Von Dr. phil. Clemens Heni, 04. Juni 2022

Der Literaturwissenschaftler und Publizist Hans Mayer (1907-2001) fand das Spiel „Reise nach Jerusalem“, das fast jedes Kind irgendwann mal spielte, einigermaßen bedenklich. Einer Gruppe von zum Beispiel 10 Kindern oder auch Jugendlichen sowie Erwachsenen stehen nur neun Stühle gegenüber. Man läuft im Kreis und auf ein Signalwort oder einen Ton muss jede und jeder einen Stuhl finden. Logisch bleibt eine Person übrig. Jede Runde wird so der Kreis kleiner. Ganz am Ende gibt es noch zwei Leute und einen Stuhl, einer gewinnt. Aber der Gewinner oder die Gewinnerin ist – alleine.

Wir kommen auf Hans Mayer zurück. Alleine waren auch fast alle Menschen während der Coronamassenpanik, die gezielt von Horst Seehofer und nahezu allen europäischen und sonstigen Regierungen geschürt worden war („Panikpapier“). Die Menschen wurden isoliert, gerade die 86-jährigen Altersheimbewohner*innen, gegen ihren Willen, ob sie nun Angst hatten vor einem ganz normalen respiratorischen Virus oder nicht. Menschen wurden in ihre Wohnungen gesperrt obwohl jeder Mediziner und jede Epidemiologin weiß, dass enge Räume bei Infektionskrankheiten ungünstige Räumlichkeiten sind. Niemand durfte in Cafés, Restaurants, Veranstaltungsorte gehen, alles war geschlossen, auch die Schulen und Kitas, die Bibliotheken, die Theater, die Hallenbäder, alles. Der Wahnsinn war an Irrationalismus und medizinischem Irrsinn nicht zu überbieten. Woran lag es? Am „linearen Denken“? Kann man gewisse strukturelle Ähnlichkeiten im Umgang mit der Corona-Krise und der aktuellen Ukraine-Krise sowie dem israelisch-palästinensischen Konflikt und der Israelsolidaritäts-Szene erkennen? Kann man für Israel und gegen Antisemitismus sein, ohne dem „linearen“ oder autoritären Denken zu huldigen?

Laut einem aktuellen WHO Bericht hat es in Schweden, wo es nie einen Lockdown gab, die Restaurants, Cafés, Schulen, Geschäfte und Firmen immer geöffnet waren, weniger als halb so viel Übersterblichkeit während der ganzen Coronakrise gegeben als im turbo Panikland Deutschland. Ohne jede Maskenpflicht und ohne jede Diskussion über eine Impfpflicht hat Schweden weniger Tote zu beklagen als Deutschland, und zwar enorm viel weniger Tote.

Mit einer scharfen Kritik wendet sich der Mediziner, Professor und ehemalige Vorsitzende der Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Gesundheitsversorgung e.V. (GQMG) Matthias Schrappe gegen „das neue lineare Denken“, das „top-down“-Denken, das autoritäre, demokratiefeindliche Denken, das seit Corona die neue lingua franca in Deutschland und in fast allen Ländern Europas geworden ist. Schrappe ist bekanntlich mit seiner „Autorengruppe“ seit April 2020 einer der führenden Kritiker der Coronapolitik von Merkel und Spahn bis Scholz und Lauterbach und zumal der Medien und der Gesellschaft insgesamt. Schrappe sieht erschreckende Analogien der Coronapolitik und des aktuellen Ukraine-Diskurses.

Das „lineare Denken“, das hierarchische, ja in Teilen geradezu manichäische Denken setzt sich aktuell in der so nie dagewesenen Agitation für mehr Krieg, mehr Waffen im Lager der angeblichen Pro-Ukraine-Fans verschärft fort.

Warum wurden von den Medien wie den unerträglichen Talkshows, ihren Moderator*innen und Gästen, die sich ja gerade in Coronazeiten als quasi Regierungspolitiker*innen verstanden und Merkel oder Scholz apportierten nur, was Sonntag Nacht (oder Montag, Dienstag etc.) in den Leitmedien im Fernsehen so gebrabbelt wurde, nie, zu keinem Zeitpunkt, genau so viele – oder überhaupt welche! – Kritiker*innen der Coronapolitik in eine Sendung eingeladen, wie unreflektierte Vertreter*innen der Regierungspolitik?

Es war schon viel, wenn einer von fünf Diskutant*innen eine leicht abweichende Meinung hatte, was sehr selten vorkam. Aber drei kritische Gäste und nur zwei de facto Regierungsvertreter*innen plus die ohnehin auf Regierungskurs befindlichen Moderator*innen – das war in Coronazeiten undenkbar. Und es ist beim Krieg Russlands gegen die Ukraine auch undenkbar. Es wird nicht diskutiert, sondern agitiert. Dieses Ungleichgewicht bei den Einladungen zu diesen für die Demokratie schädlichen Talkshows attackiert Schrappe frontal. Heute ist es doch so: De facto schadet jede Waffenlieferung der Ukraine, weil sie den Krieg gegen eine Weltmacht wie Russland nie gewinnen kann – es gibt keinen Sieg gegen eine Atommacht. Es muss um Diplomatie und Verhandlungen gehen, um eine politische Lösung.

