Von Dr. phil. Clemens Heni, 02. März 2022
Der Schweizer Journalist Roger Köppel, ein liberal-konservativer Denker, von dem mich sonst politisch Welten trennen – aktuell auf der Seite der Weltwoche promotet er bzw. das Blatt die antifeministische Agitatorin Birgit Kelle, den extrem rechten Politiker, Publizisten und Ex-Bundesverfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen, den wegen eines Sexismus-Skandals entlassenen Julian Reichelt von der BILD-Zeitung, Köppel ist bürgerlich-kapitalistisch und ein Großaffirmator der bürgerlichen Gesellschaft mit all ihren Fehlern und strukturellen Problemen – , der hat heute in seiner Weltwoche Daily Show eine sehr emotionale Rede gehalten, die für ein „Abrüsten“ wirbt auf beiden Seiten.
Dieses Video ist absolut sehenswert, es zeigt, was Schweizer Neutralität früher meinte und es betont, wie gefährlich es ist, wenn sich jetzt Deutschland und fast die ganze Welt geradezu in eine Wahn- und Eskalationsspirale begeben, nicht viel anders denn Putin.
Köppel ist völlig schockiert, und das zu Recht, dass die Schweiz erstmals in der jüngeren Geschichte ihren so bewährten Neutralitätsstatus aufgegeben hat, zu dem sie übrigens laut Schweizer Verfassung verpflichtet ist! In Artikel 185 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft heißt es:
Der Bundesrat trifft Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz.
Nicht einmal zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs hatte die Schweiz die Neutralität aufgegeben. Aber jetzt bei diesem Krieg? Es geht sehr stark um die kapitalistischen Interessen der USA in der Ukraine, was der Biden-Skandal vor Jahren zeigte, neben dem Ausgangspunkt des seit 2014 herrschenden Krieges in der Ukraine, die Ablehnung einer bestimmten EU-Wirtschaftspartnerschaft, jenem „Assoziierungsabkommen“, das dazu führte, dass Rechtsextreme auf dem Maidan mit Tausenden anderen demonstrierten, randalierten und die Regierung zum Rücktritt brachten. Darauf geht Köppel nicht ein, aber er scheint zu ahnen oder wissen, dass es in der Ukraine nicht erst seit letztem Donnerstag, sondern seit 2014 Krieg gibt!
Durch das Mitmachen beim „Wirtschaftskrieg“ der EU von Seiten der Schweiz macht sie sich mitschuldig, ja nimmt in Kauf, dass auch im allerschlimmsten Fall Raketen auf die Schweiz fallen, so Köppel. Vor allem aber gibt es jetzt in ganz Europa nicht einen einzigen neutralen Ansprechpartner mehr. Das ist politisch eine Katastrophe.
Ja, die Supermarktkette „Netto“ nimmt russische Produkte aus dem Regal, ein Restaurant in Baden-Württemberg hatte angekündigt, keine russischen Gäste mehr hineinzulassen und russische Musiker*innen, Künstler*innen oder Sportler*innen, Forscher*innen, Bürger*innen müssen damit rechnen, dass sie als Menschen zweiter Klasse betrachtet werden, die dem „absolut Bösen“ zuzurechnen seien, manche wurden schon entlassen, da sie sich nicht von Putin distanzierten. Wie viele Sportler oder Dirigentinnen wurden entlassen, als sie sich 2003 nicht vom US-Präsidenten distanzierten?
Köppel, ein ganz klarer Atlantiker und pro-westlicher Journalist, der tief antikommunistisch ist, der hat im Gegensatz zu fast allen Konservativen in Deutschland noch ein rationales Denkvermögen, was daher rühren könnte, dass er eben Schweizer ist und kein Deutscher.
