Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Soziokultur

Hoffnung auf mehr „Staatsverdrossenheit“, auf einen Zahnarzt aus Rosenheim, garniert mit maskenfreiem Einkaufsvideo aus Schweden, dazu etwas „Möhre“ und „Echse“ als Kontrast zur Augsburger Puppenkiste

Von Dr. phil. Clemens Heni, 28. April 2021

In einem zentralen Artikel des Politologen Karl Rohe von 1987 geht es um das Spannungsverhältnis von Soziokultur und politischer Kultur der Interpretation.*

Das ist ein sehr interessantes Konzept, das grob gesprochen Folgendes meint: Es gibt in einer Gesellschaft politische Kämpfe um die Deutungshoheit. Sobald ein Thema oder ein Topos sich – auf welche Weise auch immer – durchgesetzt hat und Teil unseres Alltags geworden ist, wurde aus der „politischen Kultur der Interpretation“ die politische Kultur der „Soziokultur“.

Die Ökologie ist so ein Thema. 1972 beim ersten Bericht des Club of Rome haben die Industriegesellschaften (ob nun westlich-kapitalistisch oder östlich-staatssozialistisch) ökologische Themen kaum als relevant erachtet. Auch 1992 nach dem vorgeblichen „Ende der Geschichte“ und dem weltweiten Einheitskapitalismus bei der großen Umwelt-Konferenz in Rio war das noch nicht wirklich anders, trotz Tschernobyl, Bophal etc. Aber seither wurde das Thema Ökologie völlig mainstreamig. Heute ist noch jede Automobilindustrie, jede KohlebaggerGewerkschaft und jede Rüstungsfirma vorgeblich ökologisch und „klimaneutral“ orientiert.

Ein anderes Thema wären schwarzrotgoldene Unterhosen oder Dessous. Früher hätte dabei jeder an NPD-Ortsgruppenleiter und deren Evas gedacht, seit 2006 („Sommermärchen“) ist das kein Skandal mehr. Die deutsche Fahne ist so weit verbreitet, auf Milchtüten, Armbändchen und Schlüsselanhängern alternder SPD-Professoren und natürlich seit 2013 bei der AfD, schwarzrotgold wurde seit 1989 schrittweise von der politischen Kultur der Interpretation zur Soziokultur.

Ich habe den schwarzrotgoldenen Taumel im Juli 2006 als das nationale Apriori untersucht:

Schon seit Anfang der 1950er Jahre Adorno seine empirische Reise zu den post-nazistischen Deutschen unternommen hat – Schuld und Abwehr – ist bekannt, dass es keineswegs bei den (West)Deutschen nur um Holocaustleugnung geht. Gerade auch die Annahme der Schuld (“Wir Deutschen…” oder “Das macht uns so schnell keiner nach…”) an der Vernichtung der europäischen Juden war möglich, indem Beethoven, Kleist, Luther und Fontane, Sekundärtugenden, C.D. Friedrich und Verwandtes beschworen wurden. Später, in den 1980er Jahren, sagte der erste Vorsitzende der Republikaner, Franz Schönhuber, dass “Deutschland der Welt viel mehr geschenkt” habe, “als Auschwitz je kaputtmachen könnte”.

Was wir jetzt erleben, Ende April 2021, ist auch ein Wandel der politischen Kultur. Die politische Kultur der Interpretation, also die ‚Deutungsangebote‘ im öffentlichen Raum, transformiert sich zu einer Form der Soziokultur. Das könnte man an dem Wort „Krise“ zeigen. Es wird zunehmend von der „Demokratie-Krise“ oder der „Maßnahmen-Krise“ gesprochen und bei dem Wort „Krise“ nicht mehr primär an ein Virus gedacht, das mittlerweile gut erkennbar für fast alle, kaum jemanden trifft und selbst wer es bekommt, ist mal paar Tage schlapp, aber stirbt nicht. Corona kann gefährlich werden, wenn Sie sehr alt oder sehr vorerkrankt sind, wäre Corona eine echte Seuche, würden Sie diesen Text nicht einfach so lesen können, sondern die Leichen vor Ihrer Türe beseitigen müssen.

Das zeigt den wirklichen Fanatismus jener, die das Narrativ der Coronakrise seit März 2020 bestimmen: Die Regierungspolitik und die ihr hörigen Mainstreammedien.

Durch #allesdichtmachen sind diese Medien jetzt so blamiert wie nie zuvor. Die besten, die beliebtesten und bekanntesten Schauspieler*innen halten der zynischen Coronapolitik und den Medien den Spiegel vor – und der Mainstream dreht durch wie nicht mal 1977 oder 1968. Diese Schauspieler*innen sind enorm mutig, weil sie damit ja auch ihren Kolleg*innen zeigen, was sie denken und was an rationaler, evidenz basierter und demokratischer, zutiefst menschlicher, philosophisch-metaphysischer, psychologischer und kultureller Kritik an der Coronapolitik und an unserem Alltag alles möglich ist. Was für eine Blamage für all jene Tausenden TV-Darsteller*innen, die da nicht mit dabei sind!

Die Bündnisse, die sich jetzt auftun, sind so vielfältig wie selten zuvor – einige der bekanntesten und beliebtesten Schauspieler*innen des Landes, der Kabarettist Mathias Richling, die damals noch vereinzelte Kritik an der Coronapolitik wie von NENA nach der Demo in Kassel, konservative Familienunternehmer, liberale Geschäfteinhaberinnen, große Brauereien, Autohändler, Gaststätten und Hotelbesitzer*innen, die zuvor niemals politisch aktiv geworden wären – all diese ganz unterschiedlichen Menschen werden jetzt aktiv.

Damit ändert sich auch peu à peu die politische Kultur. Das Deutungsangebot der mehr oder weniger radikalen Gesellschaftskritiker*innen seit März 2020 an der Coronapolitik, also die politische Kultur der Interpretation setzt sich am Grund ab, sedimentiert sozusagen und wird zur Soziokultur.

Dass diese Verteidigung der Grundrechte von der wirklich völlig marginalen Position von März und April 2020, also von der politischen Kultur der Interpretation zur mainstreamigen Soziokultur geronnen ist, zeigt sich ganz deutlich in dem genialen Video der Schauspielerin Tina Maria Aigner, die veranschaulicht, dass unsere „Grundrechte“ eben von einem „Grund“ abhängen, der „Inzidenz, dem R-Wert“ und so weiter (wer zufällig seit März 2020 nicht auf diesem Planeten sich aufhielt und jüngst zurückkehrte, wird diese Worte nicht kennen):

In weiten Kreisen des Rosenheimer Einzelhandels regt sich jetzt auch Widerstand, von Leuten, von denen man das bis März 2020 niemals erwartet hätte – CSU-Wähler, SPD-Unterstützer*innen, vermutlich auch Freie Wähler, Grüne, Linke – Tausende Firmen stellen sich ganz offen und aktiv gegen die „Maßnahmen“. Das zeigt den Wandel der politischen Kultur.

Schauen Sie sich zum Beispiel dieses Video des Zahnarztes Dr. Georg Kustermann aus Rosenheim an:

Wir haben keine Coronakrise, sondern eine Maßnahmen-Krise –

der Titel bringt es exakt auf den demokratischen Punkt.

Dieser Arzt ist seit 28 Jahren in eigener Praxis Zahnarzt, ist einer von 241.000 Vollzeitbeschäftigten bundesweit in der Zahnheilkunde in Deutschland, die in der Berufsgenossenschaft gemeldet sind. Von diesen haben seit März 2020 nur 85 Personen einen positiven Test auf SARS-CoV-2 bekommen, wie er betont – 85 Leute. Das sind 0,03 Prozent aller Beschäftigten in der krassesten aller Aerosol-Industrie-Zweige:  Zahnarztpraxen. Keine Panik nirgendwo bei Zahnärzten. Er selbst hat in seiner Praxis seit März 2020 ca. 7500 Patientinnen und Patienten behandelt – und es passierte in dieser Mega-Seuchen-Zeit einfach nichts, niemand starb oder wurde schwer krank oder überhaupt krank. Wie wir wissen, haben Aerosole Panik vor Rolltreppen (und somit auch vor Kaufhäusern), aber nur selten kann man direkt mit der Rolltreppe in die Zahnarztpraxis fahren, was es also den Aerosolen so leicht macht, in die Münder der Patient*innen in Zahnarztpraxen zu hüpfen – und: Es passiert buchstäblich nichts. Niemand wird krank oder stirbt beim Zahnarzt wegen Corona.

