstadt von Frankfurt am Main am 8. April 2018 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) vorgelegt hatte:[5]

Ganz anders die neue Frankfurter Altstadt: skandalös ist hier, dass die Initiative eines Rechtsradikalen ohne nennenswerte zivilgesellschaftliche Gegenwehr zu einem aalglatten Stadtviertel mit scheinbar bruchlosen Wiederholungsarchitekturen führte; historisch informiertes Entwerfen verkommt damit zum unterkomplexen Heile-Welt-Gebaue, das Geschichte auf ein eindimensionales Wunschkonzert reduziert. Vergangenheit soll für dieses Publikum wie geschmiert laufen, und zwar in Richtung einer alternativen Historie für Deutschland: Einer Historie, in der der Nationalsozialismus, die deutschen Angriffskriege und der Holocaust allenfalls noch als Anekdoten einer ansonsten bruchlosen Nationalgeschichte überleben.

Arch+ wird von der Bundeszentrale für politische Bildung, der Volksbühne Berlin, dem Arch+ Foerderverein und einigen anderen Institutionen gefördert, kostet 22€ und ist derzeit (Stand Anfang September 2019) vergriffen. Das Heft 235 von Arch+ hat 239 Seiten (etwas größer als DinA4) und wurde unter der Regie Trübys mit seinem Team erarbeitet. Ein zentrales Kapitel und Aufhänger ist Trübys Kritik der Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt. Seine These ist wohlbegründet: Der Bruch, den der Nationalsozialismus bedeutet, soll z.B. via Rekonstruktion und Zerstörung von Bauten, die nach 1945 in den betroffenen und zuvor bombardierten Städten gebaut wurden, verleugnet werden und Städte so wiederaufgebaut werden, wie sie zuvor waren. Die deutsche Geschichte soll wieder in einem architektonischen Kontinuum stehen, natürlich ohne Juden, die vertrieben und vernichtet wurden, aber das macht nichts.

Trübys sehr wichtige und mutige – für eine Professur in Architektur an einer führenden Universität im Bereich Architektur, der Uni Stuttgart, womöglich bahnbrechende – Arbeit hat einen massiven Shitstorm der extremen Rechten verursacht und reicht bis weit in den bürgerlichen Mainstream. Die extrem rechte Hetzseite Politically Incorrect (PI News), Facebookposts von no-names oder auch die „rechtsantideutsche“ Hauspostille Bahamas diffamieren ihn wegen seiner Kritik der Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt, die wie gesagt auf die Idee von Rechtsradikalen zurückgeht wie auch der Wiederaufbau der Garnisonskirche in Potsdam.[6]

In dem Heft 235 von Arch+ gegen die rechten Räume geht es um Hitlers wie Mussolinis Geburtsorte, den rechtsextremen und AfD-Wallfahrtsort Kyffhäuser in Thüringen, um die Dresdner Frauenkirche und das nationale Pathos der breiten Mitte, um die größte Christus-Statue (36 Meter) im fanatisch-katholischen Polen oder die völkischen Siedler*innen in Mecklenburg-Vorpommern. In einem sehr instruktiven Rundblick über rechte Architektur- und heimattümelnde Vordenker geht Trüby auf Wilhelm Heinrich Riehl, Ernst Rudorff, Paul Schultze-Naumburg,[7] aber auch auf Alexander Senger ein, der ebenso als „Protagonist einer ‚Konservativen Architekturrevolution‘“ vorgestellt wird und in Richard W. Eichler einen Kollegen aus der Zunft der extrem rechten Kunsthistoriker hatte.

Die Zeitschrift Tumult oder andernorts im Heft die jüngere neurechte Postille Cato oder die schweizer Zeitschrift DU und das neu-rechte schweizer Netzwerk um Blocher (im Text von Rebekka Kiesewetter) werden hervorragend dargestellt und kritisiert. Es findet sich bei Trüby auch eine nachträgliche Selbstkritik der Arch+, die z.B. 1985 den von vielen erst in den letzten Jahren und posthum als extrem rechts erkannten Historiker Rolf Peter Sieferle mit einem Text zu „Heimatschutz und das Ende der romantischen Utopie“ publiziert hatte.

In einem Gespräch über das Arch+ Heft mit der Wochenzeitung Die Zeit vom 12. Juni 2019 analysiert Trüby detailliert, was an der Rekonstruktionsarchitektur speziell in Dresden so problematisch ist und wie das mit Antisemitismus, Geschichtsrevisionismus und der AfD zusammenhängt:

In der Sporergasse 12 steht zum Beispiel das sogenannte Triersche Haus, rekonstruiert im Jahre 2016 nach dem Vorbild eines 1695 errichten Barockhauses. Ins Vorgängerhaus zog im Jahr 1920 ein jüdisch-orthodoxer Verein ein. Auf die einstigen jüdischen Bewohner wird auch am Erinnerungsschild aufmerksam gemacht, das seit Kurzem am Neubau angebracht wurde. Darauf steht korrekterweise zu lesen: ‚Ab 1940 wurden jüdische Familien gezwungen, hier im ‚Judenhaus‘ zu wohnen, bevor sie in andere Lager deportiert wurden.‘ Aber der Schlusssatz lautet: ‚Bei der Zerstörung des Hauses am 13. Februar 1945 fanden zahlreiche jüdische Bewohner den Tod.‘ Was hier auf engstem Raum gesagt wird, ist eine ungeheuerliche Geschichtsfälschung. Die könnte man so zusammenfassen: ‚Ja, die Nazis haben Juden deportiert, das war nicht gut, aber getötet wurden sie von den Alliierten mit ihren Bomben.‘ Was sich hier geschichtspolitisch abzeichnet, summiert sich zu einer mehr als Besorgnis erregenden Tendenz. Am Trierschen Haus, am Neumarkt und der Frauenkirche ist die ‚erinnerungspolitische Wende um 180 Grad‘, die der AfD-Politiker Björn Höcke fordert, bereits vollzogen.[8]

Das ist eine ganz hervorragende Analyse und Kritik zum städtebaulichen sekundären Antisemitismus der Erinnerungsabwehr in Dresden. Dazu etwas in Kontrast steht hingegen seine Forderung einer Re-Ideologisierung und möglichen Zurückerkämpfung völlig kontaminierter Begriffe und Ideologeme. Denn zur heutigen Debatte schreibt er in dem Arch+ Heft:

Der Frankfurter Altstadtstreit zeigt auch, dass ein zu Unrecht in Vergessenheit geratenes Wort zurück auf die Tagesordnung (nicht nur) architektonischer Debatten kommen sollte: die Ideologie. Denn der revisionistischen Architektur-Ideologisierung der Neuen Rechten, die mit Camouflage-Slogans wie ‚Schönheit‘, ‚Heimat‘, ‚Tradition‘, ‚Identität‘ oder ‚Seele‘ hantiert, ist nur mit einer emanzipatorischen Gegen-Ideologisierung beizukommen, mit der entweder diese Begriffe zurückerkämpft oder verlockende Alternativen angeboten werden.

Da ist man dann allerdings durchaus ganz schnell (bestenfalls) bei Habecks Grünen oder bei Cem Özdemir, der ernsthaft den neuen Nazis im Bundestag vorwarf, zu wenig deutsch zu sein und bei der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer für Russland anstatt für „unsere“ Deutschen zu sein.[9] Solcherart gründeutsches, linksdeutsches oder liberaldeutsches Gerede, das sich die geliebte „Heimat“ so wenig madig machen lässt wie Steinmeier, der Heimatminister oder Robert J. De Lapuente[10] vom Neuen Deutschland, kann im Architekturdiskurs über rechte Räume keine Option sein.

Da schließlich neu-rechte Attacken wie auf Trüby nerven und nicht ungefährlich sind, wäre die positive Rezeption seiner Kritik der Rekonstruktionsarchitektur womöglich eine Erwähnung wert gewesen.[11]

Matteo Trentini geht auf den Faschismus in Italien im 21. Jahrhundert ein, die Lega Nord (bzw. mittlerweile nur noch Lega) und Matteo Salvini sowie vor allem auf die rechtsextreme identitäre Bewegung CasaPound, die als Ikone die Schildkröte hat. Dieses liebevolle und harmlose Tier wird von diesen Faschos identitär, nationalistisch, faschistisch bzw. national-sozialistisch instrumentalisiert, da die Schildkröten immer ihr eigenen Haus bei sich haben, was Neonazis auf die Gesellschaft übertragen wollen. Die natalistische Ideologie, „Zeit Mütter zu sein“ („Tempo di essere madri“) war ein Slogan von CasaPound von 2007, wobei ja auch viele Linke dem patriarchalen natalistischen Dogma strahlend Folge leisten, in jedem Alter. Treffend fasst Trentini zusammen:

Wie im Faschismus geht es um das Propagieren von Wohnen und Familie als Grundrechte, die der Staat durch direkten Eingriff garantieren muss.

Der Beitrag von Silke Hünecke über den Faschismus bzw. Franquismus in Spanien und dessen „fortwährende Präsenz“ wie in der riesigen Gedenkstätte Valle de los Caidos besticht durch die nachdrückliche Betonung des Skandalons der Abwehr der Erinnerung in Spanien bis auf den heutigen Tag.

Eine ähnliche, aber anders gelagerte Erinnerungsabwehr, wird in einem Gespräch von c/o now mit dem politischen Theoretiker Gal Kirn via einer Kritik der Kapitalisierung der ehemals staatseigenen Gebäude in Ex-Jugoslawien auf den Punkt gebracht:

Mit dem Verkauf des gesamten kommunalen Eigentums – und als Jugoslaw*innen hatten wir dazu eine besondere Beziehung – hat man unsere Geschichte getötet und unsere Zukunft verkauft. Das Kapital hat die alleinige Verfügungsgewalt über die Zukunft errungen, den nationalen Apparaten bleibt die Spekulation mit der Vergangenheit. Ich würde diesen Prozess als eine ursprüngliche Akkumulation von Erinnerungen bezeichnen.

Über diese interessante Transformation des Marx’schen Terminus „ursprüngliche Akkumulation“ auf die Geschichtspolitik könnte man diskutieren. Immerhin geht Kirn auf den Islamismus ein, ohne das Wort allerdings zu verwenden, und kritisiert die „wahhabitische König-Fahd-Moschee“ und „eine salafistische Zelle“ wie auch „Insignien“ vom „Islamischen Staat (IS)“.

Die Hinweise auf Nationalismus und reaktionäres Pathos wie eine „22 Meter hohe Statue Alexander des Großen“ in Mazedonien sowie das Verkleiden von brutalistischer Architektur mit „dorischen Architekturelementen“ ergänzen den skeptischen Blick Kirns. Es stimmt jedoch nachdenklich, dass er aktuell ankündigt, alsbald im relativ kleinen, linksradikalen Verlag „Pluto Press“ zu publizieren,[12] was ein hardcore antiwestlicher und antizionistischer Verlag aus Großbritannien ist, wo antisemitische Autoren wie Edward Said, Ilan Pappé oder der kosmopolitische Israelhasser und Vertreter einer „islamischen Befreiungstheologie“ Hamid Dabashi publiziert werden.[13] Auch Kirns enge Beziehung zum Institute for Cultural Inquiry (ICI) in Berlin lässt zumindest die Frage aufwerfen, wie er selbst zu dortigen, skandalösen Pro-BDS Events wie 2018 steht.[14]

Neben Trübys Beitrag „Altstadt-Opium fürs Volk“ über die Rekonstruktionsarchitektur ist die Forschung von Verena Hartbaum in diesem Heft Arch+ 235 von besonderer Bedeutung für eine Kritik der heutigen Architektur in Deutschland. Sie untersucht in ihrem wunderbar „Rechts in der Mitte. Hans Kollhoffs CasaPound“ betitelten Beitrag den von dem Architekten Hans Kollhoff gestalteten Walter-Benjamin-Platz in Berlin, der 2001 fertig wurde. Der Platz ist 108 Meter lang und 32 Meter breit, er erinnert die Autorin zudem an einen Abschnitt der Via Roma in Turin, der 1936 von Mussolinis Architekt Marcello Piacentini entworfen wurde.

Der Bezug zu Mussolini wird noch extrem verstärkt, indem Kollhoff in das Granitsteinpflaster folgenden Spruch des amerikanischen Dichters Ezra Pound (1885–1972) eingelassen hat: „Bei Usura hat keiner ein Haus von gutem Werkstein / die Quadern wohlbehauen, fugenrecht, / dass die Stirnfläche sich zum Muster gliedert.“ Man kann nicht sofort erkennen, dass der Spruch von Pound ist, da der Autor nicht genannt wird. Der Antisemitismus spricht aus dem Wort Wucher oder Usura.

Hartbaum resümiert:

Mit dem Ezra-Pound-Zitat auf dem Walter-Benjamin-Platz machte sich Kollhoff Pounds antisemitisch konnotierte Kapitalismuskritik als die Wurzel allen wirtschaftlichen, sozialen und nicht zuletzt schöpferischen Übels zu eigen: Dort, wo der Wucher, im antisemitischen Jargon das ‚zinstreibende Judentum‘, herrscht, kann keine gute Architektur entstehen, verlieren Handwerk und Wertigkeit des Materials ihre Bedeutung.

Kollhoff war im Trend der Zeit, 2003 gründete sich die Neo-Nazi oder Identitäre Bewegung CasaPound in Rom. Auch CasaPound vertritt neben dem Nationalismus eine „Kapitalismuskritik mit antisemitischen Motiven“, wie Hartbaum festhält. Selbst den FAS-Autoren Stephan Trüby will die FAZ, hier Niklas Maak, via einer Kritik an Hartbaum und Arch+ diffamieren.

In einer Besprechung von drei Büchern zu Hans Poelzig, Paul Bonatz und Paul Schmitthenner kritisiert ein Altmeister der kritischen Architekturgeschichte, Winfried Nerdinger, den nationalistischen, monumentalistischen und alsbald nazistischen Einsatz der drei Protagonisten. Der Text wurde original 2011 auf Italienisch publiziert, schon 2010 hatte ich selbst auf zentrale nationalsozialistische Aktivitäten von Bonatz hingewiesen.[15]

Zu Nerdinger passt der Beitrag von Tina Hartmann, auch bei ihr geht es um rechtes Denken im Mainstream. Ihr Beitrag „Die Zeit als Scheibe. Der rechtspatriarchale Raum in der Literatur“ betont die Beziehung von Misogynie und Antisemitismus und glücklicherweise unterstreicht sie hierbei auch, dass die weit verbreitete These, der revolutionäre 1848er Richard Wagner sei ein anderer als der antisemitische deutsch-nationale, falsch ist. Ihre Analyse der Berliner „Bibliothek des Konservatismus“ ist bedeutsam.

Ob Hundt von Radowsky „der Begründer des eliminatorischen Antisemitismus“ ist, mag bezweifelt werden, weil allein schon Achim von Arnim 1811 in „Versöhnung in der Sommerfrische“ die Pulverisierung der Juden durchdeklinierte, was in der literaturwissenschaftlichen Forschung als „der schlimmste antisemitische Text der deutschen Romantik“ bezeichnet wird.[16] Darüber hinaus geht Hartmann auf die wohl erste politisch motivierte Bücherverbrennung der modernen deutschen Geschichte ein, das Verbrennen von Schriften des Aufklärers Christoph Martin Wieland durch den Göttinger Hainbund im Jahr 1772.[17]

Schließlich ist Hartmanns Hinweis auf einen ideologischen Anker des Rechtsextremismus und der Neuen Rechten sehr relevant: der „Ethnopluralismus“. Gleichwohl transformiert der Ethnopluralismus nicht 1:1 den Antisemitismus in heutige rassistische Ideologie, sondern indiziert eigenständig das Neue am Rechtsextremismus nach 1945: Weg von der „Rasse“ hin zur „Kultur“. „Deutschland den Deutschen, die Türkei den Türken oder Polen den Polen“ ist der Kern des rassistischen Ethnopluralismus-Konzepts, auf das auch Philipp Krüpe in seinem Beitrag „Reaktionäre Architektur-Memes in den sozialen Medien. Von Paul Schultze-Naumburg zu 4chan“ eingeht.[18]

Trüby übernimmt in seinem einführenden Text ein „politisches Positionenmodell“ des slowenischen Philosophen Slavoj Zizek, das in einem Quadrat links eine „doppelte Linke“, gegenüber die „doppelte Rechte“, oben einen „Progressiven Liberalismus“ und unten die „Querfront“ verortet. So interessant dies sein mag und zumal Trübys sehr treffende Attacken auf Kollegen wie den Architekten Patrik Schumacher, „der Chef von Zaha Hadid Architects, der sich zum rechtslibertären Anarchokapitalisten und Brexit-Fan entwickelt hat“, wichtig sind, so reduktionistisch ist die Definition bzw. Nicht-Definition von Antisemitismus. Denn es werden eine „antisemitische Linke“ und eine „antisemitische Rechte“ erkannt, aber Zizek meint damit reduktionistische Kapitalismusdefinitionen oder völkische Hetzer, jedoch nicht sich selbst.

Gerade nach der Bundestags-Resolution gegen die antisemitische BDS-Bewegung vom Mai 2019 drehen weite Teile der linken kulturellen Elite und der Nahost-, Islam- und Jüdische Studien-Forschung völlig durch[19] und Zizek ist Teil davon. Er wendet sich gegen die Bezeichnung, dass BDS antisemitisch ist (wie es der Deutsche Bundestag tut), das würde den Holocaust „entwerten“[20] und schmiegt sich somit an Leute an, die Juden wenn nicht sofort töten, so doch vertreiben wollen, denn das ist das Ziel der BDS-Bewegung: „Palestine – from the river to the sea.“

BDS ist gerade keine Kritik am Rechtsdrall in Israel oder an der Besatzung des Westjordanlandes, nein: BDS ist antisemitisch, wie die Forschung gezeigt hat,[21] weil es das herbei fantasierte „Rückkehrrecht“[22] der Palästinenser einfordert, die 1948 aus freien, arabisch-antisemitischen Stücken das Land verließen, um nicht den Judenstaat zu legitimieren, oder aber in der Tat vertrieben wurden. Dieses Rückkehrrecht, das völlig absurderweise auch noch alle Nachkommen inkludiert und somit eine Zahl von über 5 Millionen Menschen bedeutet, gibt es nicht. Es ist ein antijüdisches „Recht“, das den jüdischen Charakter Israels zerstören würde. Es gibt keine Indizien, dass Trüby BDS teilt oder damit kokettiert – aber wie sieht es mit Arch+ aus? Wir kommen darauf zurück!

Etwas merkwürdig ist ein Gespräch von Stephan Trüby mit seinem 10 Jahre älteren Stuttgarter Architektur-Kollegen Hartmut Mayer über „Germanische Tektonik“. Der Architekt Paul Ludwig Troost wird gewürdigt und namentlich Mayer fühlt sich geradezu in die Gedanken der frühen Nazizeit ein. Troost starb 1934 und Trüby stellt die merkwürdige Frage, warum Troost „doppelte Eingänge“ für den Münchener „Führerbau“ und ein Nazi Verwaltungsgebäude plante. Zumal bei Mayer hat man das Gefühl, dass er nicht einmal das Wort „Antifa“ je gehört hat. Wie Nazi-Gebäude auf Juden und deren Nachfahren und andere Opfer der Nazizeit und deren Nachkommen wirken – diese Frage wird nicht gestellt. Dabei ist das die einzig relevante Frage, nicht die, die nach dem Unterschied von Säule und Wand, korinthisch oder dorisch fragt oder die vor Affirmation der Geschichte strotzenden Positionen von Mayer, Karl Bötticher habe „die Schinkelschen Ideen fast ein halbes Jahrhundert lang gerettet“ und die „griechische Ornamentik für Berlin bewahrt“. Nicht ein Ton z.B. über den deutsch-nationalen Revanchismus Schinkels und seine Denkmäler für die antifranzösischen „Befreiungskriege“.

Ergänzt wird dies en passant durch nicht weniger problematische, Holocaust verharmlosende, formalistische Analogien von NS- und Stalinscher Architektur. Gleiche Fassade, aber einmal Hakenkreuz, das andere Mal Hammer und Sichel auf der Stirnseite des Gebäudes. Da lachen vielleicht estnische, litauische, ukrainische oder lettische Antisemiten wie auch Joachim Gauck[23] und weitere Unterzeichner der „Prager Deklaration“ von 2008. Letztere setzt kategorial Rot und Braun auf eine Treppenstufe und hält explizit die EU an, das gedenkpolitisch umzusetzen – was die vor Antikommunismus und NS-Verharmlosung triefende EU auch machen wird, wie am Jean-Ray-Platz in Brüssel, was ja in Architekturkreisen 2018 bekannt, oder sagen wir besser wie selbstverständlich goutiert wurde.[24] Das wird ein extrem rechter Raum werden, der die Opfer der Shoah mit Stalinismusopfern mit in den Boden eingelassenen Briefen und Dokumenten gleichsetzen und damit das Nie-Dagewesene von Auschwitz leugnen wird, ein Raum mithin, den auch Arch+ im Auge behalten sollte.

Die beiden letzten Texte des Arch+-Heftes sind nichts weniger als skandalös. Anna Yeboah schreibt über die „Rekonstruktion der Potsdamer Garnisonskirche“ und vor allem über das Humboldt Forum in Berlin, das wieder aufgebaute Berliner Stadtschloss im Herzen des alten Ost-Berlin unweit des Alexanderplatzes. Die Kritik am Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonskirche, die wie kein zweiter Ort für die Kollaboration von Hitler und Hindenburg, Nazis und dem Konservatismus steht, ist sehr wichtig. Das gilt auch für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses bzw. des Humboldt Forums, dessen koloniale Geschichte die Autorin aufzeigt. Die Kritik an beiden Bauten ist allerdings viel zu bedeutsam, um sie einem solchen postkolonial-ideologisierten Text zu überlassen. Denn am Ende schreibt Yeboah, wie es zu ihrem Text kam:

Die Verfasserin bedankt sich beim Bündnis Decolonize the City, ohne deren Arbeit dieser Text nicht möglich gewesen wäre.

Schaut man sich allein den Twitter-Account dieses Bündnisses Decolonize the City an, sieht man den üblichen anti-israelischen Antisemitismus in vielen Tweets.[25] Trüby hingegen bezieht sich mehrfach völlig affirmativ auf Yeboah, so in dem Zeit-Gespräch von Juni 2019 oder auf einer Heftpräsentation in der Volksbühne (siehe dazu unten mehr), wo er erwähnt, dass sie ihm und einer Gruppe von Leuten die postkoloniale Kritik am Beispiel Berlin in einem Stadtrundgang näher brachte.