Hier in Deutschland wird jetzt die Holocaust-Verharmlosung zum großen Volkssport. Gestern wurde im Fernsehen wieder herumgeredet, Putin würde einen „Vernichtungskrieg“ führen. Das sagen Menschen, die von ihrer Ausbildung und Geschichte her gar nicht wissen, was der Vernichtungskrieg der Deutschen im Zweiten Weltkrieg war. Ja, viel schlimmer, sie wissen das sehr wohl aber machen eine Täter-Opfer-Umkehr: Jetzt sind die Russen jene, die angeblich einen „Vernichtungskrieg“ durchführen, während sie in Wahrheit das Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Zweiten Weltkrieg seit dem 22. Juni 1941 waren.
Dieses wirklich faktenfreie Gerede von Politiker*innen und Journalist*innen vom „Vernichtungskrieg“ meint wie im Kindergarten, dass das Umstoßen eines Legoturmes eine „Vernichtung“ sei.
Jeder Tote ist schrecklich. Und es sind schon laut ukrainischen Angaben 6000 russische Soldaten getötet worden, die offenbar gar nicht zählen, aber die Stand Sonntag weniger als 400 zivilen Todesopfer auf ukrainischer Seite sollen einen „Vernichtungskrieg“ begründen? Das ist so dermaßen irrational und faktenfrei, da fehlen einem die Worte. Diese Russen sind nicht einfach so an Erschöpfung gestorben, sondern die wurden von Ukrainern getötet, das nur mal so nebenbei, aber es ist mir klar, dass russische Tote hier nicht zählen.
Roger Köppel ist ziemlich fassungslos und spricht von einem „Empörungstsunami“, der Europa, Amerika und leider auch die Schweiz erfasst hat. Am Rande sei erwähnt, dass Köppel wohl nicht zufällig auch ein Kritiker der homogenen Volksgemeinschaft zumal in Deutschland war bzw. ist, wenn es um die nicht faktenbasierten, nicht evidenzbasierten, irrationalen und antidemokratischen Corona-Maßnahmen ging und geht.
Also: Schauen Sie sich bei Interesse dieses heutige Video von Roger Köppel von der Weltwoche an. Ich empfehle das explizit als Linker, als rationaler Kritiker und als Antimilitarist, der ansonsten mit einer Vielzahl der Ideologeme, für die der Weltwoche-Mann steht, sicher nicht d’accord geht.
Aber ich erkenne wie Köppel, dass die Welt am Rande eines Weltkrieges steht. Und im Gegensatz zu Olaf Scholz, Emmanuel Macron oder Boris Johnson haben wir aus der Geschichte gelernt.
Wenn Scholz meint, jetzt auf der „richtigen Seite“ zu stehen, dann zeigt das nur seine Ignoranz gegenüber den Nazis und Faschisten in den Asow-Brigaden in der Ukraine, über die sogar der öffentlich-rechtliche Rundfunk in den letzten Jahren noch kritisch berichtete – was jetzt undenkbar scheint, jetzt geht es um die noch aggressivere, noch homogenere Volksgemeinschaft, denn jetzt geht es nicht nur gegen ein Virus, jetzt geht es wieder einmal gegen „DEN“ Russen.
Und Abrüsten heißt eben gerade nicht moralisch zu werten. Roger Köppel ist ein Kritiker Putins, ich bin auch ein Kritiker Putins (ich hab darüber berichtet, dass ich 2010 in der Ukraine in Kiew auf einer Konferenz für „A World without Nazism“ mich von den zu offensichtlich Pro-Putin Leuten mit einigen anderen WissenschaftlerInnen und JournalistInnen distanzierte).
Es geht darum, dass dieser Krieg schrecklich ist und beide Seiten ihren Anteil daran haben. Die Bedrohung durch eine mögliche NATO-Mitgliedschaft oder jetzt EU-Mitgliedschaft der Ukraine ist extrem. Und der Krieg im Donbass seit 2014 ist ebenso extrem und der ist mörderisch, die NATO-Mitgliedschaft nur hypothetisch. Aber was soll Russland denken, wenn die NATO seit Jahren die Ukraine aufrüstet und dort Manöver abhält? Was würden Deutsche sagen, wenn Russland seit Jahren Militärmanöver in Luxemburg abhalten würde, weil dort eine pro-russische Regierung sitzt?