Wie Sie sich vorstellen können, behandeln die meisten Zahnärzte nur Patientinnen und Patienten, die keine Maske tragen. So eine Behandlung kann locker eine Stunde dauern, mitunter auch länger. Da sich diese Viren im Rachenraum aufhalten, sind die Zahnärzte nicht nur in der Corona-Krise irgendwie „dabei“, sondern „mittendrin“, wie Kustermann ironisch betont.

Auch als Zahnarzt bekommt er täglich die Klagen der Patient*innen, die einfach am Ende sind mit den Nerven.

Es gibt keinerlei medizinische Krise, da können Intensivmediziner heulen und schwätzen, wie sie wollen – es gab schon immer volle ICUs, 2018 und immer wieder. Dass es dort stressig ist, liegt zu 100 Prozent am kapitalistischen Gesundheitssystem, das auf Profit ausgerichtet ist. Das Problem heißt Jens Spahn (CDU), zuvor Ulla Schmidt (SPD), das Problem heißt Fallpauschale, Kosten-Nutzen-Rechnung und so weiter. Ivan Illich könnte noch viele weitere Aspekte hinzufügen, ich vermisste sein Wissen nie so sehr wie seit 2020.

Der Zahnarzt Dr. Georg Kustermann ist Teil einer größeren Initiative aus Bayern und Rosenheim – wir stehen zusammen -, da sind wirklich ganz unterschiedliche Leute mit dabei, die sicher großteils gar keine Radikalinkis sind, dafür teilweise sogar Franz-Josef Strauß Anhänger, manche haben so urkomische bayerische Kleidungsstücke am Körper dran pappen, aber egal. Es sind alte und junge Unternehmer aller Couleur, sie eint die Kritik am Corona-„Wahnsinn“, an „Merkel und Söder“. Der Donaukurier schreibt:

Eines der Gesichter hinter dem Projekt ist Florian Unterleitner. Er hat die Initiative ins Leben gerufen und arbeitet für die Kaffeerösterei Dinzler in Irschenberg (Kreis Miesbach) mit gut 200 Angestellten. „Wir haben mehrfach an Politik und Presse geschrieben. Immer mehr Firmen müssen um ihre Existenz bangen. Mitte Februar war der Moment gekommen, wo wir gesagt haben, der Punkt, an dem es nicht mehr geht, ist erreicht“, sagt er gegenüber unserer Reaktion.

(…)

Zu Beginn, so schildert Unterleitner weiter, standen rund 170 Unterstützer aus den Kreisen Miesbach und Rosenheim. „Wir wollten vor allem in unserem Einzugsgebiet etwas bewirken. Aber wir haben schnell überregional Zuspruch gefunden. “ Mittlerweile haben fast 2700 Unternehmen und Betriebe den Brief unterzeichnet und sich mit der Initiative solidarisiert. „Und man kann sehen, dass es nicht nur verzweifelte Einzelhändler und Gastronomen sind“, so der Initiator.

Ganz anders schaut es im Bayerischen Kultusministerium aus. Dieses hat ein Video der Augsburger Puppenkiste finanziert oder produzieren lassen, das bislang knapp 1,3 Millionen Kinder und Erwachsene gesehen haben, das so schamlos Propaganda macht für vorsätzliche Körperverletzung (testen bzw. selbsttesten) und so völlig offen zum Nicht-Nachdenken aufruft, ja Kinder indoktriniert, dass der Hamas im Gazastreifen oder alten Kämpfern hierzulande das Wasser im Munde zusammenlaufen dürfte:

Dr. Kasperls Coronatest-Anleitung.

Als Kritik daran gibt es ein Puppenkisten-Video der Echse, die sich entgegen der Bayerischen Staatsregierung für die Demokratie einsetzt:

Dr. Kasperl & Die Echse „Demokratietest-Anleitung“.

Das ist echte selbst durchdachte Kunst, das ist Freiheit der Kunst und das ist Ironie. Mit Ironie konnten die Deutschen noch nie etwas anfangen, was ja der unfassbare Shitstorm vom WDR über alle Medien bezüglich der besten und mutigsten und demokratischsten und witzigsten Schauspielerinnen und Schauspieler, die dieses Land immer noch hat – #allesdichtmachen -, zeigt.

Dazu hat auch die Möhre bissle was Lustiges zu sagen.

Jetzt wurden die privaten Räumlichkeiten eines Weimarer Amts- und Familienrichters durchsucht, weil er ein kritisches Urteil über Masken und Abstand und zur Coronapolitik gefällt hat. Ob er juristisch richtig liegt, werden im Zweifelsfall nicht Gerichte zeigen, sondern erst der Rückblick und die Urteile von Historiker*innen in Jahrzehnten, da aktuell offenbar mit keiner objektiven Gerichtsbarkeit zu rechnen ist, denn da, wo sie auftritt, die rationale Gerichtsbarkeit wie in Weimar oder Weilheim bei München, da tobt der Staat. Gewaltenteilung? Gewaltenteilung bei einem Bundesverfassungsgericht, dessen Präsident über 10 Jahre für die CDU im Bundestag saß, den also seine Kumpels zum Richter in Karlsruhe wählten? Der wird nie im Leben rational und seine alten CDU-Kumpel brüskierend, verfassungskonform urteilen, das jedenfalls ist die Befürchtung vieler demokratisch gesinnter Bürgerinnen und Bürger.

Das Allerbeste und Hoffnung verheißende hingegen ist ein ganz alltägliches Video aus Schweden, eine Affirmation der Konsumwelt, die uns doch in diesen Zeiten Freiheit verspricht – hätte ich jemals im Februar 2020 oder im Frühjahr 2002 gedacht, ein Video über eine alltägliche Einkaufssituation in Schweden zu posten?

Sweden, Stockholm Walks: Hötorgshallen/Haymarket, a food hall in the center of Stockholm.

Man wird mit diesen kurzen Video minutenlang durch eine Art Markthalle geführt, ähnlich wie viele Kaufhäuser hierzulande oft solche Lebensmittelstände und Essbereiche im Erd- oder Untergeschoss haben (Beispiel: Karstadt Hermannplatz Berlin-Kreuzberg, oder Kaufhof Stuttgart am Tagblattturm oder Kaufhof Essen, den es mal gab, so 1993, als wir von der lustigen Antifa den nicht weit entfernt stattfindenden Weihnachtsmarkt ‚besuchten‘ – Sie werden solche großen Markthallen auch in Ihrer Stadt oder Großstadt in Kaufhäusern oder Arkaden oder wo immer finden).

In diesem Video aus Schweden von April 2021 sind so gut wie alle Menschen ohne Maske und ohne Abstand unterwegs, fröhlich, entspannt, alltäglich – so etwas gibt es in Deutschland seit Ende März 2020 nicht mehr. Ähnliche Videos finden Sie aus Florida oder Texas, Georgia und so weiter, also in US-Bundesstaaten, wo es noch Verhältnismäßigkeit, Rationalität und Demokratie gibt.

Ja, viel mehr noch: Schweden hat aktuell, Stand 27. April 2021, viermal weniger C-Tote als Deutschland. Viermal weniger Tote – und das gerade ohne jeden Lockdown, mit offenen Schulen, offenen Restaurants, offenen Kinos und Theatern, offenen Läden aller Art, einfach ein fast normales Leben (nur Großkonzerte etc. gibt es noch nicht). Schweden wird für alle Zeiten der Beweis sein, dass ein europäisches Land demokratisch bleiben und die Würde des Menschen auch in Krisenzeiten bewahren kann.

Das ist ein unglaubliches Zeichen der Souveränität und Selbständigkeit, angewandte Public Health, rationales Handeln statt irrationaler Panik. Danke, Schweden.

Hier sind die Zahlen für Schweden im Vergleich zu Deutschland, was die Toten „an“ oder auch nur „mit“ Corona seit dem 10. Januar 2021 betrifft – das war der Höhepunkt der Todeszahlen in Deutschland.

