Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Monat: August 2010

Stuttgart ist doch keine „Vorstadt von Jerusalem“…

Stuttgart ist doch keine „Vorstadt von Jerusalem“…

Paul Bonatz, der Nationalsozialismus und Die Grünen (K21)

Stuttgart 21 ist weiterhin in der Diskussion, K21 macht mobil (K = „Kopfbahnhof“). Paul Bonatz genießt Kultstatus im Ländle, allerorten. Mit dem Stuttgarter Hauptbahnhof solle sein architektonisches „Meisterwerk“ teilweise abgerissen werden jault eine Erklärung von K21. Geschichtsklitternd zieht die Grünen dominierte Ländlesrevolte dabei auch eine Linie zur Weißenhofsiedlung.[1] Doch wie stand Bonatz zu dieser Mustersiedlung des Werkbundes und was machte Bonatz ab 1933 im SS-Staat?

Der Stuttgarter Hauptbahnhof wirkt wie ein Nazi-Bauwerk, obwohl er doch schon 1928 fertig gestellt wurde. Paul Bonatz nahm typische Elemente der NS-Architektur vorweg:

„So kommt den Bahnhofsportalen die symbolische Funktion von Stadttoren zu, die in ihrer Monumentalität auch für sich alleine stehen könnten. Dieser Ausdruck von Herrschaft und Macht ist auch in den Großprojekten des ‚Dritten Reiches‘ zu erkennen, so an der von Bonatz entworfenen Reichsautobahnbrücke bei Limburg an der Lahn.“[2]

Diese architektonische Verwandtschaft von Bonatz und dem Nationalsozialismus zeigte sich auch in seiner Abwehr der Stuttgarter Weißenhofsiedlung. Er schreibt bereits 1926 während der Planung für die moderne Siedlung:

„Man hat das Gefühl, als stürze sich die Stadt mit der Werkbundsiedlung am Weißenhof in ein Abenteuer. (…) In vielfältigen horizontalen Terrassierungen drängt sich in unwohnlicher Enge eine Häufung von flachen Kuben am Abhang hinauf, eher an eine Vorstadt Jerusalems erinnernd als an Wohnungen für Stuttgart.“[3]

Sodann wurde von Bonatz, Paul Schmitthenner und anderen ein Gegenprojekt zur Weißenhofsiedlung geplant und 1933 umgesetzt, die Kochenhofsiedlung. Kernpunkt war architektonisch die „Satteldachpflicht“, also Vorder- und Hinterseite der Häuser müssen Schrägdächer haben („Walmdächer“ haben gar alle vier Seiten des Daches als Schräge), ganz konträr zur modernen Weißenhofsiedlung mit ihren Flachdächern, die in vielen Aspekten an Tel Aviv erinnert.

Bonatz darf das größte Haus der Kochenhofsiedlung bauen[4], die Eröffnung war ein Fest für den Nationalsozialismus an der Macht:

„‘Im Jahre der nationalen Revolution – 1933 – da – Adolf Hitler – die Macht übernommen, da Wilhelm Murr Reichsstatthalter von Württemberg und Dr. Karl Strölin Oberbürgermeister von Stuttgart war – wurde diese Siedlung aus deutschem Holz erbaut.‘

Diese Worte waren auf der hölzernen Gedenktafel zu lesen, die anläßlich der Eröffnung der Stuttgarter Bauaustellung ‚Deutsches Holz für Hausbau und Wohnung‘ am Eingang der Kochenhofsiedlung angebracht worden war. Auch die Eröffnungsfeierlichkeiten für die 25 in Holzbauweise errichteten Häuser waren eine Demonstration politischer Macht. So berichtete das ‚Stuttgarter Neue Tagblatt‘ in seiner Abendausgabe vom 23. September 1933, daß die Siedlung ‚mit einem dreifachen Sieg-Heil auf Hindenburg und Hitler, sowie mit dem gemeinsam gesungenen Deutschlandlied und Horst-Wessel-Lied‘ der Öffentlichkeit vorgestellt worden sei.“[5]

Da fühlt sich Paul Bonatz wohl, kein Jerusalem vor der Tür, dafür flatternde Hakenkreuzfahnen[6] und ‚deutsches‘ Holz.

„Schon bald nach der Machtergreifung nutzte Paul Bonatz die Gelegenheit, ideologische Konformität mit den neuen Machthabern in Stuttgart zu zeigen.“[7]

Im August 1934 erschien das erste Heft der neuen Zeitschrift „Die Strasse“, herausgegeben vom Generalinspektor für das deutsche Strassenwesen, Fritz Todt, im Volk und Reich Verlag, Berlin. Auf Seite eins ist eine Abbildung mit Hitler und einem Spaten. Fritz Todt, der 1938 die „Organisation Todt“ gründete, schreibt in einem programmatischen Text „Straßenbau – Bekenntnis und Forderung“:

„Das Straßenbauprogramm des Führers war die erste große Maßnahme, die das nationalsozialistische Deutschland in Angriff genommen hat. Der Straßenbau muß die erste Maßnahme bleiben, nicht nur zeitlich, sonder auch in der Leistung, dann wird das Straßenbauprogramm zum kennzeichnenden Ausdruck deutschen Lebenswillens und deutscher Reichseinheit.“[8]

In diesem Heft ist auch Paul Bonatz als Autor mit dabei.[9] In der nächsten Ausgabe, welche auf dem Titelblatt neben Arbeitsgerät selbstverständlich auch zwei große Hakenkreuzflaggen abbildet, schreibt Bonatz:

„Die Autobahn ist die sinnfälligste Äußerung der Kraft des neuen Staates.“[10]

1936 beschreibt der Stuttgarter Professor „eine rassige Eisenbahnbrücke“[11] und möchte alles harmonisch mit der Natur verbunden sehen. „Rassig“ muss es zugehen, in der Natur, der Gesellschaft wie der Architektur.

