Von Dr. phil. Clemens Heni, 07. Mai 2021
Jay Bhattacharya, Professor für Medizin und Experte für Public Health von der Stanford University, einer der drei Erstunterzeichner der legendären Great Barrington Declaration von Oktober 2020,
fordert einen gezielten Schutz der Alten und Gefährdeten in Indien. Er schreibt im britischen Spectator, dass es schwer erträglich ist, wenn die nicht-gefährdete (weiße) Mittelschicht in England, den USA oder Deutschland jetzt auch die jungen Menschen unter 65 impft, anstatt den Impfstoff den Alten in Indien zu liefern.
Es muss auf alle Fälle darum gehen, den Lockdown in Indien zu verhindern, jedenfalls im Großteil des Landes. Indien machte jedoch bislang den gleichen Fehler wie andere Länder: Es gab keinen gezielten Schutz für die Alten und Vorerkrankten, wie es die Great Barrington Declaration fordert.
Bhattacharya, der sehr wohl grundsätzlich für Impfungen ist, spricht sich in einer Debatte auf der Seite Lockdownsceptics zudem vehement gegen Impfpässe aus. Das würde sogar die Impfbereitschaft enorm schmälern, weil es ja zeigen würde, dass die Menschen nicht überzeugt seien, dass die Impfung – wie gegen richtig gefährliche Krankheiten wie Polio – notwendig sei.
Lassen Sie sich diese Zahlen mal durch den Kopf gehen:
In Indien hat sich insgesamt die Sterblichkeit aufgrund einer Tuberkuloseerkrankung von 62% im Jahr 2000 auf 31% im Jahr 2017 halbiert.
Und dann darüber nachdenken, dass ca. ein Viertel aller 10 Millionen Tuberkoluse-Fälle pro Jahr in Indien stattfinden.
In deutschen Krankenhäusern, so lautete ein Bericht, gab es bis 2019 mitunter ca. 10 FFP2-Masken im Lagerraum für den sehr seltenen Fall eines TB-Patienten. Ansonsten wurden keine FFP2-Masken getragen, schon gleich gar nicht in Zimmern mit Patient*innen, Behandlungsräumen, Stationszimmern, auf Fluren etc. – und im OP OP-Masken.
Bhattacharya schreibt:
The US is also turning its attention to vaccinating its younger population. Some colleges in America require students to show proof of Covid vaccination to enrol in school, even though they are not particularly vulnerable to the disease. On campus, students will quite rightly be encouraged to take their role as global citizens seriously, to care about developing-world poverty and the impact of climate change. But if Britain and America are sitting on millions of doses of vaccine that could save the lives of India’s elderly, what should we do? Share the vaccine? Or give it to those for whom it would make little or (in the case of those who have recovered from the disease) almost no difference? It is hard to find a moral justification for not doing more to help.
Indien hat häufig Smog-Probleme. Das Klima ist extrem und die industriegesellschaftliche Luftverschmutzung immens. Schon Ende März 2020 konnte man auf Telepolis lesen:
Wenn es Narendra Modi [indischer Premierminister, d.V.] wirklich um die Gesundheit seiner Bevölkerung geht, warum sind ihm dann bisher die 1, 2 Millionen Inder egal gewesen, die jedes Jahr an den Folgen von Luftverschmutzung gestorben sind? Auch die mindestens 200.000 Inder, die an den Folgen von verdrecktem Wasser dahin siechen?
Im November 2019 gab es bereits Berichte über „Sauerstoff-Bars“ für die reicheren Schichten in Indien wie in Neu-Delhi. 15 Minuten kosten ca. 3,30€, wie die BBC berichtete:
Prof. Bhattacharya betont in seinem Spectator-Artikel, dass Lockdowns in Indien für weite Teile der Gesellschaft undenkbar sind: Tagelöhner, die Armen, die Wanderarbeiterklasse. Er hat selbst Familie in Indien, einige erkrankten an Corona, andere litten und leiden unter Lockdown-Maßnahmen aller Art. Auch Indien hat es nicht geschafft, die besonders Gefährdeten zu schützen. Dafür sind in Indien die wenigen Impfstoffe für alle Menschen ab dem Alter von 18 Jahren verfügbar, was absurd ist. Das hat zur Folge, das aktuell ca. 60 Prozent aller Impfdosen an kaum existentiell bedrohte Menschen unter 60 gehen, ja noch unlogischer: Auch Genesene, die eine starke natürliche Immunität gegen Covid-19 haben, werden geimpft, das passiert auch hierzulande. Wenn wir uns vergegenwärtigen, was der Kollege von Bhattacharya aus Stanford, Prof. John Ioannidis, immer betont, dass ca. 10 Mal mehr Menschen Corona-Fälle sind, ohne es je gemerkt zu haben, also dass statt der offiziellen 156 Millionen ca. zwei Milliarden Corona hatten und somit immun sind (!), brauchen diese Menschen natürlich keine Impfung mehr. Das beträfe in Deutschland womöglich ca. 20 Millionen Menschen, die alle schon immun sind, aber aufgrund der offenkundig absichtlich vom RKI bislang nicht durchgeführten repräsentativen Antikörperstudien (analog zu der Gangelt-Heinsberg Studie von Streeck), wissen wir es nicht.