Die koloniale Geschichte des wieder errichteten Berliner Stadtschlosses, also des Humboldt Forums, ist offenkundig.[26] Die Betonung Yeboahs – die auch den Alltagsrassismus von Neonazis in Brandenburg benennt, den sie persönlich als schwarze Deutsche, die auch einen ghanaischen Pass hat, regelmäßig erlebt –, dass das historische Schloß auf dem Profit basierte, den die Hohenzollern aus dem Kolonialismus zogen, ist wichtig. Es wäre auch naheliegend gewesen zu betonen, dass eine zentrale Motivation für den Bau dieses Forums/Schlosses der Abriss des Palasts der Republik der DDR war.[27] Dieser moderne Bau war ein architektonisches Glanzlicht für Ost-Berlin und die DDR-Bürger*innen. Der nicht weniger als obsessive Antikommunismus der Berliner Republik basiert städtebaulich auf der Auslöschung der Erinnerung an die DDR an diesem zentralen Platz im Herzen Ost-Berlins.

Die koloniale Geschichte des nun wieder aufgebauten Schlosses kommt additiv hinzu. Während eine solche anti-links motivierte Zerstörung oder kapitalistische Vereinnahmung von Bauten aus der Zeit des Realsozialismus im Kapitel zu Jugoslawien im Arch+ Heft unterstrichen wird, ist sie hier plötzlich gar kein Thema mehr. Ist das nicht merkwürdig? Der Postkolonialismus vernebelt auch hier alle Köpfe.

Der entscheidende und kategoriale Denkfehler von Anna Yeboah (und weiter Teile der postkolonialen Autor*innen weltweit), zeigte sich öffentlich auf einer über 2 Stunden dauernden Vorstellung des Heftes 235 von Arch+ in der Berliner Volksbühne am 24. Mai 2019[28] unter der Regie von Trüby und mit einer euphorischen Einführung durch den Arch+ Mitherausgeber Anh-Linh Ngo. Letzterer betonte, dass die rechte Ideologie vom „großen Austausch“ gefährlich und falsch ist, womit er selbstredend völlig Recht hat, und er wie alle anderen natürlich nicht gehen wird.

Im Laufe des Events der Heftvorstellung in der Volksbühne kamen unterschiedliche Beiträger*innen des Heftes auf die Bühne und präsentierten die Ergebnisse. Die Architektin Yeboah sagte, die Idee des „Anders-Seins“ sei „erst mit dem Kolonialismus“ aufgekommen. Da wird man stutzig. Also nochmal: Ausgrenzung und Grenzziehung seien erst mit dem Kolonialzeitalter aufgekommen und hätte es unter Weißen nicht gegeben; „der Standard des weißen Mannes wurde bis heute beibehalten“. Das sagte Yeboah so. Kein Widerspruch von niemand. Warum ist dieser Satz so ungeheuerlich postkolonial und falsch? Weil er die jahrtausendealte Unterdrückung der Juden nicht sehen kann. Die christlichen Kreuzzüge und das Abschlachten der Juden hat demnach wohl nichts mit dem erfundenen „Anders-Sein“ der Juden zu tun gehabt, die ja auch „Weiße“ waren, wie der postkoloniale Antisemitismus es immer sagt, seit Aimé Césaire und W.E.B. Dubois etc.pp.[29] In ihrem Text in Arch+ vertritt Yeboah den gleichen postkolonialen linken Geschichtsrevisionismus:

Mit dem Kolonialismus wurden binäre Macht- und Identitätsmodelle etabliert, die Menschen diskriminatorisch in ‚Zugehörige‘ und ‚Fremde‘ unterteilen.

Sie schreibt mit keinem Wort, dass es zuvor schon viel tiefer gehende „binäre Macht- und Identitätsmodelle“ gab, den Antisemitismus. Sie schreibt nicht, dass mit dem Kolonialismus ein anderes „binäres Macht- und Identitätsmodell“ auftaucht. Nein, sie schreibt, dass „mit dem Kolonialismus“ „binäre Macht- und Identitätsmodelle etabliert“ wurden. Etablieren meint etymologisch „befestigen“ oder „sich niederlassen“. Synonyme sind z.B. laut Duden „sich ansiedeln, aufbauen, auf die Beine stellen, begründen, einrichten, einsetzen, eröffnen, errichten, gründen, ins Leben rufen“. Demnach hat es vor dem Kolonialismus also keine „binäre[n]“ Macht- und Identitätsmodelle“ gegeben. Yeboah hat den Antisemitismus, der viel älter und unendlich tiefer in die europäische Geschichte und Gesellschaft eingeschrieben ist, einfach vergessen oder übergangen oder bewusst weggewischt, wir wissen es nicht. Die Kritik am kolonialen Denken und den kolonialen Verbrechen ist von sehr großer Bedeutung. Aber es scheint bei postkolonialen Autor*innen nicht ohne eine Diminuierung oder Vernebelung zu gehen.

Fakt ist: das ist eine unwissenschaftliche und politisch skandalöse Aussage von Yeboah in Arch+ und auf der Heftvorstellung, wo sie jeweils das exakt gleiche sagte bzw. schreibt, einmal lang diskutiert und formuliert, redigiert und lektoriert, das andere Mal spontan und live. Demnach wurden die Juden zuvor, nehmen wir das Mittelalter, nicht als „Fremde“ ausgeschlossen. Die Juden wurden also nicht als der „Antichrist“, als die Brunnenvergifter oder Blutsauger und Pestverbreiter aus der christlichen Mehrheitsgesellschaft Europas ausgeschlossen und wahlweise massakriert oder in Ghettos gesteckt. Das vierte Laterankonzil von 1215 mit seinen antijüdischen Beschlüssen hat es gar nicht gegeben, weil es ja nicht gegen Schwarze ging und nichts mit dem Kolonialismus zu tun hatte. Die jahrtausendealte Ausgrenzung der Juden wird hier einfach verleugnet und postkolonial die Geschichte umgeschrieben.

Die Juden wurden also nicht als „Fremde“ ausgeschlossen, das Muster des Ausschlusses ganzer Gruppen von Menschen würde es erst seit dem Kolonialismus geben. Das ist ein antijüdisches Märchen von Anna Yeboah, die nur pars pro toto für den postkolonialen Irrsinn steht. Weder der Gastredaktion (Stephan Trüby, Matteo Trentini, Philipp Krüpe, Verena Hartbaum, Tobias Hönig, Hartmut Mayer, Sandra Oehy, Andrea Röck, Zsuzsanne Stanitz) noch den beteiligten „Stipendiat*innen“ und der Redaktion (Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo, Mirko Gatti, Christian Hiller, Max Kaldenhoff, Alexandra Nehmer, Nora Dünser, Angelika Hinterbrandner, Christine Rüb, Frederick Coulomb, Dorothea Hahn, Melissa Koch, Jann Wiegand), also einer geballten Ladung akademischer „Bildung“, ist da was aufgefallen. Ausgrenzung und „binäre Macht- und Identitätsmodelle“ gebe es erst seit dem Kolonialismus.

Eine solche Leugnung der jahrtausendlangen Ausgrenzung der Juden im Jahr 2019 ist beachtlich – und sie wird geschrieben, diskutiert, gedruckt und öffentlich vorgestellt, kein Widerspruch, nirgends. Alle fühlen sich als „die Guten“, es geht ja gegen rechts.

Exkurs: Postkoloniale Geschichtsumschreibung und Antisemitismus

Da sich die Arch+-Autorin Anna Yeboah so euphorisch auf ihre Freund*innen von „Decolonize the City“ bezieht, ohne deren Hilfe das Schreiben ihres Artikels nicht möglich gewesen sei, und das Team um Trüby und Arch+ sich mit „Decolonize the City“ offenkundig nicht befasst hat oder deren Ideologie unhinterfragt goutiert, mag ein Blick in das Buch dieses Bündnisses hilfreich sein. Als Herausgeber*in des Bandes „Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt – Gespräche | Aushandlungen | Perspektiven“ fungiert ein „Zwischenraum Kollektiv“.[30]

„Decolonize the City“ war eine Konferenz vom 21.–23.09.2012 in der Rosa-Luxemburg-Stiftung,[31] um den aktivistischen Charakter zu unterstreichen. 2017 kamen die Beiträge als Buch im Unrast Verlag heraus,[32] 2018 dann als E-Book.[33] Eine der Beteiligten von 2012 war Anna Younes,[34] die später vom Twitter-Account von „Decolonize the City“ mit einem anti-israelischen Text verlinkt wurde. 2016 wurde Younes wegen einem Festival im Ballhaus Naunynstraße in Berlin Kreuzberg kritisiert:

Von Kuratorin Anna-Esther Younes etwa ist laut ‚Berliner Zeitung‘ der Satz dokumentiert, dass ‚mit der Gründung Israels ein weiteres Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurde‘.[35]

Die BDS-Vertreterin und antisemitisch-antizionistische Jüdin Judith Butler, für die der Zionismus nicht Teil des Judentums ist, wird in dem Buch in einem Text von Paola Bacchetta, Fatima El-Tayeb und Jin Haritaworn über „Queer-of-Color-Politik und translokale Räume in Europa“ völlig positiv dargestellt und dafür gelobt, einen Preis des CSD (Christopher-Street-Day) u.a. wegen „antimuslimischem Rassismus“ oder weil die schwul/lesbisch/transsexuellen etc. Organisator*innen zu westlich, kapitalistisch, kriegerisch etc. seien, nicht angenommen zu haben.

Der ganze Ansatz des Buches „Decolonize the City“ wie weiter Teile des Postkolonialismus weltweit wird in einem Beitrag von Ramón Grosfoguel zu „Was ist Rassismus? Die ‚Zone des Seins‘ und die ‚Zone des Nicht-Seins‘ in den Werken von Frantz Fanon und Boaventura de Sousa Santos“ deutlich:

Für Fanon ist Rassismus eine globale Machthierarchie von Über- und Unterlegenheit an der Grenze zum Menschlichen, die jahrhundertelang für die moderne/koloniale, kapitalistische/patriarchale, imperialistische/westlich zentrierte Weltordnung politisch produziert und reproduziert wurde (Grosfoguel 2011). Personen, die sich oberhalb dieser Grenze befinden, werden gesellschaftlich in ihrer Menschlichkeit anerkannt und mit Rechten und Zugang zu Subjektivität und Mensch-/Bürger_innen-/Arbeitnehmer_innenrechten ausgestattet. Personen, die unterhalb dieser Grenze eingeordnet werden, werden als nicht-menschlich oder gar unmenschlich betrachtet; ihre Menschlichkeit wird infrage gestellt und ihnen abgesprochen (Fanon 2010).

Das ist völlig falsch. Das Mensch-Sein würde also einer unglaublich riesigen Zahl von Menschen seit Jahrhunderten abgesprochen, farbigen Menschen aller Art aller Zeiten, seit Kolumbus die neue Welt entdeckte (1492). Es geht hier nicht um eine völlig notwendige Herrschaftskritik, um Kritik am Rassismus Europas – sondern um eine Verleugnung des Regimes, das tatsächlich Menschen zu Nicht-Menschen deklarierte und vergaste: der Nationalsozialismus. Logisch bleiben Antisemitismus, Shoah und die deutsche Spezifik völlige Leerstellen in diesem Konzept des Postkolonialismus, der ernsthaft meint (man sieht das in jedem Text, namentlich bei Grosfoguel) die ganze Welt erklären zu können. Das kann der Postkolonialismus gerade nicht, vielmehr ist er Teil des Problems. Und das Problem heißt Antisemitismus.

Demnach gibt es für Autoren wie Grosfoguel nur Rassismus auf der Welt, Höher- und Niederwertigkeit, ja eine universell anzutreffende „Rassifizierung“, was nur andeutet, dass der Autor noch nie ein Buch oder einen Text von einem nationalsozialistischen Autor gelesen und von Nazi-Deutschland schlichtweg keinerlei Ahnung hat. Die einzige „Gegenrasse“, die jemals konstruiert wurde und vernichtet werden sollte, waren die Juden und niemand sonst. Das wird im gesamten Postkolonialismus verleugnet.

Der regelrechte sprachliche Stumpfsinn des Konzepts „Nicht-Sein“ in dem Band „Decolonize the City“ hört sich z.B. so an:

Ein nicht-westlicher, heterosexueller Mann in der Zone des Nicht-Seins lebt privilegiert und unterdrückt nicht-westliche heterosexuelle Frauen und/oder Schwule/Lesben innerhalb der Zone des Nicht-Seins. Obwohl ein nicht-westlicher, heterosexueller Mann ein unterdrücktes Subjekt in der Zone des Nicht-Seins im Vergleich zur Zone des Seins darstellt, gestaltet sich die gesellschaftliche Situation für eine Frau oder einen Schwulen oder eine Lesbe in der Zone des Nicht-Seins schlechter.

Die Kritik am Patriarchat, an Homophobie, Sexismus und Rassismus wie der bürgerlich-kapitalistischen Vergesellschaftung ist von sehr großer Bedeutung – sie wird hier aber so dermaßen absurd als „Zone des Nicht-Seins“ gefasst, dass man dieses Konzept des Postkolonialismus nicht ernst nehmen kann. Mit Gesellschaftsanalyse hat das überhaupt nichts zu tun, mit einer identitären Selbstvergewisserung, das arme Opfer zu sein und gar in einer „Zone des Nicht-Seins“ zu sein und eigentlich gar nicht da zu sein, sehr viel. Da fallen dann antisemitische Ressentiments namentlich von Schwarzen, people of colour, Muslimen, Christen, Säkularen oder anderen Menschen aus nicht-westlichen Gesellschaften völlig durch das Raster. Antisemitismus taucht als Kategorie auch überhaupt nirgends auf. Dafür umso stärker die sekundär antisemitische Analogie von Kolonialismus und Holocaust.

Der „Intersektionalismus“, also die Überschneidung verschiedener Herrschafts- oder Unterdrückungsformen wie Rassismus, Sexismus, Homophobie, Klassismus – früher hieß das 3:1[36] – ist nichts Neues. Auffallend aggressiv sind heute jedoch z.B. muslimisch-islamistische Aktivist*innen und ihre Fans. Die Feministin Alice Schwarzer hat das 2017 bei einem Vortrag an der Universität Würzburg erlebt.[37]

Eine Handvoll aggressiver Aktivist*innen haben ihr genau das vorgeworfen, was sie gar nicht gesagt hatte: dass Islamismus und Islam das gleiche seien, dass es nur unter Nicht-Deutschen Sexismus gebe oder dass sie Algerien hassen würde, wobei Schwarzer erst kurz zuvor zwei Wochen bei Freund*innen in Algerien zu Gast war und das Land kennt und schätzt – aber zumal die Traumatisierungen durch den mörderischen islamistischen Bürgerkrieg der 1990er Jahre mit 200.000 Toten erlebte. Da hörten die jungen verschleierten und nicht verschleierten Hetzer*innen einfach nicht hin. Schwarzer fasst zusammen:

Das Phänomen ist meiner Politikgeneration wohlbekannt. In den 1968er und 1970er Jahren hießen diese Politsekten KBW oder KPDML oder Maoisten oder Trotzkisten. Ihr Diskurs war genauso verhetzt, wirklichkeitsfremd und stellvertretend (für ‚das Proletariat‘) wie der dieser heutigen, pseudolinken Szene (für ‚die Muslime‘), der jedoch fatalerweise zur Verbreitung ihrer wirren Ideen auch noch das Internet zur Verfügung steht. Und die Schlagworte heute lauten nicht mehr ‚Internationale‘ und ‚Klassenkampf‘, sondern ‚Intersektionalismus‘ und ‚Antirassismus‘.

Intersektionalismus und Antirassismus sind auch Kernpunkte des Bandes „Decolonize the City“. Es geht um die „koloniale/kapitalistische/imperiale“ Welt und man fühlt sich wie Schwarzer zurückversetzt in die primitivsten ökonomistischen Analysen der K-Gruppen der 1970er Jahre oder noch früher an die Zeiten der KPD der Weimarer Republik etc.pp.

Der „Decolonize the City“ Autor Grosfoguel steigert das noch massiv, indem er von der „Zone des Seins“ und der des „Nicht-Seins“ daher redet. Damit sind nicht Sobibor, Treblinka oder Auschwitz gemeint – sondern er meint Typisches für unsere Welt:

In der Zone des Nicht-Seins erleben Subjekte, die als unterlegen eingeordnet werden, rassistische Unterdrückung anstatt Privilegierung aufgrund von Rassismus.

Natürlich ist rassistische Diskriminierung schrecklich und gehört bekämpft, hier und heute und an jedem Ort. Aber die Menschen leben doch und das wird mit dem grotesken Terminus „Zone des Nicht-Seins“ geleugnet. Wenn der alltägliche Rassismus in London, Berlin, Paris oder Rio de Janeiro etc. eine „Zone des Nicht-Seins“ bedeutet, dann ist die eigentliche Zone des Nicht-Seins der KZ- und Vernichtungslager des Nationalsozialismus völlig trivialisiert, ja verleugnet. Der ganze Text strotzt nur so von Nichtwissen und Ignoranz gegenüber den historisch existenten Zonen des Nicht-Seins in NS-Deutschland und während des Holocaust.

Diese postkoloniale, absurde Sprache steht für das obsessive Verweigern einer Beschäftigung mit dem Holocaust. Würde sich der Postkolonialismus mit der Shoah befassen, würde er merken, dass das nicht das gleiche ist wie koloniale Gewalt wo und wann auch immer. Aber die Postkolonialist*innen fühlen sich als „die Guten“ und befassen sich weniger mit der Realität als ihren krampfhaften Analogien von NS und Kolonialismus. Da wird dann aus einer völlig lebendigen Lebensrealität hier und heute eine „Zone des Nicht-Seins“, wie bescheuert, gewalttätig, rassistisch, sexistisch oder klassistisch dieser Alltag auch immer aussieht – die Leute leben und niemand plant sie zu vergasen.

In einem Gespräch der Frankfurter Rundschau vom 4. September 2019 angesichts des Gießener Kultursommers mit zwei Aktivist*innen gegen Antisemitismus und den Sänger Xavier Naidoo, der auf dieser Veranstaltung am 31.8. vor 5000 Leuten auftrat (25 protestierten gegen ihn), kann man lernen, was der Unterschied von Rassismus und Antisemitismus ist:

Nur weil sich jemand für eine gute Sache einsetzt, schließt das nicht aus, dass dieselbe Person bei einer anderen Thematik fragwürdige Sichtweisen öffentlich äußert. Außerdem sind Rassismus und Antisemitismus zwei unterschiedliche Phänomene. Antisemitismus ist das Narrativ der übermächtigen kleinen Gruppe, die für alles Übel der Welt verantwortlich gemacht wird und ein imaginiertes ‚Wir‘ durch Zersetzung bedroht. In der logischen Konsequenz können ‚Wir‘ nur gerettet werden, wenn die übermächtige Gruppe vernichtet wird. Rassismus dagegen ist die Idee, dass es unterlegene, oder gar als unzivilisiert geltende Menschen gibt, die nicht zu ‚Uns‘ gehören.

Eine solche Differenzierung kann man von typischen postkolonialen Autor*innen nicht erwarten. Kien Nghi Ha moniert in „Die fragile Erinnerung des Entinnerten“, dass zwar seit den 1960er Jahren der Holocaust erinnert werde, aber nicht der Kolonialismus, womit schon gesagt ist, dass beides irgendwie ähnlich schlimme Verbrechen gewesen seien:

Die über Jahrzehnte hinweg verweigerte Aufarbeitung des Holocaust und der nazistischen Tradierungen konnte gegen große gesellschaftliche Widerstände letztlich noch erfolgreich institutionalisiert werden, sodass diesem Aufklärungsprozess eine kontinuierliche Struktur verliehen wurde.

In dem Band schreiben zudem Vanessa E. Thompson und Veronika Zablotsky über „Nationalismen der Anerkennung – Gedenken, Differenz und die Idee einer ‚europäischen Kultur der Erinnerung‘“:

Der politische Umgang mit dem Holocaust, dem Völkermord an den Herero und Nama durch das Deutsche Kaiserreich und dem Völkermord an den Armenier_innen und anderen Minderheiten im Osmanischen Reich spannt ein Feld auf, innerhalb dessen strategisch zwischen materiellen Entschädigungen (‚Wiedergutmachung‘), politischer Anerkennung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ohne Rechtsfolgen (‚politische Äußerungen‘) und dem moralischen ‚Stehen‘ zu historischer Verantwortung ohne politische Verhandlungen im eigentlichen Sinne (‚ehrliche Aufarbeitung‘) gewählt werden kann, um ‚Unrechtsschulden“ zu ‚tilgen‘.

Ohne jegliche wissenschaftliche Differenzierung oder Analyse, ob denn das überhaupt ein Völkermord war und selbst wenn, dass ihm ein militärisch antikolonialer Angriff vorausging und so weiter – das wird alles nicht diskutiert, sondern autoritär gesetzt. Man soll es glauben, nicht wissen. Verbrechen gegen die Menschheit sollen demnach alle möglichen Kolonialverbrechen gewesen sein, so wie die Shoah. Das ist eine Universalisierung, die wiederum gesetzt wird, ohne jegliche Diskussion.

An anderer Stelle wird gerade die Architektur des Jüdischen Museums Berlin, das den Bruch, den der Zivilisationsbruch Auschwitz bedeutet, visuell andeuten möchte, diffamiert, da es sich „scharf vom übrigen Stadtbild“ im Multikulti-Bezirk Kreuzberg „absetzt“ und so

lässt sie die Umgebung im Umkehrschluss unbeteiligt erscheinen, als sei diese nun nicht länger in koloniale, imperiale, und nationalsozialistische Vernichtungspolitik impliziert.

Das hört sich so absurd an, dass man den Satz mehrfach lesen muss und ihn immer noch nicht versteht. Ein jüdisches Museum sei aufgrund der Architektur, die gerade den BRUCH, den die Shoah bedeutet, versucht diesen irgendwie in kleinsten Ansätzen darzustellen, höchst problematisch, weil es die (vor allem muslimischen oder migrantischen etc.) Nachbarn nicht dort abholen würde, wo sie wohnen, sondern mit so einer intellektuell gleichsam anmaßenden Architektur nur ausgrenzten.

Das Zitat oben ist zudem ein sekundär antisemitischer Sprech, eine Erinnerungsabwehr, die nur vorgibt, zu erinnern. Warum? Weil sie das Wort „Vernichtungspolitik“ im Kolonialismus und Imperialismus verortet und das 1:1 auf die Shoah überträgt und somit die Präzedenzlosigkeit von Auschwitz, Treblinka und den Wäldern von Litauen leugnet.