1937 erschien zum sechzigsten Geburtstag des Stararchitekten ein Festband. Der Herausgeber Friedrich Tamms schreibt:

„Hamburg ist zusammen mit Berlin und München vom Führer dazu bestimmt worden, durch das nationalsozialistische Deutschland ein neues städtebauliches Gesicht zu erhalten, da dieser Stadt als Deutschlands Eingangstor von Übersee eine besondere Bedeutung zukommt. Einer der wichtigsten der neu zu planenden Großbauten ist die Hochbrücke, die die Elbe überqueren wird. Bonatz selbst berichtet zu seinem Vorschlag: ‚Mit dieser Brücke ist eine Aufgabe gestellt worden, die alle unsere gewohnten Vorstellungen und Maßstäbe weit hinter sich läßt.‘“[12]

Bonatz war ein nationalistischer Architekt, was sich z.B. in der Planung eines „Ehrenmals“ für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs in den Jahren 1931-1936 zeigt. Der Langemarck-Mythos und das Gedenken an die Soldaten des Ersten Weltkriegs waren konstitutiv für die nationale Bewegung zur Zerstörung der Weimarer Republik und sehr wichtig in der Frühphase des Nationalsozialismus.[13]

Dieses Ehrenmal wie auch der starke Einsatz von Bonatz für die Reichsautobahn werden in dem Huldigungsband gewürdigt, 1937:

„Die Bauten der Reichsautobahn, deren Berater P. Bonatz seit 1935 ist, sind auf diesem Wege ein gutes Stück vorangekommen. (…) Diese Bauten haben den Geist gemein, der auch für die jüngsten großen Arbeiten bestimmend sein wird. Sie zeigen eine männlich ernste deutsche Gesinnung, wie sie aus den großen Bauten des frühen Mittelalters zu uns spricht.“[14]

Die „ernste deutsche Gesinnung“ zeigt sich auch, wenn Bonatz 1942, während des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs, die Reichsautobahnen mit plant. Bonatz möchte mit der Architektur der Reichsautobahn wie deren „Tankanlagen“[15] und „Strassenmeistereien“[16] den nationalsozialistischen Staat stolz und kraftvoll repräsentiert wissen:

„Die preußischen Straßenwärterhäuser um 1800 drückten bei all ihrer Kleinheit aus: Ich vertrete den Staat. Dazu müssen wir bei den um so vieles vergrößerten Aufgaben auch kommen.“[17]

Folgerichtig werden in dem Band auch „Richtlinien für den Entwurf von RAB-Strassenmeistereien“ („RAB“=Reichsautobahn) in der „Fassung vom 1. Oktober 1941“ dokumentiert:

„Für die Lage, Größe und bauliche Durchbildung der Dienstwohnungen müssen nicht nur die Notwendigkeiten des Dienstbetriebs, sondern auch die Grundsätze völkisch-sozialer Lebensanschauung maßgebend sein. Es müssen die wohnlichen Grundlagen geschaffen werden für den Aufbau eines natürlichen, dem Land und der Scholle verwachsenen Familienlebens, dessen Triebkräfte eine Schar gesunder, froher, heim- und heimatbewußter Kinder sind.“[18]

Paul Bonatz stellt sich nicht erst seit 1933 in den staatlichen Dienst „völkisch-sozialer Lebensanschauung“. Er publiziert wie zitiert 1942 Bücher zur Reichsautobahn, darin sind viele Abbildungen wie ein „Eingang zum Dienstgebäude der Straßenmeisterei Halle-Peißen“. Zu sehen ist oberhalb der Türe eine Plastik, bestehend aus einem Adler, auf einem Hakenkreuz sitzend.[19] Bonatz betreibt Nazi-Propaganda mit architektonischen Mitteln.

Bonatz schmiegt sich an Worte des „Führers“ an und möchte in dessen Sinne wirken, 1941:

„Bonatz schrieb, ‚wenn der Führer die Städte in der Ebene an den Hauptverkehrszug oder einen Platz mit großer Ausdehnungsmöglichkeit‘ hinweise, ‚wenn er für Köln und Hamburg die Plätze am Strom‘ bestimme, ‚also überall nach dem Einmaligen, dem Charakteristischen‘ suche, ‚so würde er für Stuttgart sicher mit der Höhenbekrönung einverstanden sein. Die exakte bauliche Gestaltung dieser Anlage, etwas mit Freitreppen wie bei den Propyläen‘, müsse ‚ein Wettbewerb unter den heimkehrenden Kriegern entscheiden‘.“[20]

Heute verteidigen Grüne bruchlos einen Architekten wie Paul Bonatz, der seinen Beitrag gern leistete zum ‚Erfolg‘ des Nationalsozialismus und mit den deutschen „Kriegern“ der Wehrmacht, des SD, der SS, den Polizeibataillonen mit fieberte – während des Holocaust machte er sich Gedanken und entwickelte Pläne wie Straßenmeistereien oder Reichsautobahntankstellen gebaut werden sollen, damit die deutschen Räder rollen können für den ‚Endsieg‘.

Das verweist auf eine ganz eigentümliche Geschichte bis heute: wenig bekannt, analysiert und diskutiert ist die Tatsache, dass bei der Gründung der Grünen Ende der 1970er Jahre ehemalige NSDAP-Mitglieder und Rechtsextremisten beteiligt waren.[21]

Es geht insbesondere um die ideologischen Affinitäten von Ökologie, Nationalismus, Purifikation des ‚Volkskörpers‘ oder des Gartens. Auch die Tatsache, dass die Schutzstaffel (SS) in Dachau einen Kräutergarten anlegen ließ, war kein Zufall.

Die Architekten von Stuttgart 21 sind jedoch noch viel zu zurückhaltend und indifferent gegenüber dem allzu deutschen Erbe: sowohl die große Halle wie auch der Turm (mit dem Mercedes-Stern drauf) sollen stehen bleiben. Damit wirbt die Bahn.

Es ist wohl keine gute Idee dutzende Kilometer Tunnels zu graben, damit der ICE ein paar Minuten schneller rauschen kann. Deshalb ist Stuttgart 21 ein jedenfalls in der Streckenführung merkwürdiges Projekt.

Ein neuer Bahnhof für Stuttgart jedoch – das wäre ein Fortschritt, wenn es denn wirklich etwas Neues gäbe. Doch die Bonatzsche Halle soll ja gerade stehen bleiben.

Warum jedoch sind so viele Grüne – immerhin politisch die stärkste Fraktion in Stuttgart – engagiert gegen Stuttgart 21 und für K21?

Analytisch relevant ist vor diesem Hintergrund ein Text von Andrei S. Markovits, Professor für Politikwissenschaft an der University of Michigan, aus dem Jahr 1988:

„Die Gefahr liegt überspitzt gesagt darin, daß die Grünen zu einem immer wichtigeren Bestandteil einer politischen Kultur der ‚neuen Unbefangenheit‘ werden, die sich in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit in den letzten Jahren sogar des komplizierten und einzigartigen Verhältnisses zwischen Deutschen und Juden bemächtigt hat – und somit auch des Holocaust. Eines unvergleichlichen Faktums in der Geschichte, das zwar ohne die nationalsozialistische Zwangs- und Willkürherrschaft undenkbar gewesen wäre, das jedoch mehr als ‚Faschismus‘ war, ein Phänomen sui generis, das auch von der deutschen Linken nie als solches aufgearbeitet wurde“.[22]

Markovits und Philip S. Gorski schreiben wenig später, diesen Gedanken von Markovits fortführend:

„Wir wagen die kühne Behauptung, daß es direkte – wenn auch zumeist versteckte – Verbindungslinien zwischen Auschwitz und den Grünen gibt.“[23]

Diese Verbindungslinien sind es, welche es zu analysieren gilt. Wer sich Fernseh- oder Radioberichte, Internettexte wie auch die Printmedien zu Stuttgart 21 anschaut, sieht mit welcher geradezu religiösen Stimmung die Gegnerinnen und Gegner mobil machen. Der Zaun vor dem vor dem Abriss stehenden Seitenflügel wurde als „Wallfahrtsort“ bezeichnet (ZDF).