Bhattacharya kritisiert das Impfen von Nicht-Gefährdeten massiv:
So far, vaccines have been delivered to roughly 10 per cent of India’s population — which would have been more effective if jabs had been targeted at those most at risk. Instead, perhaps half these jabs have gone to those who have had the virus and will therefore have natural immunity. Worse, nearly 60 per cent of these vaccine doses have gone to people under 60, leaving a vast number of the older population vulnerable during the recent surge in cases. Rather than focus on those most at risk of dying, India has made the vaccine available to anyone over 18, which has diverted even more doses from the poor high-risk elderly to the more affluent low-risk young.
Das völlig irrationale und irre Projekt von Merkel und anderen Politiker*innen, wirklich alle Menschen auf der Welt zu impfen, erst dann könne die Pandemie zu Ende sein, zeigt sich auf perfide Weise in dieser Nicht-Priorisierung der Alten und Gefährdeten in Indien, so Bhattacharya.
Wie selten zuvor zeigt sich zudem die Unwissenschaftlichkeit der absoluten Zahlen. Viele denken, 3500 Toten an einem Tag in Indien, die „an“ oder „mit“ Covid-19 sterben, seien der blanke Horror. Es ist in jedem Einzelfall traurig – aber trauriger, als die Hunderttausenden Toten, die an verhinderbaren Durchfallerkrankungen oder Tuberkulose jedes Jahr in Indien sterben, seit vielen Jahren?
Bhattacharya greift auch Merkel frontal an:
India makes lots of vaccines. Yet Angela Merkel, the German Chancellor, has complained that India is not exporting enough of its supplies to Europe. Discussion should instead focus on how to save as many lives as possible — and how it is more important to vaccinate older, high-risk Indians than young Americans and Europeans with minimal mortality risk. Given that recovering from Covid offers 95 per cent protection against reinfection, those who have had the virus ought to be last in line for a vaccine.
Es ist genau diese mittelständische, weiße, sehr wohl egoistische und rassistische Anmaßung der Amerikaner und Europäer, erstmal die eigenen jungen Leute unter 60 zu impfen, als alle vorhandenen Impfstoffe den wirklich (!) Gefährdeten wie in Indien zu liefern. Das zeigt, dass das ganze Geschwätz von der einen Menschheit schon immer eine hohle Phrase war.
Es muss angesichts von Corona um den Schutz der Schutzbedürftigen gehen. 29-jährige IT-Programmierer aus Berlin, 44-jährige Bürokauffrauen oder gar 15-jährige Schüler*innen sind durch Corona nicht bedroht, das ist irrational. 67-jährige oder 80-jährige in Neu-Delhi oder anderen Großstädten und Gegenden in Indien, die ohnehin schlecht atmen können und ein schlechtes Gesundheitssystem haben, die brauchen Sauerstoff oder ne Impfung, so der Professor aus Stanford, der sich eben wirklich im Sinne der Public Health wissenschaftlich und politisch – als public intellectual – um die Gesundheit auf der Welt kümmert und nicht nur um die eigene Gesellschaft. Das ist Solidarität. Das ist die Anti-Lockdown-Position der Great Barrington Declaration. Dabei müssen wir immer auch im Auge behalten, dass es in Schweden 2020 ohne jeden Impfstoff, ohne jeden Lockdown und ohne Maskenwahn auch so gut wie keine Übersterblichkeit und deutlich weniger Tote als in Frankreich, UK oder den USA gab. Also liegt es nicht an den Impfstoffen per se.