Sicher wird die am rechten populistischen Rand der Linkspartei befindliche Sahra Wagenknecht als Alibi regelmäßig in diese Shows eingeladen, sie hat sowohl zu Corona als auch zur Ukraine abweichende Meinungen. Aber niemals kam es vor und niemals wird es in Zukunft vorkommen, nach all dem was wir seit März 2020 erlebt haben, dass drei Gäste eine kritische Position haben und sich womöglich gegenseitig ergänzen oder bestärken könnten, und nur zwei Gäste plus Moderator*in vertreten wieder die Regierungslinie (Pro-Lockdown, Pro-Impfen, oder mehr Waffen für die Ukraine, Russland „ruinieren“ etc.).

All das, was eine vielfältige, moderne Gesellschaft im 21. Jahrhundert ausmacht, „Ambiguität“, all das, was in so dermaßen marginalen Fragen wie dem Geschlecht Mainstream ist, das wurde bei den Freiheitsrechten der gesamten Gesellschaft einfach über Bord geworfen. Keine Reflektion, kein Innehalten, keine evidenzbasierte Diskussion, kein lokales Handeln, sondern autoritäres, hierarchisches 19. Jahrhundert prasselte auf die Menschen herab. Gnadenlos. Schulschließungen ohne jede empirische Prüfung, was das bringen soll, Lockdown, ohne zu analysieren, dass sich die Menschen dann noch viel eher anstecken, eng zusammengedrängt zu Hause, dann Maskenzwang und sinnloses Massentesten bis heute, ohne jede medizinische Evidenz. Dazu dann vor allem in Deutschland und Österreich die Impf-Apartheid, 2G, wo doch alle wissen, die es wissen wollen, dass bei Corona jeder geimpfte wenigstens so ansteckend sein kann wie jeder ungeimpfte Mensch.

Schrappe schreibt am 17. Mai 2022 im Cicero:

In dieser Situation kam „Corona“. Im Jahr 1992 war das Bundesgesundheitsamt in ‚Robert-Koch-Institut‘ umbenannt worden, eine Hommage an den großen Forscher, aber auch ein Rückgriff, so muss man heute erkennen, auf die Strukturvorstellungen des 19. Jahrhunderts. Denn was ist (nicht) geschehen? Erste Corona-Fälle bei Webasto in München – wer war vor Ort? Cluster in Heinsberg – hat jemand 100 Leute vom RKI vor Ort gesehen, die die wichtigen Fragen bearbeitet haben (Übertragungswege, Sterblichkeit …)? Die ersten Cluster in Altersheimen in Wolfsburg und Würzburg – war jemand aus Berlin dort und hat mit modernen Konzepten der Epidemiekontrolle ausgeholfen?

Wir kennen die Antwort. 1150 Mitarbeiter, knapp die Hälfte davon Akademiker, blieben auf ihren Sesseln sitzen, sammelten Meldedaten, von denen alle Fachleute wussten, dass sie nichts taugten (außer den Meldeeifer widerzuspiegeln), veröffentlichten Appelle (und änderten sie nächtens), steigerten die Bedrohungsszenarien, statt sich kompetenter Krisenkommunikation zu bemüßigen, waren nicht in der Lage, eine Epidemie als komplexes System zu begreifen und entsprechend zu handeln.

Sehr treffend wendet Schrappe seine multiperspektivische, demokratische und heterogene Analyse einer Gesellschaft in einer Krise auch auf den erschreckenden Ukraine-Diskurs an:

Allerdings ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass sich diese Neigung zu einfachen Lösungen verstetigt und uns noch beschäftigen wird, wenn die Corona-Pandemie längst in ihre endemischen Ebenen abgetaucht ist. Das wichtigste Indiz ist das Umgehen mit der Ukraine-Krise. (…) Wenn laut Umfragen die Hälfte der Bevölkerung pazifistische Überlegungen (partiell) teilt, warum sind nicht auch die Hälfte der Talkshow-Teilnehmer aus diesem Lager? Woher der aggressive Ton der Befürworter von Waffenlieferungen gegenüber den Beteiligten von Unterschriftensammlungen, die zu mehr Vorsicht und Umsicht aufrufen?

Und das betrifft nun leider auch einen meiner Hauptarbeitsbereiche, den Nahostkonflikt und die Situation in der Pro-Israel-Szene in Deutschland und Österreich bzw. dem Westen. Auch hier gibt es seit langer Zeit einen sehr autoritären Top-down-Mechanismus. Es wird nur auf die großen Entwicklungen und Tendenzen geschaut, ohne sich detailliert mit konkreten Schritten hin zu einem Frieden und einer Zweistaatenlösung zu befassen. Das erreichte seinen negativen Höhepunkt während der US-Präsidentschaft von Donald Trump. Er setzte Zahlungen an die Palästinenser im Gazastreifen aus, ohne sich mit den konkreten Konsequenzen für die Palästinenser und auch für die Israelis zu befassen. War Trumps Präsidentschaft in dieser Hinsicht gar ein verspäteter marxistischer Einsatz, der die schon immer absurde Verelendungstheorie in Anschlag bringen wollte?