Also: Es geht um Abrüstung. Ein Ende des Krieges ist not-wendig. Und parallel ein verbales Abrüsten von der EU, von Deutschland und natürlich von Amerika und England.
China und Indien haben sich bislang neutral verhalten, selbst Israel hat sich auf den dringenden Rat von Netanyahu nicht auf eine Seite geschlagen. Das mag primär wegen den Überflugrechten über Syrien zu tun haben, also wegen der iranischen Gefahr, aber womöglich auch, weil Israel Millionen von russischen Juden als Staatsbürger hat, neben ukrainischen Juden, und mit beiden Ländern gut auskommen möchte.
Das aktuelle Sprachengesetz in der Ukraine möchte doch offenbar das Russische, das weit verbreitet ist in der Ukraine, dämonisieren. Der ehemalige Präsident Poroschenko trat 2019 mit dem Slogan „Armee. Glaube. Sprache“ in den Wahlkampf. Dieser Ethnizismus hat enge Verbindungen zum Rechtsextremismus, wie sich ja in den unzähligen Straßen, Plätzen oder gar einer Briefmarke, die Stepan Bandera gewidmet wurden, zeigt.
Auf diese konkreten Tendenzen geht Köppel gar nicht ein, was sogar richtig und stringent ist. Er möchte als Liberaler den Dialog, er möchte als Schweizer einen neutralen Blickwinkel, denn gerade eine neutrale Sichtweise kann einen Krieg beenden.
Völlig richtig erkennt Köppel auch, dass es ein zynisches Spiel der Europäer und (vor allem) der Amerikaner ist, die die Ukrainer fast schon „verheizen“ wollen in diesem Krieg. Einer Regierung Waffen zu geben, damit diese die Zivilbevölkerung ausstattet, möchte Blut fließen sehen. Das ist unverantwortlich und wahnsinnig.
Der Weltwoche-Mann sagt abschließend, dass auch 1914 russische Produkte von den deutschen Regalen genommen wurden. Die Parallele ist schockierend.
Die unglaubliche Sehnsucht der Deutschen nach einer Täter-Opfer-Umkehr kennen wir aus dem Antizionismus – wenn die Juden so ähnlich schlimm sind wie die Nazis, na dann war doch alles nicht so schlimm in der Nazi-Zeit. Wenn jetzt auch die Russen so einen „Vernichtungskrieg“ führen wie damals die Wehrmacht, dann war das doch gar nicht so schlimm und vor allem war es dann nicht unvergleichlich, sondern typisch für das absolut „Böse“. Die Gleichsetzung von Saddam Hussein mit Hitler war dann zeitgeschichtlich betrachtet nur ein Zwischenschritt.
Im Kern geht es, und das ist in der Tat die Totalitarismus-Theorie, um eine Gleichsetzung von Rot und Braun, wie wir es aus der Prager Deklaration (Joachim Gauck etc.) kennen.
Wer aber jetzt im konkreten Kriegsfall so tut, als ob es nur eine Wahrheit gebe in diesem höchst komplizierten Land Ukraine, wo 2014 ein pro-russischer Präsident weggeputscht wurde mit Gewalt (und support vom CIA, wie dieser selbst zugibt), der oder die betreibt Propaganda.
Es muss um Abrüstung gehen, verbale und militärische.
Jede ARD, ZDF, ntv, RTL, Sat1 etc. Sendung, jeder Radio-Beitrag und jede Parlamentsdebatte, wo das volksverhetzerische Wort vom angeblichen russischen „Vernichtungskrieg“ fällt, zeigt nur, dass es darum geht, den Holocaust und den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion zu verharmlosen. Gleichzeitig wird die Mitschuld der Ukraine an dem Konflikt, ja am Krieg, der seit 2014 in der Ukraine herrscht, mit über 10.000 Toten im Donbass, einfach geleugnet.