Es geht hier weniger um ökonomische Krise, leere Kassen für solche unmäßigen Projekte oder um die Bahn mit ihren hauseigenen Problemen. Es geht um diesen Bahnhof. Die Schwaben verteidigen ihn, so als ob das ein schönes Bauwerk oder Bonatz ein ehrenwerter Architekt gewesen sei. Weder noch.

Vielmehr sind die „Verbindungslinien von Auschwitz zu den Grünen“ und die Verbindung von Bonatz, seinem monumentalen, den NS architektonisch antizipierenden Stuttgarter Hauptbahnhof, sein Mitbauen an den Reichsautobahnen und seine Ehrerbietung für den „Führer“ 1941 in den Fokus zu nehmen. In den Archiven gibt es noch viel mehr Dokumente über Bonatz und seine Aktivitäten während des Nationalsozialismus.

Es ist von besonderer Bedeutung, dass gerade die Grünen, Linke, sog. Umweltschützer, Pfarrer, Architekten, Künstler und viele andere ‚Engagierte‘ im Schwabenland nicht auf die Nazi-Zeit, die Autobahn und NS-Architektur reflektieren.

Antisemitismus zeigt sich auch in einer Erinnerungsabwehr und diese „neue Unbefangenheit“, die heute nicht mehr ‚neu‘ ist, gilt es zu kritisieren.

Renate Künast, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, ging kürzlich nach Stuttgart um auf einer Großdemonstration gegen Stuttgart 21 und für den Bonatz-Bau zu reden. Zuvor arbeitete ihre Kollegin Kerstin Müller federführend am anti-israelischen Bundestagsbeschluss vom 1. Juli 2010 zur Gaza-Flotille, der fraktionsübergreifend und einstimmig beschlossen wurde.

Es ist vor diesem Hintergrund konsequent, dass sich Grüne, ‚Linke‘ und Gleichgesinnte gegen Stuttgart 21 wie auch gegen Israel, dafür aber für einen Architekten einsetzen, der 1926 Stuttgart nicht zu einer „Vorstadt Jerusalems“ ‚verkommen‘ lassen wollte.

Honni soit qui mal y pense, gell?


[1] „Der Stuttgarter Hauptbahnhof ist ein architektur- und geistesgeschichtliches Kulturzeugnis ersten Ranges. Die Gefahr besteht, dass die DB noch vor Genehmigung aller Teilabschnitte von Stuttgart 21 und der Neubaustrecke voreilig Fakten schafft, nur um die ‚Unumkehrbarkeit‘ von Stuttgart 21 vordergründig zu demonstrieren: durch den Teilabbruch dieses Meisterwerks! Wichtigstes Bauwerk der ‚Stuttgarter Schule‘.
Der Stuttgarter Hauptbahnhof, zwischen 1914 und 1928 von Paul Bonatz und Friedrich Eugen Scholer erbaut, steht seit 1987 als ‚Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung‘ unter Denkmalschutz. Seine Bedeutung als Meisterwerk der Architektur ist einzigartig: Der Stuttgarter Hauptbahnhof stößt zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Tor in eine neue Welt auf und wirkt in Deutschlands Süden ähnlich wie die Turbinenhalle von Peter Behrens in Berlin oder die Fagus-Werke von Walter Gropius in Alfeld im Norden, auch wenn er aufgrund der kriegsbedingt langen Bauzeit bei seiner Fertigstellung zum Zeitgenossen der Weißenhofsiedlung wird“ (http://www.kopfbahnhof-21.de/index.php?id=509 (22.08.2010)). Kein Wort darüber, dass Bonatz aggressiv GEGEN die moderne Weißenhofsiedlung aktiv war als Aktivist und Architekt für die völkisch-konforme Kochenhofsiedlung.

[2] Andreas Brunold (1992): Verkehrsplanung und Stadtentwicklung. Die städtebauliche Entwicklung des Stuttgarter Bahnhofsgeländes – eine Fallstudie, Stuttgart: Silberburg Verlag, 285, Anm. 246. Vgl. zu dieser Brücke in Limburg auch: „Verhoeven, Jennifer: ‚…hier war einmal Vollkommenheit erreicht.‘ Die Reichsautobahnbrücke von Paul Bonatz bei Limburg a.d. Lahn. Die Reichsautobahn wollten die Nationalsozialisten nicht nur als technische, sondern auch als „kulturelle“ Aufgabe verstanden wissen: Mit ihr sollte ein das eigene Selbstverständnis repräsentierendes landschaftsgestaltendes Gesamtkunstwerk geschaffen werden. Zu den besonders markanten und monumentalen Bauten in diesem Zusammenhang gehörte die nach Plänen von Paul Bonatz von 1937 bis zum Winter 1939/40 errichtete 13-bogige Natursteinbrücke bei Limburg an der Lahn. Der Artikel gibt zunächst grundlegende Informationen zum Reichsautobahnbau und würdigt dann die besonderen gestalterischen Aspekte der Bonatzbrücke, die zum einen in der Einbindung in die umgebende Natur zu sehen sind, zum anderen in dem Bezug auf die nahe gelegene mittelalterliche Bogenbrücke sowie den exponierten Dom. Anschließend wird auf die propagandistische Inszenierung solcher Bauwerke eingegangen. Nach der Kriegszerstörung der Brücke hat man sich beim Neubau in den 1960er Jahren von Formgebung und Materialwahl des Bonatzbaus bewusst abgesetzt, in Fachzeitschrift: Denkmalpflege & Kulturgeschichte (2007)Nr.2, S.2-8, Abb.,Lit.“ (http://www.baufachinformation.de/artikel.jsp?v=631 (24.08.2010)).

[3] Paul Bonatz (1926): Noch einmal die Werkbundsiedlung, in: Schwäbischer Merkur, Abendblatt, 5. Mai 1926, zitiert nach Stefanie Plarre (2001): Die Kochenhofsiedlung – Das Gegenmodell zur Weißenhofsiedlung. Paul Schmitthenners Siedlungsprojekt in Stuttgart 1927 bis 1933, Stuttgart: Hohenheim, 88, Herv. d.V.