Jedenfalls gibt es sehr interessante kritische, zionistische Projekte, die ein solches Top-down-Handeln in Frage stellen. Nehmen wie die NGO Israel Policy Forum aus Washington, D.C. Das 1993 im Zuge der nahöstlichen Entspannungspolitik von Yitzhak Rabin gegründete Israel Policy Forum sieht sich seitdem als Anwalt eines jüdischen und demokratischen Staates Israel und eines Staates Palästina, Seite an Seite von Israel, wie es seit 1937 angedacht und 1947 auch von der UN beschlossen worden war („UN-Teilungsplan“). Bekanntlich lehnten die Araber bzw. die Palästinenser jeden dieser Pläne kategorisch ab. Bis heute. Sie wollten und wollen bis heute das ganze Land, „from the river to the sea“, wie es die antisemitische BDS-Bewegung auf den Straßen Berlins, Frankfurts, Hamburgs, Wiens oder New Yorks, Londons, Bostons etc. hinausschreit.

Und in der Antisemitismusforschung gibt es viel zu viele, die darin, in der BDS-Bewegung, gerade keinen Antisemitismus zu erkennen vermögen oder ihren eigenen Antizionismus nach Auschwitz mit einem Koscherstempel versehen, so sie Juden sind oder aber ganz super ausgebildete Antisemitismusforscher*innen.

Diese offenkundigen Tendenzen des antizionistischen Antisemitismus, der jedwede Existenz eines jüdischen und demokratischen Staates Israel ablehnt, verführte schon vor der 2005 gegründeten BDS-Bewegung viele aus der Israel-Solidarität dazu, selbst nicht so ganz genau hinzuschauen. Dabei war doch die Ermordung Rabins 1995 durch einen fanatisch religiösen, die Thora vorgeblich studierenden, rechtsextremen israelischen Juden das Fanal schlechthin für eine Abkehr von jeglicher Friedenslösung auch von israelischer Seite. Es kamen zwar schätzungsweise eine Million Israelis zu seiner Beerdigung nach Jerusalem, wie der Literaturwissenschaftler Hans Mayer 1997 in seinem Suhrkamp-Band „Reise nach Jerusalem“ festhält. (S. 25) Das „Schalom Chawer“, das Bill Clinton auf der Beerdigung von Rabin sprach, wie Mayer, der selbst vor Ort war, erinnert, das war auch eine Erinnerung an die Arbeiterbewegung, den Sozialismus der allermeisten Chaluzim, der jungen jüdisch-zionistischen Einwander*innen nach Israel seit Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gründung des Staates Israel 1948. Zionismus war fast synonym mit Sozialismus, so Mayer. (S. 122)

Die israelische Regierung gab jetzt bekannt, dass sie an dem seit Jahren umstrittenen „E 1“-Projekt festhält und es im Juli 2022 eine letztmalige Prüfung vom Verteidigungsministerium bezüglich Vorbehalten geben soll. Es geht um den Bau von mehr als 3400 Wohneinheiten. 2012 sollte das Projekt bereits unter dem damaligen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu starten, doch internationale Proteste verhinderten das. So war es auch im Januar 2022, als das Projekt bzw. die letztgültige Entscheidung auch wegen Protestes aus den USA verschoben wurde. E 1 heißt „East 1“, es geht um ein strategisch zentrales Gebiet östlich von Ost-Jerusalem. Genau liegt E1 auf einem Gebiet von ca. 12km2, westlich der 50.000 Einwohner*innen jüdischen Siedlung Ma’ale Adumin. Viele werden den Weg kennen, wer sich nach einem Blick vom Mount Scopus vergewissert hat, dass das Tote Meer noch da ist, fährt auf der Route 1 an der Siedlung, die rechts davon liegt, vorbei durch die Westbank bis man dann unten im Tal, an Eseln und Kamelen vorbei auf die Route 90 trifft, die parallel zum Toten Meer verläuft und auf locker 400 Meter unterm Meeresspiegel kommt man dann beim „Mineral Beach“ an, der allerdings jedes Jahr sich weiter entfernt vom Meer bzw. das Meer von ihm.

Das Projekt E1 würde ein palästinensisches Staatsgebiet noch komplizierter machen. Palästinenser müssten auf dem Weg von Ramallah nach Bethlehem einen großen Umweg machen. Sicher, auch in der Gegend von Tel Aviv ist das Staatsgebiet Israels sehr schmal, ca. 15km bis zur Westbank und den palästinensischen Gebieten. Aber es ist politisch desaströs jetzt und überhaupt das Projekt E1 zu planen.

Die RAND Corporation hat im Jahr 2021 in der 187-seitigen Studie „alternatives in the israeli-palestinian conflict„, an der Israel Policy Forums Shira Efron mitgewirkt hat, untersucht, wie die Chancen auf eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts stehen. Dabei haben die Autor*innen in 33 Diskussionsgruppen mit über 270 jüdischen Israelis, arabischen Israelis und Palästinenser*innen in der Westbank und im Gazastreifen jeweils in dreistündigen Seminaren die politische Zukunft des israelisch-palästinensischen Konflikts diskutiert.