Der Krieg Russlands muss sofort aufhören. Doch so wie Scholz, die EU und die Amerikaner agitieren und durchdrehen, wird der Krieg noch viel schlimmer. Und für solche möglichen Eskalationen ist eben keineswegs nur Putin verantwortlich, sondern auch der Westen, der sich aggressiv weigert, wirklich seriös und mit offenem Ausgang zu verhandeln.
Warum diese unglaubliche Hetze gegen Putin? War der Irak-Krieg der USA und ihrer Alliierten 2003, der in sechs Wochen ca. 40.000 Tote forderte und im Fortlauf vermutlich über eine halbe Million Tote, ein Krieg, der ein Angriffskrieg war ohne UN-Mandat, war dieser Krieg nicht viel drastischer als der aktuelle Russlands? Damals gab es zwar viel Kritik am Krieg, aber wurden deshalb in Deutschland amerikanische Produkte aus den Regalen von Supermärkten genommen, die USA mit Sanktionen belegt und der Präsident als „Diktator“ verurteilt, der einen „Vernichtungskrieg“ durchführe? Es gab sicher Linke, die so dachten, aber im Mainstream wären solche Maßnahmen und Aktionen undenkbar gewesen.
Weder Roger Köppel noch ich sind Putinfreunde oder „Putinverharmloser“. Aber wir sind eben auch keine fanatischen Wirtschaftskrieganhänger, der in Russland auch viele Tote fordern könnte, wenn es so weiter geht und die fast komplette Isolation Russland, politisch, wirtschaftlich, kulturell das einzige Ziel zu sein scheint.
Scholz & Co. wollen ganz offenkundig keinen Frieden, sondern einen Sieg der Ukraine. Es muss aber um Verhandlungen gehen und ein Einsehen, dass es hier kein kategorisches Gut / Böse gibt. Das ist ein Interessenkonflikt und gerade kein „Vernichtungskrieg“.
Köppel ist schockiert und fassungslos, wie es kommen konnte, dass ganz Europa nicht mehr kritisch reflektiert, nicht mehr diplomatisch denkt, sondern manichäisch, „wir“, die Deutschen, Europäer und Amerikaner seien die „Auserwählten“ der Welt das Licht zu bringen und die Wahrheit. Dass es in der Ukraine viel Dunkelheit gibt wegen der tief gehenden Geschichte der Nazi-Kollaboration und der Shoah, das fällt völlig unter den Tisch.
Wie will denn die EU ihren Aufschrei noch steigern, wenn sie jetzt schon einen „Empörungstsunami“ loslässt, den es seit 1945 nicht gab – und das bei einem Krieg, der unvergleichlich harmloser ist bislang als der Vietnamkrieg, der Irakkrieg und Dutzende weitere Kriege in den letzten Jahrzehnten?
Es geht hier nicht um eine verständliche Empörung wegen einem Krieg in Europa.
Es geht um den völligen Kontrollverlust des demokratischen Europas.
Die Medien und die Politik und offenbar weite Teile der Bevölkerung sind seit Corona auf eine homogene Einheit, ja wirklich eine Volksgemeinschaft eingeschworen, dass es einem kalt den Rücken hinunterläuft. Kritik wird a priori eskamotiert, wie Adorno sagen würde.
Fazi: Schluss mit dem russischen Krieg in der Ukraine. Schluss mit dem ukrainischen Krieg gegen den Donbass. Schluss mit dem Wirtschaftskrieg der EU und des ganzen Westens gegen Russland.
Für eine Rückkehr an den Verhandlungstisch.
Für eine kritische Berichterstattung, die sich den Fanatismus der Ukraine und den Fanatismus Russlands gleichermaßen vornimmt.
Für ein Ende der Militärhilfe an die Ukraine, jede Art von Unterstützung verlängert den Krieg und schadet der Ukraine am allermeisten.