7-Tages-Schnitt der Toten „an“ oder „mit“ Corona (da Schweden 8,3 Mal weniger Einwohner*innen hat als Deutschland, stehen in Klammern die hochgerechneten Todeszahlen, also die absolute Zahl in Schweden multipliziert mit 8,3):

10.1.21            1.2.21            1.3.21          27.4.21

GER             905                 713                  308            230

SWE            92 (763)         54 (448)     20 (166)     7 (58)

Man sieht, dass in Schweden seit Januar 2021 viel weniger Menschen „an“ oder „mit“ Corona sterben als in Deutschland. Ende April 2021 sind es vier Mal weniger Tote in Schweden als in Deutschland.

Der Verfassungsschutz hingegen ist jetzt total hilflos. Was macht man mit Franz Josef Strauß Anhängern (wie im Video aus Rosenheim), die de facto Seite an Seite mit unabhängigen Intellektuellen oder mit organisierten „freien Linken“ sowie BASIS-Aktivist*innen und links-liberalen Mainstream-Schauspiel-Superstars wie Ulrich Tukur, Nina Proll oder Jan Josef Liefers gemeinsame Sache machen gegen die irrationale, nicht evidenz basierte und völlig unverhältnismäßige Coronapolitik?

Das was heute aus wirklich allergrößter Hilflosigkeit vom VS als „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ bezeichnet wird, hieß früher „Staatsverdrossenheit“. Der Staat weiß, jedenfalls im Vieraugen-Gespräch oder beim schallenden Lachen im abhörsicheren Keller ganz genau: Merkel, der VS, Scholz und Spahn, Söder, Laschet und Baerbock haben verloren.

Es ist aus! Das Corona-Regime ist moralisch am Ende. Das merken Konservative, Liberale, Linke, Demokraten aller Couleur, Einzelhändler*innen, Restaurantbetreiber*innern, Sportstudiobetreiber und Theaterleute aller Art, das zeigen diese historischen und sensationellen 50 Videos von #allesdichtmachen.

Das war der Punkt, an dem die gut 12-monatige politische Kultur der Interpretation – pro und contra Corona-Maßnahmen – zur politischen Soziokultur nach Karl Rohe geworden ist, das also ist angewandte oder operationalisierte Politikwissenschaft:

Jetzt ist es Mainstream, mit Jan Josef Liefers sich ironisch bei Merkel und der Regierung zu bedanken.

Jetzt ist es Mainstream, sich bei Altmaier zu bedanken für die Zerstörung des Einzelhandels.

Jetzt ist es Mainstream, sich bei Grütters für das Ende der Kultur sarkastisch zu bedanken und

jetzt ist es Mainstream, sich mit Felix Klare an das Strammstehen der Kinder zu erinnern, wenn der Vater zur Türe hereinkam und das Einfordern einer Erziehung zu „Disziplin und Hygiene“.

Jetzt ist die Zeit der Kritik, die Zeit der Distanz, der Ironie, des Zusammenstehens gegen den Wahnsinn, jetzt ist die Zeit für radikale Kritik aller Art.

Die Coronapolitik-Kritik hat gewonnen – das wird Merkel nie zugeben, sie weiß es aber, sie hat verloren. Sie wollen das Land noch viele Monate gefangen halten, quälen, ja psychisch foltern, einsperren und zurechtweisen, aber sie haben verloren, die bedingungslose Kapitulation wird kommen. Schweden zeigt ja, dass es besser dasteht als Deutschland, Florida und Texas besser als New York oder New Jersey, Sie wissen das alles.

Diese 50 Videos und groß angelegte lokale Initiativen wie in Rosenheim – Rosenheim ist überall – zeigen, die politische Kultur hat sich gewandelt. Ohne all die vielen Tausenden, ja Hunderttausenden Demonstrant*innen und Blogger*innen, YouTuber*innen wäre das nicht denkbar gewesen, ohne hier jemals all die Spinner und teils gefährlichen antisemitischen Verschwörungstrottel, die am Rande immer auch mit dabei sind, zu ignorieren, ich hab ja ausführlich und detailliert regelmäßig über sie berichtet.

Aber die Kritik hat erreicht, dass wir niemals im gesamten öffentlichen Raum Masken tragen mussten, dass wir niemals eine Ausgangssperre auch tagsüber hatten (wie sie sicher nicht nur die Inkarnation des Rohrstocks der 1950er Jahre, Winfried Kretschmann aus dem Ländle, gerne gehabt hätte) – das war alles im Bereicht des totalitär Möglichen (schauen wir nach Italien, Israel, Frankreich, Spanien). Das war also schon seit Frühjahr 2020 ein Erfolg der vielfältigen Demonstrationen und auch der publizistischen Proteste von Jurist*innen, Historiker*innen und Sozial- und Geisteswissenschaftler*innen.

Jene Irrationalist*innen, die jetzt einen „Pflichtdienst“ auf Intensivstationen einfordern für die Kritiker*innen der irrationalen und medizinisch nicht evidenz basierten Coronapolitik, zeigen nicht nur ihre Fratze, sondern vor allem ihren autoritären und antidemokratischen Charakter. Wenn Deutschland aktuell überhaupt keine echte Krise hat auf Intensivstationen, was jeder seriöse Intensivmediziner bestätigen wird, da ja die absolute Zahl der Intensivpatienten seit einem Jahr fast exakt gleich bleibt – was dann?

Gäbe es eine echte Krise, müssten erstmal wenigstens 100 oder 76 der angeblichen 10.000 Notfallbetten Verwendung finden oder die immer noch freien ca. 3000  bereits mit Laken bezogenen ’normalen‘ ICU-Betten, doch das passiert nicht – warum also das panische und absurde, durchschaubare Rumgeschreie von den irrationalen Intensivmediziner*innen, die keineswegs für alle Intensivmediziner*innen sprechen?

Wie kann es eine Krise sein, wenn die Gesamtzahl aller Intensivpatient*innen seit über einem Jahr so gut wie gleich bleibt, nämlich bei 20.000 bzw. 21.000? Das hat der immer größer werdende denkende Teil der Bevölkerung entgegen den Mainstreammedien längst durchschaut.

Schweden hat zudem deutlich weniger Intensivbetten und trotzdem aktuell vier Mal weniger Tote als Deutschland. Auch das sagt viel aus über die völlige Unprofessionalität deutscher Krankenhausgesellschaften und führender deutscher Intensivmediziner*innen.

Niemand hat der Demokratie, dem Rechtsstaat und somit der Legitimität von Maßnahmen aller Art in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mehr Schaden zugefügt als Merkel, Scholz und alle 16 Landesregierungen, so gut wie alle Gerichte, Polizeibeamte (es gibt Ausnahmen, siehe jene berühmte Polizistin in Kassel!) und so gut wie alle Mainstreammedien und bestimmte Teile der Bevölkerung (die Reicheren, Etablierteren mit gesicherter staatlicher Alimentierung, Lehrer*innen (FAST alle, aber es gibt sehr rühmliche Ausnahmen), Professor*innen und Dozent*innen, städtische und staatliche Angestellte aller Art, Hartz4-Aufstocker alias ZDF-Heute-Show-Hilfssheriff etc.).

Daher abschließend bezüglich der jetzt beim VS mit Sorge betrachteten verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates ein Zitat des Philosophen und Psychologen Ulrich Sonnemann (1912-1993), das 1968 bei Suhrkamp publiziert wurde, als dieser bekannteste und renommierteste deutsche Verlag noch kritisch war und Teil der 68er Bewegung:

Wer es war in der Bundesrepublik, der Staatsverdrossenheit in Zirkulation setzte, blieb unermittelt, man hört es noch nicht lange, zunehmend seit ungefähr einem Jahr; die Handelnden führen das Wort im Mund, der Erbaulichkeitshandel, der ihre Apologien vertreibt, längst auf Lager. (…)

Die von jeher dünne, nun durchschlissene Rede vom Negativismus, die ihren Habitués sinkende Erträge bringt, schon bei aufgeweckten Schulkindern nicht recht zieht, ersetzt mit dem neuen Wort eine flotte, verstehende Väterlichkeit, die dem Regierungschef ähnlich sieht und dreierlei gleichzeitig kann:

sie subjektiviert Staatsverdrießlichkeit in eine Stimmung, Gemütsverfassung, also in etwas, das der Verdrossene sich selbst zuzuschreiben hat und das notfalls behandelbar ist;

sie läßt ihm die Hoffnung, durch Selbstzucht oder solche Behandlung doch noch staatsfreudig zu werden;

und sie ist pädagogisch so zart, ihre Eskalierung zur Staatsfeindlichkeit, diesem erinnerungsvollen Terminus unserer Nationalgeschichte, nur als Möglichkeit durchblicken zu lassen, bis zur Erschöpfung öffentlicher Langmut humanerweise nicht zu beinhalten: zur Irreführung der Studenten, da bei Wahrnehmung ihres Demonstrationsrechts die Eskalierung bereits jetzt sich vollzieht.