In einer Analyse an der Art des Erinnerns oder gerade Nicht-Erinnerns der Spezifik der Shoah zeigte der Historiker Saul Friedländer bereits 1982 (frz., 1984 auf dt.) in seinem Essay „Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus“ in seiner Kritik marxistischer Analysen bzw. Reduktionismen des Antisemitismus, was die kategoriale Differenz von Kolonialismus und Holocaust bedeutet:

Eine solche Interpretation [wie vom Marxisten Abraham Léon, CH] sagt uns jedoch nicht, wie ein auf wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Antagonismus basierender Rassenhaß – der in anderen Fällen zu Plünderung, Vertreibung, Versklavung oder sporadischen Tötungen (so etwa in den Kolonien) – hier den festen Vorsatz zur totalen Vernichtung annehmen konnte.[38]

Ganz offensiv wird hingegen diese Leugnung des Nie-Dagewesenen des Holocaust in „Decolonize the City“ von Thompson und Zablotsky propagiert bzw. damit kokettiert:

Kritische Haltungen in Bezug auf die Singularität des Holocaust als erstem industriellem Massenmord und der Unmöglichkeit, Verbrechen gegen die Menschlichkeit als solche darzustellen, werden somit für die Belange der Mehrheitsgesellschaft instrumentalisiert, welche die Kontinuitäten von Kolonialismus und Eugenik mit Verweis auf Erinnerungskultur und Gedenkorte in Abrede stellt.

Was sind denn „kritische Haltungen in Bezug auf die Singularität des Holocaust“? Lacht da nicht die AfD, wenn das Nie-Dagewesene des Holocaust in Abrede gestellt wird, was ja ein zentrales Ziel jedes Antikommunismus und Antisemitismus seit Ernst Nolte und zuletzt bei Timothy Snyder ist?

Sandrine Micossé-Aikins schreibt über „Vorwärtsgehen, ohne zurückblicken – eine kolonialismuskritische aktivistische Perspektive auf das Humboldtforum“ über die „brandenburgische Kolonie Großfriedrichsburg“, die in „Princess Town“ „von 1683–1717“ bestand und im kolonialen Dreieckshandel Europa-Afrika-Amerika involviert war und die Hohenzollern profitierten davon.

Dieser Text von Micossé-Aikins ähnelt in vielen Aspekten dem Text von Yeboah im Arch+ Heft 235 von 2019, was verständlich ist, da es sich heute um einen häufig sehr unkritischen bis affirmativen Diskurs handelt. Hier merkt man am deutlichsten, warum sich Anna Yeboah bei „Decolonize the City“ so herzlich bedankt. In dem Text von Micossé-Aikins wird jedoch wie selbstverständlich wiederum die Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus und Shoah aufgemacht:

Die Geschichte dieser Gebeine markiert die in der dominanten Geschichtsschreibung weitgehend ignorierten historischen Verbindungen zwischen Kolonialzeit und dem Nationalsozialismus bzw. dem Genoziden in Deutsch-Südwest Afrika und dem Holocaust.

Da merkt man dann durchaus, woher Anna Yeboah ihre eigene Rede- und Schreibweise hat, wenn sie wie zitiert schreibt:

Mit dem Kolonialismus wurden binäre Macht- und Identitätsmodelle etabliert, die Menschen diskriminatorisch in ‚Zugehörige‘ und ‚Fremde‘ unterteilen.

Das ist exakt die Tonlage des ganzen „Decolonize the City“ Buches. Der Bezug auf Aimé Césaire ist ganz typisch für die postkoloniale Literatur. Die Zeitschrift Peripherie („Politik Ökonomie Kultur“) teilt diese Form des postkolonialen Antisemitismus. In der Ausgabe 146/147 von August 2017 schreiben Aram Ziai und Daniel Bendix:

Ein entsprechendes ‚Pro und Kontra Kolonialismus‘-Tabu gilt in der heutigen BRD nicht. Aimé Césaire hat es schon 1955 gewusst: Weiße Opfer, zu denen er Jüd*innen zählte, scheinen (zumindest für die meisten Weißen) gleicher als andere. Deswegen wurden nicht die kolonialen Völkermorde, sondern erst der Völkermord im Nationalsozialismus von der westlichen Welt als ‚Zivilisationsbruch‘ wahrgenommen (Diner 1996).

Demnach war die Shoah kein Zivilisationsbruch, sondern koloniale Verbrechen seien auch Zivilisationsbrüche gewesen. Damit wäre Auschwitz gerade nicht präzedenzlos. Das ist ein Antisemitismus mit bestem postkolonialem Gewissen, trendig und preisgekrönt jüngst via Achille Mbembe, der sich exakt auf diese Passage von Césaire bezieht.

Der Schriftsteller Heiner Müller hatte in dieser Hinsicht die gleiche Holocaust trivialisierende und universalisierende Ideologie. 2017 wurde bei Suhrkamp ein Band mit Texten Müllers gegen den Kapitalismus herausgegeben, der zeigt, wie ungeniert heute im Mainstream der Antisemitismus trivialisiert und der Nationalsozialismus und Auschwitz universalisiert werden. In Anlehnung an ein Wort des später Müller von 1995 – „Für alle reicht es nicht. Daraus folgt die Selektion“ – wird von den beiden Herausgeber*innen Helen Müller und Clemens Pornschlegel der Nationalsozialismus als bloße Epoche in der Geschichte des Kapitalismus herunter dekliniert. Der Antisemitismus hat da nicht nur keinen Platz, Auschwitz wird in seiner Sinnlosigkeit geleugnet:

Die Behauptung, dass es einen systematischen Zusammenhang gebe zwischen Hitlers massenmörderischen Selektionen und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, zwischen Auschwitz und der Deutsche Bank (aber auch: I.G. Farben, VW, Thyssen, Bertelsmann, Audi, Hugo Boss, Oetker usw.), erschien verrückt. (…) In den Jahrzehnten nach 1990 haben nicht Frieden und Wohlstand, nicht blühende Landschaften und das kindlich-naive Vertrauen in die Gesetzlichkeiten oder harmonischen Gleichgewichte des freien Marktes zugenommen, sondern zugenommen haben (vom Reichtum der Reichen und Superreichen einmal abgesehen) Arbeitslosigkeit, Kriege, soziale und politische Gewalt (…).“[39]

Das ist Suhrkamp 2017. Von Auschwitz in wenigen Sätzen zu Arbeitslosigkeit zu gelangen ist an links-antikapitalistischer Obszönität und antijüdischem Ressentiment unüberbietbar. Das ist sekundärer Antisemitismus, eine Abwehr der Erinnerung dessen, was Auschwitz war. Es indiziert die analytische Hilflosigkeit wie auch die unverschämte linke Ignoranz gegenüber dem, was in Auschwitz geschah: der Zivilisationsbruch.

Das intellektuell nicht nur dürftige, sondern regelrecht widerwärtige, sich selbst immer nur obsessiv als Opfer des Kapitals imaginierende Niveau Heiner Müllers passt exakt zu seinen postkolonialen Epigon*innen oder literaturwissenschaftlichen Herausgeber*innen und Fans Helen Müller und Clemens Pornschlegel, wenn Heiner Müller 1984 schrieb:

Es gab ein Gastspiel mit der Aufführung SCHLACHT in Belgrad, bei BITEF, diesem Theaterfestival. Hinterher war eine Diskussion, ein Jugoslawe polemisierte gegen irgendwas, und dann habe ich gesagt, daß man doch auch sehen müßte, daß der deutsche Faschismus nur eine besonders blutige Episode war in dem kapitalistischen Weltkrieg, der schon vierhundert Jahre dauert.[40] Und das Besondere daran, daß zum ersten Mal mitten in Europa etwas gemacht wurde, was in Afrika, in Asien und in Lateinamerika völlig normal war seit Jahrhunderten: die Vernichtung von Völkern, die Versklavung von Bevölkerung. Der Jugoslawe war sehr empört, er war Partisan gewesen und sagte: Für mich war das keine Episode. Für ihn war das sein ganzes Leben. Er hat recht, aber trotzdem ist es richtig, daß man das mal sehen muß in einem globalen Kontext.“[41]

Damit universalisiert und rationalisiert Heiner Müller den Holocaust und die nie dagewesenen Verbrechen der Deutschen und ihrer Alliierten. Nie zuvor gab es den Plan, ein ganzes Volk zu vernichten, alle Juden sollten ermordet werden auf der ganzen Welt. Das gab es nie zuvor und nie seither.

Die Juden wurden mit Verschwörungsmythen wie den „Protokollen der Weisen von Zion“ (um 1905, russisch) für alles Übel auf der Welt verantwortlich gemacht, den Kapitalismus, den Kommunismus, die moderne Zivilisation und ihnen eine Weltverschwörung angedichtet. Nichts dergleichen gab es jemals zuvor oder seither mit irgendeiner anderen Gruppe von Menschen. Das zu leugnen und einen jahrhundertelangen, kapitalistischen, kolonialistischen und imperialistischen Krieg der Weißen gegen die Nicht-Weißen oder des Kapitalismus gegen den Rest der Welt zu imaginieren, ist nicht nur ahistorisch, sondern exkulpiert darüber hinaus die jeweiligen Ideolog*innen von ihrem eigenen Antisemitismus, der allein schon darin besteht, in sekundär antisemitischer, erinnerungsabwehrender Weise die Präzedenzlosigkeit von Treblinka, Sobibor, Chelmno, Majdanek, Auschwitz, den Wäldern von Litauen oder der Schlucht von Babi Yar zu leugnen.

Das passt darüber hinaus zu einer Art postkolonialer Geschichte, die Müller erzählte (wie mir berichtet wurde): In Afrika wurden demnach Filmaufnahmen aus den deutschen KZs gezeigt, um Aufklärung über die deutschen Verbrechen im Nationalsozialismus und den Holocaust zu leisten. Doch beim Anblick der Toten und fast Toten lachten viele afrikanische Zuschauer*innen und hielten sich die Bäuche. Warum? Weil sie es komisch fanden, „Weiße“ als Opfer von Weißen zu sehen. Auch das deutsche Publikum von Müller lachte einmal herzhaft, als er das erzählte. Diese Form des (sekundären) Antisemitismus, der Juden zu Weißen macht, ist der Kern der Geschichtspolitik des Postkolonialismus. Heiner Müller, der sich ja selbst als „Neger“ bezeichnete, war ein Vordenker hiervon, in den Fußstapfen von Aimé Césaire.

Auch Decolonize the City vertritt exakt diesen Césaire‘schen Antisemitismus, wenn Thompson/Zablotsky schreiben (in Anm. 4 zu ihrem Text):

Obwohl die Entnazifzierungspolitik der alliierten Besatzungsmächte häufig aus unterschiedlichen Gründen als unzureichend kritisiert worden ist, wurde nur selten ein expliziter Zusammenhang zur kolonialen Vergangenheit hergestellt. Als Ausnahmen sind hier insbesondere Aimé Césaires Diskurs über den Kolonialismus (1950) und Hannah Arendts Elements und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) hervorzuheben.

Dass Césaire Juden zu Weißen machte und gerade nicht den Zivilisationsbruch Auschwitz auch nur ansprach, wird damit akzeptiert.

Andernorts spricht Kien Nghi Ha in dem gleichen universalisierenden und Auschwitz als präzedenzlos leugnenden Duktus, der nicht nur für Decolonize the City, sondern weiteste Teile postkolonialer Literatur (die Autor*innen beziehen sich auf viel Literatur, die das jeweils genauso sieht) steht:

Die strukturelle Verankerung überkommender Ideologeme, die nicht ohne die kolonialrassistische und antisemitische Vergangenheit Deutschlands denkbar sind und analysiert werden können, wirft unweigerlich politisch unangenehme Problemlagen auf.

Der Historiker Dan Diner hat seit den späten 1980er Jahren bei der Analyse des Zivilisationsbruchs Auschwitz Wegweisendes geleistet. Er sagt 2007 über die kategoriale Differenz von Kolonialismus und Holocaust:

Die Kolonialmacht will ‚pazifieren‘, nicht vernichten.

Weiter:

Wie nahe kommen sich genozidale Kolonialkriege und Holocaust? Bei aller Absolutheit der kolonialen Gewalt – und dies im Unterschied zum konventionellen Krieg zwischen sich als Gleiche anerkennenden Gegnern – steht der Holocaust als eine bloße Vernichtung jenseits von Krieg, Konflikt und Gegnerschaft. Weder gilt es durch Gewalt einen Willen zu brechen noch etwas zu erzwingen. Der Vernichtungstod ist ein im Kern grundloser Tod.[42]

Von diesen kritischen Erkenntnissen ist „Decolonize the City“ unendlich weit entfernt und steht damit exemplarisch für den Postkolonialismus. Der Afrika-Historiker Jakob Zollmann hat dieselben haltlosen Positionen einer Linie von Windhuk nach Auschwitz am Beispiel des postkolonialen Gurus Jürgen Zimmerer seit 2007 bis heute detailliert durchdekliniert und scharf kritisiert.[43] Der sekundäre Antisemitismus via Universalisierung der deutschen Tat und der Shoah wird durch den unverblümten antizionistischen Antisemitismus auf dem Twitter-Account von „Decolonize the City“ noch potenziert. Das also sind offenkundig nach Selbstauskunft die Freund*innen von Anna Yeboah, der Arch+-Autorin.

***

Der abschließende Text von Arch+ 235 von Merve Bedir ist nicht weniger desaströs als der Text von Yeboah. Es geht um die Türkei, doch das Wort Islamismus sucht man vergeblich. In einem polit-ökonomischen Reduktionismus, wie wir ihn bis heute von Sekten von MLPD, DKP bis hin zu vielen sonstigen „antiimperialistischen“ Gruppen weltweit kennen, wird der Kapitalismus als einzige Macht herbei fantasiert, die einen faschistoiden Ideologen wie Erdogan determiniere. Der Ausdruck „religiöser Nationalpopulismus“ ist ein Euphemismus und weigert sich beständig, von Islamofaschismus oder Islamismus zu reden. Doch das ganze kulminiert in dieser Suada:

Die Raumpolitik der Neuen Türkei kann nicht ohne diesen erweiterten politischen Kontext verstanden werden. Den populistischen und autoritären Nationalismus, die Entwicklung hin zu einer illiberalen Demokratie, die Ablehnung von Immigrant*innen und Globalisierung und vor allem die Tatsache, dass diese Politik bereits an der Macht ist, hat die Türkei mit Staaten  wie Ungarn, Italien, Ägypten, Israel, Indien, den Philippinen, Brasilien oder den USA gemein.

Die Kritik an Ungarn, Brasilien oder Italien ist von Bedeutung, aber der Kern ist hier der Judenstaat. Der wird einfach so denunziert, ohne jegliche Differenzierung, was zum Israel bezogenen Antisemitismus passt. Es gibt kein Land der Erde, dem mit Vernichtung gedroht wird – außer Israel, wie von der Islamischen Republik Iran. Ich bin seit Jahren ein scharfer Kritiker der rechten Politik von Benjamin Netanyahu[44] – aber als Linkszionist und nicht als antiimperialistisch herum fuchtelnde Autorin, die mit Verve den Judenstaat mit Faschisten in eine Linie setzt. Das ist keine innerzionistische Kritik an Israel, wie sie weite Teile der linken, Demokraten wählenden amerikanischen Juden und weite Teile der jüdischen Intellektuellen in Israel üben.[45]

Was Bedir nicht erwähnt, sind islamfaschistische Regime wie (schiitisch) in Teheran oder (sunnitisch) in Riad. Der Islamismus ist schlichtweg kein Thema. Bei Erdogan nicht von Islamismus zu reden, ist völlig grotesk und zeugt von einem Realitätsverlust.

Auf der Heftvorstellung in der Volksbühne wurde von Trüby am Ende die Leninsche Frage „Was tun“ gestellt, nun: Es gibt eine „Alternative zu Deutschland“,[46] sie heißt intellektuelle Kritik an den gegenintellektuellen Tendenzen. Übrigens gibt es keine rechten „Intellektuellen“, was sich die meisten Autor*innen merken sollten, die Forschung spricht bei Rechten von „Gegenintellektuellen“, auch die häufige Verwendung von „Rechtspopulisten“ oder anderen Formen von „Populismus“ ist fragwürdig und verschleiernd. In Anschluss an Siegfried Kracauer ist ein Intellektueller eine Person, die Mythen knackt und nicht reaktiviert.[47] Also kann kein Rechter je ein Intellektueller sein.

Unterm Strich war auf der Heftvorstellung die postkoloniale Ideologie überall der große Gewinner, sie überlagerte alle noch so guten und wichtigen Analysen der Neuen Rechten. Tina Hartmann sagte auf der Heftvorstellung, heutzutage bzw. seit langer Zeit (seit 9/11 meinte sie wohl) würde ein Gegensatz von Abendland und Morgenland aufgemacht, was sich sehr saidianisch anhört und noch bestärkt wurde durch ihr Betonen, dass die Position, „der Islam“ „bedrohe die Errungenschaften der Aufklärung“, falsch sei.

Doch was ist daran falsch, die Geschlechterapartheit des Islamismus, der ja eine massive Schnittmenge mit „dem“ Islam hat, ohne in ihm aufzugehen, als antiaufklärerisch zu bezeichnen? Was ist daran falsch, nach dem Pulverisieren, Zerquetschen und Verbrennen von 3000 Menschen im World Trade Center durch Mohammed Atta und die anderen Jihadisten am Dienstag, den 11. September 2001, den Islamismus als riesige Gefahr für die Menschheit, den Westen und die aufgeklärte Welt zu erkennen? Die Bemerkungen von Hartmann in der Volksbühne über den armen Islam, der zum Antipoden der Aufklärung gemacht werde und dies somit nicht sei, sind wissenschaftlich und politisch bedenklich. Diese Derealisierung von Jihad und legalem Islamismus ist weit verbreitet im sich links dünkenden kulturellen Establishment, von Arch+ bis zur Volksbühne Berlin und unzähligen Lehrstühlen und Forschungsprojekten aller Art.

Hartmanns Betonen, es gehe der „Bibliothek des Konservatismus“ um eine „Akademisierung“ der Neuen Rechten ist richtig. Nur sieht sie nicht, dass dies bereits in den 1970er Jahren durch den tatsächlich neu-rechten Henning Eichberg geschah. Dieser war national-sozialistisch, nationalrevolutionär, neu-rechts, rechtsextrem und Begründer der Querfront und nicht Siemens-kapitalistisch oder konservativ wie der selbst ernannte Faschist Armin Mohler oder die „Bibliothek des Konservatismus“, was nicht heißt, dass beide Gruppen deutsch-nationale und völkische Schnittmengen haben.

Sicherlich ist schließlich der Antisemitismus nicht mit der deutschen Nationalversammlung von 1848 entstanden, der Gegensatz von „wir“ oder „das Volk“ gegen die Juden, der ist viel älter. Hartmann meinte jedoch auf der Heftvorstellung in der Volksbühne, bis 1848 hätte es den Antijudaismus gegeben, nicht den Antisemitismus, dabei ist diese Unterscheidung in der internationalen Forschung längst ad acta gelegt und widerlegt worden.[48]

Sodann wurde auch auf dieser Heft-Präsentation zu den rechten Räumen am 24. Mai 2019 mit keinem Wort eine der antisemitischsten Kampagnen seit 1945 in der Bundesrepublik Deutschland auch nur erwähnt: die Wahlplakate zur Europawahl der Neonazi-Partei „Die Rechte“: „Zionismus stoppen. Israel ist unser Unglück.“ Ist das kein rechter Raum, wenn Neonazis im Mai 2019 solche Plakate aufhängen? In den Tagen vor der Veranstaltung gab es viele Berichte in Tageszeitungen über diese rechtsextreme antisemitische Aktion.[49]

Man fragt sich, was die letztlich 13 Leute auf dem Podium für Zeitungen lesen oder was für Medien sie konsumieren, wenn nicht eine Person die exakt in dieser Woche vom 24. Mai 2019 bundesweit diskutierte anti-israelische Hetze dieser Neonazis auch nur erwähnte (so ich es nicht überhört habe). Könnte es sein, dass die meisten Leute einfach gar nicht hinhören, sobald es gegen Israel geht, weil man selbst (wie Decolonize the City oder Zizek) gegen ein demokratisches und jüdisches Israel ist? Kein Wort bei der Heftpräsentation von Arch+ zu dieser Neuauflage von Heinrich von Treitschkes Slogan, den die NSDAP dann aufgriff: „Die Juden sind unser Unglück“.

Ja, mehr noch: Leider scheint die Arch+ tatsächlich keinerlei Problem mit dem Antizionismus oder dem Antisemitismus von BDS zu haben, in Heft 231 von 2018 publizierte sie die deutsche Übersetzung eines Kapitels aus dem Buch über Klimawandel und Kapitalismus der Bestsellerautorin und seit 2009 als antiisraelische und BDS-Unterstützerin berüchtigten kanadischen Publizistin Naomi Klein.[50] Neben Judith Butler aus den USA oder dem Musiker Roger Waters aus Großbritannien ist Klein eine der bekanntesten Unterstützerinnen dieser antisemitischen Bewegung, die immer so tut, als ob sie es nicht wäre.

Angesichts der Beiträge von Bekir und Yeboah im Heft, den internationalen Kontakten von Kirn – der Publizist und taz-Kolumnist Micha Brumlik würde hier wieder aggressiv von der angeblichen „Kontaktschuld“ oder so reden und sieht immer nur bei Kritikern des Antisemitismus einen McCarthy, aber ahnt nicht, dass er selbst zum Kommunistenfresser von damals eine viel größere Nähe haben mag, als ihm lieb sein möchte, nur frisst Brumlik keine Kommunisten, sondern Kritiker*innen des antizionistischen Antisemitismus –, der engen Beziehung von Yeboah zu „Decolonize the City“, dem Publizieren von Naomi Klein durch Arch+ und nicht zuletzt durch das Hofieren Zizeks just im Mai 2019, steht man fast sprachlos vor diesem Heft.

Die Kritik an den rechten Räumen mit teils wirklich guten Beiträgen trifft die Neue Rechte, der Aufschrei des bürgerlichen Feuilletons und der rechtsextremen Pöbler im Netz zeigen, wie gut getroffen die Autor*innen und namentlich Trüby oder Hartbaum haben – aber dann dieses selbstverliebte Schweigen und Hinnehmen des postkolonialen oder säkular-leninistisch-hegelianisch-trendigen Mainstream-Antisemitismus oder das Verleugnen der islamistischen Gefahr.