[4] Plarre 2001, 53:“Das Haus Nr. 4 wurde von Paul Bonatz und dessen Kompagnon Friedrich Eugen Scholer geplant. Das dreistöckige Mietshaus schließt mit seinem zweistöckigen Bäckereianbau an die ‚Hermann-Pleuer-Straße‘ an. Es ist sicherlich kein Zufall, daß die ersten Gebäude des Siedlungsrundganges von den beiden bedeutendsten Professoren der Stuttgarter Technischen Hochschule entworfen wurden. Die exponierte Lage der Häuser sollte die Bedeutung der Architekten unterstreichen. Ihre Häuser stehen zudem an der höchsten Stelle des Geländes und bekrönen damit die gesamte Siedlung. Bonatz hat im Gegensatz zu Schmitthenner zwar nur ein Gebäude geplant, doch ist seines das größte der Kochenhofsiedlung.“

[5] Plarre 2001, 11.

[6] Vor dem Eingang zur Ausstellung ‚Deutsches Holz für Hausbau und Wohnung‘, also der Kochenhofsiedlung, hingen mehrere Hakenkreuzfahnen, siehe Abbildung von 1933 in Plarre 2001, 12, Abb. 2.

[7] Brunold 1992, 84.

[8] Fritz Todt (1934): Straßenbau – Bekenntnis und Forderung, in: Die Strasse, 1. Jg., Heft 1, 2.

[9] Paul Bonatz (1934): Die Form der Brücken der Reichsautobahn, in: Die Strasse, 1. Jg., Heft 1, 14-18.

[10] Paul Bonatz (1934a): Die Gestaltung der Brücken im Zuge der Reichsautobahnen, in: Die Strasse, 1. Jg., Heft 2, 52-55, 52.

[11] Paul Bonatz (1936): Kleine Bauwerke in Stein, in: Die Strasse. Vereinigt mit der Zeitschrift „Die Autobahn“ (Reichsautobahn), 3. Jg., Heft 7 (1. Aprilheft), 200-205, 204.

[12] Friedrich Tamms (Hg.) (1937): Paul Bonatz. Arbeiten aus den Jahren 1907 bis 1937. Mit 102 Abbildungen, Stuttgart: Verlag Julius Hoffmann, 83. Völlig größenwahnsinnig wird diese Brücke in Relation gesetzt zu anderen Bauwerken: „Nur durch einen Vergleich mit bekannten Größen kann man sich über die Maße Rechenschaft ablegen. Das wurde in obiger Zeichnung versucht, die in der Mitte das Brückenportal der neuen Elbhochbrücke zeigt, im übrigen von links nach rechts folgende Bauten: Pantheon Rom. Kongreßhalle Nürnberg, Berliner Rathausturm. Bavaria, Michaeliskirche Hamburg. Stefansdom Wien, Bahnhof Stuttgart; in der Mittelachse Kölner Dom, Cheopsypramide, Siegessäule Berlin, Freiheitsstatue New York, Kolosseum Rom, Triumphbogen auf dem Etoile de Paris“ (ebd.).

[13] Vgl. Abbildung des Ehrenmals in Heilbronn in Tamms 1937, 53.

[14] Tamms 1937, 7.

[15] Paul Bonatz/Bruno Wehner (1942b): Reichsautobahn – Tankanlagen, Berlin: Volk und Reich Verlag. Der Verlag war auch in „Amsterdam Prag Wien“ ansässig – wir sind im Jahr 1942!

[16] Paul Bonatz/Bruno Wehner (1942): Reichsautobahn – Strassenmeistereien, Berlin/Prag/Wien: Volk und Reich Verlag.

[17] Paul Bonatz (1942a): Die Gesichtspunkte der Gestaltung, in: ders./Wehner (1942), 11-15, 15.

[18] Richtlinien für den Entwurf von RAB-Strassenmeistereien. Fassung vom 1. Oktober 1941, in: Bonatz/Wehner (Hg.) (1942), 111-132, 131f.

[19] Bonatz/Wehner 1942, 88.

[20] Brunold 1992, 289, Anm. 325. Brunold zitiert aus Paul Bonatz (1941): Städtebauliche und Verkehrsfragen in Stuttgart, Gutachten vom 31. Juli 1941, Stadtarchiv Stuttgart, Hauptaktei Gruppe 6, Aktenzeichen 6110-9“, ebd., 288, Anm. 313.

[21] Vgl. z.B. Clemens Heni (2007): Salonfähigkeit der Neuen Rechten. ›Nationale Identität‹, Antisemitismus und Antiamerikanismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1970-2005: Henning Eichberg als Exempel, Marburg: Tectum Verlag, 348-375.

[22] Andrei S. Markovits (1988): Was ist das „Deutsche“ an den Grünen? Vergangenheitsaufarbeitung als Voraussetzung politischer Zukunftsbewältigung, in: Otto Kallscheuer (Hg.), Die Grünen – letzte Wahl? Vorgaben in Sachen Zukunftsbewältigung, Berlin: Rotbuch, 146-163, 148.

[23] Andrei S. Markovits/Philip S. Gorski (1993)/1997: Grün schlägt rot. Die deutsche Linke nach 1945, Hamburg: Rotbuch, 14.

Wurden die Juden gar nicht als Juden ermordet?

Wurden die Juden gar nicht als Juden ermordet?

Superhelden der Antisemitismusforschung, Nahostforschung und

Philosophiegeschichte, Teil 3:

Giorgio Agamben, Gil Anidjar und Martin Heidegger

Der italienische Mode-Philosoph Giorgio Agamben, der in Deutschland maßgeblich vom Suhrkamp-Verlag promotet wird, steht exemplarisch für die antimoderne Theorie, welche Auschwitz in einem Orkus von ‚Lagern‘ und Ordnung untergehen lässt. Der Zivilisationsbruch Auschwitz hat demnach nicht stattgefunden. Nicht zufällig ist Agamben ein wichtiger Referenzpunkt für manche Islam- und Nahostforscher.

Agamben spricht vom „Lager als nómos der Moderne“[1] und setzt die Festsetzung illegaler Einwanderer in Italien 1991 mit der Deportation von Juden aus Vichy-Frankreich oder heutigen Warteräumen für Flüchtlinge auf internationalen Flughäfen gleich.[2]

Agamben benutzt Auschwitz um antiwestliche Ressentiments zu schüren, er suggeriert im Einklang mit vielen antimodernen Philosophen und Theoretikern, dass die Moderne Schuld trüge an den Verbrechen der Deutschen und gerade nicht ein völkischer, durchaus spezifisch deutscher Antimodernismus und vor allem ein eliminatorischer Antisemitismus, der gleichwohl in einer hoch industrialisierten und arbeitsteiligen Industriegesellschaft seine Basis hatte. ‚Das Lager‘ sei ein rechtsfreier Raum, und typisch für den Staat an und für sich. Der Nationalsozialismus kommt lediglich in der Kontinuität solchen Lagerdenkens vor.