Auch in Indien ist es so, dass die Arbeiterklasse unter Lockdowns und Ausgangssperren leidet, nicht die Mittel- und Oberschicht, die Analogie zu den USA oder Deutschland ist frappierend – die Arroganz und der Zynismus der Lockdown-Fans ist abstossend, angesichts solcher Analysen:
The irony is that those who benefit from lockdown do so only because there are others who aren’t going into lockdown and who continue to face the risk of infection. In our deeply interconnected societies, every minute aspect of our everyday lives — from food and water to electricity, phone and internet connections, sewage systems and waste management services, and medical supply chains — depends on the work of other people who, more often than not, are those in low-income occupations. We may cheer them from the safety of our homes on Thursdays or Sundays, but we lose no time in also shaming them for their ‘irresponsible behaviour’ for being out on the roads or in public spaces.
Das Aufgeben solcher internationalistischer Analysen von den Linken hierzulande, in UK, den USA, ja weltweit, indiziert eines der größten Versagen linker und linksradikaler Theorie und Praxis seit Jahrzehnten. Angesichts von ZeroCovid-Wahnsinningen, linken, dumpf-deutschen Regierungs- und Staatsfetischist*innen und egoistischen Zoom-Laptop-Würstchen dreht sich Hermann L. Gremliza im Grab herum. Er hätte gewusst, was Kritik an den deutschen Zuständen auch zu Corona-Zeiten und was internationale Solidarität bedeutet: Gegen den Lockdown in Indien und anderswo, gegen das Impfen der jungen Leute in Europa oder den USA, für den Schutz der Schutzbedürftigen.
Wer weiterhin fordert, alle Menschen zu impfen und sich gezielt weigert, nur die wirklich potentiell von Corona Bedrohten zu schützen bzw. ihnen den Schutz anzubieten (es wird IMMER auch 80+ oder 65+ oder vorerkrankte Menschen jeden Alters geben, die aus welchen Gründen auch immer, keine Impfung ertragen würden oder sie auf keinen Fall wollen und das ist auch immer deren Entscheidung, wer das nicht akzeptiert, ist ein totalitäres Monster und hat in einer Demokratie nichts zu suchen).
Nochmal die Zahlen, in Relation gesetzt – und nur darum geht es, um die Verhältnismäßigkeit und um die Relation: Wenn aktuell in Indien 3500 am Tag „an“ oder „mit“ Corona sterben, so ist das eben ein Teil der ca. 27.000 Toten am Tag. Ob das eine Übersterblichkeit bedeutet, ist überhaupt nicht sicher. Denn diese ca. 3500 Toten am Tag entsprechen aktuell (1,3 Milliarden Bevölkerung in Indien zu 83 Millionen in Deutschland, also hat Indien eine ca. 15 Mal größere Bevölkerung) den 225 Toten „an“ oder „mit“ Corona (Covid-19, der von SARS-CoV-2 auslösbaren Krankheit), die derzeit in Deutschland sterben. Und wenn schon die 650 C-Toten am Tag, die es in D-Land im Dezember 2020 gab, zu fast keiner Übersterblichkeit im Jahr 2020 führten, wie sollen dann die 250 Toten pro Tag aktuell zu irgendeiner Übersterblichkeit führen? Es sind Tote des normalen Sterbegeschehens, nur gibt es eben eine neue Todes- und Testart. Wie das in Indien ist, wird sich zeigen.
Jay Bhattacharya analysiert in seinem Spectator-Text
so luzide wie kaum ein anderer die aktuelle Situation in Indien:
I have been watching the pandemic unfold in India from Stanford University, where I’m a professor of medicine. But for me, it is not just an abstract problem in a faraway country. I was born in Kolkata and still have many family members in India. Some have contracted Covid, while others have suffered from the terrible effects of lockdown.
As soon as the pandemic started, India followed the familiar litany of Covid lockdown policy: masks, a test-and-trace system, school closures and border closures. India was one of the first emerging economies to announce a lockdown and adopted one of the world’s most stringent approaches.
Stay-at-home advice is easier to follow if you have a proper home. But in India’s’ slums, where millions of people live, quarantine is almost impossible — as is the concept of ‘working from home’ or home-schooling.
Then there are migrant labourers, ten million of whom were living in India’s cities before the pandemic. Lockdown meant many of them immediately lost their jobs, livelihoods and homes. Millions started on the long journey back to their villages on foot, not knowing whether they would ever make it home.