 

 

*Karl Rohe (1987): Politische Kultur und der kulturelle Aspekt von politischer Wirklichkeit, in: Dirk Berg-Schlosser/Jakob Schissler (Hg.) (1987): Politische Kultur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 18, S. 39–48.

 

Das nationale Apriori: Wie aus der BRD endgültig ‚Deutschland‘ wurde

Original auf www.hagalil.com, 07.07.2006

Das Nationale ist zum deutschen Apriori geronnen. Während die NPD und andere Nazis jahrzehntelang für das massenhafte Tragen von Deutschlandfahnen, Wimpeln, schwarzrotgold umrandete Untertassen und andere Embleme ‚der Deutschen‘ geworben haben, schweigt diese Partei heute, fast.

Zu sehen sind nun die propagierten Accessoires in Millionenausfertigung, ganz Deutschland schwelgt, klatscht, schreit, jubelt und singt „blühe deutsches Vaterland“ wie früher nur die NPD im Hinterstübchen der Deutschen Klause in Delmenhorst (bzw. zeitgleich die SED, die vom „sozialistischen Vaterland“ sprach).

Ein deutscher Stürmer, Podolski, hat die Strophen der Nationalhymne in seinen Fußballschuh, in das Leder einschreiben lassen. Jetzt ist die Fanmeile in Berlin am Brandenburger Tor (das ja jetzt geöffnet ist) zur einhellig getätschelten „patriotischen“ Liebeserklärung geworden, ohne Wenn und Aber, eine Art Bildzeitung in Riesenformat. Wenige Hundert Meter weiter liegen die neu-deutschen Frauen im schwarzrotgoldenen Bikini im Liegestuhl am Holocaust-Mahnmal – tote Juden als Aussichtspunkt des Neuen Deutschland; diese ach so friedlichen ‚Jungdeutschlandregimenter‘ setzen des Altkanzlers Schröders Wort vom Holocaust-Mahnmal als „Ort, an den man gerne geht“, lediglich in die Praxis um.

Schon seit Anfang der 1950er Jahre Adorno seine empirische Reise zu den post-nazistischen Deutschen unternommen hat – Schuld und Abwehr – ist bekannt, dass es keineswegs bei den (West)Deutschen nur um Holocaustleugnung geht. Gerade auch die Annahme der Schuld („Wir Deutschen…“ oder „Das macht uns so schnell keiner nach…“) an der Vernichtung der europäischen Juden war möglich, indem Beethoven, Kleist, Luther und Fontane, Sekundärtugenden, C.D. Friedrich und Verwandtes beschworen wurden. Später, in den 1980er Jahren, sagte der erste Vorsitzende der Republikaner, Franz Schönhuber, dass „Deutschland der Welt viel mehr geschenkt“ habe, „als Auschwitz je kaputtmachen könnte“.

Vom holocaustleugnenden Konjunktiv ganz zu schweigen spricht Schönhuber hier eine deutsche Befindlichkeit aus, welche die letzten 20 Jahre, nach der ‚Wiedervereinigung‘ und verschärft seit Rot-Grün 1998ff., immer mehr Einfluss gewinnt, ja von einem Bestandteil rechtsextremer ‚Deutungskultur‘ (Karl Rohe) zu einer gesamtgesellschaftlichen ‚Soziokultur‘ geronnen ist. Wissenschaftstheoretisch ist dabei das Paradoxon zu analysieren wie gerade eine Abkehr von Nationalgeschichte einer Verharmlosung und Universalisierung der spezifisch deutschen, präzedenzlosen Menschheitsverbrechen Vorschub leistet.

An sieben Punkten werde ich darstellen, wie sich diese Bewusstseinslage oder Befindlichkeit, die neue deutsche Ideologie äussert und was daran bemerkenswert ist.

1) Ein deutsches Graduiertenförderungswerk, 2002: ein Küchlein mit Folgen

Als Ausgangspunkt mag ein Treffen von Nachwuchswissenschaftlern, alles StipendiatInnen eines großen Graduiertenförderungswerkes, von Juli 2002 dienen. Dort hat ein kleines Küchlein, ein am Bahnhof gekaufter Muffin mit Mini-US-Fahne dazu geführt, die Fronten zu klären. Eigentlich als Zuckerl gedacht, entpuppte sich das Gebäck zu einem Objekt der Abwehr seitens typisch deutscher, linker JungakademikerInnen, die dieses US-Fahne – nach 9/11 zumal – unerträglich fanden. Zufällig wurde zu dieser Zeit im TV ein Interview Michel Friedmans mit dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon gesendet. Lediglich zwei der 17 Teilnehmenden hatten daran Interesse, die anderen pflegten ihre Ressentiments gegenüber Juden im Allgemeinen, Israelis im Besondern.

Wohlgemerkt: die Stimmung war schon so deutlich gegen Friedman, dass Möllemanns Flugblatt von September 2002 zur Bundestagswahl, auch gewisse Töne dieses Treffens vornehmlich linker, durchaus gewerkschaftsnaher Akademiker aufgreifen konnte. Dass es genau diese Stiftung bzw. ihre Doktoranden war, die wenige Monate später einen handfesten Antisemitismus-Skandal erlebte (als dessen Konsequenz immerhin eine Tagung zur Kritik des linken Antisemitismus stand), als ein migrantischer Doktorand nassforsch antiisraelische Töne durchs weltweite Netz jagte, überrascht nicht mehr. Fazit: Ressentiments gegen kleine amerikanische Fahnen, Juden und Israelis gehörten zum guten Ton dieses akademischen Nachwuchses. Das führt mich zum zweiten Beispiel.

2) Ein weiteres deutsches Graduiertenförderungswerk, Juni 2006: ich bin deutsch und was bist du?

Mitten in der nationalen Paranoia im Juni 2006, als Siege der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen schwache, schwächste oder unmotivierteste Teams die Stimmen der Moderatoren sich überschlagen und Millionen von Individuen zu einer homogenen Masse zusammenfinden lässt, eine weitere Tagung eines anderen, kleineren Graduiertenförderungswerks. Zu einem Spiel der deutschen Mannschaft wurde extra Party-Material gekauft, um einen Raum zu schmücken. Nicht etwa, um allgemein Fußball-Fan-Artikel der WM ganz allgemein zu drapieren, nein: ausschließlich schwarzrotgold war angesagt, noch nicht einmal die Farben der gegnerischen Mannschaft waren im Horizont der Vorbereitungsgruppe dieses Abends.

Erwachsene Akademiker malten sich mit Schminke die Farben des ‚deutschen Vaterlandes‘ ins Gesicht – wie sollen diese Persönchen in Zukunft noch ernst genommen werden als Wissenschaftler, Intellektuelle gar oder einfach nur interessante Individuen? So etwas war noch vor 12, 8 oder auch 4 Jahren undenkbar.

Dass keineswegs nur typische, ich-schwache und autoritär sozialisierte Personen dazu neigen sich mit einer Nation zu identifizieren, zeigen solche Beispiele wie auch die folgenden. Gleichwohl ist jede nationale Identifikation in Deutschland Zeichen eines persönlichen Defizits, das zu kompensieren aufgebrochen wird.

3) Walk of Ideas, Berlin 2006

Mitten in Berlin stehen sechs mega große Skulpturen, die zeigen sollen, dass Deutschlands „größtes Kapital“ „die Ideen der Menschen“ seien. Erfindungen werden hier nicht als Erbe der Menschheit, vielmehr als nationales Gut, als ‚volksmässig‘ akkumuliertes Kapital betrachtet. Vom Automobilismus, der Medizin, der unvermeidlichen Bemächtigung Einsteins Relativitätstheorie über den Fußballschuh, der Musik hin zum Buchdruck.