Noch perfider ist die Benutzung des Wortes „Muselmann“ von Agamben. Dieses Wort bezeichnete diejenigen KZ-Häftlinge, die so abgemagert und körperlich wie psychisch am Ende waren, dass der Tod unmittelbar bevor stand. Agamben kommt zu dem unsagbaren Satz:

„Jedenfalls wissen die Juden in Auschwitz, und dies wirkt wie eine grausame Selbstiroinie, daß sie nicht als Juden sterben werden.“[3]

Agamben will sagen, dass die Juden als Muslime ermordet worden seien. Darin wird er vehement unterstützt von dem poststrukturalistischen Autor und Nahostforscher Gil Anidjar, beide werden z.B. von dem Islamwissenschaftler Achim Rohde herangezogen[4], insbesondere weil Anidjar Juden wie Araber als Opfer des christlichen Europas definiert. Diese nominalistische, realitätsferne Gleichsetzung steigert der in der Nachfolge von Edward Said stehende Columbia Professor noch indem er sagt, Juden seien als „Muslime“ gestorben. Er suggeriert, die Mörder hätten die Juden nicht als Juden, sondern als Muselmänner, als Muslime ermordet.[5]

Solche sprachlichen Spielereien sind angesichts von Auschwitz nicht nur zynisch, es ist eine Form der Holocaustleugnung. Dass Juden als Juden ermordet werden, wird von Agamben wie von seinem Kollegen Anidjar, der sich auf Agamben stützt, geleugnet.

Mehr noch: Agamben bezieht sich auf Martin Heidegger. Dessen Bremer Vorträge aus dem Jahr 1949 haben es Agamben angetan, darin erwähnt der Schwarzwaldphilosoph anteilnahmslos das Ermorden/Töten der Juden und anderer in den KZs, im Kern jedoch geht es um das „Wesen des Todes“, welches wiederum das Denken von Heidegger bestimmt. Agamben zitiert aus einem der vier Bremer Vorträge, Die Gefahr.[6] Er zitiert unvollständig (und auch teilweise falsch), lässt einiges weg, zumal eine Gleichsetzung von den KZ- und Vernichtungslagern mit an Hunger sterbenden in China.

Zentraler noch ist die Kritik des „ontologischen Negationismus“ Heideggers, wie sie der französische Philosoph Emmanuel Faye jüngst vorgelegt hat.[7] Faye zitiert den von Agamben ebenso herangezogenen Abschnitt aus dem Text Die Gefahr, Heidegger 1949:

„Hunderttausende sterben in Masse. Sterben Sie? Sie kommen um. Sie werden umgelegt. Sterben Sie? Sie werden Bestandsstücke eines Bestandes der Fabrikation von Leichen. Sterben Sie? Sie werden in Vernichtungslagern unauffällig liquidiert. Und auch ohne Solches – Millionen verelenden jetzt in China durch den Hunger in ein Verenden. Sterben aber heißt, diesen Austrag vermögen. Wir vermögen es nur, wenn unser Wesen das Wesen des Todes mag. Doch inmitten der ungezählten Tode bleibt das Wesen des Todes verstellt. Der Tod ist weder das leere Nichts, noch ist er nur der Übergang von einem Seienden zu einem anderen. Der Tod gehört in das aus dem Wesen des Seyns ereignete Dasein des Menschen. So birgt er das Wesen des Seyns. Der Tod ist das höchste Gebirg der Wahrheit des Seyns selbst, das Gebirg, das in sich die Verborgenheit des Wesens des Seyns birgt und die Bergung seines Wesens versammelt. Darum vermag der Mensch den Tod nur und erst, wenn das Seyn selber aus der Wahrheit seines Wesens das Wesen des Menschen in das Wesen des Seyns vereignet. Der Tod ist das Gebirg des Seyns im Gedicht der Welt. Den Tod in seinem Wesen vermögen, heißt: sterben können. Diejenigen, die sterben können, sind erst die Sterblichen im tragenden Sinn dieses Wortes.“[8]

Agamben bemerkt knapp, dass eine „flüchtige Anspielung auf die Vernichtungslager“ „zumindest unangebracht sei“, wie manche Kritiker Heidegger vorgeworfen hätten, da dieser ja in den „Nazismus“ ‚verstrickt‘ gewesen sei. Philosophisch jedoch affirmiert Agamben Heidegger, zumal dessen Todesphilosophie.[9] Faye hingegen analysiert Heidegger:

„Dieser Text übersteigt alles, was die Nationalsozialisten behauptet haben. (…) Die Redewendungen von der ‚Wahrheit des Seyns‘, vom ‚Gedicht der Welt‘ und vom ‚höchsten Gebirg‘ können die Abscheulichkeit des Gesagten nicht verdecken. Das dreimal wiederholte ‚Sterben sie?‘ verlangt nach einer unhaltbaren Antwort: Heidegger zufolge ist in den Vernichtungslagern niemand gestorben, denn keiner der Ermordeten trug in seinem Wesen die Möglichkeit des Todes. Man muss sich im Klaren darüber sein, dass diese Aussagen auf nichts anderem als auf dem schieren Gegenteil menschlicher Vernunft beruhen. Wir haben es hier nicht mehr mit Revisionismus zu tun, sondern mit totalem Negationismus, ja mit etwas, das alle Worte übersteigt und das recht eigentlich namenlos ist. (…)

Mit Absicht verwendet Heidegger zu Beginn des Abschnittes, wo von den in den Vernichtungslagern Ermordeten gesprochen wird, niemals das Wort ‚Mensch‘. Heidegger behauptet nämlich, dass nur der sterben ‚kann‘, der im ‚Gebirg‘ des ‚Wesens‘ des ‚Seyns‘ ist. Die in den Vernichtungslagern Ermordeten konnten nicht vom ‚Seyn‘ ‚geborgen‘ werden. Es waren keine ‚Sterblichen‘. Es sind für Heidegger keine Menschen.“[10]

Diese Analyse von Emmanuel Faye zeigt, dass Heidegger sich vom Subjekt abwendet, zumal es nicht den völkischen Kategorien dieses allzu deutschen (und alsbald nationalsozialistischen) Denkers entspricht. Faye erwähnt auch den derzeit „stetig wachsenden Einfluss Heideggers auf die iranischen Fundamentalisten“, wie eine Studie von Victor Farias belege.[11]

In einem weiteren seiner Bremer Vorträge von 1949 redet Heidegger von der „Fabrikation von Leichen“, was Agamben ebenso affirmativ zitiert[12], ohne dieses Wort zu analysieren oder den Kontext des Zitats kenntlich zu machen. Heidegger sagt:

„Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.“[13]

Die Gleichsetzung der präzedenzlosen Vernichtung der europäischen Juden in Gaskammern mit modernem Ackerbau ist ein Antisemitismus neuen Typs, eine Banalisierung des Unfassbaren[14], für Islamforscher wie Anidjar sowie für Philosophen wie Agamben besteht der Nutzen dieser Form des Antisemitismus darin, ‚die‘ Moderne oder ‚die‘ Technik zu beschuldigen für den Massenmord und die Shoah verantwortlich zu sein.