Bis auf drei exklusiv männliche Gruppen mit Ultraorthodoxen waren es gleichmäßig nach Geschlechtern gemischte Gruppen. Die qualitative Sozialforschung dieses Projekts ist ziemlich interessant. Die Studie stellte die aktuell fünf in Frage stehenden Optionen den Diskutant*innen vor:

1) Beibehaltung des Status Quo

2) Zweistaaten-Lösung

3) Eine Konföderation

4) Einstaaten-Lösung

5) Annexion der palästinensischen Gebiete durch Israel.

Keine der fünf Alternativen bekam von den arabischen Israelis und den Palästinensern eine mehrheitliche Zustimmung, lediglich die jüdischen Israelis plädierten mehrheitlich für eine Beibehaltung des Status Quo – was natürlich völlig unbefriedigend ist:

For Israeli Jews, the only alternative judged as “acceptable” by a majority of focus group participants was the status quo. For the other three populations—Israeli Arabs, Gazan Palestinians, and West Bank Palestinians—none of the alternatives were acceptable to a majority of participants. (…)

The two-state solution was the preferred alternative for both the Israeli Arabs and West Bank Palestinians and the second-highest-rated alternative for Israeli Jews and Gazan Palestinians. None of the other alternatives had anything close to this breadth of support. (S. 12, PDF)

Die Zustimmung zur Zweitstaatenlösung ist von 70 Prozent vor einigen Jahren auf nur noch gut 50 Prozent gefallen.

In der sozialwissenschaftlichen Forschung werden qualitative Studien sehr wohl ernst genommen, auch wenn im Fokus der Öffentlichkeit meist nur simple „Umfrageergebnisse“ oder „Trends“ stehen. Die Ergebnisse der Studie sind insgesamt ernüchternd, wie die Autor*innen festhalten. Es gibt massive Vorbehalte auf beiden Seiten, niemand traut dem anderen oder lehnt das andere Narrativ vollständig ab (kein Staat Israel, kein Staat Palästina etc.).

In einer Studie des Israel Policy Forums über den Nahostkonflikt, die lustigerweise „The New Normal“ heißt und gerade gar nichts mit Corona zu tun hat, betonen die Autor*innen die Hoffnung, die Biden im Gegensatz zu Trump bringen könnte:

There is some room for optimism, however. The transition to a new American administration means new priorities in Washington. While the Trump administration was happy to bifurcate IsraelArab state and IsraeliPalestinian ties in service of a proannexation agenda, the Biden administration is supportive of a twostate solution.

2020 hatte das Israel Policy Forum 50 Gründe genannt, die geklärt beziehungsweise bearbeitet gehören, bevor es zu einer Lösung oder einem „Deal“ – um die patriarchale betriebswirtschaftliche Sprache Trumps zu verwenden – kommen kann. Dabei gehen sie sehr detailliert auf beide Seiten ein, die Israelis und die Palästinenser. So soll Amerika wieder humanitäre Hilfe für den Gazastreifen freigeben, Gelder, die bereits bewilligt worden waren, aber von Trump eingefroren wurden. Das ist mittlerweile von der Biden-Administration umgesetzt worden.

Dann fordert das 50-Punkte-Papier mehr Trinkwasser sowie Entsalzungsanlagen und auch bessere Elektrizität für den Gazastreifen. Zugleich fordert es, dass die Palästinensische Autonomiebehörde aufhört, Angehörigen von Terroristen und Jihadisten („Märtyrern“) Geld zu geben, ja sie für Mord an Israelis zu belohnen. Das muss aufhören. Eine solche detaillierte Liste, die sowohl Israel als auch die Palästinenser in die Pflicht nimmt, jeweils (!) aktiv für den Frieden sich einzusetzen, wird man in Deutschland oder Österreich in den Pro-Israel-Szenen kaum finden. Denn weiters fordert das Israel Policy Forum, dass die Terrororganisation Hamas auf Gewalt verzichten soll, aber Israel soll sowohl den Palästinensern in der Westbank wie im Gazastreifen mehr Arbeitserlaubnisse erteilen. Israel soll seine Verteidigungsmaßnahmen ausbauen, aber Ost-Jerusalem soll mehr Geld für Infrastruktur- und weitere Projekte bekommen. Die ganzen 50 Punkte kann man sich hier anschauen:

 

 

Der 50-Punkte Plan des Israel Policy Forum sagt, dass ein Aktivieren des E1-Projekts eine „rote Linie“ überschreiten würde, was die USA zum Handeln zwingen sollte:

Some areas of the West Bank are particularly sensitive ones because of their importance in preserving the territorial contiguity of a future Palestinian state. E1, for instance, sits outside of Ma’ale Adumim and contains the Bedouin village of Khal al-Ahmar, which has been slated for demolition and was the scene of protests and violence last week before the Israeli High Court enjoined the government from demolishing it. Building in E1 would separate the northern West Bank (Samaria) from the southern West Bank (Judea), turning what is now a 45 minute journey between Ramallah and Bethlehem into a two hour one, and rendering a future Palestine dependent on a patchwork of tunnels and bypass roads.