Noch nicht mal Zizeks wirklich vulgärer Patriarchalismus und seine Angst vor weiblichen Entdeckungsreisen zur Vulva sind offenbar in diesen Kreisen ein no-go, obschon doch gerade die Neue Rechte so massiv patriarchal pöbelt. Demnach spricht ein Kommentar von Margarete Stokowski, die zeigt, wie ähnlich männlich-sexistisch misogyn Superstars der Rechten (Jordan Peterson) und Linken (Slavoj Zizek) ticken, offenbar ins Leere, die Kulturelite à la Volksbühne und Arch+ ignoriert ihre Kritik jedenfalls, Zizek bleibt der Star.[51]

Die perfide Logik des Heftes von Arch+ ist nun folgende: die Autor*innen geben vor, gegen Antisemitismus zu sein. Doch darunter wird der Antizionismus gerade nicht gefasst. Auch der Postkolonialismus taucht in diesem Schema gerade nicht als überaus reduktionistische und bisweilen antisemitische Ideologie auf. Der überaus beliebte Hetzer Zizek (von der Süddeutschen Zeitung über die Arch+ bis hin zu jedem hippen Uni-Seminar in den Sozial- und Geisteswissenschaften) spricht im Mai 2019, nur einen Tag nach dem Bauchpinseln durch Trüby, vom „zionistischen Antisemitismus“,[52] weil Israel sich gegen Juden wenden würde, die nicht pro-israelisch sind.

Wer letztendlich die islamistisch organisierte Landnahme via öffentlichem Massengebet auf dem Tempelhofer Feld in Berlin im August 2019 durch die Neuköllner Begegnungsstätte sieht, die mit Tausenden Muslimen, fanatisch getrennt nach Geschlechtern, verschleiert und mit Teppichen ausgestattet, Angst und Schrecken bei weltlichen und antiislamistischen Besucher*innen des Tempelhofer Feldes evozierten (ich selbst wohnte sechs Jahre unweit des Tempelhofer Feldes und besuchte den Ort fast täglich), kann nur der liberal-muslimischen Anwältin und Feministin Seyran Ates zustimmen:

Das sind muslimische Identitäre.[53]

Man könnte sprachlich geschickter vielleicht auch von identitären Muslimen sprechen, denn der Islamismus ist ja keine Unterkategorie des Rechtsextremismus, sondern eine eigenständige Ideologie, die historisch viel mit den Nazis gemein hatte, so wie der neu-rechte Vordenker Eichberg mit Gaddafi kooperierte und die Muslimbruderschaft und die Verschleierung feierte[54] – aber heute kooperiert der Islamismus ideologisch intensiv mit der Linken.[55]

Die Schadenfreude weiter Teile der Kulturelite nach 9/11[56] wie auch das Schweigen oder klammheimliche Klatschen und Kichern angesichts des Jihad von denselben Kreisen wird in dem Band nicht erwähnt. Dabei ist das für nicht wenige heutige neu-rechten Hetzer ein Ausgangspunkt, wobei die not-wendige Kritik am Islamismus und Jihad zu einem deutsch-nationalen Furor gegen „den“ Islam, „die“ Genderideologie oder „die Flüchtlinge“ und das „rot-grün versiffte Gesocks“ sich schnell wandelte.

Vom Antisemitismus zu reden und damit „nur“ den NS oder die Neo-Nazis, die Neue Rechte und Teile der bürgerlichen Mitte zu meinen, aber nie den Antizionismus der Linken, ja nicht mal den antiisraelischen Judenhass von Neonazis, ist reduktionistisch und falsch. Das hatte mich schon im Sommer 2002 angesichts ganz typischer linker und migrantischer Invektiven bei der Hans-Böckler-Stiftung, wo ich seinerzeit Doktorand war, zu folgendem Spruch in meinem Text für die Gewerkschaftlichen Monatshefte (9/2002) bewogen:

Deutsche mögen nur tote Juden, Islamisten gar keine.[57]

Der Bundestag beschließt im Mai 2019 eine nicht verbindliche Anti-BDS-Resolution, die Bundeszentrale für politische Bildung wird vom Bundesinnenministerium finanziert und unterstützt ihrerseits z.B. die Zeitschrift Arch+, die BDS-Unterstützer*innen publiziert.

Die Frage, ob Fotos von Neuen Rechten einen Erkenntnisgewinn haben oder nicht eher affirmativ sind, stellt sich bei dem Heft 235 von Arch+ überall. Das gilt auch für geradezu einfühlend gelayoutete Aufnahmen von NS-Architektur. Solche Bilder passen dann doch besser in Cato, DU, die Junge Freiheit oder auf rechte (Architektur-)Blogs. Es behindert das Lesen nicht unwesentlich und hat teils fragwürdigen Charakter, wenn einfach fröhliche Neo-Nazis abgelichtet werden und gerade nicht Bilder, wie rechtsextreme Politiker*innen oder Akteure eine Sahnetorte ins Gesicht geworfen bekommen oder wie eine Antifa-Demo sich gegen einen rechten Aufmarsch positioniert. Eine antifaschistische Nachricht in Split beim Einmarsch der Wehrmacht 1943 ist die große Ausnahme von der pro-rechten Bebilderung. Hitler-Bilder oder Hitlergrüße etc. haben nichts in einem sich antifaschistisch gebenden Heft zu suchen.

Die Kritik an der „Metapolitik“ in dem Arch+ Heft ist von eminenter Bedeutung. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie hat es schon vor Jahren in seinem Buch „Die Anti-Europäer“ pointiert auf den Punkt gebracht und dabei nicht nur den Rechtsextremismus, sondern auch den Islamismus und „Eurasier“ im Visier:

Man könnte die selbsternannten Erben der Konservativen Revolution belächeln, würden sie es bei verbalem Radikalismus belassen und ohne Resonanz bleiben. Führt auch heute ein Weg von einsamen Wölfen wie Breivik und den Cliquen eines Dugin oder al-Suri in breitere weltanschauliche Milieus und etablierte Machtzirkel? Zahlenmäßig schwach, betreiben Konservative Revolutionäre eine ‚metapolitische‘ Strategie: Erst sollen die Köpfe erobert werden, dann eventuell Positionen, Territorien und Ressourcen. Das war bereits der Ansatz der Neuen Rechten seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts.[58]

Die Rechten versuchen nicht nur, ihre Ideologie in den Mainstream zu tragen, sondern praktizieren das auch ganz konkret mit architektonischen Mitteln: mit Denkmälern, wieder aufgebauten Stadtteilen oder Schlössern und Kirchen, entsprechenden Plätzen und so weiter. Die europäische Dimension wird in dem Arch+ Heft herausgestellt, man könnte das in zukünftigen Studien z.B. mit der Analyse von Würdigungen ehemaliger Nazikollaborateure und Antisemiten in der Ukraine, Lettland oder Litauen empirisch unterfüttern.

Auch die unerträglichen Jahn-Straßen oder –Sportplätze (z.B. Jahn Sportpark Berlin, Jahn-Denkmal auf der Hasenheide in Berlin-Neukölln, Fußball-Bundesligist (2. Liga) Jahn Regensburg), Hermann-Löns-Straßen oder Richard-Wagner-Plätze, -Straßen wie ‑Festspiele verdienten eine Kritik als extrem rechte Räume, mit dem Vorschlag, die jeweils umzubenennen, bundesweit, von den Treitschke- oder Hindenburg-Straßen etc. pp. nicht zu schweigen. Bezüglich der Straßen mit kolonialistischer Geschichte werden solche Änderungen im Heft auch angemahnt.

Unterm Strich gilt: Dank Stephan Trüby, seinem Institut IGmA an der Uni Stuttgart und dem Heft 235 von Arch+ hat die interdisziplinäre Forschung zur Neuen Rechten vielfältige kritische Einblicke in die europaweite ubiquitäre rechtsextreme Raumnahme erhalten, die bis weit in den bürgerlichen Mainstream ausstrahlt. Insofern hat der hypermodische und meist so affirmative wie elfenbeinturmmäßige spatial turn jetzt womöglich einen nicht zuletzt deutschlandkritischen und zur Aktion aufrufenden Touch von Antifa.

Für jene, die im gegenintellektuellen Zeitalter von Twitter und Facebook keine langen Texte zu lesen imstande oder willens sind, eine knappe Zusammenfassung:

1) Die Zeitschrift Arch+. Zeitschrift für Architektur und Urbanismus attackiert in ihrem Heft 235 von Mai 2019 zu dem Thema „Rechte Räume. Bericht einer Europareise“ den sekundär antisemitischen Charakter der Rekonstruktion der Altstadt von Frankfurt am Main.

2) Arch+ 235 skandalisiert den antisemitischen Charakter von Hans Kollhoffs Ezra Pound Zitat auf dem Walter-Benjamin-Platz in Berlin.

3) Arch+ 235 betont das völlig ungenierte Vergessen oder Feiern des Faschismus in Italien oder Spanien.

4) Arch+ 235 unterstreicht die europaweite Dimension der Neuen Rechten, von der Schweiz über Polen, Frankreich, Österreich, Holland und natürlich Deutschland und weiteren Ländern.

5) Arch+ 235 hat unnötigerweise und ohne jeden Erkenntnisgewinn viele hochauflösende Bilder von Neonazis, Neuen Rechten und von Nazi-Gebäuden, die es erschweren, das Heft zu lesen. Diese Bilder passen eher zu rechtsextremen Publikationsorten, aber haben in einem Heft, das vorgibt Antifa zu sein, schlicht nichts zu suchen.

6) Arch+ 235 bedankt sich bei einer postkolonialen Gruppe („Decolonize the City“), die gegen Israel agitiert.

7) Arch+ publizierte 2018 eine der führenden BDS-Vertreter*innen weltweit, Naomi Klein.

8) Arch+ folgt ohne jede wissenschaftliche Differenzierung dem postkolonialen Hype, dessen Antisemitismus in diesem Rezensionsessay analysiert wurde.

9) Arch+ schreibt über die heutige Türkei, ohne das Wort Islamismus auch nur einmal zu verwenden und trivialisiert die Situation mit Ausdrücken wie „Nationalpopulismus“ oder „religiöser Nationalpopulismus“. Zudem agitiert der Text gegen Israel.

10) Mit keinem Wort wird im Heft Arch+ 235 auf den Antizionismus der Neuen Rechten und Neonazis eingegangen.

 

 

Der Autor, Dr. phil. Clemens Heni, ist Politikwissenschaftler, im Dezember 2002 hielt er seinen ersten Vortrag in Israel, er war 2003 und 2004 Felix Posen Fellow des Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism (SICSA) der Hebräischen Universität Jerusalem; dortselbst war er von Oktober 2010 bis Mai 2015 Research Fellow. Er war 2008/09 Post-Doc in Yale und von Juli bis Oktober 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hannover, Fakultät für Architektur und Landschaft, Zentrum für Gartenkunst und Landschaftsarchitektur, Projekt: Hachschara, Landwirtschaft, Architektur. Anfang 1989 hatte er seinen Schulfreund und Mitabiturienten Stephan Trüby eingeladen, ihn auf eine Tagung über die „Dialektik der Aufklärung und die Antiquiertheit des Menschen“ nach Frankfurt am Main zu begleiten.

 

Endnoten

[1] https://www.belltower.news/afd-spitzenkandidat-in-brandenburg-die-rechtsextreme-karriere-von-andreas-kalbitz-89325/.

[2] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-andreas-kalbitz-war-mit-npd-funktionaeren-bei-neonazi-aufmarsch-in-athen-a-1284319.html.

[3] https://www.zeit.de/kultur/2019-09/landtagswahlen-fernsehberichterstattung-afd-rechtsextremismus-demokratie.

[4] https://www.zeit.de/kultur/2019-06/stephan-trueby-architektur-professor-rechte-raeume-kritik/komplettansicht.

[5] https://www.mousonturm.de/events/rechte-raeume-in-frankfurt-stadtspaziergaenge/?fbclid=IwAR0gjLVU9-2T8MSdPq56w0FkArPGQ-E_npmN8GgWi2gxzqCZ7D_APJrDgi0.

[6] Der Rezensent selbst steht auf einer der aktuellen quasi Abschusslisten von Neo-Nazis, „Judas Watch“, die jüngst von der Tagesschau-Sendung um 20 Uhr vom 18. August 2019 als Beispiel dafür genommen wurde, warum das Bundeskriminalamt (BKA) den Kampf gegen den Rechtsterrorismus, Hasskriminalität und den Rechtsextremismus forcieren und 10 neue Referate mit 440 neue Stellen einrichten wird, https://www.tagesschau.de/ausland/rechtsextremismus-129.html.

[7] Zu einer Kritik an Riehl, der antisemitischen Naturschutzgeschichte wie der NS-Landschaftsarchitektur siehe Clemens Heni (2009): Antisemitismus und Deutschland. Vorstudien zur Kritik einer innigen Beziehung, Morrisville.

[8] https://www.zeit.de/kultur/2019-06/stephan-trueby-architektur-professor-rechte-raeume-kritik/komplettansicht.

[9] https://www.clemensheni.net/liebende-in-new-york-city-oder-gegen-das-stolzdeutsche-nationalmannschaftsgeschwafel-von-der-heimat-von-edgar-reitz-ueber-robert-habeck-zu-cem-oezdemir-die-antiquierthei/ (07.03.2018), https://www.clemensheni.net/von-walser-1998-bis-oezdemir-2018-das-seminar-fuer-allgemeine-rhetorik-der-uni-tuebingen-die-rede-des-jahres-deutscher-antisemitismus-und-nationalismus/ (13.12.2018).

[10] https://www.clemensheni.net/kein-quentchen-linker-gesellschaftskritik/; Peter Bierl/Clemens Heni (2008): Eine deutsche Liebe. Über die braunen Wurzeln der Grünen und die Lücken der Naturschutzforschung, Konkret 1/2008, S. 24–26.

[11] Clemens Heni (2018): Der Komplex Antisemitismus. Dumpf und gebildet, christlich, muslimisch, lechts, rinks, postkolonial, romantisch, patriotisch: Deutsch, Berlin, S. 289–291.

[12] https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/programm/bfs-kuenstler/bfs_kuenstler_detail_279509.html.

[13] Siehe Clemens Heni (2013): Antisemitism: A Specific Phenomenon. Holocaust Trivialization – Islamism – Post-colonial and Cosmopolitan anti-Zionism, Berlin, S. 406–415.

[14] https://www.clemensheni.net/how-german-is-the-jewish-museum-berlin/; Heni 2018, S. 450–454.

[15] Clemens Heni (2010): Stuttgart ist doch keine „Vorstadt von Jerusalem“…Paul Bonatz, der Nationalsozialismus und Die Grünen (K21), 24. August 2010, https://www.clemensheni.net/stuttgart-ist-doch-kein-vorort-von-jerusalem/.

[16] Heni 2018, S. 82, Zitat von der Literaturwissenschaftlerin Susanna Moßmann.

[17] Vgl. zum Göttinger Hainbund und zu einer weiteren Bücherverbrennung von Schriften Wielands nur ein Jahr später, 1773, Clemens Heni (2007): Salonfähigkeit der Neuen Rechten. ‚Nationale Identität‘, Antisemitismus und Antiamerikanismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1970–2005: Henning Eichberg als Exempel, Marburg, S. 315, Fußnote 1306.

[18] Der Mitbegründer des Konzepts Ethnopluralismus seit den späten 1960er Jahren war Henning Eichberg, siehe Heni 2007, S. 47–50.

[19] https://blogs.timesofisrael.com/the-jewish-museum-fuels-the-anti-jewish-climate-in-germany/ (14.06.2019).

[20] https://www.rt.com/op-ed/460228-anti-semitic-bds-israel-zizek/. Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Zionismus siehe Clemens Heni (2014): Kritische Theorie und Israel. Max Horkheimer und Judith Butler im Kontext von Judentum, Binationalismus und Zionismus, Berlin.

[21] Cary Nelson/Gabriel Noah Brahm (Eds.) (2015): The Case against academic boycotts of Israel. Preface by Paul Berman, Chicago/New York.

[22] https://www.clemensheni.net/koennen-die-juden-in-deutschland-ueberhaupt-eigenstaendig-denken/.

[23] Clemens Heni/Thomas Weidauer (Hg.) (2012): Ein Super-GAUck. Politische Kultur im neuen Deutschland, Berlin.

[24] Heni 2018, S. 547.

[25] Tweet vom 14. Oktober 2015 zu einem Beschluss einer Gruppe von Geographen, sich dem Boykott Israels anzuschließen (https://iccg2015.org/resolution-english/); Tweet vom 26. September 2014 zur antiisraelischen schwarzen „Feministin“ Angela Davis (https://www.colorlines.com/articles/angela-davis-connects-movement-free-palestine-black-feminism), Tweet vom 28. Juli 2014 zu einem Text von Anna-Esther Younes (plötzlich heißt sie Anna-Esther, nicht mehr nur Anna wie 2012 im offiziellen Programm der Tagung „Decolonize the City“, und wird als „deutsch-palästinensische Akademikerin“ präsentiert), wo sie ihre Abscheu vor „Pro Zionisten“ freien Lauf lässt (http://www.migazin.de/2014/07/28/nahost-konflikt-rassismus-und-deutschland/), Tweet vom 25. Juli zu James Baldwins Antizionismus (http://socialistworker.org/2014/07/23/how-baldwin-saw-palestine), Tweet vom 24. Juli 2014 zu Ilan Pappé, der BDS als „legitim“ erachtet. Ebenso Bezüge zu Holocaustverharmlosenden Autoren wie Jürgen Zimmerer auf diesem Twitter Account wie auch im Text von Yeboah via einem von diesem edierten Band zur deutschen Kolonialgeschichte.

[26] https://www.humboldtforum.org/de.

[27] Ich selbst habe als Teenager bei einem Besuch in Ost-Berlin 1986 den Palast der Republik auch von innen gesehen.

[28] https://www.youtube.com/watch?v=4OFykZrIEEs.

[29] Zudem: „Die jamaikanische Kulturwissenschaftlerin Imani Tafari-Ama, von Juli 2017 bis März 2018 Fellow am Flensburger Schifffahrtsmuseum mit dem Projekt ‚KulturTransfer. Unser gemeinsames Kolonialerbe‘, unterstützt von der Kulturstiftung des Bundes in deren Programm ‚Fellowship Internationales Museum‘, wurde in der taz Gelegenheit zur Verbreitung ihrer antijüdischen, den Holocaust als präzedenzloses Verbrechen leugnenden Ungeheuerlichkeiten gegeben: ‚Wenn ich Deutsche nach ihrer kolonialen Schuld befrage, heißt es oft, das kollektive Gedächtnis sei eben mit dem Holocaust viel zu sehr beschäftigt gewesen. Der habe alles andere verdrängt. Das mag stimmen. Trotzdem bleibt der Genozid an den Herero und Nama in Namibia bestehen; trotzdem bleiben die Unterdrückungsmaßnahmen in Togo, in Ruanda, in Tansania, in Kamerun – oder eben auf den Jungferninseln – Verbrechen, für die jemand haften muss. Die Europäer müssen anerkennen, dass die Verschleppung der Afrikaner das größte Verbrechen in der Menschheitsgeschichte ist, größer noch als der Holocaust.‘ Das ist eine offenbar im Mainstream angekommene neue Form der Holocaustleugnung, der Softcore-Variante, wie die Historikerin Deborah Lipstadt sagen würde“, Heni 2018, S. 367.

[30] Zwischenraum Kollektiv (Hg.) (2017): Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt – Gespräche | Aushandlungen | Perspektiven, Münster.

[31] https://www.rosalux.de/dokumentation/id/13988/decolonize-the-city-1/.

[32] https://unrast-verlag.de/neuerscheinungen/decolonize-the-city-detail.

[33] https://unrast-verlag.de/ebooks/decolonize-the-city-473-detail.

[34] https://www.decolonizethecity.de/talks.

[35] https://www.juedische-allgemeine.de/politik/das-ballhaus-und-die-bds/.

[36] http://www.idverlag.com/BuchTexte/DreiZuEins/DreiZuEinsViehmann.html.

[37] https://www.emma.de/artikel/ein-abend-wuerzburg-334477.

[38] Saul Friedländer (1982)/1984: Kitsch und Tod. Über den Widerschein des Nazismus, München/Wien, S. 109.

[39] Helen Müller/Clemens Pornschlegel (2017): Vorwort, in: Heiner Müller (2017): „Für alle reicht es nicht“. Texte zum Kapitalismus. Herausgegeben von Helen Müller und Clemens Pornschlegel in Zusammenarbeit mit Brigitte Maria Mayer, Berlin (zitiert nach dem E-Book).

[40] Das erinnert an die den Holocaust ebenfalls universalisierende und in seiner Spezifik leugnende Kampagne „500jähriges Reich“ von Medico International von Anfang der 1990er Jahre: Bruni Höfer/Heinz Dieterich/Klaus Meyer (Hg.) (1990): Das Fünfhundertjährige Reich. Emanzipation und lateinamerikanische Identität 1492–1992, Frankfurt am Main; Stefan Armborst/Heinz Dieterich/Hanno Zickgraf (Hg.) (1991): Sieger und Besiegte im Fünfhundertjährigen Reich. Emanzipation und lateinamerikanische Identität: 1492–1992, Bonn; Heinz Dieterich (1990a): Ironien der Weltgeschichte. Strukturparallelen zwischen Nazi-Lebensraum und Erster/Dritter Welt heute, in: Höfer/Ders./Meyer (Hg.) (1990), S. 69–147.

[41] In Müller 2017.

[42] Dan Diner (2007): Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen, S. 81.

[43] Jakob Zollmann (2007): Polemics and other arguments – a German debate reviewed, in: Journal of Namibian Studies, Jg. 1, Nr. 1, S. 109–130; Jakob Zollmann (2010): Koloniale Herrschaft und ihre Grenzen. Die Kolonialpolizei in Deutsch-Südwestafrika 1894–1915, Göttingen; Jakob Zollmann (2019): From Windhuk to Auschwitz – old wine in new bottles? Review article* (im Erscheinen).

[44] https://www.clemensheni.net/please-give-me-some-latkes-before-you-kill-me-jews-and-neo-nazis-in-germany/ (11.02.2019), https://www.clemensheni.net/kenneth-l-marcus-oxymoron-trump-and-civil-rights/ (12.03.2018), https://www.clemensheni.net/was-erlauben-lizaswelt-ueber-die-notwendigkeit-einer-selbstkritik-der-pro-israel-szene/ (24.03.2015), https://www.clemensheni.net/do-not-distract-attention-from-our-homemade-extremists/ (07.04.2014).