Letzterer ist ein gutes Beispiel, wie Deutschland heute funktioniert:

„Die Verbreitung des gedruckten Wortes beschleunigte Reformation und Aufklärung und unterstützte die Alphabetisierung. Dichter und Denker nutzten die neue Technik und ließen die deutsche Buchlandschaft erblühen – Zensur und Barbarei hätten sie fast zerstört: Am 10. Mai 1933 verbrannten Nationalsozialisten überall in Deutschland Werke moderner und regimekritischer Autoren. Die Bücherverbrennung setzte 500 Jahren deutscher Buchkultur ein vorläufiges Ende.“

So steht es auf einer Tafel zu dieser Skulptur am Bebelplatz in Berlin, Unter den Linden. Da stutzt man gewaltig: die Bücherverbrennung als „Ende“ „deutscher Buchkultur“? Waren die Werke Carl Schmitts, Richard Euringers, Eberhard Wolfgang Möllers, Martin Heideggers oder Erwin Guido Kolbenheyers nicht gedruckt worden in den Jahren 1933–1945? Was verbirgt sich hinter der Chiffre „moderner und regimekritischer Autoren“?

Wenn die Werke Heines aus dem 19. Jh. verbrannt wurden, wurde dann ein „NS-regimekritischer“ Autor verbrannt? Typisch ist die Auslassung des Antisemitismus, der jedoch de facto in Goebbels hetzerischer Ansprache an jenem 10. Mai 1933 auf diesem Platz deutlich zu hören war, als er vom „jüdischen Intellektualismus“ sprach, der ein Ende nehmen müsse. Dass sich gerade die Deutschen über die Jahrhunderte hinweg gerade nicht als Gesellschaft, die Büchern aufgeschlossen gegenüber steht, entwickelt hat, vielmehr Juden als Vertreter einer „Buchkultur“ oder „Gesetzesreligion“ angeprangert wurden, wird einfach derealisiert.

Wer sich die Geschichte des Antiintellektualismus anschaut, d.h. insbesondere die bis heute prägende Studie von Dietz Bering von 1978, weiß, dass der Affekt gegen das Buch in Deutschland von links bis rechts Tradition hat. Die Skulptur des Jahres 2006 suggeriert den Millionen Besuchern Berlin bzw. der Bundesrepublik: fast wäre das Buch an sich zugrunde gegangen, aber es ging noch mal gut. Dazu gesellt sich natürlich das Automobil, unter Hitler wären es die Autobahnen gewesen, welches der Welt vor dem Brandenburger Tor präsentiert wird.

Dass Audi, deren Modell nun überdimensional vor dem Brandenburger Tor steht, heute eine Tochter des Volkswagenkonzerns ist, der 1938 in der „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ gegründet wurde, wird klammheimlich bejaht, ja verbreitet Stolz im Neuen Deutschland wie annodazumal.

4) „Die Nazis wurden doch sportlich, 1936!“ Neu-deutsche Wissenschaft als Rehabilitierungsübung für den Nationalsozialismus

Auch in der Wissenschaft ist seit Jahren ein Trend bemerkbar, den Nationalsozialismus als ganz normale Gesellschaft – hier am Beispiel des Sport – darzustellen, Antisemitismus und Volkstumsideologie werden entweder offen oder subkutan affirmiert. Dazu dient als brillantes Beispiel die häufig zitierte und auch von linken Zeitschriften wie Konkret positiv angeführte Historikerin Christiane Eisenberg, die insbesondere deshalb in gewissen Kreisen einen Namen hat, weil sie Fußball-Analyse als wissenschaftliche Disziplin anerkannt habe.

Wichtig für ein Verstehen Ihres Ansatzes ist der Kulminationspunkt ihrer Habilitationsschrift aus dem Jahr 1997, eine Analyse der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin. In dieser Schrift versucht sie zu zeigen, wie Deutschland durch den Sport eine bürgerlich(er)e Gesellschaft nach dem Vorbild Englands wurde, die Studie heißt auch entsprechend „“English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939″.

Eisenberg versucht dem Sport ein Eigenleben auch und gerade unter den Bedingungen eines Herrschaftssystems wie dem Nationalsozialismus, welchem damit gleichsam ein ganz normaler Platz im Pantheon der (Sport-)Geschichte gesichert werden soll, zuzugestehen.

„Für die Atmosphäre der Spiele war es darüber hinaus von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß es reichlich Gelegenheit zur internationalen Begegnung und freien Geselligkeit außerhalb der Arenen gab. Gemeint sind hier weniger die Restaurants auf dem Reichssportfeld und auch nicht die zahllosen Empfänge und Partys der Nazigrößen. Das Urteil gründet sich vielmehr darauf, daß der Großteil der männlichen Athleten in einem Olympischen Dorf untergebracht wurde, so wie es erstmals bei den vorangegangenen Spielen in Los Angeles 1932 versucht worden war. Hatte das OK [Olympische Komitee C. H.] zunächst geplant, dafür eine bereits bestehende Kaserne zu renovieren, so ergab sich 1933 auf Vermittlung Walter v. Reichenaus die Chance, Neubauten zu bekommen. In der Nähe eines Truppenübungsplatzes in Döberitz/Brandenburg wurden in einem landschaftlich reizvollen Gelände 140 ‚kleine Wohnhäuser‘ für das Infanterie-Lehrregiment gebaut, deren Erstbezieher 3.500 Sportler wurden. Es gab Sporthallen, ein offenes und ein überdachtes Schwimmbad, Spazierwege, Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen. Zu den Gemeinschaftsräumen gehörten eine vom Norddeutschen Lloyd bewirtschaftete Speiseanstalt mit internationaler Küche und ein Kino.“

Eisenberg will einer neuen Sicht auf den Nationalsozialismus den Weg ebnen. In gezielter Negierung gesellschaftlicher Totalität isoliert sie Momentaufnahmen aus ihrem Kontext, um deren Allgemeingültigkeit, ja Universalität, kurz, das moderne Moment zu würdigen. Denn „Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen“ sind ja eine feine Errungenschaft, in Berlin 1936 wenigstens so lobenswert wie in Los Angeles 1932, will sie suggerieren.

Sie kritisiert die kritischen Reflexionen und Analysen bekannter und renommierter Sportwissenschaftler wie Hajo Bernett, Thomas Alkemeyer oder Horst Ueberhorst. Auch die Untersuchungen des Politikwissenschaftlers Peter Reichel über den Schönen Schein des Dritten Reichs qualifiziert Eisenberg ab:

„Diese Interpretation der Spiele vermag aus drei Gründen nicht zu überzeugen. Erstens ist das zugrundeliegende Argument methodisch fragwürdig, weil es nicht falsifizierbar ist. Wer immer das Gegenteil behauptet, daß Berlin 1936 ein Ereignis sui generis und der schöne Schein auch eine schöne Realität gewesen ist, riskiert es, als Propagandaopfer abqualifiziert zu werden.“

Die Olympiade in Berlin 1936 sei ein ‚Ereignis‘ ’sui generis‘ gewesen, gleichsam eine ’schöne Realität‘. Diese positivistische Abstraktion von jeglicher Gesellschaftsanalyse ist für nicht geringe Teile der Mainstream-Wissenschaft typisch. Ihre Argumentation steigert Eisenberg noch, indem sie Reichels Analyse im Reden von den vermeintlichen ontologischen Zwittern Sport und Propaganda untergehen lässt:

„Zweitens ist das Argument unergiebig, weil Sport und Propaganda wesensverwandt sind. Beide sind nach dem Prinzip der freundlichen Konkurrenz strukturiert, beide verlangen von den Akteuren eine Be-Werbung um die Gunst von Dritten (‚doux commerce‘). Daß dabei geschmeichelt, poliert, dick aufgetragen, ja gelogen und betrogen wird, überrascht niemanden, weder in der Propaganda noch im Sport. Olympische Spiele sind, so gesehen, immer Illusion und schöner Schein; eben das macht ihre Faszination aus. Daraus zu folgern, daß Berlin 1936 eine umso wirksamere Werbemaßnahme für den Nationalsozialismus gewesen sein müsse, wäre jedoch kurzschlüssig. Denkbar wäre auch, daß Nutznießer der Propaganda der Sport war. Diese Möglichkeit hat jedoch noch keiner der erwähnten Autoren geprüft.“

Eisenberg will sagen: So schlimm kann der Nationalsozialismus doch nicht gewesen sein, wenn ein so zentrales Moment für moderne, freizeit- und spaßorientierte Gesellschaften wie der Sport, gar ein ‚Nutznießer‘ dieses politischen Systems war. Diese eben zitierte Passage ist Ausdruck eines Wandels politischer Kultur in der BRD. Ungeniert lässt sie den Nationalsozialismus, am Beispiel der Olympischen Spiele von 1936, im Kontinuum bürgerlicher Gesellschaft, die eben im Sport ‚wesenhaft‘ lüge, dick auftrage und schmeichele, aufgehen.

