Von Gerald Grüneklee
„Asphaltcowboys“, Frauen, die ihren „Truckerinnen-Traum“ leben – die Branche der LKW-Fahrenden ist in Nordamerika geradezu mythologisiert. Filme besonders aus den 1970er Jahren wie „Trucker“, „Convoy“ und „Straße der Gewalt“ und in neueren Jahren die Doku-Soap „Ice Road Truckers“ bedienen die Sehnsüchte, die beim Publikum durch die Vorstellung vermeintlicher Ungebundenheit geweckt werden. Im Hintergrund steckt die nordamerikanische Gründungslegende der Märsche und Kutschentrecks „go West“ (bei der Besiedelung der USA) oder „go North“ (während des Goldrausches in den kanadischen Yukon und nach Alaska). Die Ikonographie wirkt bis heute, verbunden mit der Imagination individueller Freiheit in den menschenleeren Weiten. In der Gegenwart ist die Bedeutung der Branche immens. In den Flächenstaaten Kanada und USA wird ein Großteil der Waren per LKW transportiert, oft durch hunderte Kilometer schnurgerader Highways durch einsame Gegenden. Die Truck-Branche hat damit einen sensiblen Hebel im System der Warengesellschaft.
Nun mobilisiert die Branche in Kanada für einen „Freedom Convoy 2022“ gegen die Corona-Maßnahmen. Die Niederlande hatten ihren (inzwischen zurückgenommenen) „Freedom-Day“, ebenso Portugal und Norwegen, Dänemark und Großbritannien feiern ihn dieser Tage, in der Schweiz fordern ihn viele. In Deutschland wird dieser Moment noch gefühlte Ewigkeiten auf sich warten lassen, und nicht zuletzt wird dieser Tag von Politik und Zeitungs-Kommentator*innen erpresserisch an die Frage der Impfpflicht – „Freiheit durch Zwang“ – geknüpft werden. In Kanada scheint die Duldsamkeit weniger unendlich. So haben sich Ende Januar Zehntausende mit ihren Trucks auf den Weg gemacht zum Regierungssitz in Ottawa. Auslöser ist die am 15. Januar in Kraft getretene Regelung, dass alle kanadischen Fahrer*innen beim Grenzübertritt in die USA geimpft sein müssen – allerdings haben die USA ihrerseits eine identische Regelung verkündet, so dass ein rein kanadischer Protest diesbezüglich wenig bringt. Die nun entstandene Protestkampagne fokussiert sich folgerichtig nicht mehr allein auf die Impffrage, sondern hat das Ende aller unter Präsident Trudeau (Liberale Partei) erlassenen restriktiven Corona-Maßnahmen zum Ziel.
Präsident Trudeau zufolge sind Impfungen „das wichtigste Instrument, um Kanadas Wirtschaft in Schwung zu halten“ (F.A.Z.), auch in Kanada geht es also, wenig überraschend, keineswegs als Erstes um die Gesundheit der Menschen, diese ist lediglich Mittel zum Zweck. Trudeau hat den Protest auf seine Weise befeuert, indem er von einer „kleinen, randständigen Minderheit“ mit „inakzeptablen Ansichten“ sprach. Man fühlt sich an deutsche Statements erinnert wie jenes vom Ärztefunktionär Montgomery, der von der „Tyrannei der Ungeimpften“ sprach. Der ehemalige kanadische Eishockey-Nationalspieler Theoren Fleury twitterte zu Trudeaus Aussagen ironisch: „Trudeau hat soeben erklärt, dass Freiheit eine Randerscheinung ist. Hahahahaha“. Letztlich soll Trudeau jedoch mit seiner Familie zeitweilig vor der „kleinen Minderheit“ aus der kanadischen Hauptstadt geflohen sein. Keinen Spaß verstand Ottawas Bürgermeister Jim Watson, der den Umstand, dass Trucks beim Kriegerdenkmal parkten, als „Missachtung der Kriegstoten“ interpretierte. Der Militarismus, auch er erlebt in der Corona-Politik global ungeahnte neue Höhenflüge – und sei es aufgrund „humanitärer Hilfseinsätze im Innern“.
Ähnlich wie in Deutschland sind linke Organisationen in Kanada vehement auf der Seite autoritärer Maßnahmen, und sie stärken so letztlich die Rechte. Die mitgliederstärkste kanadische LKW-Gewerkschaft „Canadian Trucking Alliance“ unterstützt dementsprechend die Proteste nicht, „missbilligt“ sie vielmehr „aufs Schärfste“. Insgesamt wurde in den kanadischen Medien zunächst wenig von den Protesten berichtet, um sie dann zu verunglimpfen und tägliche Kanonaden auf rechtsextremistische Beteiligung an den Protesten abzuschießen. Damit wurde – Parallelen zu Deutschland sind unverkennbar – die gesellschaftliche Spaltung angeheizt, mit dem Tenor: wer nicht für uns ist, ist rechts.