Deutsche oder auch Muslime, also die konkreten Täter und Kollaborateure im Holocaust und im Vernichtungskrieg gegen die Juden, werden als Täter derealisiert. Das ist praktisch und en vogue.

Philosophisch jedoch wurde Heidegger auch diesbezüglich kritisiert, in jüngerer Zeit von Hassan Givsan:

„Das Ungeheuerliche und Grauenhafte des Heideggerschen Satzes [„Fabrikation von Leichen…“, d.V.] besteht darin, daß er die Vernichtung der Juden als Seinsgeschick faßt: denn das Ge-stell ist Seinsgeschick. Jene, die Heideggers Verabschiedung der Subjektphilosophie und des ‚Subjekts‘ als Wohltat feiern, müßten dann auch zur Kenntnis und in Kauf nehmen: die Vernichtung der Juden hat keine Subjekte. Denn es ist das Sein, das als Ge-stell west und die Vernichtung ins Werk setzt: es ist das Sein, das ‚dem Grimm‘ ‚Andrang zu Unheil‘ gewährt wie es in ‚Brief über den ‚Humanismus‘ (1946) heißt, und das ‚Wesen‘ des ‚Bösen‘ ‚besteht nicht in der bloßen Schlechtigkeit des menschlichen Handelns, sonder es beruht im Bösartigen des Grimmes‘. Nicht die Menschen haben ‚Böses‘ getan, niemand hat ‚Böses‘ getan – es ist das Sein, das Unheil schickt und das Böse gewährt. Die Menschen sind dabei bloß vom Sein gebraucht: sie sind bloß Werkzeuge des Sich-ins-Werk-setzens der Wahrheit des Seins. So gibt es keine ‚Schuld‘ und kein ‚Entschuldigen‘. Kurz: Das Ungeheuerliche und das Grauenhafte ist Heideggers Seinsdenken selbst. Heidegger hat nicht geschwiegen, auch nicht über den Holocaust.“[15]

Schließlich wurde 2004 deutlich, wie Antiamerikanismus und eine Verharmlosung des Antisemitismus und des Holocaust, ja wie das Reden vom ubiquitären ‚Lager‘ bei Agamben jeglichen Realitätsbezug vermissen lässt. Ein kleines Buch zur Einführung in das Denken des italienischen Modephilosophen von Eva Geulen ist eine typische Antwort heutiger Mainstream Philosophen/Gegenintellektueller auf radikalen Islam und den 11. September:

„Viel Ärger und viel Lob hat sich Agamben eingehandelt, als er unter skandalträchtigem Verweis auf die Tätowierung von KZ-Häftlingen im Frühjahr 2004 eine Gastprofessur an der New York University nicht antrat, weil er sich exemplarisch und öffentlich der von den USA nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 von allen Einreisenden verlangten Abnahme eines DNA-Fingerabdrucks verweigerte (wer im Besitz einer green card ist, hat ihn längst hinterlegt). (…) Ihm einen direkten Vergleich zwischen der Immigrationszone des New Yorker Kennedy-Flughafens und einem Konzentrationslager zu unterstellen ist offensichtlich verfehlt. Schockiert könnte man sich aber darüber zeigen, dass wir uns an biopolitische Interventionen im Alltag offenbar schon so sehr gewöhnt haben, dass es der Auschwitz-Insinuation bedarf, um die Lethargie zu unterbrechen. Was in solchen Räumen geschieht, ist nicht mehr rechtlich abgesichert, sondern hängt ‚von der Zivilität und dem ethischen Sinn der Polizei‘ ab, die vorübergehend in solchen Räumen als Souverän agiert.“[16]

‚Bio-Politik‘, ‚Souverän‘, ‚Muselmann‘ oder ‚Lager als nómos der Moderne‘ sind beliebte Code-Wörter einer Wahrheit, Geschichte und Kritik apriori eskamotierenden und lediglich Sprachspielereien evozierenden Wissenschaft in der Folge Giorgio Agambens, Michel Foucaults respektive Carl Schmitts.

Agamben schürt den Antisemitismus und die Erinnerungsabwehr an die Shoah, wenn er sagt dass Juden nicht als Juden in Auschwitz ermordet worden seien oder wenn er sagt, dass ‚das Lager‘ und die KZs in einer Kontinuität zu harmlosen, lächerlichen DNA-Fingerabdrücken im 21. Jahrhundert in USA stünden.

Exakt aus diesen Gründen wird Agamben von deutschen Islamwissenschaftlern und vielen anderen angepassten Modeakademikern und Publizisten herangezogen und ist Standardliteratur an vielen heutigen Universitäten, nicht nur in Deutschland.


[1] Giorgio Agamben (1995)/2002: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 175 (Kapitelüberschrift). Dieser Band erschien in der Reihe „Erbschaft unserer Zeit. Vorträge über den Wissensstand der Epoche Band 16. Im Auftrag des Einstein Forums herausgegeben von Gary Smith und Rüdiger Zill.“ Die Verharmlosung des Präzedenzlosen von Auschwitz ist offenbar (gewollt/ungewollt, bewusst/unbewusst) Programm dieser Reihe, wenn man Smiths programmatische Erklärung zu Beginn des Buches liest („Erbschaft unserer Zeit“, ebd., 5): „Das 20. Jahrhundert, dessen geistiges Erbe in dieser Buchreihe geprüft werden soll, hat durch einen unvorstellbaren Verlust an Ethik Geschichte gemacht. Es war uns vorbehalten, die Techniken der Naturbeherrschung so zu entfalten, daß sie auch an der inneren Natur des Menschen keine Grenze mehr fanden und damit das Jahrhundert der Völkermorde ermöglichten. Verdun und Vietnam, Auschwitz und der Archipel Gulag waren die inhumanen Stationen jenes Fortschrittzuges, den wir lieber zu Freud und Benjamin, Picasso und Godard fahren sahen“ (ebd.).

[2] Agamben 2002: 183.

[3] Agamben 2002: 39.