[45] Fania Oz-Salzberger/Yedidia Z. Stern (Hrsg.) (2017): Der israelische Nationalstaat. Politische, verfassungsrechtliche und kulturelle Herausforderungen. Aus dem Englischen von Clemens Heni und Michael Kreutz, Berlin.

[46] Clemens Heni (2017): Eine Alternative zu Deutschland. Essays, Berlin.

[47] Heni 2007, S. 87 f.

[48] Robert S. Wistrich (1991): Antisemitism. The Longest Hatred, London; New York; Robert S. Wistrich (2010): A Lethal Obsession. Antisemitism from Antiquity to the Global Jihad, New York.

[49] https://www.hna.de/kassel/israel-unser-unglueck-wirbel-wahlplakate-anti-israel-slogan-ngz-12284359.html, https://www.juedische-allgemeine.de/politik/judenhass-im-wahlkampf-muss-gestoppt-werden/, https://www.nrz.de/staedte/moers-und-umland/die-rechte-kamp-lintfort-entfernt-wahlkampf-plakate-id221160357.html.

[50] https://www.archplus.net/home/archiv/artikel/46,4909,1,0.html. Im Januar 2009 kritisierte der bekannte linke Soziologe David Hirsh aus London die Pro-BDS-Position von Klein, https://engageonline.wordpress.com/2009/01/10/klein-hirsh/. Im Juli 2019 ist Naomi Klein wie gehabt im BDS-Aktivismus voll involviert, http://bdsberlin.org/2019/07/04/talib-kwelis-ausladung-vom-festivalprogramm-ist-teil-des-anti-palaestinensischen-trends-zu-zensur/.

[51] https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/die-angst-der-maenner-vor-weiblicher-sexualitaet-kolumne-a-1258544.html, 19.03.2019.

[52]  Im oben bereits zitierten Text, https://www.rt.com/op-ed/460228-anti-semitic-bds-israel-zizek/ (25.05.2019).

[53] Seyran Ates zum Gebet auf dem Tempelhofer Feld „Das sind muslimische Identitäre“, 12.08.2019, https://www.tagesspiegel.de/berlin/seyran-ates-zum-gebet-auf-dem-tempelhofer-feld-das-sind-muslimische-identitaere/24895706.html. Zum Islamismus siehe Clemens Heni (2011): Schadenfreude. Islamforschung und Antisemitismus in Deutschland nach 9/11, Berlin; Clemens Heni (2011a): Entry „Germany“ in World Almanac of Islamism, Washington, D.C., American Foreign Policy Council (ed.), auch online (letztes Update September 2018) auf http://almanac.afpc.org/Germany.

[54] Vgl. Heni 2007.

[55] Siehe das Kapitel „The Red-Green Axis“ in Wistrich 2010, S. 399–434.

[56] Heni 2011.

[57] http://clemensheni.net/wp-content/uploads/Gewerkschaftliche-Monatshefte-2002-Heni.pdf.

[58] Claus Leggewie (2016): Anti-Europäer. Breivik, Dugin, al-Suri & Co., Berlin, S. 9 f.

©ClemensHeni

Kein Quentchen linker Gesellschaftskritik

Das Buch „Deutschland rechts außen“ von Matthias Quent verharmlost die deutschen Zustände und die rechte Gefahr

Von Dr. Clemens Heni, 16. August 2019

Der Publizist Thomas Ebermann kritisiert in seinem Buch „Linke Heimatliebe. Eine Entwurzelung“ von 2019 den Thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow und schreibt:

„Präsident Steinmeier hatte zum Tag der Deutschen Einheit gesagt: ‚Diese Sehnsucht nach Heimat dürfen wir nicht denen überlassen, die Heimat konstruieren als ein ,Wir gegen Die‘, als Blödsinn von Blut und Boden.‘ Einer der Ersten, die ihm beipflichteten, war der damalige Vorsitzende der Grünen, Cem Özdemir. Er lobte, ‚dass der Bundespräsident den Heimatbegriff positiv setzt und nicht denen überlässt, die unsere Republik schlechtreden und unser Land spalten‘. Und auch Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow lässt sich die Heimat ‚von keinem Nazi wegnehmen‘ und erteilt jeder kritischen Reflexion darüber vorab eine Absage: ‚Da bin ich stur‘.“

Diese Sturheit Ramelows, wenn es ums Eingemachte geht, zeigte sich besonders drastisch, als er 2016 „antideutschen“ Antifas, die eine Aktion vor dem Haus von AfD-Führer Björn Höcke in Bornhagen ankündigten, Nazi-Methoden und Arroganz vorwarf.

Ebermanns Kritik am Heimatbegriff ist deshalb so bedeutsam, weil er ja explizit die Linken oder Ex-Linken oder Noch-Nie-Linken im Visier hat wie Dieter Dehm, Christoph Türcke, Sarah Wagenknecht oder den Autoren des Neuen Deutschland Roberto J. De Lapuente. Ebermann bezieht sich auf den „Thüringen Monitor“ von 2018 und stellt fest:

„Seit dem Amtsantritt der – damals bundesweit ersten – rot-rot-grünen Landesregierung im Jahr 2014 sind fremdenfeindliche und rassistische Einstellungen im Freistaat stetig und massiv angestiegen, in manchen Bereichen gar um ein Drittel. Warum? Auch darauf bietet die zitierte Studie Antworten: 96 Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen ihre Heimat ‚wichtig‘ oder ‚sehr wichtig‘ sei.“

Was sagt nur Matthias Quent, der ebenso den „Thüringen Monitor“ heranzieht?

„Von einem gänzlich braunen Osten jedenfalls kann keine Rede sein: 48 Prozent der Thüringer Bevölkerung ordnet sich 2018 selbst als ‚links‘ ein, 31 Prozent in der Mitte.“

Matthias Quent ist ganz optimistisch, wie es sich für einen NGO-Aktivisten gehört: Er ist Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Jena, das von der Amadeu Antonio Stiftung getragen und von der thüringischen Landesregierung mit verschiedenen Fördertöpfen co-finanziert wird.

Es geht um das neue Buch von Matthias Quent: „Deutschland rechts außen – Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können“ (Piper Verlag, August 2019, ich zitiere nach der E-Book Ausgabe).

 

Quent hat über den Rechtsterrorismus des NSU promoviert, er hat aber offenkundig wenig Erfahrung mit der Analyse der Neuen Rechten und der politischen Kultur insgesamt, er ist 33 Jahre alt (Jg. 1986, DDR) und das lässt er die Leser*innen auch spüren.

Die Bevölkerung driftet nicht nach rechts. 2001 haben sich im ‚Thüringen-Monitor‘ 4 Prozent der Befragten als ‚rechts‘ eingeordnet, zugleich lag der Anteil rechtsextrem eingestellter Menschen in Thüringen bei 25 Prozent. 2018 lag der Anteil der rechtsextrem Eingestellten bei 20 Prozent – genauso hoch wie der Anteil derer, die sich selbst als ‚rechts‘ einordnen. Das bedeutet: Das rechtsradikale Potenzial war immer da. Nur die Menschen betrachteten sich damals nicht als rechts.“ (Herv. CH)

Man muss sich das in Ruhe durchlesen, um den Wahnwitz zu verstehen. Demnach haben sich 2001 4 Prozent der Befragten in Thüringen als „rechts“ betrachtet, es gab aber 25 Prozent Rechtsextreme. 2018 nennen sich gleich 20 Prozent als „rechts“ was mit dem Prozentsatz der Rechtsextremen in diesem Bundesland übereinstimme. Das seien weniger als 2001 (25%) und also ein Fortschritt.

Die AfD bekam 2014 10,9% bei der Landtagswahl in Thüringen, derzeit steht sie in Umfragen wie vom 30. Juli 2019 (infratest dimap) vor der Wahl am 27. Oktober bei 24%, nur einen Prozentpunkt hinter den führenden Linken und vor der CDU, die SPD kommt auf 8%. Doch Quent sagt apodiktisch: „Die Bevölkerung driftet nicht nach rechts“. Wer will diesen Wahnsinn verstehen?

Die AfD könnte stärkste Partei werden, 2001 gab es sie noch gar nicht, und der Autor fabuliert davon, Thüringen würde nicht nach rechts „driften“. Es ist salonfähig, sich völlig ungeniert als „rechts“ zu definieren. Das ist die politische Katastrophe, der wir uns bewusst sein sollten. Nur NGO-Aktivisten, die selbst vom Staat finanziert werden, mögen das anders sehen.

Diese extrem dramatische Situation verniedlicht der Nachwuchs-NGO-Aktivist, der als Soziologe firmiert, aber eine Analyse der Gesellschaft ist seine Sache nicht.

Mit einem Schönreden der Situation in Thüringen, einem Hohelied auf die Heimat und auf Bodo Ramelows (Die Linke) Landesregierung in dem Buch von Matthias Quent –

„Die zivilgesellschaftlichen Demokratisierungsbemühungen zeigen Wirkung und wurden durch die rot-rot-grüne Landesregierung unter Bodo Ramelow (Die Linke) seit 2014 weiter verstärkt. Insgesamt 1,5 Millionen Euro wurden bereitgestellt, um Opfer und Hinterbliebene des NSU-Terrorismus zu entschädigen. Georg Maier (SPD) ist der erste Thüringer Innenminister, der lernbereit neue Wege geht, um die Handlungsspielräume von Neonazis einzuschränken. Professionelle und unabhängige Beratungsangebote für Betroffene rechter Gewalt und für Akteure, die sich gegen Rechtsradikalismus einsetzen, festigen demokratische Kompetenzen.“ –

kann man die Nazis nicht besiegen, vielmehr spielt man deren Spiel.

Quent ist offenbar wie Ramelow ein Heimatschützer der durchaus typisch ostdeutschen Art, wie es scheint:

„Fakten und Beispiele aus meiner Heimat Thüringen widerlegen ebenfalls das Klischee des braunen Ostens. Noch vor etwa zwanzig Jahren war Jena, die Stadt, in der ich lebe und arbeite, eine Hochburg des Rechtsradikalismus. Überfälle und Aufmärsche von Neonazis waren an der Tagesordnung.“ (Herv. CH)

 

Vor 20 Jahren gab es noch keine AfD, die jetzt kurz davor steht, stärkste oder zweitstärkste Kraft in Sachsen, Brandenburg (Landtagswahl am 1. September) und Thüringen zu werden. Mit Björn Höcke hat Thüringen einen der gefährlichsten rechtsextremen Agitatoren seit 1945. So klar sich Quent gegen die AfD ausspricht und sie bekämpfen möchte, so unglaublich selbst-verliebt und stolz ist er auf sein Thüringen und auf den Osten allgemein. Da wird einem regelrecht schwindelig, wenn einer ernsthaft behauptet, der Osten würde nicht nach rechts driften, wo doch die AfD, die mit Neonazis kooperiert, wie er selbst zeigt, fast stärkste Partei ist oder werden wird. Das so grotesk klein zu reden, wie Quent das tut, ist gefährlich oder zeugt von einem Realitätsverlust.

Dabei hat er ein paar ganz wenige gar nicht so schlechte Sätze in dem Buch, z.B. wenn er sich gegen den Kollegen Thomas Wagner wendet, der wie die Querfront mit Rechten redet und Gemeinsamkeiten von antiimperialistischen Linken und Neonazis sucht. Oder wenn er das Phantasma des gemeinsamen Kampfes von Ostdeutschen und Muslimen oder Migranten gegen die bösen Wessis kritisiert, ohne gleichwohl Namen zu nennen.

Er erwähnt die problematischen Ermittlungen zum NSU-Terror und die Involviertheit des Verfassungsschutzes, geht in einem super Schnelldurchlauf auf neu-rechte Einrichtungen wie das Institut für Staatspolitik oder die Ein Prozent-Bewegung ein, auf die Kreml-Nähe des Neonazis Manuel Ochsenreiter, der bis Januar 2019 Mitarbeiter von Markus Frohnmaier im Deutschen Bundestag war. Das sind alles keine neuen Informationen, die zudem von anderen AutorInnen schon deutlich pointierter und detaillierter und zumal analytischer gefasst worden sind.

Ein Beispiel dafür, was es heißt, sich als „links“ zu bezeichnen oder SPD-Mitglied in Thüringen zu sein, sei im Folgenden etwas näher erläutert, denn auch dazu schweigt Matthias Quent. Denn irgendwie exemplarisch für Thüringen vielleicht auch der Abstieg des ehemaligen Jenaer Oberbürgermeisters Albrecht Schröter (SPD). Der hatte (verdient) Ärger wegen seiner Unterstützung eines Israel-Boykotts von pax christi und gelegentlicher zumindest als antisemitisch deutbarer Äußerungen. So weit so schlimm.

Aber er erntete damit immer Kritik, auch vor Ort. Unterstützt wurde er allerdings von Bodo Ramelow. 2018 verlor Albrecht Schröter sein Amt an Thomas Nitzsche (FDP) und heuerte danach bei einer „Stiftung Friedensdialog der Weltreligionen und Zivilgesellschaft“ in BaWü als Geschäftsführer an. Die Stiftung sollte aktuell in Lindau am Bodensee nach der ultimativen Friedensformel suchen. Albrecht Schröter allerdings verlor seinen neuen Posten recht schnell wieder, weil er mit seiner Vorgeschichte nicht mehr als politisch neutral genug für die Stiftung und ihre Friedenssuche galt, man stritt sich vor Gericht.

Und jetzt kommt die Pointe: Albrecht Schröter wandte sich in einem Schreiben, das ausgerechnet das antizionistische Kampfblatt Der Semit unter der Überschrift „Wie kann der Einfluss der Israellobby gestoppt werden?“ publizierte (und wieder löschte), an seine „Freundinnen und Freunde“, um seine Sicht der Dinge darzulegen.

Er klagt darin über einen Blog-Beitrag der Amadeu Antonio Stiftung, der ihn den Job gekostet hätte, weil er „im Vorfeld meiner (leider erfolglosen) Wiederwahl und … seitdem bei Google unter ‘Albrecht Schröter – Israel‘ immer ganz oben [steht]. Das muss wohl irgendwer finanzieren… Es ist mit Händen zu greifen, dass hier von Seiten der Israel-Lobby auf den Stiftungsvorstand massiv Einfluss genommen worden ist.“

Und wenig später noch einmal wieder die Andeutung, „Ich denke, jeder von Euch weiß, wer hier die Feder geführt hat.“ Und mit diesen Äußerungen, die ja nicht „nur“ ungeheuer dumm sind, eines immerhin Ex-Oberbürgermeisters einfach intellektuell unwürdig, sondern tatsächlich kaum verhüllter Antisemitismus, erregte Albrecht Schröter einerseits kaum mehr Aufsehen, ein Parteiausschlussverfahren hat offenbar niemand angestrengt, andererseits dokumentieren sie aber auch, wie tief gesunken er selbst ist – ohne es zu merken oder sich einzugestehen.

Zu Zeiten seiner „pax christi“-Skandale wäre ihm wohl selbst nie in den Sinn gekommen zu fragen: „Wie kann der Einfluss der Israellobby gestoppt werden?“, heute ist das eben auch für ihn offenbar völlig normal. Das politische Klima (nicht nur) in Thüringen hat sich geändert und mit ihm die/manche Menschen, die wiederum es beeinflussen usw. …

Soviel zum „linken“ Jena oder jenen, die sich ganz bestimmt nicht als rechts oder problematisch definieren in Thüringen.

Völlig Absurd, aber typisch für weite Teile der herkömmlichen und NGO-mäßigen Anti-Nazi-Szene ist Matthias Quents Herunterspielen des Islamismus, der als „religiöse Form“ des „Rechtsradikalismus“ definiert wird. Wirkliche Empathie mit den 3000 zerfetzten, pulverisierten oder verbrannten Opfern des 11. September 2001 oder den Opfern jihadistisch-islamistischer Massaker in einem jüdischen Supermarkt, der Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo oder den Konzertbesuchern im Club Bataclan im Jahr 2015 in Paris oder den vom Jihadisten Anis Amri zu Tode gefahrenen Weihnachtsmarktbesucher*innen in Berlin vom Dezember 2016, hat Matthias Quent nicht.

Hingegen schreibt er völlig ernsthaft und mit Nachdruck:

„2018 wurden nach Europol-Daten in der gesamten EU 62 Menschen durch Terrorismus getötet. Jedes einzelne Opfer ist eines zu viel. Um die Verhältnismäßigkeit zu wahren, müssen wir uns dennoch vor Augen führen, dass in Europa jedes Jahr 400 000 Menschen vorzeitig durch den Einfluss von Feinstaubbelastungen sterben, allein in Deutschland rund 66 000. In Deutschland sterben jährlich etwa 15 000 Menschen an Krankenhauskeimen. Im Jahr 2017 kamen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in Deutschland 1077 Menschen im Verkehr durch zu schnelles Fahren ums Leben, 60 079 wurden verletzt. 231 Menschen starben bei Alkoholunfällen. Politik und Medien übertreiben die Gefahr durch den Terrorismus massiv, um von der Angst zu profitieren. Der islamistische Terrorismus kostete seit 1990 in Deutschland vierzehn Menschen das Leben. Verheerende Anschläge in anderen Ländern, etwa in Sri Lanka zu Ostern 2019 mit mindestens 250 Todesopfern, verbreiten jedoch auch weit entfernt Angst und Hass. Trotz der hierzulande vergleichsweise geringen Opferzahl ist Terrorangst darum eines der wichtigsten Mobilisierungsthemen der radikalen Rechten.“

Wer den Unterschied zwischen politischem Terrorismus und islamistisch motivierten Massakern und Verkehrsunfällen oder sonstigen industriegesellschaftlichen Massenphänomenen wie Keimen in Krankenhäusern nicht kennt, sollte erstmal ein seriöses Studium machen, bevor er „Direktor“ eines Forschungsinstituts oder einer zivilgesellschaftlichen NGO wird – und dabei gar von führenden Professor*innen beraten wird.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Zentralrat der Muslime im Kuratorium des Jenaer Instituts von Quent sitzt (zur Kritik am Zentralrat der Muslime siehe z.B. hier). Was die „wissenschaftlichen Beiratsmitglieder“ Gideon Botsch, Wolfgang Frindte, Britta Schellenberg, Oliver Decker, Susanne Schröter, Lars Rensmann oder Samuel Salzborn (und die anderen Mitglieder) dazu beziehungsweise zu dieser Studie des Vordenkers des Jenaer Instituts insgesamt sagen, ist nicht bekannt.

Zentrale Begriffe der Forschung wie „sekundärer Antisemitismus“, „Israel bezogener Antisemitismus“, „Antizionismus“ oder „Jihad“ sucht man in der Publikation Quents vergeblich.

Hingegen wird Gerhard Schröder wegen seiner angeblich anti-rechten Politik und seinem „Aufstand der Anständigen“ gefeiert, ohne auf seine deutsch-nationale Ideologie wie die Einladung des antisemitischen Starschriftstellers Martin Walser am 8. Mai 2002 ins Bundeskanzleramt auch nur en passant einzugehen.

Quent schreibt:

„Der Anschlag in Düsseldorf und zahlreiche weitere Vorfälle waren Anlass dafür, dass der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den ‚Aufstand der Anständigen‘ ausrief. In den folgenden Jahren änderte sich der staatliche Umgang mit Antisemitismus, Rassismus und Rechtsradikalismus. Der Bund (und nach und nach auch die Länder) unterstützten zivilgesellschaftliche Aktivitäten für demokratische Kultur verstärkt. Dadurch verbesserte sich die Situation vielerorts deutlich.“

Kritische Soziologen und Politologen wie Andrei S. Markovits von der University of Michigan haben gerade die rot-grüne Regierung Schröder/Fischer (1998–2005) für eine neue Unverschämtheit gegenüber Juden, Israel und der deutschen Geschichte kritisiert. Davon weiß Matthias Quent rein gar nichts. Auch der erste Angriffskrieg Deutschlands nach 1945 passierte unter Rot-Grün, 1999 gegen Jugoslawien, wo Fischer auf perfide Weise Auschwitz instrumentalisierte und auf den Balkan verlegte.

Ähnlich desolat wird es, wenn sich Quent mehrfach auf den amerikanischen Historiker Timothy Snyder bezieht. Dieser war im Jahr 2010 mit seiner als antisemitisch kritisierten Studie Bloodlands hervorgetreten, wo er den Nationalsozialismus und den Stalinismus auf eine Stufe stellt. Snyder macht sich darin gleich zu Beginn über die deutschen Juden, die Opfer des Holocaust geradezu lustig, weil es doch prozentual so wenige seien verglichen mit den osteuropäischen Opfern. Er schrieb wörtlich, dass die meisten deutschen Juden, die 1933 lebten, eines „natürlichen Todes“ gestorben seien. Da lachen Neonazis herzhaft!!

Snyder spielt insgesamt den Antisemitismus herunter und leugnet die Präzedenzlosigkeit von Auschwitz, da Stalin das Morden 1932 begonnen habe. Das ist ja auch die Ideologie von Joachim Gauck und der „Prager Deklaration“, wovon man natürlich bei Quent nichts erfährt. Die Erwähnung des Antisemitismus ist fast immer nur additiv und kommt zum Beispiel via der Agitation der Rechten gegen George Soros vor, doch auch da gibt es deutlich bessere Analysen dieser antisemitischen Verschwörungsmythen. Bei Snyder ist der Fokus auf Russland typisch für die antikommunistisch-antisemitische Literatur seit Jahrzehnten, nur gibt es mit Snyder jetzt einen Superstar der Historiographie. 2015 legte er nach und sein Buch „Black Earth“ wird von Quent mehrfach affirmativ zitiert:

„Der Historiker Timothy Snyder hat in seinem Buch Black Earth die Ursachen des Holocausts aufgearbeitet und schließt daraus: Der Holocaust kann sich wiederholen“, „Bereits 2015 warnte der Historiker Timothy Snyder davor, dass sich der Holocaust wiederholen könnte, wenn eine Gruppe von Menschen zum Sündenbock erklärt wird, durch deren Vernichtung eine drohende Klimakatastrophe verhindern werden könnte.“

Dabei spielt Snyder den Antisemitismus (nicht zuletzt Polens) herunter und ignoriert weite Teile der Holocaust- bzw. Shoah-Forschung. Die Studie kulminiert in der den Holocaust als singuläres Ereignis leugnenden Dystopie Snyders, der zukünftige ökologisch motivierte Holocausts herbeischreibt. Dabei hat kein Land der Erde derzeit vor, ein Volk oder eine Gruppe von Menschen aus dem einzigen Grund, dass es dieses Volk oder diese Gruppe von Menschen ist, auszulöschen – bis auf Vernichtungsdrohungen gegen Israel wie von der Islamischen Republik Iran oder arabischen Antisemiten aller Art.