Wie soll es nach der auf internationale Verständigungspolitik“ ausgerichteten Weimarer Republik möglich gewesen sein,

„daß die Olympiapropaganda nach 1933 plötzlich eine Nazifizierung der Athleten und des sportinteressierten Publikums bewirkte? Mußte nicht zuvor eine Versportlichung der Nazis erfolgt sein?“

Bei dieser Olympiade wurde ein ‚Weihespiel‘, die „Olympische Jugend“ von Carl Diem uraufgeführt. Es geht in diesem olympischen Weihespiel um „‚Kampf um Ehre, Vaterland'“. Die Jugend sieht ihrem Selbst-Opfer ins Gesicht: „Allen Spiels heil’ger Sinn: Vaterlands Hochgewinn. Vaterlandes höchst Gebot in der Not: Opfertod!“ Eisenberg ordnet diesen Opfertod folgendermaßen ein: das Diemsche „Festspiel“ werde

„in der sport- und tanzhistorischen Literatur als Verherrlichung des ‚Opfertodes‘ für die nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘ interpretiert – was nicht zu überzeugen vermag. Erstens gehörte die Opferrhetorik schon in der Weimarer Republik zum spezifisch deutschen Sportverständnis (…) Zweitens haben die Zeitgenossen des Jahres 1936 die Szene ohne Zweifel mit dem Ersten Weltkrieg und nicht mit dem bevorstehenden Zweiten in Verbindung gebracht.“

Auch wenn sich die Historikerin ganz sicher ist („ohne Zweifel“), bleibt zu betonen: die Erinnerung an die deutschen Toten des I. Weltkriegs war sehr wohl die Vorbereitung auf den II. Der ‚Langemarck-Topos‘ der Jugend, des Opfers und des Nationalen kommt hierbei zu olympischen Ehren. Die internationale Anerkennung der Spiele ist Zeichen des Appeasements dem nationalsozialistischen ‚Aufbruch‘ gegenüber. Wenn in einem Buch von 1933 ausgeführt wird:

„‚Daraus erhellt, daß bei Ausbruch des Krieges der Zukunft die Ausbildung künftiger Langemarckkämpfer um ein mehrfaches verlängert und die Material- und Munitionsmenge für heutige Schlachten um ein Vielfaches vermehrt werden muß'“,

so muss gerade eine solche Interpretation des Langemarck-Topos ernst genommen und nicht, wie bei Eisenberg, als quasi Weimarer Tradition, die zufällig 1936 wieder hervortritt, verharmlost werden. Dagegen ist die Kontinuität von ’33 bis ’36 zu sehen, die soeben zitierte Passage von ’33 bekommt im Festspiel von Diem eine internationale Beachtung findende Weihe, wie Eisenberg unschwer in der Forschungsliteratur hätte nachlesen können:

„So wurde im Glockenturm des Berliner Olympia-Stadions eine Gedächtnishalle für die Toten von Langemarck eingerichtet, und Carl Diems Eröffnungsspiel der Olympiade von 1936 endete mit ‚Heldenkampf und Totenklage‘; eine Division des Hitlerschen Ost-Heeres bekam den Namen ‚Langemarck'“.

Ein weiterer Kritikpunkt, ganz eng am Diemschen Spiel und seinen Protagonisten wie der Ausdruckstänzerin Mary Wigman orientiert, ist folgender: es lässt sich gut zeigen, wie Wigmans Auffassung von Opfertod Diems Weihespiel in diesem Punkt inhaltlich bzw. choreographisch bereits vor ’33 antizipiert hat, so am „Stück ‚Totenmal‘, einem Drama von Albert Talhoff, welches von Talhoff und Wigman 1930 gemeinsam inszeniert wurde, wobei Wigman die tänzerische Choreographie übernahm.

Das Werk wurde zum Gedenken an die Gefallenen des 1. Weltkriegs geschrieben. (…) [Zudem] ist dieses Werk ein Prototyp nationalsozialistischer Inszenierungen, zum einen wegen des Themas (Verehrung der gefallenen Soldaten) zum anderen wegen der Form (die Inszenierung stellt eine Kombination aus Sprechchor und Bewegungschor dar).“ Waren schon die „Tanzfestspiele 1935“ eine „Propagandaveranstaltung für den deutschen Tanz nationalistischer Prägung“, so kulminierte das im olympischen Jahr im Weihespiel von Diem, an dem Wigman aktiv beteiligt war. Ein Sportwissenschaftler, Micha Berg, weist auf die zentrale Bedeutung von Symbolik für das nationalsozialistische Deutschland hin und zitiert den völkischen Vordenker Alfred Baeumler:

„Das Symbol gehört niemals einem Einzelnen, es gehört einer Gemeinschaft, einem Wir. Dieses Wir ist nicht ein Wir des gesinnungsmäßigen Zusammenschlusses von Persönlichkeiten, ist nicht ein nachträgliches Wir, sondern ein ursprüngliches. Im Symbol sind Einzelner und Gemeinschaft eins. (…) Das Symbol ist unerschöpflich, in ihm erkennt sich sowohl der Einzelne wie die Gemeinschaft.“

Dieses ‚ursprüngliche Wir‘ kehrt heute im deutschen Feuilleton wieder, gerade am Beispiel der deutschen Hymne, wie weiter unter an einem weiteren Beispiel gezeigt werden wird. Es bleibt zu konstatieren, dass Eisenberg darauf beharrt: Diems Festspiel ende doch mit Beethovens „Schlußchor der IX. Sinfonie mit der ‚Ode an die Freude‘ von Friedrich Schiller“, was Ausdruck von ‚Kunst‘ sei. Sie schließt ihre Arbeit, indem sie nicht nur dem Sport unterm NS mehr Möglichkeiten als noch in der Weimarer Republik attestiert, sondern auch, den II. Weltkrieg als „Beeinträchtigung des Wettkampfbetriebs“ euphemisierend, dem Nationalsozialismus bescheinigt, er habe den „Sport“ zuungunsten des Turnens gewinnen lassen, was sie als „Rahmen für den Sport in der Bundesrepublik“ für gut erachtet.

Besser hätte es die Neue Rechte oder jeder Konservativismus auch nicht hinbekommen: Die Nazis wurden im NS sportlich und nicht umgekehrt. Damit werden der NS verharmlost, Juden gedemütigt und Deutschland gerettet, die Habilitations-Mission ist erfüllt.

Dieser etwas ausführlichere Ausschnitt mag verdeutlichen, wie gegenwärtige Geistes- und Sozialwissenschaft in der Bundesrepublik funktioniert (wenn sie erfolgreich sein will im affirmativen Sinne, Eisenberg bekam alsbald eine Professur an der Humboldt-Universität). Es ist gerade bei politisch angeblich unverdächtigen Personen Mode geworden, den Nationalsozialismus einzubetten in ein Kontinuum, um auf jeden Fall den Zivilisationsbruch, den Auschwitz bedeutet, zu verdecken oder zu leugnen.

Die bürgerliche Gesellschaft wird gerade in Deutschland so dargestellt, als sei die Gesellschaft im NS 1936 ganz ähnlich strukturiert gewesen wie die der USA bei den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles. Das, was das nationalsozialistische Deutschland sehr spezifisch kennzeichnete, wird gezielt weggewischt, als irreal abgetan oder schlicht und ergreifend gar nicht analysiert. Vielmehr soll gelten: Die Existenz von Liegestühlen und Blumenbeeten für Sportler wiegt den Antisemitismus und Ausschluss jüdischer SportlerInnen auf. Dieser Antisemitismus ist erst auf den zweiten Blick erkennbar, ein Blick, der allzu selten vorgenommen wird.

5) Drei weitere Beispiele ‚linker‘ Wissenschaftler und deren Verharmlosung der deutschen Verbrechen

In der Dissertation des heutigen Konstanzer Juniorprofessors Sven Reichardt wird diese Position am Beispiel eines Vergleichs deutscher und italienischer ‚faschistischer‘ Geschichte deutlich:

„Der in dieser Arbeit zugrundegelegte Faschismusbegriff stellt eine eigene praxeologische Analyse der faschistischen Bewegung vor, die nicht an die marxistische Deutung und nur selektiv an die neuesten angloamerikanischen Arbeiten und Noltes Definition anknüpft“.