[4] Achim Rohde (2010): Unter Südländern. Zur Geschichte der Orientalistik und Judaistik in Deutschland, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 58. Jg., H. 7/8, 639-652, 645; Achim Rohde (2005): Der Innere Orient. Orientalismus, Antisemitismus und Geschlecht im Deutschland des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: Die Welt des Islams, 45. Jg, H. 2, 370-411, 385, 400f.

[5] Siehe ein langes Interview mit Anidjar über dessen Buch „The Jew, the Arab: An Interview with Gil Anidjar“, in: http://asiasociety.org/policy-politics/international-relations/us-asia/the-jew-arab-an-interview-gil-anidjar (31.07.2010). „[Frage, d.V.] The Italian philosopher Giorgio Agamben has commented that, „With a kind of ferocious irony, the Jews knew that they would not die at Auschwitz as Jews.“ How does your reading of the understanding of Islam in certain canonical/philosophical texts of the Western tradition [Kant, Montesquieu, and Hegel], help us to understand the use of this appellation in the context of the concentration camp? [Anidjar, d.V.] I started working on the Muselmann (a term I translate as ‚Muslim‘ since that is what the German was taken to mean, according to countless testimonies) when I wrote the introduction to Derrida’s Acts of Religion although at the time I was not quite sure where it was taking me. By the time I read Agamben’s Remnants of Auschwitz, which had just come out in French (the English translation had not yet appeared), I was really taken with the book, and thought that I would have nothing to add. Agamben is after all the first to take Levi seriously on the crucial importance of the Muslim, and to dedicate an entire book to a figure that, though well known in circles familiar with Holocaust literature, has hardly attracted attention, or indeed, any serious reflection.”

In dem Gespräch sind auch viele weitere höchst problematische Aussagen Anidjars enthalten wie folgende: „I should also point out that there is a dreadful similarity between the way in which Israel and Europe speak publicly about their Muslim populations as a „demographic threat“. It is incredible, although it remains an absolutely legitimate discourse to maintain. To invoke an illustration I am loath to invoke, think of when Jews were declared a demographic threat, and think of what happens when a state and public personalities (rather than oppressed minorities living in poverty and without prospects for a future) deploy such rhetoric as if this were no problem at all. Or for a major politician, who is not Le Pen, supposedly not a fascist, to say that the inclusion of Turkey into Europe would threaten the integrity of Europe, a statement that was promptly endorsed by the Pope, who of course agrees with it! It boggles my naïve mind. Imagine if a major French politician were to say today that the Jews were a demographic threat to Europe. No one says that. Until then, I will not believe in the so-called ‘new anti-Semitism’. Such an irresponsible concept!“

[6] Agamben 2002: 64.

[7] Emmanuel Faye (2005)/2009: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie Im Unkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und 1935, Berlin: Matthes & Seitz, 407.

[8] Martin Heidegger (1949): Die Gefahr, in: ders.  (1994): Bremer und Freiburger Vorträge, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, Gesamtausgabe Band 79, 46-67, 56.

[9] Vgl. Agamben 2002: 64-66.

[10] Faye 2009, 408.

[11] Faye verweist auf eine Studie von Victor Farias, „Heidegger y su Herencia“, Faye 2009: 523, Anm. 63.

[12] Agamben 2002: 64.

[13] Martin Heidegger (1949b): Einblick in Das Was Ist, in: ders. 1994, 3–77, 27.

[14] Vgl. die Kritik von Clemens Heni (2008): „Sekundärer Antisemitismus“. Ein kaum erforschter Teil des Post-Holocaust-Antisemitismus, in: Tribüne . Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, Jg.. 47, Heft 187, 132-142, 136f.

[15] Hassan Givsan (1998): Eine bestürzende Geschichte: Warum Philosophen sich durch den „Fall Heidegger“ korrumpieren lassen, Würzburg: Königshausen & Neumann, 83. Diese dünne Buch ist eine etwas längere „Anmerkung“ (133 Seiten) zu Givsans Habilitationsschrift aus dem selben Jahr, ebd.: 9.

[16] Eva Geulen (2005): Giorgio Agamben zur Einführung, Hamburg: Junius, 101. Auch an anderer Stelle verharmlost die Autorin den Nationalsozialismus, wenn sie in Anlehnung an Agamben die „Schutzhaft im Nationalsozialismus“ mit der Situation „der Gefangenenlager in Guantanamo Bay“ gleichsetzt und jeweils als „Ausnahmezustand“ bezeichnet (vgl. ebd.: 96f.), letzteres eine Begrifflichkeit des Nazi-Kronjuristen Carl Schmitt, der ein wichtiger Vordenker auch für Agamben ist.

Das grüne Ressentiment

Das grüne Ressentiment

Die Grünen, Paul Bonatz und die „Adolf-Hitler-Kampfbahn“

versus Stuttgart 21

Die Proteste gegen Stuttgart 21 nehmen zu und werden immer grotesker, wie ein Gebet, eine Fürbitte bzw. ein „Geloben“ für den Schutz des „Nordflügels“ des Stuttgarter Hauptbahnhofes und andere involvierte Gelände eindrücklich zeigt. Als ich kürzlich als Tourist in Ludwigsburg durch die Innenstadt lief sah ich einen vielleicht 64jährigen Mann völlig aufgeregt auf zwei entfernte Bekannte zulaufen und einreden: Stuttgart 21 sei das Ende der Welt, eine Katastrophe, was die Bahn sich erlaube etc. etc. Es war ein ganz normaler Bürger, der aufgrund seiner Erzählung nicht so wirkte, als ob er je zuvor in seinem Leben politisch aktiv war. Was ist los in Stuttgart?

Eine Initiative K21, „Kopfbahnhof“ Stuttgart, ist aktiv gegen das Mega-Projekt. Am 20. August 2010 findet in Stuttgart eine Demonstration gegen das Projekt Stuttgart 21 statt, Hauptrednerin ist die Grünen Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag aus Berlin, Renate Künast. Sie reden vom „Bürgeraufstand“ – man merkt was die einfachen und andere Leute so wirklich bewegt, heutzutage: nicht etwa ein atomarer Iran, bestückt mit Atomkraftwerken wie möglichen Nuklearwaffen, nicht die Hetze gegen den jüdischen Staat Israel von Seiten des Iran, der arabischen, muslimischen Welt wie auch im Westen, oder wenigstens die Menschenrechtsverletzungen im Iran, nein: ein Infrastrukturprojekt treibt die Leute um.

Wer die aktuellen Umfrageergebnisse für die Grünen bundesweit sieht und wenn man bedenkt, dass diese Wohlfühl-Partei, inclusive ihrem Wohlfühl-Antisemitismus aus Tübingen, in Stuttgart bei der Gemeinderatswahl 2009 die meisten Stimmen bekam und damit erstmals in einer Großstadt in der Bundesrepublik die Grünen die stärkste Fraktion sind, wird deutlich, dass hier der Volksmund spricht.