Aber Klimakatastrophen und ihre schrecklichen Folgen, auch Kriege, die wegen Wasserarmut oder Dürren etc. kommen werden, haben überhaupt gar nichts mit dem Holocaust zu tun. Diese Universalisierung der Shoah (Shoah ist auch Wort, das bei Quent nicht vorkommt) ist antisemitisch, in effect if not intent.

Der Historiker Omer Bartov hat 2016 „Black Earth“ von Timothy Snyder im The Chronicle of Higher Education auseinandergenommen, die oben erwähnte antikommunistisch-antisemitische Dimension Snyders kritisiert und festgehalten:

„Here Snyder’s idea of ‘double occupation’ is applied to reinforce the idea of state collapse. Examined from the perspective of contemporary discourse in much of post-Communist Eastern Europe, one cannot avoid seeing the link of this idea to the popular ‘double genocide’ theory. According to this theory, while the Germans murdered the Jews (with some help from local ‘bad apples’), the Soviets, closely associated in people’s minds with the Jews, murdered the ‘indigenous’ population. ‘Double genocide’ is nothing but a rehashing of the idea of Judeo-Bolshevism, the canard that Communism and the Soviet Union were a Jewish project, which was used to justify the killing of Jews during the war. And while Snyder rightly dismisses the idea of Judeo-Bolshevism as a Nazi myth, he also embraces the idea that the rapid mass killing of Jews by the Germans in areas previously occupied by the Soviets was largely the result of Soviet policies such as mass deportation and the murder of real and imagined opponents. In other words, Snyder repeatedly suggests that the Soviets bear a major responsibility for the Holocaust (and he says nothing about the fact that the killing was ended only by the costly victory of the Red Army over the Wehrmacht).”

Bartov resümiert seine Besprechung von Snyders “Black Earth”, einem Buch, das Matthias Quent wie vielen anderen ganz normalen Deutschen so gut gefällt:

“Written with flair, imagination, and rare confidence on a topic that has baffled so many, Black Earth is a good example of how not to write a history of the Holocaust.”

Eventuell hat Matthias Quent publizistische Stärken. Wenn dem so ist, hat er sie jedenfalls in seinem neuen Buch enorm gut versteckt. Noch nicht einmal die antisemitische Parole der Partei „Die Rechte“ und anderer Neonazis in Dortmund vom Mai 2019: „Israel ist unser Unglück“, wird erwähnt, dabei hat Quent sehr wohl aktuelle Beispiele bis in den Sommer 2019 hinein.

Das Buch „Deutschland rechts außen“ ist ohnehin kein Buch, sondern ein Antrag auf mehr Fördergelder beim Freistaat Thüringen und der Amadeu Antonio Stiftung.

Der Kampf gegen rechts ist extrem wichtig, man sollte ihn nicht heimattümelnden Autoren überlassen, die den Antisemitismus, die Neue Rechte, Heimatwahnsinn, den Islamismus oder das Sommermärchen von 2006 kleinreden oder völlig ignorieren. Auf dem bemerkenswert schlecht gemachten Cover des Buches ist ein verschwommenes Meer aus Deutschlandfahnen zu sehen, doch eine Kritik an Deutschland, vom Fußball-Nationalismus ganz zu schweigen, ist in dieser Publikation gerade nicht zu finden.

Was lernt man? Tote durch Alkoholunfälle sind schlimmer als Opfer des Jihad. Da lacht Mohammed Atta.

Auf diese Weise kann man vielleicht den Zentralrat der Muslime zum Freund haben, aber die Neue Rechte und die AfD bekämpft man so gerade nicht.

Die ganze anti-linke und Anti-Antifa-Agenda zeigt sich in diesem Schrei nach dem Bundesverdienstkreuz durch Matthias Quent, womit ich schließen möchte:

„Doch es geht nicht um links gegen rechts. Es geht um die Verteidigung der Grundpfeiler der liberalen Demokratie und die Werte des Grundgesetzes an sich.“

 

Herzlichen Dank an Thomas Weidauer für sachdienliche Hinweise.

©ClemensHeni

Kinderfrei statt Kinderlos – der staats- und kapitalismuskritische Feminismus hat ein neues Manifest (Rezension des Buches „Kinderfrei statt Kinderlos“ von Verena Brunschweiger, März 2019)

Von Dr. Clemens Heni, 18. März 2019

Das Buch „Kinderfrei statt Kinderlos. Ein Manifest“ der 1980 geborenen Mediävistin Verena Brunschweiger ist eines der wichtigsten aktuellen gesellschaftskritischen Bücher. Es ist ein Genuss, es zu lesen. Es bringt den radikalen Feminismus wieder auf ein Niveau der 1970er Jahre und zeigt, wer eigentlich das größte Interesse an einer „pronatalistischen Bevölkerungspolitik“ hat: der Staat und der Kapitalismus.

Dr. Verena Brunschweiger (copyright: büchner-verlag.de)

Das locker geschriebene Manifest, das sich häufig auf Beispiele aus den USA, Kanada oder auch Großbritannien und Frankreich bezieht, zeigt die Weltgewandtheit der Autorin sowie ihre radikal feministische, Frauen stärkende und das Patriarchat kritisierende Haltung.

Brunschweiger setzt mit alltäglichen Phänomenen ein wie dem Geburtstag einer 40jährigen Frau. Es ging bei diesem Feschtle offenbar gar nicht um jene ersten 40 Jahre einer Frau, um ihr Leben, ihre Erkenntnisse, Träume, Enttäuschungen, Hoffnungen, politischen oder sonstigen Kämpfe, nein, es ging ausschließlich um Kinder, um „Kinderturnen“, „Kinderschuhe“ oder „Kinderschwimmen“.

Es geht in dem Buch gerade nicht um Frauen, die kinderlos sind, sondern um selbstbestimmte Frauen, die aus freien Stücken keine Kinder haben, also kinderfrei sind. Die Autorin lehnt sich an die britische Autorin Tracy Kind an und schreibt:

Sie findet, dass der neuere Ausdruck die volle Sprengkraft transportiert, die in diesem Modell enthalten ist: Kinderfrei leben heißt, gegen soziale Erwartungen zu rebellieren und die Normen der Gesellschaft herauszufordern. (11)

Es geht um die Kritik am „neokonservative[n] Kult ums Kind“, der „für kinderfreie Frauen nur nachteilig sein könne“, wie sie sich an die Zeit-Autorin Tanja Dückers anlehnt. Die heutigen Frauen würden die lockeren 70er und 80er Jahre, als es noch Feministinnen gab, die selbstverständlich ohne Kinder lebten, gegen die miefigen 50er Jahre eintauschen. (17)

Ein „Großteil des Feminismus“ würde die „kinderfreien Frauen“ verraten (22), was Brunschweiger sehr eloquent und mit vielen internationalen Beispielen von Kritikerinnen des Kinderkriegen-Fetischismus unterstreicht. Für schwarze Frauen sei es besonders schwer, sich vom Kinderkriegen loszusagen, wie sie am Beispiel der Ivorerin Nina Steele zeigt, deren Mutter ihr immer wieder „magische Tränke“ schicke, damit die „Fruchtbarkeit“ von Nina und ihrem Mann steige. (25)

Dann kommt die Autorin zu einem Kernaspekt ihrer Kritik:

Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Vorschlag von Gesundheitsminister Jens Spahn, Kinderfreie und Eltern bei den Sozialbeiträgen unterschiedlich stark zu belasten. Allein auf die Idee zu kommen, eine Minderheit zu zwingen, einen erheblichen Teil der Kosten für ein Projekt aufzubringen, das nicht ihres ist bzw. sogar völlig gegen deren innerste Überzeugungen geht, ist ausgesprochen bedenklich. (34)

Und dann attackiert Verena Brunschweiger die zentrale Ideologie und Großlüge aller Kinderanbeter*innen:

Angeblich bräuchten die sozialen Sicherungssysteme Kinder. Nein. Der Kapitalismus und das momentane Wirtschaftssystem brauchen Kinder. (34)

Sie bezieht das auf die ökologische Dimension, was völlig richtig ist, aber natürlich noch viel weiter geht. Denn ihr Satz ist noch viel wahrer, als sie vielleicht ahnt. Ohne die Pro-Kinder-Ideologie würde jede Bausparkasse, jede Fernsehwerbung mit Kindern zur besten Sendezeit und jede Haushaltsplanung für die nächsten Jahrzehnte den Staat in seinen Grundfesten erschüttern. Alleine ein Moratorium des Kinderkriegens von 5 oder 10 Jahren würde das System des Staates und des Kapitalismus, wie wir es kennen, womöglich an den Rand des Zusammenbruchs bringen können.

Sehr interessant sind auch die eher kulturphilosophischen oder anthropologischen Aspekte des Manifests. Was unterscheidet den Mensch von Tier? Dass Menschen frei entscheiden können. (35) Doch in puncto Fortpflanzung verhalten sich doch fast alle Menschen wie Tiere und das wird auch noch beglückwünscht, wenn eine Frau mit dem typischen Schwangeren-Grinsen, das sonst nur Alexander Dobrindt oder evangelikale Christen drauf haben, verkündet: „Ich bin schwanger“. Da würde jede Kuh sagen: „Was für eine Leistung, das kann ich auch.“ Entscheidet sich eine Frau aber aus freien Stücken gegen ein Kind, dann ist auch eine Kuh oder eine Amsel sprachlos, das kennen sie nicht (und die schwulen, nachwuchslosen Pinguine in der Antarktis sind wirklich eine Ausnahme und bestätigen die Regel).

Was Brunschweiger gar nicht erwähnt, passt gleichwohl zu ihrem Ansatz, der sich einen „Gebärstreik“ (134) wünscht: Schon Ende des 19. Jahrhunderts und dann 1913 und während des Ersten Weltkriegs gab es Debatten in der sozialistischen Bewegung über einen Gebärstreik. Damit sollte die Zahl der ausbeutbaren Arbeiter*innen gesenkt werden (die Löhne erhöht) bzw. keine potentiellen Soldaten gezeugt werden. Bekanntlich war die Mehrheit auch der sozialistischen wie kommunistischen Bewegung gegen einen Gebärstreik, da sie wie an einem Fetisch an der Masse der Arbeiterklasse festhielt. Es ging bei der Debatte um Gebärstreik auch um Abtreibung und Geburtenregelung, sprich: Verhütungsmethoden. Das war nicht nur dem Kaiserreich, sondern auch den meisten Führer*innen der Arbeiterklasse suspekt.

Heutige, emanzipatorische feministische freche Sprüche wie „Save the earth, don’t give birth“ führen zu spontanen Wutausbrüchen von Normalo-Frauen/Eltern. (36) Verena Brunschweiger geht auf diesen sehr alten patriarchalen Topos ein: Mutter oder Hure. Das gilt in Zeiten der internalisierten Imperative der Pornoindustrie wie der Gebärmaschinen nicht weniger. Frau kann gar nicht mehr wählen zwischen „Beinhaarentfernung“ (39) ja oder nein, so wenig wie Kind – ja oder nein. Die Rasur wie die Fortpflanzung sind so aggressiv im Mainstream durchgesetzt in den letzten Jahren und Jahrzehnten, dass einem schwindlig wird. Im Zeitalter der Hipster könnte man hinzufügen: je bärtiger die Männer, je mädchenhafter, vollrasierter werden die Frauen …

Aber nicht alle Frauen stehen auf den neuen Mann:

Dieselbe Suche nach Applaus glänzt in den Augen der daddiots, wenn sie in den Bioladen rollen und nonchalant die anwesenden jüngeren Frauen mustern, vor allem natürlich die ohne Kinder. Sie scheinen zu glauben, sie kämen bei allen supergut an, bloß weil sie einen Kinderwagen schieben. Hilfe… Aber hier sind Neuigkeiten. Es gibt Frauen, die nicht hingerissen sind beim Anblick eines Vaters und seines Babys. Und es gibt Frauen, die Solidarität mit den gerade abwesenden Müttern empfinden, wenn der daddiot seine Flirtversuche startet. (89)

Da zeigt sich der feministische Drive von Brunschweiger, die im Zweifelsfall solche daddiots noch deutlich übler findet als die mombies, die ja das Kind bekommen haben.

Ellen Peck hat viele dieser Mythen offenbar schon 1971 analysiert, wie Brunschweiger zeigt und auf hohem Niveau sozialpsychologisch wie kulturtheoretisch das Private politisch werden lässt:

Peck war es auch, die bereits in den 1970er Jahren feststellte, dass ein weiterer kritikwürdiger, aber oftmals geleugneter Fortpflanzungsgrund das narzisstische Bedürfnis ist, eine kleine Version von sich selbst herzustellen. Mini-Me-Alarm also. Oder besonders rührend: ‚Die schönen Augen von Andreas/Stefan/etc., stell dir mal vor, wenn das Kind die dann auch hat!‘ Dennoch: die Freude am Original scheint letztlich nicht auszureichen, weswegen die Vervielfältigung des präferierten Körperteils ins Werk gesetzt werden muss. (40)

Das in drei Teile plus dem Manifest gegliederte 150 Seiten dünne Buch hat enorme Sprengkraft und zeugt von einer gehörigen Portion Mut, zumal als Gymnasiallehrerin, die permanent mit Müttern, Vätern und Eltern – und Kindern zu tun hat. Hass auf Kinder scheidet also als Motivlage schon mal aus, sonst hätte Brunschweiger kaum diesen Beruf gewählt. Der Lärm einer Schule tut sein Übriges – kann aber auch ein Grund sein, warum sie völlig zu Recht und mit Vehemenz Wohnmodelle aus Kanada oder USA anführt, die Mietkomplexe nur für Erwachsene bauen.

Damit sind gerade keine Altensiedlungen gemeint, sondern alle Erwachsenen ab 18 oder 21. Es gibt ja auch „Adults-only-Hotels“ (98) und die sind begehrt. Der von vielen als süß oder herzig verniedlichte Lärm von Babies, Kleinkindern und Kindern bis zum Teenageralter in Mietshäusern ist in der Tat eine enorme Plage. Solchen Familien wenn, dann nur Erdgeschosswohnungen zu geben, wäre das eine. Etwas anderes eben solche Wohnhäuser, wo gar keine Kinder und Familien wohnen dürfen. Die Autorin erwähnt auch, dass Lärmklagen bei der Polizei in diesen Fällen fast immer zwecklos sind, Kinderlärm wird kategorial anders gewertet als der Lärm von Erwachsenen. Dabei ist letzterer ja in der Tat auch ein massives Problem, wer je in Berlin gelebt hat in einem ganz typischen Mietshaus mit den ganz typischen Mitte 20jährigen Egomanen, wo anstelle des Großhirns ein Matsch aus Alkohol, noch härteren Drogen und Techno-Stampf sich befindet, kennt das Phänomen, und zwar 24/7 – wobei die Kids, selbst die krassen und lärmenden, doch zumindest 8–12 Stunden am Tag ruhig sind.

Es gibt wirklich Leute, Akademiker*innen oder Publizist*innen mithin, die einem im Zweifelsfall, angenommen es geht um einen besonders üblen Job, den sie oder er doch angenommen hat, ernsthaft sagen „Du, ich hab ja jetzt eine kleine Familien, da muss ich das Geld ranschaffen“. Das war wohlgemerkt die Begründung dafür, einen Job oder ein Fellowship anzunehmen bei einer Einrichtung, was die Person früher nicht getan hätte und auch gar nicht ersichtlich ist, ob das für das Überleben (!) not-wendig ist. Selbst mit Hartz 4 stirbt man ja nicht, by the way, ohne dieses unerträgliche kapitalistische Folterinstrument mit einer Silbe gutzuheißen. Aber diese Betonung, einen Job wegen den Kindern machen zu müssen, der hält sowohl den Staat wie den Kapitalismus am Laufen, das ist gewünscht. Da können die gleichen Leute in ihrer Freizeit so dissident schreiben wie sie wollen, im Kern stabilisieren sie das System.

Sehr gut sind auch die Ausführungen von Verena Brunschweiger bezüglich des Alltags von Freiflächen oder Brunnen, die von Müttern (seltener: Vätern) als Eigentum der Kinder betrachtet werden. Kinder dürfen überall lärmen, im Bus schreien und die Autorin bringt Beispiele, die alles andere als herbeigezogen klingen, dass es Mütter gibt, die absichtlich in volle Busse mit ihrem überdimensionierten Kinderwagen gehen, zur Rush-Hour, damit die 99 anderen Fahrgäste auch mal was von einem 7 Minuten tobsuchtsartig schreienden Baby haben, das durchaus Panik kriegen kann bei einem völlig überfüllten Rush-Hour Bus.

Es ist traurig, so Brunschweiger, wie „aus der einst coolen Studentenstadt“ Regensburg, „Mamitown“ (66) geworden ist. Es gibt in Italien Hinweisschilder, dass „ein Zierbrunnen kein Schwimmbad“ ist (67).

Dieser Wandel hat den Charakter öffentlicher Plätze stark verändert – ein Phänomen, das Elisabeth Badinter auch für Paris festgestellt hat. Familien mit Kindern besetzen immer mehr Orte, vor allem in räumlicher, aber auch in akustischer und olfaktorischer Hinsicht – wenn der Nachwuchs beispielsweise direkt auf dem Nachbartisch im Café gewindelt wird. Man mag das als nörgelnde Klage einer Kinderfreien verstehen, die diesen geteilten öffentlichen Raum gelegentlich einfach mal dafür nutzen möchte, in Ruhe ein Buch zu lesen. Aber die Veränderung durch den zunehmenden Fokus auf die Befindlichkeiten von Familien und ihren Nachwuchs ist real. Die Umnutzung des historischen Brunnens in ein Massenplanschbecken mag für viel Freude bei den Planschenden sorgen, aber sie steht auch dafür, dass in der Verwandlung der Öffentlichkeit in einen einzigen Kinderspielplatz etwas auf der Strecke bleibt. (66 f.)

Man könnte hinzufügen: „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas) mal ganz anders betrachtet.

Eine besonders provokante, aber massiv unterfütterte These von Verena Brunschweiger ist folgende:

Es ist eine Zumutung, von kinderfreien Frauen ständig Erklärungen für ihre Entscheidung zu fordern. Es bedarf einer neuen sozialen Norm, die umgekehrt von Eltern eine Erklärung dafür erwartet, warum sie glauben, gerade sie hätten das Recht, unser aller Leben auf diesem Planeten noch weiter zu gefährden. (50)

Ein Kind verbraucht ca. 60 Tonnen Kohlenstoffdioxid (CO2) – pro Jahr. (122) Das ist ungefähr das 30-fache, was ein Kind aus Afrika südlich der Sahara braucht bzw. verbrauchen wird und kann (112). Ebenso logisch und durchdacht ist Brunschweigers Hinweis darauf, dass es doch fast allen Frauen nicht um das Kind an sich geht, sonst könnten sie in Waisenhäuser gehen oder Kinder adoptieren – es gibt unendlich viele Kinder, die keine Eltern haben oder völlig perspektivlos sind, weil sie zu viele Geschwister haben. (123)

Aber es geht um das EIGENE Kind, das eigene Blut, die eigenen Gene. Es geht um den Narzissmus, das eigene Blut muss es sein – was ja sehr viele (man denke nur an die Schreibtische von Angestellten in ihren besser als Vorhölle zu bezeichnenden Büros) durch das obsessive Zeigen von Bildern der Kinder oder der Familie dokumentieren. Viele haben im eigenen Haus oder der Wohnung primär Bilder von sich selbst hängen oder von den Kindern und Enkelkindern sowie natürlich – in Deutschland besonders elendig – von Vater, Großvater und Mutter und Großmutter, gerade auch aus der Nazi-Zeit.

In diese Kontinuität stellen sich alle nur zu gerne. Manche, wie der Milliardär und Mäzen des Fußball-Vereins TSG Hoffenheim aus Baden-Württemberg (dem „Kraichgau“), Dietmar Hopp, finden es wiederum aufgrund der Kinder völlig nachvollziehbar, dass sein Nazivater 1938 die örtliche Synagoge zerstört hat, hätte er es nicht getan, wäre die Zukunft der Familie auf dem Spiel gestanden, wie Michael Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen schreibt:

Dietmar Hopp kennt natürlich diesen Teil der väterlichen Biografie. Und selbstverständlich distanziert er sich davon. ‚Was er getan hat, ist zu verurteilen‘, erklärte der Unternehmer der FAS. Hätte er es nur bei diesem einen Satz belassen. Stattdessen schob er sofort eine Art Relativierung nach: ‚Auch wenn niemand dabei gestorben ist.‘ War also nicht so schlimm. Ein Fall von minder schwerer Schuld, sozusagen.

Und weil Dietmar Hopp gerade schon dabei war, folgten gleich noch die mildernden Umstände. ‚Mein Vater war Lehrer. Als er 1938 den Auftrag bekam, die Synagoge in Hoffenheim zu zerstören, hatte er schon drei Kinder, meine älteren Geschwister. Hätte er es nicht gemacht, wäre er entlassen worden, und seine Familie wäre einer hoffnungslosen Zeit entgegengegangen.‘

In einer solchen Nazi-Kontinuität steht so gut wie jede ganz normale deutsche Familie. Den Antisemitismus seiner Aussage wird Hopp weit von sich weisen und doch ist er unverkennbar und so widerlich wie der von allen anderen ganz normalen Deutschen, die sich den Holocaust und ihre eigene Familiengeschichte schön reden. Wegen der Kinder tun Deutsche wirklich alles – auch Synagogen zerstören, ist ja für einen guten Zweck! Das ist nicht 1951, das ist 2019.

Eine soziologische Kategorie bei Brunschweiger ist die der Freundschaft. Auch hier sind die Bemerkungen der Autorin treffend und kritisch: Die Ideologie der sich um die Eltern kümmernden Kinder zerstiebt, sobald es um Gespräche auf Augenhöhe von Gleichaltrigen auch im Alter geht. Da haben womöglich kinderfreie Frauen und Männer, die ihr Leben lang Freundschaften nicht aus Pragmatismus und Mittel-Zweck-Berechnung pflegten, sondern aufgrund ähnlicher kultureller, philosophischer oder politischer Interessen, mehr sozialen Kontakt.