Antisemitismus wird zwar als Differenz von italienischen Squadristen und deutscher SA erwähnt, aber als wenig bedeutsam klein geredet, zudem als bloßer ‚Rassismus‘ verkannt. Das ist Folge des bei Reichardt paradigmatisch für weite Teile heutiger Historiografie hervortretenden komparatistischen Zugangs, der die Präzedenzlosigkeit der deutschen Verbrechen und ihrer Vorgeschichte gezielt negiert.

Konsequent ist es, wenn u. a. Reichardt dem Altlinken Karl Heinz Roth Rat gab bei der Verabschiedung einer Analyse des Nationalsozialismus zugunsten eines ubiquitären Faschismusbegriffs, vgl. Roths Aufsatz aus dem Jahr 2004 „Faschismus oder Nationalsozialismus? Kontroversen im Spannungsfeld zwischen Geschichtspolitik, Gefühl und Wissenschaft“.

Roth exkulpiert die Deutschen in althergebrachter Diktion von ihrem Antisemitismus, wenn er schreibt:

„Weitaus gebräuchlicher ist indessen der Begriff ‚Nationalsozialismus‘: Es handelte sich zunächst ebenfalls um eine affirmative Selbstdefinition, die aber elementare Prämissen, nämlich den militanten Antisozialismus, verschleiert. Darüber hinaus ist der Begriff nicht vergleichsfähig, weil er seine faschistischen Kontexte und Varianten per definitionem ausschließt. Er schließt aber auch alle anderen Bezüge zur europäischen und Weltgeschichte aus oder unterwirft den Blick auf Europa und die Welt der affirmativen Selbstkonnotation. Auch die kritisch distanziert gemeinte Analyse des ‚Nationalsozialismus‘ vermag nicht über einen germanozentrischen Blickwinkel hinaus zu gelangen“.

Bezeichnend ist, dass Roth nicht von einer deutschen Spezifik bei der Analyse des NS spricht, vielmehr einer „transnationale[n] und komparative[n] Sichtweise auf die faschistische Epoche“ das Wort redet. Das wird von einem weiteren Juniorprofessor sekundiert, wenn Kiran Klaus Patel ohne mit einem Wort den eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen und die Präzedenzlosigkeit der Shoah analysierend, „transnational“ Phänomene wie den NS betrachten möchte und zum Schluss kommt:

„Gerade für das NS-Regime verspricht eine transnationale Perspektive neue Erkenntnisse. (…) Denn die Distanz zwischen NS-Regime und New Deal war weniger tief als häufig angenommen“.

Solche Perspektive hat durch Arbeiten der Neuen Rechten – exemplarisch sei der wichtigste Neue Rechte in der Bundesrepublik seit Anfang der 1970er Jahre bis heute, Henning Eichberg, erwähnt – über die Jahrzehnte hinweg den Boden bereitet bekommen.

6) Das Opfer bringen und singen: „Blüh im Glanze deutsches Vaterland“ – von Diem zu Klinsmann

Jürgen Klinsmann wird zu Unrecht als wenig typisch deutscher Sportler betrachtet. Zwar war er in England bei den Spurs eine Kultfigur geworden, weil er als Deutscher so nett erschien und die Fans zu sangen begannen „Juergen was a German now he is a Jew“, was auf die umgepolte Selbststilisierung zum „Judenklub“ Tottenham Hotspurs anspielt, aber analytisch ist das nicht tief gehend.

Vielmehr war es Klinsmann, der das Deutsche evozierte, aggressiv zu werden, trotz kalifornischem Wohnort und internationalem Habitus. Er war es, der die deutsche Nationalmannschaft fast einhellig dazu brachte, lauthals die Nationalhymne zu trällern, den jungen Deutschen ein positives Gefühl für ihr Deutschland zu geben. Dass es so ein Gefühl nach Auschwitz in Deutschland nie wieder geben sollte, fällt da natürlich unter den volksgemeinschaftlichen Tisch. Dass keinem es auffällt oder zu peinlich oder widerlich ist, eine Hymne zu singen, die wortwörtlich auch im Nationalsozialismus gesungen wurde, ist doch schockierend, nicht?

Weit mehr: in einem Artikel der wiederum eher links-liberal daherkommenden Frankfurter Rundschau steht am 27. Juni 2006 folgender Text, der sich anhört als wäre er 1936 geschrieben worden, lange bevor der Autor geboren wurde:

„Wir wissen, schon in zwölf Jahren wird fast keiner mehr erzählen können, wie er sich als Kriegsteilnehmer in einem Kreis von Kriegsteilnehmern gefühlt hat, als der Sieg der deutschen Nationalmannschaft in Bern durch den europäischen Äther ging. Wir wissen zugleich: Schon in ein paar Wochen wird unsere Erinnerung an die schönsten Spiele dieser Weltmeisterschaft merkwürdig transparent und ausgeblichen sein, als vertrüge unsere tägliche Gedächtnispraxis das heftige Licht des Geschehenen auf Dauer nicht. Die Gegenwart muss sich einhaken. Anders gesagt: Unsere stärksten Gefühle lassen uns für eine kurze Spanne spüren, dass wir die kommenden Toten sind. Deshalb ist es schön, sie zu zweit, und besonders rührend, sie in einer Gemeinschaft von ähnlich Gestimmten durchleben zu dürfen. Gemeinsam singend, genießen wir uns als die baldigen Toten.“

Diese Propaganda ist nichts anders als die Beschwörung einer Gemeinschaft von Deutschen, die sich in völkischer Tradition sehen wollen. Es hört sich wirklich genuin nationalsozialistisch an, ist aber ein Text eines jüngeren Autors, Georg Klein, Jahrgang 1953 und Ingeborg-Bachmann-Preisträger.

Dieser Feuilleton-Text zeigt die Ungeniertheit, die das nationale Apriori ermöglich, hervorkitzelt und zum Ausdruck bringt. Eigentlich wäre bisher bei so einer Zeile, dass die stärksten Gefühle jene seine, die mir sagen, dass ich, nein: wir die „kommenden Toten“ sein werden, ein Aufschrei durch das Land gegangen. Heute nicht. Es geht nicht um die Sterblichkeit der Menschen.

Es geht um die Konstruktion eines homogenen Ganzen, eines Volkskörpers, das jeden einzelnen nur unter dem Aspekt dieses Körpers, des Volkes sieht und nicht – gleichsam katholisch gedacht – als Kind unter „Gottes Hand“. Muss man wirklich Katholik werden um solch völkische Rede der Frankfurter Rundschau zu kontern? Gut, Klein möchte als Deutscher sterben, soll er das.

Es wird auch weiterhin Leute geben, die lieber als Menschen, als ganz spezifische Individuen mit Macken, Vorlieben, Träumen, Sehnsüchten, Hoffnungen, Enttäuschungen, Freuden und Ekel, denn als Deutsche sterben.

Dazu passt, dass der ehemalige Bundestagspräsident, Wolfgang Thierse, fordert, doch noch mehr Strophen dieser deutschen Hymne zu verfassen. Nicht etwa dass der ehemalige DDR-Bürger Thierse die Abschaffung eines nationalen Symbols forderte, wo kämen ‚wir‘ hin? Wer in Berlin in den Stadtteil Lichtenberg im Osten fährt weiß wie aktuell die Gefahr des Umkippens vorgeblich harmlosen Singens der deutschen Hymne in Hetze und Gewalt durch Nazis ist. Dort gibt es Straßen, wo die Reichskriegsflagge in Eintracht mit der schwarzrotgoldenen am Haus hängt.

Vor wenigen Wochen, vor der WM, wurde in dieser Gegend ein bekannter deutsch-türkisch-kurdischer Kommunalpolitiker schwer verletzt. Nazis haben hier die Hoheit, schwarzrotgoldene Hosenträger, Markenzeichen schon seit eh und je der dickbäuchigen Nazis, schon zu BRD-Zeiten, sind ja heute in Mode, wo alle deutsche Welt schwarzrotgold trägt, als Armkettchen, Rock, T-Shirt oder Gürtel aus biologisch abbaubarer Wolle.