Am Montag, den 23. August 2010 wird auf der „40. Montagsdemo“ (!) um 18 Uhr der Tübinger OB Boris Palmer, der Gewerkschafter Bernd Wuttig und Axel Mayer, Regionalgeschäftsführer beim BUND Südlicher Oberrhein in Freiburg sprechen, Musik: Three Times a Lady.

Wenn Boris Palmer gerade mal nicht Juden verbal attackiert, also Holocaustüberlebende und deren Rede mit dem Nationalsozialismus oder dem „Wilhelminischen Imperialismus“ analogisiert, setzt er sich für Bauten eines Architekten wie Paul Bonatz ein, der den reaktionären, antimodernen Zug deutscher Architektur repräsentiert. Bonatz war sehr aktiv im Nationalsozialismus und Palmer wie viele Grüne mögen das offenbar.

Irgendwie braun sind im Ländle keineswegs nur die Filbingers oder die Haselnüsse…

Stuttgart – das ist Deutschland.

Ein Aspekt wurde bislang kaum berücksichtigt: was ist eigentlich moderne Architektur und für was steht der Stuttgarter Hauptbahnhof? Das sichtbarste Zeichen, dass sich das Halten von Sklavenarbeiterinnen und Sklavenarbeitern im Nationalsozialismus lohnte ist natürlich der große Stern von Mercedes-Benz auf dem Dach des Hauptbahnhofs, weithin sichtbar bei der Einfahrt in den Kopfbahnhof.

Wer diesen Bahnhof seit Jahrzehnten kennt und benutzt, ist erstmal erstaunt über die plötzliche Liebe zum „Nordflügel“, der bislang so gar keine Bedeutung hatte. Dabei soll das Hauptgebäude ja sogar stehen bleiben – das wird sich hoffentlich noch ändern.

Kein Mensch jedoch stellt den Architekten des Stuttgarter Hauptbahnhofes in Frage, Paul Bonatz (1877-1956). Der Hauptbahnhof war sein Durchbruch als Architekt.

Dabei stellt sich doch die Frage: wie kam es, dass der Architekt des Stuttgarter Hauptbahnhofes mit Adolf Hitler persönlich diskutierte, sich 1943 über ein Projekt nicht einigte, aber gleichwohl bis dahin dem Führer treu ergeben war und sehr aktiv war mit Projekten aller Art und kein Mensch heute darauf abhebt?

Niemand scheint sich daran zu stören, dass gerade Bonatz die 1933 eingeweihte Kochenhofsiedlung mit konzipierte, die als dezidiertes Gegenprojekt zum Neuen Bauen der Weißenhofsiedlung, die 1927 eröffnet wurde, gedacht war. Bonatz war Teil der Agitation gegen die Moderne, gegen helle Fassaden, flache Dächer, funktionale Räume und er war ein Kämpfer für das Walmdach. Bonatz war auch Architekt im „Jahr des Heils“ (O-Ton von Zeitzeugen), 1933, der „Adolf-Hitler-Kampfbahn“ (etwas später wurde der Name natürlich geändert, es ist heute das Stadion des VFB Stuttgart), was nicht verwundert wenn man weiß, dass sein Kumpel Paul Schmitthenner, führende Figur bei der Planung der Kochenhofsiedlung auf dem Killesberg, 1933 Mitglied der NSDAP wurde.

Ich erinnere mich gut an ein Seminar über das Automobil am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen, das ich Mitte der 1990er als Student besuchte. Auch die Zeitschrift „Die Strasse“ untersuchte ich, einer der Autoren und vor allem ein Mitarbeiter bei der Gestaltung der Reichsautobahnen war Paul Bonatz. Ich fand es schon damals nervig im „Bonatzbau“ der Universitätsbibliothek Tübingen arbeiten und Bücher in den dortigen Lesesaal bestellen zu müssen.

Es ist kein Zufall dass der einflussreichste Vordenker des modernen Rechtsextremismus und Mitbegründer der Neuen Rechten, der 1942 geborene Henning Eichberg, der in den 1970er Jahren in Stuttgart an der Universität lehrte, Bonatz oder auch Friedrich Eugen Scholer für deren Architektur lobte. Le Corbusier ist ein Feindbild der Völkischen, von Bonatz bis Eichberg. Die Formzentriertheit Corbusiers wollte weg vom heimattümelnden, althergebrachten Mief Alteuropas.

Wollen die heutigen, vor Ressentiment schäumenden Gegner von Stuttgart 21 dahin zurück? Schon wieder eine „Zukunft für die Vergangenheit“, wie der Stuttgarter Soziologe Wolfgang Pohrt schon vor Jahrzehnten schrieb?

Stuttgart 21 ist sicher ein wenig sinnvolles Projekt, allein schon die Streckenführung Richtung Ulm wirkt absurd. Doch der Kapitalismus basiert nicht darauf, Sinnvolles zu bauen, sondern überhaupt zu bauen. Die Selbstverwertung des Werts, welcher die zyklische Entwertung innewohnt wie das Gewitter in der Wolke, schreit nach mehr.

Wer darüber hinaus nichts von der Landschaft sehen möchte – und in all den Tunnels Richtung Ulm wird’s nix zu sehen geben – , kann auch während dem Reisen schlafen.

Doch eine Umgestaltung des Hauptbahnhof Quartiers könnte Stuttgart eventuell ein bisschen mehr frische Luft der weiten Welt geben. Etwas weniger Nazi-Mief à la Bonatz. Vielleicht jedenfalls.

Gefährlich jedoch ist das geradezu völkische, Bonatz anhimmelnde Ressentiment gegen moderne Architektur, gegen Veränderung und Neues. Man muss ganz sicher kein Fan von Stuttgart 21 sein, um das Ressentiment seiner Gegner als Gefahr für die Demokratie und als klammheimliche Freude über einen Architekten, der mit den Nazis kooperierte und zwar ideologisch wie praktisch, zu erkennen.

Es gibt auf dieser Welt viele Probleme und große Gefahren, über die zu diskutieren und Widerstand zu organisieren dringend nötig wäre. Stuttgart 21 gehört nicht dazu.

Dr. phil. Clemens Heni ist Politikwissenschaftler und Autor. Er lebt in New Haven/USA und Berlin. 2006 reichte er seine Dissertation „Salonfähigkeit der Neuen Rechten“ an der Universität Innsbruck ein, darin kritisierte er auch Paul Bonatz. Seit den 1970er Jahren ist er regelmäßig Gast im Stuttgarter Hauptbahnhof.

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