Israel should maintain the current status of places like E1 and Givat Hamatos (which would cut off Jerusalem entirely from the southern West Bank), and the U.S. should maintain its long-standing policy that any new Israeli construction in these areas is a redline that cannot be violated without consequences.

Sehr interessant ist der 50. Punkt: „Support separation, oppose annexation“. Hört sich geradezu dialektisch an. Israelis (jüdische und arabische) sollen sich von den Palästinensern weiter separieren, aber gleichzeitig wendet sich das Israel Policy Forum gegen die Annexion des Westjordanlandes. Leider ist gerade Letzteres in Israel voll im Kommen. Das E1 Projekt ist nichts anderes als die Annexion eines sehr zentralen Teils der Westbank. Denn mit dem Projekt E1 und einer direkten Verbindung von Ma’ale Adumin mit Ost-Jerusalem wird die Wahrscheinlichkeit, dass Ost-Jerusalem die Hauptstadt Palästinas wird, massiv geschmälert.

Ohne eine Teilung Jerusalems wird es nicht gehen. Das sagt die linkszionistische und feministische Politikerin, ehemalige Knesset-Abgeordnete und Publizistin Einat Wilf aus Tel Aviv. Sie ist eine vehemente Verteidigerin Israels und des Zionismus. Sie ist gegen ein palästinensisches Rückkehrrecht, das völlig absurd ist, da es nur noch einige wenige Zehntausend tatsächlich 1948 im Unabhängigkeitskrieg vertriebene Araber bzw. Palästinenser gibt – die sich mit der gesamten arabischen Welt einvernehmlich und aus purem Antisemitismus geweigert hatten, den UN-Teilungsplan anzunehmen -, die damals tatsächlich vertrieben wurden. Doch die Palästinenser und die UN-Flüchtlingsorganisation für sie, die UNRWA, sprechen von ca. 5 Millionen palästinensischen Flüchtlingen, da alle Nachkommen, also Palästinenser, die eigentlich als Franzosen oder Ameriker oder Deutsche 1974 oder 1987 etc. geboren wurden, als „Flüchtlinge“ gelten.

Der Backlash den wir in westlichen Demokratien und anderen Staaten seit vielen Jahren erleben, Trump in Amerika, Bolsonaro in Brasilien, Orbán in Ungarn, das Erstarken oder Erscheinen von extrem rechten Parteien im Parlament wie die AfD, dazu der Brexit in UK, aktuell die Anti-Abtreibungsdebatte am Supreme Court in den USA, antifeministische und reaktionäre Familienideologien allüberall, gerade auch bei jungen Frauen, dazu ein Erstarken der religiösen Parteien und Strömungen wie in Israel: All das hat z.B. die ehemalige und seinerzeit jüngste Knesset-Abgeordnete, die Linke Staff Shavir in ihrer Kritik am Status Quo betont. Sie ist bei der Kampagne #ourfutureIsrael des Israel Policy Forums mit dabei. Bei dieser Kampagne wenden sich „Millenial Zionists against Annexation“. In einem Videobeitrag, wo sie in ihrer Wohnung mit Klavier und Fahrrad mit ihren Kolleg*innen vom Israel Policy Forum spricht, betont sie diese rechten Tendenzen.

 

Ähnlich ist die linke Position der Politologin Einat Wilf. Sie möchte nur einen kleinen Teil Land der Westbank via Gebietsaustausch mit den Palästinensern annektieren (4 Prozent), die anderen Siedler*innen sollten ohne jede israelische Unterstützung bleiben oder eben – warum denn nicht, es leben auch ca. 2 Millionen Araber in Israel! – Bürger*innen des zukünftigen Staates Palästina werden. Doch aktuell ist das sehr weit weg, die Palästinenser müssten lernen, jüdische Bürger*innen zu akzeptieren. Und die Siedler*innen müssten die Palästinenser als Bürger*innen akzeptieren. Da ist viel antirassistische Arbeit vonnöten, die politische Kultur müsste sich hüben wie drüben ganz massiv ändern. Das ist ein langwieriger Prozess, der seit der Ermordung Rabins 1995 in die exakt falsche Richtung abbog.

Doch die Pro-Israel-Aktivist*innen in Deutschland, der Schweiz oder Österreich berichten darüber, über den gefährlichen Nationalismus und Rassismus in Israel kaum. Die innerisraelische bzw. israelisch-amerikanische Debatte wie beim Israel Policy Forum oder auch bei der Times of Israel wird weitgehend ignoriert.

Daher zitiere ich Einat Wilf zu diesem so heftig umstrittenen Fragenkomplex Siedlungen:

If I were tsar of Israel, I would immediately delineate Israel’s final eastern border in the following way: I would annex 4% of the West Bank—the 4% that includes large settlement blocs adjacent to the Green Line that are home to 75% of settlers, including Jewish neighborhoods of East Jerusalem (that is, not Ariel, Ofra, Bet El, nor Hebron). I would declare that this is Israel’s final eastern border and there are no territorial claims beyond it. I would acknowledge that we have a legal right and emotional historical connection to the area, but recognize that a competing collective has a similar claim, and I would renounce our territorial claim to that. East of that border, the military would stay as long as the Palestinians are at war with Zionism and the idea that the Jewish people have a legitimate right to self-determination in the land.

