Von Dr. Clemens Heni, 9. Mai 2019

Es war ein großartiger Abend gewesen. Der Renault Kangoo genoss es mindestens so sehr wie ich auf der mittleren der drei Spuren der größten und bedeutendsten aller Berliner Alleen zu kutschieren, auf der Karl-Marx-Allee Richtung Alexanderplatz, gleich nach den beiden so – für Berliner Verhältnisse – elegant in den pechschwarzen Abendhimmel ragenden kleinen runden Türmchen am Frankfurter Tor.

Es war gegen 23 Uhr, mitten in der Woche, die Straße wie leergefegt. Sicher, der Kudamm ist viel mondäner, älter und BRD-mäßiger, dort war das Herz von 68, als Schlendern, Spazierengehen und Revolution so eine prickelnde Mesalliance eingingen. Aber jetzt, im 21. Jahrhundert, versprach die Karl-Marx-Allee viel mehr an räumlicher wie intellektueller Weite.

Der Zuckerbäckerstil tut sein Übriges, sich irgendwo zwischen dem alten Kiew und Barcelona zu wähnen. Die Gespräche mit einem Freund an jenem Abend in Berlin-Friedrichshain waren begeisternd, auch wenn sie, wer hätte je anderes erwartet, sich um die Niederlagen der Linken drehten, sei es die Ermordung Erich Mühsams, nach dem dort (Petersburger Platz) eine Straße benannt ist (und die Plakette, die 2004 noch da war, plötzlich irgendwie verschwunden) oder um jene Kneipe und Gegend weiter unten, südlich des später nach Bersarin benannten Platzes, wo die SA-Nazis schlägerten und ihre Morde planten. Dat is Berlin.

Als ich 2003 von Bremen nach Friedrichshain (Berlin, Berlin) zog, war dort das Herz der antideutschen Szene (zudem damals noch mit Renault Rapid, wobei die am Auto befestigte Israelfahne auch dort mitunter abgerissen wurde, kaum von Muslimen oder Nazis, eher von Altlinken oder Ossi-Antiimps) und gerade nicht in Kreuzberg. 2019 ist davon längst nichts mehr übrig.

Wochen später, der Kangoo genoss die hügelige A81 zwischen Heilbronn und Stuttgart-Zuffenhausen (wo Max Horkheimer herkommt und nach ihm ein Kabinett der Stadtbibliothek benannt ist) an einem wunderschönen verregneten Maitag in Stuttgart, idyllische Weinberge eingebettet in das Herz der deutschen Bestie: der Pragsattel. Unweit die Stresemannstraße, rechts der Killesberg, links der traumhafte Blick auf die Stadt und die Umgebung, das Neckartal, der Kessel. Alles wird überragt, auch mit S21, vom Mercedes-Stern auf dem Bonatz’schen Hauptbahnhof, jenem antisemitischen Hetzer, der so gern dem Führer diente, das Bauhaus wie die Weißenhofsiedlung diffamierte und meinte, Stuttgart dürfen „kein Jerusalem“ werden. Jahrzehnte früher, um 1850, sahen manche schwäbischen Juden Stuttgart als ihr „Jerusalem“ an. Das war vor dem Aufkommen des Zionismus in den 1880er Jahren, hielt sich aber lange. Zu lange, wie wir wissen.

Die ganze Katastrophe, die Deutschland über die Juden brachte, kulminiert auch und gerade in dieser Stadt. Auf dem Killesberg wurden die Juden zusammengetrieben, eingepfercht und vom Nordbahnhof dann nach Riga deportiert.

Der Reichtum dieser Stadt und dieser Gegend kommt vom Auto und vom Daimler her. Deshalb wurde auch in Esslingen am Neckar später eine Brücke nach einem Ex-SS-Mann, der beim Daimler an führender Position gearbeitet hatte und von der RAF getötet worden war, benannt: die Hanns-Martin-Schleyer-Brücke, in Stuttgart gibt es eine Halle, die nach ihm benannt ist.

Ein paar Tage zuvor, an einem sonnigen Tag in Tübingen, Schlendern durch die Wilhelmstraße, die Mensa und die UB sowie den „Bonatz-Bau“ des gleichen deutsch-nationalen Hetzers. Auf Bonatz sind Grüne S21-Gegner*innen so stolz wie alte Kameraden. Das abgeschleckte Städtle steht nur minimal im Kontrast zur etwas abgerockten Mensa, die ziemlich ähnlich wirkt wie noch 1995. Nachschlag dürfte es dort heute kaum noch geben, damals war das so köstlich wie das immer frische Tagesgericht des „Kaufhof“ in Stuttgart via-à-vis des Tagblattturms, Linsen und Spätzle, das es seit kurzem wegen Pächterwechsels nicht mehr gibt, was eine schwäbische Tragödie ist.

An jenem verregneten, schönen Maitag ließ ich mir logischerweise drei Bibliotheksausweise machen, die zumindest in leichten Ansätzen die Ausweise der Stabi, der FU, der HU und der AGB Berlin ersetzen sollen. Erst einen der Württembergischen Landesbibliothek, wo ich früher mal kurzfristig einen studentischen Job im Magazin hatte. Den Charlottenplatz, den Weg zum Bopser und nach Degerloch zum Fernsehturm links liegen lassend, geht es via Schloßplatz, der von ekelhaften AfD-Wahlplakaten bestimmt ist, über den Börsenplatz zur Unibibliothek Stuttgart und dem zweiten Bibliotheksausweis.

Die Pointe des Tages jedoch ist der dritte Bibliotheksausweis an der (für Remigranten: neuen) Stadtbibliothek Stuttgart. Ein Mitarbeiter entdeckt wenig überraschend auf meinem Ausweis das Geburtsdatum, das er nicht deshalb erwähnt, weil er am selben Tag, nur paar wenige Jahre früher, geboren wurde, sondern weil er betont, dass an jenem Tag ja Rosa Luxemburg ermordet wurde. Das bejahe ich selbstredend und betone, dass wir aus diesem Grund unseren Geburtstag nie vergessen werden, was ihn dazu animiert, zu unterstreichen, dass jene wenigen, die noch bissle was im Hirn hätten, eben bei diesem Datum wüssten, was das für ein Tag war im Jahr 1919. Das macht diesen Tagesbesuch in Stuttgart für jenen alten Juso der Jahre 1987–1989 (Autonome oder Antideutsche gabs damals nicht in Esslingen am Neckar) zu einer Art Rückkehr.

©ClemensHeni