All diejenigen, die jetzt das Deutsche hochleben lassen sind politisch für solche Gewalttaten von Nazis mitverantwortlich zu machen. Das ist ja auch nichts Neues: früher haben auch Liberale und Linke Konservativen bzw. Rechten die Mitschuld am immer stärker werdenden Rassismus gegeben, am deutlichsten und treffendsten vielleicht 1992/1993 bei der de facto Abschaffung des individuellen Asylrechts durch CDU/CSU/SPD und ihren Helfern in anderen Parteien, Medien und Verbänden.

Geschichtspolitisch wurde immer auf die Vordenkerfunktion der geistigen Elite hingewiesen, nicht erst zum Historikerstreit 1986ff. Bereits Ende der 1970er Jahre, Anfang der 1980er Jahre, als in der BRD das Nationale offen aufs Tableau kam – nicht zufällig schon damals übrigens von Jürgen Habermas, der 1979 zwei Bände herausgab, welche die „nationale Frage“ auf die Tagesordnung setzten und Martin Walser davon sprach, lediglich wenn „wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Fragen zuwenden“ – wurde z. B. von Wolfgang Pohrt auf diese nationale Vordenkerfunktion zumal der Linken, Alternativen und Grünen verwiesen.

Schon damals also wurde deutlich dass das Einfordern universalistischer Prinzipien von Staatsbürgerschaft und politischem Gemeinwesen, für das Habermas steht, einher gehen kann mit einer Verharmlosung der deutschen Geschichte, ja ein nationales Narrativ gleichsam als Grundlage auch eines nicht blutsmässigen Staatsdenkens zu erkennen ist.

Wer also heute im Schwenken der deutschen Fahne nichts Gefährliches sieht, weil er oder sie nicht die Nazis auf der Straße, die fast komplett ’national befreite Zone‘ Ostdeutschlands sieht, weil doch lediglich Party gemeint sei und ein ‚Patriotismus‘ nie und nimmer mit Nationalismus verwechselt werden dürfe, irrt gewaltig. Das wird im folgenden Punkt noch deutlicher.

In einer Radiosendung des SWR in Stuttgart vor wenigen Tagen ging es um diesen neuen ‚Patriotismus‘, die Fahnenmeere etc. Hermann Bausinger, emeritierter und wohl dekorierter Kulturwissenschaftler aus Tübingen legte die Pace dieser nationalen Debatte vor. Er meinte ganz freudentrunken, dass das neue nationale Pathos völlig harmlos und schön sei, gerade weil alles Militärische daran fehle. Und dieses Fehlen des Militärischen sei Konsequenz der deutschen Verweigerungshaltung im Irak-Krieg, ja die deutsche Friedenssehnsucht sei Prämisse eines neuen, zurecht stolzen Deutschland. Der Hass auf die USA, der Antizionismus, das Appeasement und die klammheimliche Freude ob des Djihad sind dieser friedlichen Hetze inhärent.

7) Keine „Reue“ zeigen: gegen „amerikanischen Messianismus“ – Matusseks nassforsche Invektiven oder Wie funktioniert sekundärer Antisemitismus?

Der Spiegel Kultur-Ressort-Leiter Matthias Matussek hat mit seinem Bestseller „Wir Deutschen – Warum uns die anderen gern haben können“ ein offen nationalistisches Buch geschrieben, das in vielerlei Hinsicht ohne Walsers Tabubruch von 1998 im Mainstream-Journalismus nicht so ohne weiteres zu denken war. Der Bezug zu Bausingers Friedensliebe der Deutschen ist ganz offenbar in einem Interview Matusseks mit Peter Sloterdijk. Matussek gibt dem TV-Philosophen eine neu-deutsche Steilvorlage, wenn er fragt:

„Sichtbar wird vielmehr ein neues deutsche Selbstbewusstsein, zumindest in der Außenpolitik, die sich sogar den Widerstand gegen den amerikanischen Messianismus erlaubt hat.“

Das Ressentiment gegen „jüdischen“ Messianismus, wie er in antisemitischen Texten überall auftaucht, bekommt hier völlig selbstverständlich, aber rhetorisch kaschiert, seine Weihen. Der alte SPD-Mann Egon Bahr nennt das in einem Büchlein dann logisch „den deutschen Weg“ – gegen den „amerikanischen“ – und der Wirtschaftswissenschaftler Werner Abelshauser stimmt als einer unter vielen in diesen nationalen Chor ein.

Matussek ergeht sich nicht nur in Allgemeinplätzen, die er oft selbst erfindet wie folgenden „Die Liebe zum Vaterland ist eine Kraft, schon seit der Antike“ – aber sein Ton ist so ungeheuerlich aggressiv, schwülstig deutsch, durchsetzt von antienglischen Invektiven, dass deutlich wird, wie stark ein stolzer Deutscher auf Feinde und Gegner eingestellt ist.

Da werden Engländer zum „unsympathischsten Volk auf Erden“ erklärt, der deutsche „Bildungsbürger“ beschworen und gegen die „englische Klassengesellschaft“ gesetzt und Klaus von Dohnanyi, ein Altpolitiker der SPD aus Hamburg, phantasiert demokratische Traditionslinien der Deutschen herbei, die angeblich älter seien als die Englands ohne zu betonen, dass es in Deutschland keine erfolgreiche und konsequente demokratische Revolution je gegeben hat. Ein Hinweis auf deutsche Verbrechen trotz „Bildung“ gereicht den beiden Gesprächspartnern Dohnanyi und Matussek dazu, Englands Sklavenhandel und Nordamerikas Sklavenhaltergesellschaft zu geißeln. Diese deutschen Schuld-Projektionsleistungen sind zwar häufig analysiert worden, aber treten heute umso reflexhafter, ungenierter hervor als je zuvor. 9/11 hat da Dämme brechen lassen.

Und so kulminiert das Gespräch der beiden Stolzdeutschen in einem Satz, der an Antisemitismus und Wiederbetätigung im Sinne des Nationalsozialismus nicht deutlicher ausfallen könnte:

„Die Juden hatten es ja sogar in Deutschland in den ersten Nazi-Jahren besser als damals die meisten Schwarzen im Süden.“

So spricht Klaus von Dohnanyi und Matthias Matussek hats gefreut! Solche Tabubrüche, den Nationalsozialismus mit seiner Braunen Revolution von 1933 als Beginn zu loben, sind heute eine Bestsellergarantie und kein Fall mehr für einen Skandal. Der Verlag der solche antijüdische Propaganda druckte heißt auch nicht Grabert-Verlag, vielmehr S. Fischer, einer der ganz großen Verlage in der Bundesrepublik.

An anderer Stelle untermauert Matussek seinen (nun sekundären) Antisemitismus, seine Erinnerungsabwehr ist Walser nach dem Munde geredet:

„Bei uns wurde der Holocaust, nach einer lähmenden, brütenden Phase der Verdrängung, in eine übereilfertige, nicht mehr versiegende, immer glattere und abgeschliffenere Beschuldigungs- und Verachtungs- und Selbstverachtungsphraseologie überführt, in der ständig nach dem politischen Vorteil geschielt wird.“

Vor 30 Jahren hätte jeder Leser sofort an einen Revisionisten gedacht bei solchen Zeilen, aber nein: Matussek ist kein Holocaustleugner, gewiss nicht. Er ist ein typischer sekundärer Antisemit, der immer, wenn es um die deutschen Verbrechen geht, jene zwar nicht leugnet aber als Bagatelle abtut, ja er spricht – wörtlich – bezüglich des Holocaust, der als Thema auf einem Empfang oder einer Party vorkam, von einem „Stimmungskrepierer.“

Diese neu-deutsche Selbstverständlichkeit gerade als Deutsche stolz zu sein, zu betonen, ja zu brüllen: die deutsche Geschichte war im Kern was sehr Schönes, etwas ganz Einzigartiges, „Hitler“ war lediglich ein „Freak-Unfall der Geschichte“ (O-Ton Matussek), ist die neue Befindlichkeit, die neue, deutsche Ideologie im 21. Jahrhundert.

„Ich bin nicht tief traumatisiert, denn ich denke nicht oft an die deutsche Schuld und an den Holocaust“ sagt Matussek, er kämpft wie Walser und Konsorten gegen die „moralische Keule“.

Das sind die Töne des nationalen Apriori.

hagalil.com 07-07-2006

 

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