Einat Wilf ist vehement gegen das heutige, „vereinigte“ Jerusalem! Die beiden größten Gruppen in Jerusalem seien die Ultraorthodoxen und die Araber – beide Gruppen lehnen den Zionismus ab. Die wirklich coolen Leute wie Einat Wilf würden Gegenden in Israel bevorzugen, wo weniger gelogen wird – „vereinigtes Jerusalem“ ist wirklich eine Lüge, die meisten Ost-Jerusalemer*innen nehmen ja gar nicht an den Wahlen teil, was wäre, wenn sie es täten, ca. 40 Prozent der Bevölkerung von ca. 900.000?:

There is no more transparent political lie than that of “the united city of Jerusalem.” This statement may reflect the desires of certain Jerusalemites (and of some who don’t bother to live there), but it certainly has no relation to the reality of life. The city was, and remains, divided. Had Israel opted to annex the part of Jerusalem that was under Jordanian occupation between 1949-1967, an area six square kilometers in size, we might have had a unified city today. But the colossal mistake of annexing dozens of villages of the West Bank to create the huge jurisdiction of the Jerusalem municipality as it is today, guaranteed that there would be no “unification” between Jerusalem as it was pre-1967 and these villages.

The desperate efforts to create a façade of unification meant that Jerusalem descended into poverty and neglect. Jerusalem went from being a magnet to a “welfare town” in need of ever-growing assistance just to keep the lie of its failed unification from being exposed. The city got bigger, poorer and uglier, and remained stubbornly divided. Jerusalem today is a symbol and metaphor for a nightmare future for Israel – one in which too much territory is annexed in the name of an ideological lie. Then, partly due to this annexation, the two groups that reject Zionism – the ultra-Orthodox and the Arabs – become the majority, while the creative and productive Zionist forces flee to places where there is more openness and freedom, and less lying.

Ich kenne so viele Gruppen in Israel, den USA oder Deutschland und Europa, die aus sicher guten Motiven heraus für ein geeintes Jerusalem aktiv sind, aber kaum jemand von denen wurde in Jerusalem geboren, so wie Einat Wilf, und kennt die Situation ganz konkret vor Ort. Das heißt gar nicht, dass Wilf nicht auch Jerusalem auf ihre Weise liebt, das Herz der israelischen Demokratie, die Knesset, steht in Jerusalem, ebenso der Oberste Gerichtshof, die israelische Nationalbibliothek, die Hebräische Universität.

Die Holocaustgedenkstätte Yad Vashem liegt in Jerusalem.

Das Klima in Jerusalem ist durchaus angenehmer als in Tel Aviv oder der Küste, weniger schwül, dafür trocken und heiß, Jerusalem liegt auf ca. 800 Metern Höhe.

Begeistert teilte Gershom Scholem immer wieder mit, er habe seit Anfang Februar jeden Morgen seine geliebten frischen Erdbeeren genießen können. (Mayer 1997, S. 53)

Hans Mayer betont aber auch, dass er niemals auf den Tempelberg gegangen ist, der von den Römern im Jahr 70 zerstört worden war:

Den Tempelberg betrat ich nicht, auch später nicht bei den folgenden Besuchen in Jerusalem. Da gab es ein inneres Widerstreben. Das tut man nicht als Jude. Es bedarf keines ausdrücklichen Verbots. Ich hätte es auch niemals auf dem römischen Forum über mich bringen können, gleichzeitig durch den Triumphbogen des Titus zu spazieren, weil die römischen Bildhauer dort gezeigt hatten, wie man den siebenarmigen Leuchter aus dem zerstörten Tempel abtransportierte. (S. 19)

Bei den Israeli Policy Forum Broschüren, Texten und Kampagnen, bei Staff Shavir, der RAND-Studie zum israelisch-palästinensischen Konflikt oder auch bei den Texten von Einat Wilf oder schon zuvor bei einigen Passagen von Hans Mayer kann man einen Schwanengesang des Linkszionismus hören. Sicher wird Israel überstehen, militärisch ist es jeder Gefahr gewachsen, auch der iranischen. Aber die politische Kultur nimmt seit Jahren enormen Schaden, vom Nationalstaatsgesetz 2018 über die aktuelle Situation wie dem Tod von Abu Akleh und der Polizeigewalt auf ihrer Beerdigung in Jerusalem bis hin zum E1-Projekt in der Westbank.

Es muss weiter darum gehen, für ein zionistisches Israel zu kämpfen, für ein Israel Seite an Seite mit einem Israel akzeptierenden Palästina, damit wir weiterhin die trockene Hitze Jerusalems und die kühle Brise selbst im Sommer am Abend, den Duft des frischen Gebäcks nach dem Schabbes (Samstag Abend) und das wilde Tanzen auf dem Zion Square und seit einigen Jahren sogar eine Tram in Jerusalem – West-Jerusalem – genießen können.