Ein paar Wermutstropfen: die Autorin geht en passant immer wieder sehr unkritisch auf die vegetarische und vegane Bewegung ein, verpasst mitunter den kategorialen Unterschied von Mensch und Tier und nimmt gar den menschenverachtenden Utilitaristen Peter Singer in ihr Literaturverzeichnis auf. Das geht gar nicht. In einer Ankündigung für eine Veranstaltung mit dem linken Publizisten Peter Bierl in Bremen am 22. März 2019 heißt es treffenderweise:

Wenn Peter Singer auftritt, protestieren Behinderten-Initiativen und Antifaschist_innen, denn für den Philosophen sind Behinderte, Demente und Neugeborene Menschen zweiter Klasse. Er verharmlost Euthanasie als Erlösung und empfiehlt sie als Methode, um Geld zu sparen. Diese Haltung durchzieht sein Gesamtwerk und ist exemplarisch für eine rohe Bürgerlichkeit, die sich breit macht. Sie zeigt sich am Erfolg von Thilo Sarrazin. Dessen Buch Deutschland schafft sich ab war 2010 der Bestseller in der Kategorie Sachbücher. Muslimische Einwanderer_innen sowie Empfänger_innen von Hartz IV denunziert er als minderwertigen Erbguts. Der Staat sollte besser bio-deutschen Frauen aus der akademischen Mittelschicht mehr Geld geben, damit sie neben Studium und Karriere Kinder kriegen. Die AfD hat die Vorschläge übernommen. Dabei stehen weder Singer noch Sarrazin politisch rechts. Der Sozialdemokrat Sarrazin trieb als Finanzsenator in Berlin in einer Koalition aus SPD und PDS den Sozialabbau voran, Singer war für die australischen Grünen aktiv, ist prominenter Vordenker von Tierrechtsbewegung und Veganismus und plädierte für eine neue darwinistische Linke. Beide sind Wiedergänger einer Rassenhygiene, die in der Linken schon einmal Anklang fand.

Einige Bezugspunkte von Verena Brunschweiger sind also schon bedenklich. David Benatar scheint so ein Fall zu sein, der offenbar die Idee hatte, Verhütungsmittel über das Trinkwasser zu verbreiten (!). Das schmeckt doch sehr nach Ökofaschismus. (128 f.) Völlig grotesk, ja regelrecht skandalös und das ganze Unterfangen völlig unnötig in eine Schieflage bringend, ist auch Brunschweigers Bezug auf eine Gruppe wie „Church of Euthanasia“, die ernsthaft so heißt, 1992 in den USA gegründet wurde, und auch in Deutschland aktiv ist.

Diese Gruppe ist gegen Samenbanken (was noch verständlich ist), aber auch grundsätzlich gegen Fortpflanzung und für Suizid. Warum sie sich dann nicht gleich alle umgebracht haben und uns nicht mit diesem Pro-Nazi-Gruppennamen – wer sich für Euthanasie ausspricht, ist ein Nazi oder Pro-Nazi – belästigen würden, ist eine offene Frage. Da hätte das Lektorat des Büchner-Verlags aus Marburg doch genauer hinschauen sollen. Brunschweiger schreibt, diese „Church of Euthanasia“ würde „coole Performances“ machen (119) wie das „symbolische Vergießen von Sperma“. Mit diesem Gruppennamen hat sich jede Aktion ins Abseits manövriert. Euthanasie bedeutete das Ermorden von Zehntausenden Menschen im Nationalsozialismus, die nicht der „Norm“ entsprachen. Damit kann man keine Spielchen treiben und sich diesen Namen geben, wie ironisch oder sarkastisch das immer angeblich gemeint sein mag – es kann auch wörtlich gemeint sein.

Auch die mehrfache Verwendung des Adjektivs „abartig“, das in Deutschland sehr weit verbreitet ist, kann nicht unkommentiert bleiben, da dies ins „Wörterbuch der Menschenfeinde“ gehört und ein Nazi-Unwort ist, das eine „Art“ meint (die völkische, deutsche), und Abweichungen davon als „Abart“ oder „abartig“. Der Historiker und Aktivist gegen Rechtsextremismus Jan Buschbom schrieb schon 2012 zu diesem und anderen problematischen Wörtern:

Kaum eine Familienfeier im humanistischen Milieu, kein Abend unter liberal gesinnten Zeitgenossen, keine bildungsbürgerliche Veranstaltung, auf der nicht irgendjemand – unwissend, ignorant oder testweise – Begriffe verwendet oder Thesen in die Welt setzt, die zu einer anderen Zeit in Deutschland verwendet und geprägt worden sind, um einer zutiefst unmenschlichen Ideologie den Boden zu bereiten. Einer Ideologie, die ganz ohne Witz und ohne dass jemand noch etwas sagen durfte, auf die Vernichtung von Menschen ausgerichtet war, die den Maßstäben der selbsternannten „Herrenrasse“ nicht entsprachen. Im „Wörterbuch der Menschenfeinde“ weisen wir den Ursprung dieser Begriffe nach, aber auch den menschenverachtenden Zweck und das tödliche System, dem sie dienten. Damit niemand mehr behaupten kann, ‚davon habe ich nichts gewusst.‘

Buschbom führt dann im Detail aus, warum das Adjektiv „abartig“ ein Nazi-Wort ist. Also: Weg mit diesem widerlichen Adjektiv „abartig“!

Das Manifest von Verena Brunschweiger ist in unserer heutigen Zeit, wo Kinder sowohl von Rechtsextremen und Neuen Rechten wie von Muslimen und Islamisten gleichermaßen als absolut zentrales reaktionäres Element der Gesellschaft herbeigevögelt werden, von enormer Bedeutung.

Love, Sex und Rock’n’Roll haben die Frauen befreit. Frauen sind namentlich seit 1968 nicht mehr als Gebärmaschinen degradierbar, ohne auf Widerstand zu stoßen. Dieser Widerstand war jedoch jahrzehntelang eingeschlafen. Die Autorin erweckt ihn und haucht im neuen Mut ein.

Für Jens Spahn, Frauke Petry, die evangelische wie katholische Kirche, muslimische Verbände wie jihadistische Kämpfer gibt es nichts Wichtigeres als Frauen nur dann als Frauen und als (natürlich dennoch niemals „vollwertige“) Mitglieder ihrer Gesellschaften zu akzeptieren, solange sie sich und somit die bestehenden Strukturen reproduzieren.

In Zeiten, wo Professor*innen völlig ungeniert mit ihren Kindern in Editorials für Fachzeitschriften werben, wo Kolleg*innen in ihren Lebensläufen (CV) ernsthaft aufführen, wieviele Kinder sie haben, wie sie heißen und wann sie geboren sind (und welche Früh- oder Fehlgeburt wann starb, kein Sarkasmus hier, nur Deskription) – als ob das irgendwas mit der wissenschaftlichen Qualifikation zu tun hätte –, oder in Zeiten, wo sich gebildete Leute per Katalog Partner*innen aussuchen, die genauso den Reproduktionswunsch haben und dazu die richtige Größe, Haarfarbe und Statur oder Haut- und Augenfarbe, ist die Kritik von Brunschweiger von ganz großer Bedeutung.

Denn diese Leute wissen ganz genau, dass der Staat und der Kapitalismus das honorieren, von den nicht weniger frauenverachtenden Fragen von CEOs und Abteilungsleiter*innen nicht zu schweigen, die eine 37jährige Frau mit der einen oder anderen Frage aushorchen, ob sie noch vor hat, in Elternzeit zu gehen. Andere wiederum sind so dreist, dass sie befristete Jobs (sagen wir auf 2 Jahre) annehmen, um nach 5 Monaten plötzlich Elternzeit zu beantragen und das mit dem Gehalt dieses super ausgestatteten Jobs, der politisch einige Relevanz hat, um dieses Beispiel zu nehmen. Also Menschen mit Kindern werden allerorten bevorzugt und vor allem denken die Eltern, Mütter vorneweg, etwas Sinnvolles für die Gesellschaft geleistet zu haben mit der Geburt. Und das ist die große Frage, die Verena Brunschweiger völlig zu Recht und mit einer teils „lustvollen Rotzigkeit“ (135) in den Raum wirft.

Warum gibt es einen „Welt-Toiletten-Tag“ oder einen „Jogginghosen-Tag“ – aber in der hiesigen Presse keinen Hinweis darauf, dass der 1. August der „International Childfree Day“ ist? (100) Warum infantilisieren sich so viele Frauen, sobald sie Kinder haben und setzen sich für ihre Profilbilder bei WhatsApp oder Facebook läppische, eben infantile Clownsnasen auf, warum antworten solche Frauen auf die Frage „Wie geht’s“ stets mit „Sophie hat Durchfall und David war letzte Woche krank“? Sie rechnen gar nicht damit, dass gemeint sein könnte, wie es ihr als Frau oder Mensch geht – und nicht als Mutter. Das ganze Leben dreht sich nur um die Kinder – und wir reden hier nicht von Leuten, die ohnehin kein Interesse an nichts haben und wirklich dumm wie Stroh sind (und vom Fernsehen, Dieter Bohlen, Florian Silbereisen, „Bares für Rares“, Helene Fischer und den Zeitungen etc., gezielt kulturindustriell so gehalten werden), nein: Wir reden hier über die gehobene Mittel- und die Oberschicht, die Gebildeten, die Studierten und früher häufig sogar politisch aktiven Leute.

Die Kulturindustrie ist obsessiv auf Kinder-Trip:

Betritt man eine beliebige Buchhandlung, so sieht man sich erst mal einer Unmenge an Stofftieren, Spielsachen, buntem Krimskrams aller Art gegenüber,

was sich in öffentlichen Bibliotheken fortsetzt:

„Wenn man keine Ohrstöpsel oder Kopfhörer hat, ist dieser öffentliche Raum für die eigene Nutzung tendenziell verloren (96 f.).

Es gibt auch Lesben, die sich vom gleichen, nach klaren Kriterien wie aus dem Katalog (oder dem Kiez) ausgesuchten schwulen, gleichsam Zuchtbullen schwängern lassen, damit alle Kinder den gleichen Vater, aber zwei verschiedene Mütter haben. Was haben diese sich offen und links dünkenden Frauen gegen das islamistische Prinzip der Vielehe? Oder nehmen wir jenes schwule Paar (dieses Beispiel, das durch die Presse ging, ist aus Israel, wo Kinderkriegen in der Tat eine extreme Obsession ist, wer beruflich wie privat regelmäßig mit Israelis zu tun hat, weiß das), das 100.000 Dollar bezahlte für eine Leihmutter in den USA und kurz nach der Geburt das Baby „heimholte“ und nicht den Hauch von Gewissensbissen hat, eine Frau so brutal als Warenbehälter zu benutzen und das Kind noch dazu um die Mama betrügt. Welche Frau würde einen so schmerzhaften Vorgang wie eine Schwangerschaft und vor allem die Geburt (Brunschweiger erwähnt viele Beispiele, dass noch heute einige Dutzend Frauen pro Jahr hierzulande an der Geburt sterben) auf sich nehmen und dann das Kind abgeben, ja verkaufen? Wie aussichtslos muss die Perspektive einer solchen Frau zuvor gewesen sein? Wie stark wird sie das den Rest ihres Lebens bereuen? Das führt uns im umgekehrten Fall zum „regretting motherhood“, jener israelischen Studie von Frauen, die es wirklich bereuen, Kinder bekommen zu haben und das auch zugeben.

Um auf den gewöhnlichen Alltag zurückzukommen: Nehmen wir das wirklich zunehmende Problem in Restaurants und Cafés. Kindern wird zunehmend von den Eltern alles erlaubt, und mitunter kann frau oder mann das Gefühl nicht loswerden, dass es eine gezielte a-soziale Tat ist, wie Brunschweiger an Hand einer Story eines Bloggers und cleveren, witzigen wie super genervten Obers zeigt:

Als das pausenlose Gerenne und Gekreische eines anderen Kindes die Gäste und ihn massiv störte, schüttete er, der Kellner, eiskalt ein wenig Wodka in den Saft. Als das Kind dann ein wenig ruhiger wurde, gingen die Eltern. Damit bestätigt der Kellner, was schon oft beobachtet worden ist: Die Eltern waren in dem Moment zufrieden, als das Kind die Nerven aller anderen Leute ruiniert hatte und konnten zufrieden, nach ‚getaner Arbeit‘ quasi, heimgehen. (93)

Um es überspitzt auf den Punkt zu bringen: Kinderkriegen ist auch heute noch und gerade heute die absolut zentrale Ideologie der Neo-Nazis und der Neuen Rechten, das sollten alle Nicht-Nazis wissen.

Die Quintessenz der Totalverweigerung muss sein, dass wir unsere Körper nicht hergeben für einen Geburtenkrieg, den moderne Nazis im Schafspelz der Vaterfigur gegen muslimische Einwanderer führen wollen. Lasst Frauke Petry und Konsorten ihren perversen Kampf alleine oder mit ihresgleichen austragen. Denn jedes phallische Gesetz, selbst wenn es sich als legitimes gebärdet, stellt ‚eine obszöne Beschneidung weiblicher Subjektivität [dar]. Denn es reduziert die Frau erbarmungslos auf ein Pfand im Spiel der Männerbündnisse.‘ Und genau das tut die Mutterrolle. (136)

Das muss natürlich genauso und explizit für muslimische und islamistische, aber auch anderen Communities gelten. Wenn z.B. ein Paar in Berlin heiratet (ein Paar, beide hier geboren, das eigentlich deutsch ist oder wäre, wenn es das wollte), passiert es nicht selten, dass es das aggressiv als geradezu nationalen Erfolg feiert und zwar im Autokorso mit Türkeifahne. Was hat eine solche Fahne mit einem privaten Ereignis wie einer Hochzeit zu tun? Dazu passt, dass einer der bekanntesten Deutschen sich jetzt abermals als Riesenfan des brutalen türkischen Präsidenten Erdogan zeigt: Mesut Özil, der offenbar den führenden türkischen Islamisten als Trauzeugen einladen möchte! Özil ist für Hunderttausende Deutsch-Türken, die offenbar keine Deutschen sein wollen, ein Idol. Özil spielte für Deutschland Fußball und zeigt sich doch seit Jahren, schon bevor er das DFB-Team verließ, als Islamist, auf und neben dem Platz, besonders abstoßend war sein Einsatz für Erdogan im Wahlkampf, wie wir alle wissen. Und da Erdogan berüchtigt ist für seine Aggressivität und patriarchal-islamische Gewalt wie der Aussage von 2017:

Macht fünf Kinder, nicht drei, denn ihr seid Europas Zukunft‘, sagte Erdoğan bei einem Wahlkampfauftritt im westtürkischen Eskişehir. Dies sei die ‚beste Antwort‘ auf die ‚Unhöflichkeit‘ und ‚Feindschaft‘, die ihnen entgegengebracht werde,

muss das ins Visier des Feminismus und der Patriarchatskritik geraten. Das unerträgliche „Feiern“ einer Hochzeit mit der Nationalfahne ist hierzulande stark von Türken oder auch Kroaten bestimmt, die Katholiken stehen in puncto Nationalismus den Islamisten hier in nichts nach, auch wenn natürlich Kroatien ein Mini-Land ist verglichen mit der imperialistischen Türkei und dem dortigen Islamismus. Beide indizieren den engen Zusammenhang von Kinderkriegen, staatlicher Macht und patriarchaler Herrschaft.

Der Massenmörder von Christchurch in Neuseeland ergeht sich ausführlich in der Darstellung der ach-so-niedrigen Geburtenraten in westlichen Ländern. Er ist neidisch auf die höheren Raten der Muslime, die er gar nicht schlimm findet – solange die Muslime nicht im Westen leben, sondern „in deren Ländern“. Natalistischer Ethnopluralismus.

Das Buch „Kinderfrei statt Kinderlos“ beinhaltet wundervollen Sprengstoff und kann staatliche wie kapitalistische (und christliche wie islamische) Strukturen ganz grundsätzlich herausfordern.

Wenn in weiteren Auflagen des Buches die genannten Schwachstellen korrigiert werden sollten – Verena Brunschweiger ist eine so brillante, scharfe, lustige, lebensfrohe Autorin, sie hat diese wirklich widerlichen, politisch wie ethisch oder moralphilosophisch sehr problematischen erwähnten Bezüge gar nicht nötig –, wäre dieses Manifest noch geeigneter, diesen Sprengstoff sehr weit zu verbreiten.

Wie gesagt, viele Frauen werden als Mama plötzlich zum „mombie“ und Männer zu „daddiots“ (93 ff.) – also Zombies und Idioten (man soll keine Witze erklären!). Es ist jedoch weniger relevant, ob Schwangeren tatsächlich das Gehirn schrumpft (!) (85), ob Kinderfreie schönere, weniger ausgesaugte und nicht breitgeknetete Brüste haben und „weniger schnell altern und weniger Falten bekommen“ (141) – das sind arg bürgerliche Schönheits- und Nützlichkeitskategorien, die für eine linke Gesellschaftskritikern und Feministin eher ungewöhnlich klingen.

Was jedoch sehr relevant und der Kern des neuen Feminismus wie dieses Buches ist, das ist der letzte Satz des Buches, ein Zitat von Gloria Steinem:

When the pill came along, we were able to give birth – to ourselves. (142)

Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau – und sie wird es nicht als Teil der „Spermatokratie“ und als „‘Ware zum Zweck der Züchtung‘“. (62)

Zum fröhlichen Schluss:

Grandiose Liebespaare haben für gewöhnlich keine Kinder (75).

Verena Brunschweiger: Kinderfrei statt Kinderlos. Ein Manifest, Marburg: Büchner-Verlag, März 2019, ISBN 978-3-96317-148-2, 150 Seiten, 12,5 x 19,3 cm, Klappenbroschur, 16€

©ClemensHeni

Deutsche Männer mit Schnappatmung. Zur Kampagne „besorgter Bürger“ und anderer Rechtsextremer gegen die Amadeu Antonio Stiftung (AAS) und Anetta Kahane

Wir leben in gefährlichen Zeiten. Faschisten lieben, es „gefährlich zu denken“, ans Äußerste zu gehen, theoretisch wie praktisch. Das ist das Erbe von Richard Wagner, Carl Schmitt und Ernst Jünger.

In Berlin wird auf Demonstrationen von Neonazis, anderen „ganz normalen besorgten Bürgern“ (=“Rechtspopulisten“) wie am 30. Juli 2016 schon mal gefordert, Bundeskanzlerin Merkel „zu steinigen“, wie das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus berichtet.

Die Partei Alternative für Deutschland (AfD), Verschwörungswahnsinnige, Zeitschriften wie das vom Ex-Linken Jürgen Elsässer geführte Compact Magazin, das Deutschland als von den USA besetztes Land herbei fantasiert, Neonazis aller Art, die „Identitäre Bewegung“ und die beliebten „besorgten Bürger“ hetzen seit Jahren: „Merkel muss weg“.

In USA fordert der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump, seine Gegnerin, die demokratische Kandidatin Hillary Clinton, „einzusperren“ („lock her up“), für den niederländischen Agitator Geert Wilders, der auch gegen die jüdische Beschneidung ist, klebt an Merkels Händen „Blut“, Morde durch Jihadisten seien ihr zu verdanken. Der heutige britische Außenminister Johnson verglich während der BREXIT-Kampagne die EU mit Hitler. Selten war die Trivialisierung des Holocaust so Mainstream in Europa, wir wollen von osteuropäischen oder islamistischen Formen der Holocaust-Bejahung hier erst gar nicht sprechen.

Das Klima ist so angespannt und verhetzt, dass viele nicht glauben wollten, dass der mörderischste Anschlag in der Bundesrepublik seit Jahren, der Amoklauf von München vom 22. Juli 2016 mit neun Toten und dutzenden Verletzten, kein islamistischer Anschlag war, sondern von einem rassistisch und neonazistisch motivierten, zudem psychisch kranken Täter ausgeführt wurde. David Ali S. (manche wollten wohl insinuieren, die Presse würde absichtlich den Vornamen „Ali“ nicht nennen, während ähnlich Fragende in England nicht betonten oder nicht mal erwähnten, dass der Täter ein Rassist und Rechtsextremist war) aus München tötete gezielt Migranten, was nicht nur mit schulischen Problemen in Beziehung steht, sondern auch mit einer offenkundig rechtsextremen Ideologie. Er hatte am selben Tag wie Hitler Geburtstag und freute sich darüber, zudem sah er sich als Deutsch-Iraner besonders „arisch“, während des Amoklaufs wurde ein Video aufgenommen, das seine rassistische und deutsche Ideologie fragmentarisch zum Ausdruck bringt.

Zuletzt hatte der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) gezielt neun Migranten ermordet, allerdings in einem Zeitraum von 7 Jahren und nicht innerhalb weniger Minuten.

Vor diesem Hintergrund ist die Aufklärungsarbeit gegen Rechts von enormer Bedeutung.

Doch in Deutschland ist die Kritik an der Rechten verpönt, die Neue Rechte ist derzeit salonfähig, nicht Gesellschaftskritik und Antifaschismus. Das zeigt sich am FAZ-Autor „Don Alphonso“, der am 31. Juli auf Twitter schrieb, wie der Tagesspiegel-Autor Matthias Meisner gleichsam geschockt zitiert:

„Im Vergleich zu Maas, Kahane, de Maiziere, Juncker und Twitters Beihilfe ist Erdogan ein altmodischer Zensurpfuscher“

Heiko Maas, der 2014 als erster Bundesminister auf dem Global Forum for Combating Antisemitism in Jerusalem sprach und eine jüdische Aktivistin gegen Rechtsextremismus, Islamismus und Antisemitismus in all seinen Formen, Anetta Kahane, werden hier mit einem antisemitischen islamistischen Führer gleichgesetzt, ja sie seien viel schlimmer als der türkische Präsident Erdogan.

Wer sich also für Israel einsetzt wie Heiko Maas oder gegen Antisemitismus wie Anetta Kahane sei problematischer als ein brutaler, autokratischer und islamistisch fanatisierter Staatsführer wie Erdogan. Geht’s noch?

Ja, es geht noch krasser. Dieser Tweet steht nämlich nicht isoliert, er ist Teil einer Kampagne gegen die Kritik am Rechtsextremismus und am Antisemitismus. Eine Kampagne gegen die Amadeu Antonio Stiftung (AAS). Eine Kampagne zudem gegen Anette Kahane, die Vorsitzende der Stiftung, persönlich. Warum dreht das zumeist weiße, männliche Pöbelvolk so durch?

Die extrem rechte Hetze gegen alles, was links ist oder so interpretiert wird, hat seit vielen Jahren Hochkonjunktur. Von Matussek über Sarrazin zu Pegida und der AfD führt eine der neu-rechten Linien. Parallel dazu gibt es einen organisierten Rechtsextremismus, der weit älter ist und der seit Jahren die Chance sieht, den ganz großen Durchbruch zu schaffen. Eine Nazi-Partei in den Bundestag, „national befreite Zonen“, eine Pogromstimmung gegen Flüchtlinge, Nichtdeutsche und Linke bzw. so Kategorisierte, zumindest in einigen Teilen der Republik wie in Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern.