Tatsächlich sind auf Videos vom Konvoi nicht nur reichlichst kanadische Fahnen zu sehen – an den Trucks wie bei jubelnden Menschen am Straßenrand -, sondern auch rechtsextreme Parolen und Symbole. Andererseits werden die harten, vor allem für weniger privilegierte Menschen einschränkenden und bedrohlichen Corona-Maßnahmen auch von den kanadischen Protestierenden immer wieder mit dem Faschismus verglichen. Die Wohlstands- und Kulturlinke nimmt Lebenslagen außerhalb ihrer eigenen Blase offenkundig nicht mehr wahr. Die erwachte linke Liebe zu Staat und Autorität hat den Rechten damit einen Raum gegeben, den sie gut zu instrumentalisieren verstehen. So jubelt auch die deutsche rechte Zeitung „Junge Freiheit“ über die Proteste. Letztlich dürfte, wie auch in Deutschland, die politische Präferenz der Protestierenden recht heterogen sein, es ist eine Graswurzelbewegung, die in ihrer Dynamik etwa auch an die französischen Gelbwesten erinnert. Oberste Spendensammlerin der Kampagne war Tamara Lich, die in der populistisch-separatistischen „Maverick Party“ aktiv ist. Die kanadischen Medien spekulieren, inwieweit man sie als rassistisch betrachten könne, klare Belege dafür gibt es dafür nicht. Unterstützt werden die Proteste in den sozialen Medien u.a. von Impfskeptiker und Tesla-Chef Elon Musk und dem links verorteten, als Unterstützer von Bernie Sanders bekannten und insbesondere bei Arbeiter*innen beliebten Comedian Joe Rogan. Trotz der medialen Hilfe und der Funktionalisierung auch durch rechte Politiker waren die Truck-Mengen in Ottawa zwar nicht so eindrücklich wie erwartet, nachdem im Vorfeld von bis zu 100 Kilometer langen LKW-Kolonnen die Rede war. Schon aufgrund der Symbolik und der inzwischen erreichten Medienpräsenz aber sind die Proteste nicht zu unterschätzen.
Sympathien haben die Trucker*innen in vielen Teilen der Gesellschaft, bis in die Polizei. Police-Constable Erin Howard wird bei „CTV News“ (Toronto) wie folgt zitiert: „Im Moment fühlt es sich an, als befänden wir uns im Krieg und diese Rechte und Freiheiten stünden auf dem Spiel. Ihr seid wirklich wahre Helden, was ihr tut, ist unglaublich“. Damit wird einerseits die Kriegsrhetorik aufgegriffen, den viele Politiker*innen im „Krieg gegen das Virus“ bedienen, andererseits auf die vielfach beinahe kultische Verehrung der Fahrenden durch die Bevölkerung verwiesen. Welche Freiheiten da nun genau auf dem Spiel stehen sollen – neben durchaus realen existentiellen Bedrohungen -, das ist allerdings auch bei diesen Protesten unklar. Theoren Fleury twitterte an die Protestierenden: „Die Freiheit ist eigentlich der höchste Wert der Menschheit. Geben Sie sie niemals auf“. Dem Online-Medium „Daily Hive“ teilte er mit: „In Kanada erleben wir eine der größten Revolutionen. In diesem Moment sind 50.000 Trucker und 1,4 Millionen Menschen auf dem Weg zum Parlament in Ottawa. Und sie werden dort bleiben, bis Trudeau zurücktritt oder sie uns alle unsere Freiheiten und Rechte zurückgeben“. Bei minus 20 Grad ist da wahre Entschlossenheit angesagt.
Doch noch einmal: welche Freiheit? Freiheit ist offenbar, wie in Deutschland, vor allem eine der Mobilisierung dienliche Worthülse. Wie frei etwa die Wahl des Aufenthaltsortes (siehe Migration), des Arbeitsplatzes oder eines – bezahlbaren! – Wohnortes ist, davon ist ebenso wenig die Rede wie von der Abhängigkeit vom zugeteilten Einkommen. Vom Primat der Arbeitsfähigkeit, der Kritik am neoliberalen Gesundheitssystem, der Kritik an einem vorrangig den Besitzenden dienlichen Rechtssystem, der Kritik an den Profitinteressen der (nicht nur: Pharma-)Konzerne sowie der Rolle der miteinander konkurrierenden Staaten in der globalen Staatswelt ist bei den Protesten wenig bis nichts zu hören. Zu befürchten ist, dass auch in Kanada die meisten protestierenden keine über populistische Fragmente hinausgehende Staats- und Kapitalismuskritik haben. Sie lehnen nicht den Staat und seine Zumutungen grundsätzlich ab, sondern diesen Staat und diese Zumutungen. Deshalb sind nicht alle gleich rechts. Die Abwesenheit der Linken, die hier den Finger in die Wunden legen und zu inhaltlichen Fundierungen und Radikalisierungen beitragen könnten, sie ist hier umso schmerzlicher.