Jüngst sind mir Texte in die Hände gefallen, welche die deutschen Verbrechen und die Shoah mit einem so guten Gewissen und sicher den besten Intentionen verharmlosen, dass eine Reflektion darüber dringend nötig ist.

Zitat von Harald Welzer, Leiter am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen:

„Tatsächlich muss man Völkermorde nicht als die Exzesse von Grausamkeit verstehen, als die sie sich uns darstellen. Im Kern geht es stets um die Formierung einer Gemeinschaft der Zugehörigen, die auf einer radikalen Definition von Nicht-Zugehörigkeit basiert. Einer Nicht-Zugehörigkeit, die durch Gewalt zugleich demonstriert wie durchgesetzt wird.“

Der Absatz geht weiter und der folgende Satz Welzers liest sich wie ein Ankündigungstext für das „Handbuch des obsessiven Komparatismus“:

„Deshalb bildete die Praxis der antijüdischen Politik in vielerlei Hinsicht das Zentrum der Entwicklungsdynamik der nationalsozialistischen Gesellschaft, ebenso wie die Gewalt in Jugoslawien definierte, wer zu wem gehörte oder in Vietnam bestimmte, wer zu den Guten und wer zu den Schlechten zählte: ‚If it’s dead and it’s Vietnamese, it’s Vietcong.'“

(Harald Welzer (2010): Unüberbrückbar ungleich. Warum Menschen zu Massenmördern werden, in: Internationale Politik, Januar/Februar 2010, S. 32-37, hier S. 33. Herausgeberin ist Sylke Tempel).

Im gleichen Heft von IP sekundiert Daniel Goldhagen Harald Welzer in einem Interview, S. 31:

„Schauen wir uns den Sudan an. Dieses Regime ermordet seine eigene Bevölkerung seit 25 Jahren; es ist verantwortlich für vermutlich die zweitlängste genozidale Unternehmung des 20. Jahrhunderts, gleich nach denen der kommunistischen Regime in China und der Sowjetunion. Zählt man die Vertreibungen mit, fielen ihrem eliminatorischen Unterfangen mehr Menschen zum Opfer als Juden durch die Hand der Nazis.“

Goldhagen verwirft ohne Not sein eigenes Konzept von den Deutschen als willige Vollstrecker, wenn er nun von den „Nazis“ redet. Darüber hinaus verharmlost er den Holocaust, wenn er ihn nur als Teil von vielen „Genoziden“ sieht, ja gar – quantitativ! – weniger schlimm einstuft als den unbestritten fürchterlichen und anhaltenden Massenmord im Sudan. Nun ist es von herausragender Dringlichkeit solche Massenmorde wie in Sudan zu stoppen, was jedoch so leicht nicht ist, da sowohl die UN als auch die NGOs und die „Menschenrechtler“ nonstop antizionistische Resolutionen oder Flugblätter schreiben.

Was weder von Welzer noch Goldhagen und der Zeitschrift Internationale Politik gesagt wird: Der Holocaust war der Zivilisationsbruch. Er war ein präzedenzloses Verbrechen, weil nie zuvor und nie danach eine ganze Gruppe von Menschen, die Juden, von einer der führenden Industrienationen vernichtet werden sollte. Goldhagen selbst hatte seinerzeit, 1996, zumindest in Ansätzen zudem die lange, jahrhundertelange, spezifische Tradition des Antisemitismus in Deutschland angesprochen. Ohne diese antijudaistische und antisemitische Tradition wäre der Holocaust nicht denkbar gewesen.