Schauen wir uns mal einen ganz aktuellen Fall an, was den deutschen Antisemitismus und die AAS betrifft. Die Hildesheimer Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) hat einen Antisemitismusskandal. Jahrelang wurden dort in einem Seminar antisemitische Texte und Dokumente als Lehrmaterial den Studierenden vorgesetzt. Der Journalist Alan Posener von der WELT berichtet darüber:

„Aber der Hochschule liegt seit dem September 2015, mithin seit elf Monaten, ein Gutachten der Amadeu-Antonio-Stiftung zu den Seminarmaterialien vor. Der Autor des Gutachtens, Jan Riebe, stellt unter anderem fest: ‚Die Texte beschäftigen sich nicht oder nur in Ansätzen mit der sozialen Lage von Jugendlichen in den palästinensischen Gebieten‘ – dem vorgeblichen Thema des Seminars. Viele Texte seien nicht wissenschaftlich, sondern ‚agitatorisch‘. Die meisten ‚widersprechen wissenschaftlichen Mindestanforderungen‘.

Über einen Text heißt es: ‚Eine solche Zusammenstellung‘ negativer Aussagen über Israel ‚ist mir in meiner langjährigen zivilgesellschaftlichen Arbeit fast ausnahmslos aus Nazikreisen untergekommen‘. Ein solches Seminar sei ‚unvereinbar mit den demokratischen Grundsätzen einer Hochschule‘.

Nun ist ein Kollege von Posener, der Publizist Henryk M. Broder als Mitbetreiber des Autorenblogs Achgut.com an der Hetzkampagne gegen die Amadeu Antonio Stiftung (AAS) direkt beteiligt. Einer der Texte dieser abstoßenden und gefährlichen Kampagne ist  auf seinem Blog erschienen. In dem Text wird eine Beziehung von Kommunismus, Juden (Anetta Kahane ist als Jüdin bekannt) und Geld hergestellt. Es würde sich „lohnen“ gegen rechts zu arbeiten. Anetta Kahanes Tätigkeit für die Stasi wird aufgewärmt, als sei das nicht seit vielen Jahren völlig offen und bekannt. Kahane hatte 1986 einen Ausreiseantrag aus der DDR gestellt, weil sie erkannte, dass die DDR strukturell unfähig war, dem Neonazismus oder Rechtsextremismus zu begegnen, wozu es eine antiautoritäre, bunte Gesellschaft braucht.

Heutzutage erarbeitet sie mit ihrer Stiftung Ausstellungen über Antisemitismus in der DDR. Und eine Kritik am Antisemitismus ist bei der Neuen Rechten natürlich ein No-Go, solange man nicht ausschließlich Muslime oder Linke dafür verantwortlich machen kann.

Der Anhänger von Verschwörungsmythen Gerhard Wisnewski attackiert die AAS auf der Seite des extrem rechten Kopp-Verlages. Er bekommt Schnappatmung, weil eine heutige Mitarbeiterin der AAS, Julia Schramm, sich 2014 auf Twitter (Gottseibeiuns!) bei der Royal Air Force bedankte, die im Zweiten Weltkrieg Dresden bombardierte.

In einer unglaublich fanatischen deutsch-nationalen Stimmung – jede Fußball-Männer EM oder WM zeugt davon, allerspätestens seit 2006 im gesamtdeutschen Rausch – werden vor allem „Antideutsche“, also Kritikerinnen des deutschen Nationalismus und Antisemitismus und Rassismus, diffamiert und attackiert. Das haben rechtsextreme Verschwörungswahnsinnige übrigens mit weiten Teilen der Linken, man denke nur an Sahra-ich-wäre-so-gern-AfD-Bundesvorsitzende-Wagenknecht, die antizionistische Postille junge Welt oder die örtlichen Ableger von DKP, MLPD oder den Stammtischen ehemaliger, nun ergrauter KPD/AO-Mitglieder, gemein.

Man könnte mit Julia Schramm womöglich über ihre völlig not-wendige Kritik am Nationalismus in Deutschland reden, am aus ihrer Sicht überholten und falschen Konzept des Nationalstaats, wie sie es in einem kleinen Video kürzlich getan hat, und dabei darauf hinweisen, dass gerade die Kritik am Antisemitismus not-wendig eine Bejahung des israelischen Nationalstaats beinhaltet.

Das ist für sehr viele linke Israelunterstützer eine Aporie: hier mit Jürgen Habermas (für die Sozialdemokratischen) oder Marx und Kritischer Theorie (für die ganz Radikalen und Strammen) gegen den Nationalstaat und dort irgendwie für Israel, gegen Jakob Augstein, Jihad und den Iran.

Doch das wäre eine ganz andere Diskussion. Dass Israel der jüdische und demokratische Nationalstaat ist und als solcher zu verteidigen ist, muss erst noch in linke Theoriebildung Einzug erhalten. Da hat die „Israelszene“ noch sehr viel Arbeit vor sich liegen.

Hier und heute geht es darum, die rechtsextreme und antisemitische Kampagne gegen die Amadeu Antonio Stiftung zu attackieren und zu Fall zu bringen.

Der Journalist Christian Bommarius hat für die Berliner Zeitung zusammengefasst, mit was für einen Gruppe von Agitatoren wir es zu tun haben:

„In diesem Lager – präziser wäre: Kampfgemeinschaft – stehen die rechtsradikale Zeitung Junge Freiheit und der Publizist Roland Tichy (‚Es ist ein peinliches (sic!) Netz  der Zensur, das hier über Deutschland gelegt wird und  im Zusammenspiel mit den Parteien und vielen Medien glänzend funktioniert.‘), die islamophobe ‚Achse des Guten‘ um Henryk M. Broder, Anhänger der rechtsextremen ‚identitären Bewegung‘, der auf die Verbreitung von Verschwörungstheorien spezialisierte Kopp-Verlag mit seinem fast schon ulkigen Chefverschwörungstheorienverbreiter Udo Ulfkotte (‚Zensur-Republik Deutschland: So sollen Bürger eingeschüchtert werden‘), der rassistische Blog ‚politically incorrect‘  und  was sich derzeit sonst noch auf dem Markt intellektueller Unredlichkeit und  trostloser Unanständigkeit tummelt. Sie alle werfen Maas, der  Amadeu-Antonio-Stiftung und anderen, denen der Schutz der Menschenwürde etwas bedeutet, vor,  die Republik in eine ‚Stasi 2.0‘ zu verwandeln und mit dem ‚peinlichen Netz der Zensur‘ zu knebeln.“

Antideutsche werden dieses Land vor sich selbst retten oder es geht unter. So oder so.

Und da ist sie wieder, die Schnappatmung weißer deutscher Männer. Aber sie sind nicht alleine. Vera Lengsfeld ist bei ihnen.

 

 

Anregungen für die Bildungsarbeit und die politische Selbstverständigung: „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“

Original auf www.hagalil.com am 5. Juli 2007

 

Die fünf Autoren nehmen sich mit dem leicht und ohne größere wissenschaftliche Ambitionen geschriebenen Bändchen „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“ ein sehr wichtiges und aktuelles Thema vor. Alle fünf Autoren sind Politologen, gleich zwei davon waren bzw. sind Professoren für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin (Zeuner und Stöss), ein weiterer ebenda wissenschaftlicher Angestellter (Fichter). Das wird der Bedeutung des größten und bekanntesten politikwissenschaftlichen Instituts in der Bundesrepublik, dem Otto-Suhr-Insitut (OSI), durchaus gerecht.[1]

Empirisch basiert das Buch auf Erhebungen von vier der Autoren über die Einstellungen von Gewerkschaftsmitgliedern bzw. Funktionären zu Rechtsextremismus. Von 6,6 Mio. Gewerkschaftsmitgliedern in Deutschland haben weniger als 10% ein „geschlossenes gewerkschaftliches Überzeugungssystem“ (S. 8). Verglichen mit Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern haben z. B. in der Mittelschicht 18% (gegenüber 7%) der Gewerkschafter eine klar erkennbare rechtsextreme Einstellung (S. 53). Das ist bemerkenswert. Bei der Unterschicht sind es wenig überraschende 33% der Nicht-Mitglieder im Vergleich zu 28% der gewerkschaftlich organisierten (S. 52).

Insgesamt zeigt sich, dass die Gewerkschaften mit 19% Prozent Rechtsextremen dem Prozentsatz der nicht organisierten mit 20% entsprechen, Gewerkschafter also auch im Fall Rechtsextremismus ein „Spiegelbild“ der Gesellschaft in Deutschland sind. Im Osten ist lediglich zu konstatieren, dass insgesamt mit 27% deutlich mehr Rechtsextreme zu verzeichnen sind (18% im Westen), und Gewerkschaften etwas weniger rechtsextrem eingestellt sind als die unorganisierten (22,5% zu 28,1%) (S. 32f.). Wer sich die Hetzkampagne gegen als „Heuschrecken“ vorgestellte Unternehmer bzw. Finanzspekulanten durch den ehemaligen SPD-Vorsitzenden und Bundesminister für Arbeit und Soziales Franz Müntefering vergegenwärtigt (S. 13)[2], Parolen von Gewerkschafter sieht, welche sich gegen „Verrat am Vaterland“ wenden (S. 99), oder gar die IG Metall-Zeitschrift anschaut, welche 2005 in antisemitisch-antiamerikanischer Diktion gegen „Die Aussauger“, welche in Form einer Stechmücke mit langem Rüssel und US-Hut dargestellt sind, agitiert (S. 84) und dieses Cover auch auf scharfe Kritik hin vom Verantwortlichen und IG Metall Vorsitzenden Jürgen Peters verteidigt wurde[3], oder schließlich den DGB-Vorsitzenden Michael Sommer von „vaterlandslosen Gesellen“ daher reden hört bzw. seine ‚Hoffnung‘ vernimmt, dass Deutschland weiterhin „Exportweltmeister“ bleiben möge (S. 86f.), ist ob solcher empirischer Umfragewerte unter Gewerkschaftern kaum verwundert. Ob daran das von eben jenem Jürgen Peters ausgerufene „Mainstreaming“ einer „Europäisierung der IG Metall“ von November 2006, welches als probates Mittel gegen nationale Überheblichkeit und Rechtsextremismus angeführt wird (S. 88), etwas ändern wird, ist unwahrscheinlich.

Die Autoren gehen mehrfach kritisch auf das Gerede von ‚amerikanischem Kapitalismus‘ versus ‚europäischem Sozialstaatsmodell‘ ein und verwahren sich gegen Antiamerikanismus, ja erwähnen zu Recht den New Deal der1930er Jahre, der Arbeiterrechte gestärkt hat (S. 85) und lehnen die NPD-Propaganda gegen Globalisierung ab (S. 64). Sie fordern wieder mehr gesamtgesellschaftliches Engagement der Gewerkschaften, ja plädieren für eine Politisierung der Gewerkschaften, eine politische Bildung im alltäglichen gewerkschaftlichen Tun und beziehen sich auf einige ihrer Ansicht nach positiven, antinationalistische Beispiele gewerkschaftlicher Organisierung- und Aufklärungsarbeit (S. 103-105).

Die relevanteste der gesamtgesellschaftlichen Perspektiven, welche von den fünf Politologen hochgehalten wird, ist jedoch neben den hehren Tönen gegen Nazis bereits deutscher Mainstream:

„Während sein [des Nationalstaats, C.H.] Repressionspotential im Zuge neuer Kriege und des sogenannten ‚Kampfes gegen den Terror‘ nach innen und außen oft sogar noch weiter aufgerüstet wird, gibt er sozialintegrative Aufgaben preis, die dem Schutz der lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheit zugute kamen und auch die Bewegungsfreiheit von Unternehmen beschränkt haben“ (S. 63).

Ohne den bösen Kampf der Amerikaner und ihrer Alliierten, der demnach angeblich von Deutschland gar unterstützt wird, gäbe es bessere Arbeitsbedingungen und mehr Geld für „sozialintegrative Aufgaben“.

Wow! Das ist eine tollkühne und gewiss typisch deutsche Begründung gegen den War on Terror. Diese im Kern islamophile Verweigerungshaltung den wirklich großen Problemen des 21. Jahrhunderts gegenüber ist eine gewerkschaftliche Meisterleistung. Chapeau, die Herren. Besser könnte das kein rhetorisch gewandter NPD-Redner machen. Oder natürlich die nationalbolschewistische junge Welt, die Linke (PDS/WSAG), die Autonomen, die Antiimperialisten, Grüne, Frauen/Lesben, Anti-Hartz-IV-Protestler, Friedensratschläge, militante Gruppen oder auch weite Teile der SPD vom antizionistischen Rand der CDU à la Norbert Blüm nicht zu schweigen.

Wenn ich mich erinnere welcher Hass mir entgegenschlug, von super linken NachwuchswissenschaftlerInnen mit dem besten Gewissen, die selbstverständlich seit Jahrzehnten Anti-Nazi-Arbeit machen und in linken Buchläden in Berlin arbeiten oder in Göttinger Antifazusammenhängen steck(t)en, als ich in gewerkschaftlichem Rahmen im Sommer 2002 eher zufällig ein kleines, süßes Muffin-Küchlein mit noch kleinerer US-Fahne dabei hatte und auf meinem Tisch stellte, oder im gleichen Kontext von derselben Runde, nach ein paar Bier allerdings, wie selbstverständlich Michel Friedman als „ekliger Typ“ diffamiert und sein am selben Tag ausgestrahltes TV-Interview mit Israels Ministerpräsident Ariel Scharon gezielt gemieden wurde, von wenigen Ausnahmen abgesehen, und das alles mit einem Tonfall und einem Duktus, der später im Jahr 2002 nur noch von Jürgen W. Möllemann getoppt wurde, dann wird vieles klarer bezüglich Gewerkschaften und Deutschland heute. Wenn ich dann auch noch sehe wie im Rahmen der Hans-Böckler-Stiftung bzw. ihrer DoktorandInnen antizionistische ‚Kollegen‘, nicht nur aber auch weil sie Migranten sind, in Schutz genommen wurden und der Antisemitismus solcher Typen nur von wiederum wenigen erkannt und scharf kritisiert wurde, wenn ich all diese kleinen persönlichen Erlebnisse mit Gewerkschaftern die letzten Jahre seit 2002 revue passieren lassen, wird das Bild noch klarer.

Schließlich noch ein Beispiel: ein großes gewerkschaftliches Bildungswerk, das DGB-Bildungswerk München, hat erst nach heftigen Protesten eine Veranstaltung mit ihrem langjährigen und sehr stark im Bildungsprogramm als Referent, mit vielen Einzelveranstaltungen involvierten Kollegen Heinz Vestner abgesagt. Und er wird als Referent weiter beschäftigt, obwohl seine antizionistischen Tiraden seit Jahren bekannt ist.[4] Dass so eine Ankündigung für eine Veranstaltung überhaupt gedruckt und für die Veranstaltung geworben wurde, ist bereits skandalös.[5] Typisch gewerkschaftlich wird die Sache dadurch, dass sich der Referent eben als Linker, der gegen Nazis und Rechtsextremismus ist, gezeigt habe.

Für das Herbst/Winter-Programm 2007/2008 hat das DGB-Bildungswerk München Vestner wiederum als häufigen Referenten engagiert, z. B. mit Seminaren über die US-Außenpolitik seit „1776“ und der amerikanischen „Jagd nach Profit“, womit also, wenn das Seminar mit der Gründung der USA beginnt (!) das ‚Wesen‘ der Amerikaner gemeint ist![6] Komplementär dazu jauchzt der Lieblingsreferent dieses großen gewerkschaftlichen Bildungswerkes wiederum wenn er den Namen Chavez hört und dessen Ruf nach einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“[7] laut hinaus schreit oder proklamiert: „Daumendrücken ist angesagt“ bezüglich „Erwacht Lateinamerika“, denn ist Chavez nicht ein toller Hecht und Nachfolger Bolivars?[8] Nach den Kriterien der fünf Autoren des hier rezensierten Buches zu urteilen, wäre Vestner eher nicht in das Raster ‚rechtsextrem‘ gefallen. Doch was heißt das in einer Zeit, wo gerade linke, ‚progressive‘, ‚liberale‘ Antisemiten zurecht ins Blickfeld geraten?

Das Raster (S. 30-31) der Politologen ist viel zu grobmaschig und altbacken, demnach sei Rechtsextremismus gekennzeichnet durch 1.) „Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, 2.) „Chauvinismus“, 3.) „Ausländerfeindlichkeit“, 4.) „Antisemitismus“, 5.) „Sozialdarwinismus“ und 6.) „Verharmlosung des Nationalsozialismus“. Weder bei der Kategorie 4) noch jener von 6) taucht das Beispiel des Antizionismus auf. Antisemitismus zeigt sich jedoch heute häufig als Antizionismus, der Antisemitismus mit reinem Herzen, wie er schon von Jean Améry 1969 („der ehrbare Antisemitismus“) oder von Vladimir Jankélévitch 1970 („Verzeihen?“) dechiffriert wurde. Der Hass auf Israel, die Schuldprojektion der Deutschen, nach der z. B. und gerade die Israelis einen „Holocaust an den Palästinensern“ verüben würden oder der Anti-Terrorschutzwall das gleiche sei wie die Berliner Mauer oder die Behandlung der Palästinenser im Westjordanland jener im Warschauer Ghetto ähnele, sind doch ubiquitär. All diese antisemitischen Reflexe sind Alltag bei deutschen Kirchen, Politikern aller Parteien, den Medien, der Wissenschaft und der Gesellschaft insgesamt, auch den Gewerkschaften natürlich. Allein das Jahr 2007 bietet für jede dieser Kategorien abschreckende Beispiele. Jedoch: als Kategorie für Rechtextremismus taucht Antizionismus gar nicht auf bei den Autoren dieses Bandes.

Was jedoch den Autoren sehr wichtig ist als Beitrag im Kampf gegen Rechtsextremismus ist das linke Ressentiment gegen Krieg und jenes gegen den Kampf gegen den islamischen Faschismus, den ‚heiligen Krieg‘, der keineswegs nur Israel, vielmehr den Westen, die Moderne, zuerst natürlich die USA, bekämpfen und zerstören möchte. Dem Djihad werden sich deutsche Gewerkschafter offenbar so wenig in den Weg stellen wie sie bislang so bewusst inaktiv (wenn nicht klammheimlich feixend) waren gegen den antijüdischen Boykottaufruf ihrer britischen Kollegen von der University and College Union (UCU).[9]

Das Thema muss also lauten: „Gewerkschaften und Antisemitismus“. Gegen Nazis sind doch ziemlich viele, wenn auch nicht alle, wie der Bürgermeister und FDPler aus Mügeln nachdrücklich zeigt und auch vom bayerischen Ministerpräsidenten der Zukunft, Günter Beckstein, mit der Parole „Ich bin stolz ein Deutscher zu sein“ sekundiert wird, gerade jetzt. Doch so wichtig es ist solche Konservativen und Reaktionären zu bekämpfen, so wichtig und absolut untypisch, weil nicht links-identitär ist es, den Antizionismus der Deutschen ins Visier zu nehmen und darum auch nicht zum siebenhundertdreiundsechzigsten Mal einen großen Bogen machen wie die Autoren dieses hier rezensierten Büchleins. Sie wollen nur ihre typisch linke OSI-Identität wahren und nicht lernen, dass manchmal, in historischen Momenten, Krieg die einzige Chance ist bzw. war im Kampf gegen den Faschismus bzw. Nationalsozialismus.

Wer sich dessen bewusst ist, dass einer der Gründer des Konservativismus im 20. Jahrhundert in den USA, Peter Viereck war, der gegen seinen Nazi-Vater rebellierte und konservativ wurde, Freiheit erhaltend, sowie später, in hohem Alter, nach 9/11, auch den neo- (oder neo-neo-?) konservativen Kampf gegen den neuen Faschismus, den grünen, befürwortete, erkennt die von deutschen und sonstigen Linken gezielt völlig verdeckte Dimension im amerikanischen Konservativismus. Dieser zeigt sich in der Person Vierecks als Aufstand gegen einen Nazi-Vater (sein Vater war Hitler-Verehrer seit den 1920er Jahren), später mit der Waffe in der Hand im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen. Solche Antifaschisten jedoch geben für einen ganz normalen deutschen Gewerkschafter kein Vorbild ab. Schade eigentlich.

Anmerkungen:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Otto-Suhr-Institut
[2] http://www.kritiknetz.de/muentefering_konkret.pdf
[3] http://www.rp-online.de/public/article/aktuelles/88736
[4] http://www.hagalil.com/archiv/2007/06/dgb.htm
[5] Die Ankündigung ist so krass, dass ich sie hier im Wortlaut und komplett zitiere: Veranstaltung mit Dr. Heinz Vestner im DGB-Haus, 18.07.07, Raum 006, 5€: „Frieden in Nahost? Als 1993 die Oslo-Verträge unterzeichnet waren, begannen hierzulande alle zu jubeln über den damit angeblich einsetzenden „Friedensprozess“ im Nahen Osten. Daraus ist bekanntlich nichts geworden – trotz ‚road map‘ und ‚Fischer-Plan‘. Die Israelis haben kaltblütig ihre Siedlungspolitik fortgesetzt, eine bis zu 8 m hohe Mauer gegen die Palästinenser errichtet und den Libanon – wiedermal – angegriffen. Dieses ‚Spiel‘ läuft seit 1948. Ist es da ein Wunder, dass Palästinenserorganisationen wie Hamas und Hisbollah immer mehr Zulauf haben? Wer Gewalt sät, wird immer Gewalt ernten. Wieso eigentlich ist die Todesursache Arafats bis heute ‚unbekannt‘?“ Bereits am 06.03.-2007 hatte Vestner im DGB-Bildungswerk eine Veranstaltung zu Hugo Chavez, dem Duz-Freund des iranischen Holocaustleugners und die Zerstörung Israels planenden Ahmadinedschad, damit angepriesen, dass gefragt wurde: „Was also ist dran an diesem Kerl [Chavez, C.H.]? Ne ganze Menge nämlich“, siehe http://www.dgb-bildungswerk-bayern.de/pdf/Muenchen/internet_07_1k.pdf , S. 46.
[6] http://www.dgb-bildungswerk-bayern.de/muenchen/progr_07_2.pdf , S. 48.
[7] Ebd.: 58.
[8] Ebd.: 46.
[9] http://www.jungle-world.com/seiten/2007/33/10425.php

hagalil.com 05-07-07

 

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