Und doch kommen immer wieder und verschärft „Ausgrenzungs- und Verhetzungsstrategien“ zum Einsatz, wie Schrappe am Beispiel Corona und der Ukraine sagt. Das gilt auch für den israelisch-palästinensischen Konflikt. Kürzlich gab es in Israel die Diskussion über das Zeigen der palästinensischen Flagge. Dieses Zeigen war ja einer der Gründe, warum die Polizei so dermaßen aggressiv und würdelos auf die Sargträger am Tag der Beerdigung von Abu Akleh losgingen. Daraufhin betonten zionistische, gerade zionistische Publizist*innen, dass es doch absurd ist, wenn Israel überall in Israel seine Fahne zeigen darf – aber nicht in Ramallah oder den palästinensischen Gebieten. Wenn aber Israel eine Demokratie sein möchte, muss es eben dieses Zeigen einer palästinensischen Fahne aushalten, da ja das Ziel für jeden rationalen, im Sinne Israels denkenden Menschen weiterhin und ausschließlich die Zweistaatenlösung ist.

Ähnlich lief es bei der Corona-Krise. Die israelische Regierung reagierte so irrational, panisch und medizinisch nicht evidenzbasiert wie fast überall – und das entgegen den vielfältigen Ratschlägen von israelischen Epidemiolog*innen und anderen medizinischen Fachleuten. So wie in Deutschland die große und differenzierte Expertise von Prof. Matthias Schrappe und seiner Arbeitsgruppe gezielt von der Bundesregierung ignoriert, ja bekämpft wurde – und fast alle Medien machten dabei mit, Ausnahmen wie ZDF-Sendungen oder WELT-Artikel bestätigen nur die Regel -, so wurde in Israel z.B. das „Common Sense“-Modell im Januar 2021 abgelehnt und diffamiert.

Die zitierten „50 facts before the deal“ des Israel Policy Forums sind ein sehr interessanter und wichtiger Beitrag für eine reflexive, kritische, zionistische Israelsolidarität, die ebenso pro-palästinensisch ist.

Die Paradoxie oder geradezu Tragik könnte nun darin bestehen, auch darauf weisen die Autor*innen der zitierten Studien der RAND Corporation wie des Israel Policy Forums hin, dass durch die geradezu „tektonische Verschiebung“ (so Shira Efron) des Verhältnisses der arabischen Welt zu Israel mit der geplanten Aufnahme diplomatischer Beziehungen von den Vereinigten Arabischen Emiraten (UAE), Bahrain und Annäherungen auch an Marokko und andere arabische Staaten durch die „Abraham Verträge“ von 2020 die konkreten Friedenschancen Israels mit Palästina eher geschwunden sind.

Das mag am wachsenden Desinteresse der arabischen und muslimischen Welt (wie der Türkei, die sich Israel auch wieder annähert) an den Palästinensern liegen. Es wäre fatal, wenn die konkreten Vorschläge wie vom Israel Policy Forum, die ja sehr stark auf die amerikanische Israelpolitik zielen, ignoriert oder nur bruchstückhaft umgesetzt würden.

Es ist also mitunter gar nicht so schwer zu definieren, was Antisemitismus in Bezug auf Israel ist und was nicht:

  • es ist antisemitisch, Juden das Recht auf Selbstbestimmung im eigenen Staat Israel zu bestreiten.
  • es ist antisemitisch ein angebliches „Rückkehrrecht“ der Palästinenser zu vertreten, wie es die BDS-Bewegung tut, wobei so gut wie keiner der als „Flüchtling“ Kategorisierten ein Flüchtling ist (sondern syrischer, libanensischer, jordanischer, ägyptischer, deutscher, österreichischer, amerikanischer etc. Staatsbürger, de facto oder de jure).
  • es ist aber nicht antisemitisch, zu fordern, dass Israel einen Großteil der Westbank unverzüglich räumt, z.B. so wie es Einat Wilf vorschlägt – 4 Prozent annektieren und keinen Zentimeter mehr. 96 Prozent gehören den Palästinensern, plus Gaza.
  • es ist ebensowenig antisemitisch auf den Rechtsextremismus und anti-arabischen Rassismus in bestimmten Teilen Israels hinzuweisen, wie wir ihn zuletzt bei den schockierenden Parolen am Jerusalem Tag von extremistischen Juden („Death to Arabs„) im muslimischen Viertel der Altstadt Jerusalems hörten (danach forderten führende Politiker in Israel, die entsprechenden Gruppen als Terrorgruppen zu deklarieren). Die patriarchale Peinlichkeit, dass bei diesem Marsch Zehntausende jüdische Männer ohne Frauen laufen, wird in der vorgeblichen Pro-Israel-Szene auch kaum diskutiert.
  • es ist auch nicht antisemitisch, die Einseitigkeit und „lineare“ oder autoritäre, patriarchale Herangehensweise von Deals im Sinne Trumps und der israelischen Politik zu betonen.
  • schließlich ist es nicht antisemitisch, palästinensische Flaggen auch in Isreal zu erlauben, da dies einem starken und stolzen zionistischen, jüdischen und demokratischen Staat gut zu Gesichte steht. Nur weil in Ramallah keine israelischen Fahnen geweht werden können ohne in richtig große Schwierigkeiten zu geraten, kann das nicht heißen, dass Israel palästinensische Fahnen verbieten kann.
  • es ist hingegen sehr wohl antisemitisch, zu behaupten, wie es islamistische wie säkulare Antizionisten nicht selten tun, dass Juden keinen Bezug zum Land Israel hätten und als „Siedler“ angekommen seien, die dort imperialistische Politik betrieben. Juden waren offenkundig vor den Christen und noch viel früher als Muslime in Jerusalem und im heiligen Land.