Der litauische Philosoph und Politiker Leonidas Donskis hat die Spezifik der Shoah in einem Artikel zur Kritik der „Inflation des Genozids“ 2009 analysiert:

“Ob wir es mögen oder nicht, der Holocaust war der einzige echte Genozid in der Menschheitsgeschichte. Er war einzig nicht nur wegen seines Umfangs, seiner Praxis und seiner industriellen Methoden der Vernichtung, vielmehr weil er dadurch bestimmt war die Endlösung nicht zu stoppen solange auch nur ein einziger Jude noch am Leben ist.“

Diese kritische Erkenntnis wird von Welzer auf gleichsam avantgardistische Weise abgewehrt. Welzer zieht in einem Atemzug eine Linie vom Holocaust über das Jugoslawien der 1990er Jahre hin zu dem schrecklichen Krieg der USA in Vietnam. Viel grotesker, unwissenschaftlicher und absurder kann man Auschwitz kaum klein reden. Weder die Mörder in Ex-Jugoslawien der 1990er Jahre noch die Amerikaner im Vietnamkrieg wollten ein Volk als solches und komplett vernichten. Es gab in USA keinen jahrhundertelangen oder jahrzehntelangen, gar eliminatorischen anti-Vietnamismus, analog zum Antisemitismus. Das ist lächerlich.

Mehr noch: die These von Welzer ist ein Geschichtsrevisionismus der sich offenbar wohl fühlt, aber mit Wahrheit oder wissenschaftlicher, luzider Analyse hat das nichts zu tun.

Selten wurden die deutschen Verbrecher mit besserem Gewissen als genauso schlimm wie die Amis dargestellt. Es ist eine Abwehr der spezifischen deutschen Schuld am Zivilisationsbruch. Vietnam oder Jugoslawien waren keine Zivilisationsbrüche, vielmehr schreckliche Kriege bzw. Bürgerkriege.

Doch so wie Welzer in einem Satz vom Nationalsozialismus, der Produktion von Juden zu sozial Toten und dann zu Toten in der Shoah hin zu Amerika zu springen, ist eigentlich altbekannt: Schuldprojektion nennt das die Forschung. Und es ist auch eine Schuldabwehr, wie sie Adorno vor Jahrzehnten analysierte, Anfang der 1950er Jahre, sprich: ‚die anderen sind auch nicht viel besser‘. Genau das will Welzer, der ein gutes Beispiel für heutige Mainstream-Forschung zu sein scheint, sagen. Der Holocaust wird einfach eingebettet in eine lange Liste von Völkermorden auf der ganzen Welt. Die Deutschen haben demnach die Juden, die Amerikaner die kommunistischen Vietnamesen, die Serben die muslimischen Bosnier als „nicht zugehörig“ definiert. Jede Spezifik von Auschwitz, Treblinka und Bergen-Belsen wird damit geleugnet, wenn so obsessiv Komparatismus betrieben wird.

Der Kulturwissenschaftler meint es sicher gar nicht so, aber es ist Schuldabwehr und Schuldprojektion durch ein inflationäres Reden von „Genozid“. Ich verweise auf die Analysen von Leonidas Donskis, der in seiner Kritik am Gerede von Genozid auch wissenschaftliche Unterstützung von Steven T. Katz aus USA[i] oder Yehuda Bauer aus Israel bekommt, implizit. Diese beiden Forscher haben sich wie andere auch (namentlich Dovid Katz aus Vilnius) gerade mit der Spezifik der Shoah befasst. Die internationale Forschung steht weiterhin fast am Anfang der Analyse der Spezifik der Shoah. Diese Analysen sind jedoch wichtig für die Erinnerung an den Holocaust. Der Zeitgeist ist seit längerem auf totalitarismustheoretischem Kurs, die Debatte um „Völkermord“ passt da hinein. Und die Sozialpsychologie oder auch die Psychoanalyse sind hier gefragt: Warum gibt es offenbar weltweit diesen Drang den Holocaust zu vergleichen und gleich zu setzen mit Massenmorden, die gerade nicht so strukturiert waren wie der in der Shoah mündende eliminatorische Antisemitismus?

Wie würde Harald Welzer dieses von ihm selbst mit konstruierte Phänomen (Nazis=Jugoslawien=Amis/Vietnam) bezeichnen?


[i] Vorbedingungen zur Analyse der Präzedenzlosigkeit des Holocaust diskutiert Steven Katz in seinem sehr dichten Kapitel „Defining the Uniqueness of the Holocaust: Preliminary Clarifications and Disclaimers, in: Steven T. Katz (1992): Historicism, the Holocaust, and Zionism. Critical Studies in Modern Jewish Thought and History, in New York/London: New York University Press, S. 162-192.