Das ist nur eine sehr kleine Auswahl an aktuellen Beispielen, wie man den antizionistischen Antisemitismus in einigen Detailaspekten definieren könnte.

Die Analyse und Kritik des antizionistischen Antisemitismus wie von BDS wie aller anderen Formen des Antisemitismus wie der Holocaustleugnung oder -trivialisierung, aber auch dem Antijudaismus und der auch in linken wie bürgerlichen, konservativen und rechtsextremen Kreisen weit verbreiteten Ablehnung der Brit Mila, ist also weiterhin und seit einigen Jahren von ganz enormer Bedeutung.

Die Zunahme von antisemitischen Verschwörungsmythen gerade im Zuge der Coronapandemie ist ein Warnzeichen. Allerdings ist es auch üblich geworden, jedwede Kritik an der häufig irrationalen und medizinisch nicht evidenzbasierten Coronapolitik als antisemitisch oder von „Schwurblern“ herrührend, zu diskreditieren und diffamieren.

Es muss um eine Kritik am „linearen“, einfachen, widerspruchsfreien Denken gehen – sei es Corona, die Ukraine oder Israel. Das Leben ist zu widersprüchlich und kompliziert, als dass wir uns weiter von obsessiven Vereinfacher*innen und Nachbeter*innen in den genannten Bereichen beherrschen lassen sollten.

Am Beispiel Israel sollte es neben der Kritik am antizionistischen Antisemitismus gleichzeitig tatsächlich um das Wohlergehen des jüdischen und demokratischen Staates Israel und eine Zukunft für die Palästinenser gehen. Dazu muss man sich mit den aktuellen politischen Tendenzen in Israel kritisch befassen. Die zitierten 50 Punkte des Israel Policy Forum aus Washington, D.C., die erledigt werden sollten, bevor ein „Deal“ – eine Friedenslösung mit den Palästinensern – möglich ist, mögen dabei eine facettenreiche und am Alltagsleben der Menschen orientierte Option sein.

Ansonsten werden die Abraham Verträge von 2020 und viele weitere Fortschritte im internationalen Standing Israels leicht zu einem Schwanengesang werden, da die Lösung des Konflikts mit den Palästinensern, also das Ende der permanenten Bedrohung durch palästinensischen Terror und die Bedrohung der Palästinenser durch fortdauernde Siedlungspolitik und religiösen und maximalistischen politischen Fanatismus, in weite Ferne rücken.

Und wie Sie alle wissen:

Nach den Gesetzen einer antiken Rhetorik hat eine öffentliche Rede mit einer exhortatio zu enden, einer Ermahnung. (Mayer 1997, S. 171).

Und so hören wir angesichts der Corona-Krise, der Ukraine-Krise, dem „linearen“, autoritären, apportierenden ‚Denken‘ und angesichts von Israel Hans Mayer mit seinen letzten Worten aus seinen „Reisen nach Jerusalem“ von 1997 (S. 173):

Es gibt eine einzige Lehre, die man rückblickend für uns alle ziehen kann. Jeder von uns muß zu sich selbst finden. Zu seiner eigenen Identität. Er darf sich nicht willenlos und geistlos den Informationen und Desinformationen überlassen. Er muß, mit Immanuel Kant zu sprechen, die neue und diesmal verschuldete Unmündigkeit in sich bekämpfen.

Der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, Literaturpreisträger der Stadt Köln, hat vor zehn Jahren im Kölner Rathaus in seiner Dankrede von der allgemeinen Gefahr eines ’sekundären Analphabetismus‘ gesprochen. Diese Gefahr ist ständig größer. Sie bedroht bereits die Grundlagen des demokratischen Systems, weil immer weniger rationale Wahlen stattfinden, sondern statt dessen verlogene Bilder und Reizsprüche angeboten werden.

Manches mag man einwenden können gegen die These von Theodor W. Adorno, wonach wahres Leben überhaupt nicht mehr möglich sei in einem ‚Unwahren Ganzen‘. Eines aber ist sicher: keine Bilderflut einer Wegwerfgesellschaft und kein Fundamentalismus heiliger Krieger oder selbsternannter Propheten können jemals das Prinzip Hoffnung in uns allen widerlegen. Dieses Prinzip Hoffnung ist sehr einfach zu beschreiben:

Es ist einfach die Sehnsucht nach einem menschenwürdigen Leben.