Von Dr. phil. Clemens Heni, 5. Mai 2017
Hi Deniz!
67 Tage Einzelhaft in einem türkischen Gefängnis und keine Aussicht auf baldige Freilassung. Das kann einfach nicht wahr sein.
Viele von uns kriegen doch schon die Krise, wenn sie in der U-Bahn mal 30 Minuten kein WLAN oder keinen sonstigen mobilen Empfang für ihr Smartphone haben, andere lamentieren über das schlechte Wetter im Frühling (wobei ich das Lamento eines Kirschbaumes ja noch verstehen könnte) oder drehen ob Gabriels allzu demokratischer Einforderung von Gesprächen mit Regierungsgegnern fast durch – „U-Boote liefern und Klappe halten“, wie es der philosemitische Antisemitismus, dem zwar sozialdemokratische Holocaustverharmlosung völlig zurecht noch auffällt, dem aber Juden und ihr konkretes Leben wie auch Presse- und Meinungsfreiheit im jüdischen Staat Israel so was von am Arsch vorbeigehen, formuliert.
Doch die allermeisten sind vielmehr glücklich, weil sie in jedem Laden, in jedem einzelnen Geschäft der 64+ Einkaufszentren in Berlin zu jeder Zeit Max Giesinger hören können. Alle wollen nur tanzen, tanzen, tanzen, vergessen, affirmieren, dabei sein („einer von 80 Millionen“, wie die Schlagervolksgemeinschaft grölt), eben „Menschen, Leben, Tanzen, Welt“. Insofern sei froh, dass du kein deutsches Radio hören musst und als Knasti nicht in Versuchung gerätst, völlig schutzlos deutschem Schlager in Einkaufsparadiesen ausgeliefert zu sein.
Die Entpolitisierung, Volkstümlichkeit, Verkitschung und superkapitalistische Selbstvermarktung sind das Kennzeichen (schon immer, aber seit Jahren völlig ohne Dissonanzen) nicht nur von Mainstream-Musik, sondern indizieren das Lebensgefühl einer ganzen Generation.
Einen Knastalltag kann man sich nicht vorstellen, wenn man ihn noch nicht erlebt hat, Einzelhaft noch viel weniger.
In den 1990er Jahren schrien wir immer: „Power durch die Mauer, bis sie bricht“ und wollten den Abschiebehäftlingen unsere Solidarität ausdrücken. Jihad und Islamismus waren damals gar kein Thema, dafür war die autonome Szene viel zu selbstverliebt (und fast alle sind es weiterhin), was den Kampf gegen den rassistischen Alltag und die Abschaffung bzw. Einschränkung des Asylrechts damals nicht weniger wichtig macht.
Ich bin sicher nicht der einzige, der deinen coolen, scharfen und natürlich alles anders als pro-deutschen Journalismus vermisst. Du, lieber Deniz, hattest damals, im Februar 2012, den besten Text zu Joachim Gauck geschrieben:
Freilich hat sich Gauck nicht erst nach seiner Wahlniederlage im Sommer 2010 ideologisch zwischen Martin Walser, Erika Steinbach und Stefan Effenberg verortet. Ein reaktionärer Stinkstiefel war er schon vorher. So mag der elfte Bundespräsident keine Stadtviertel mit ‚allzu vielen Zugewanderten und allzu wenigen Altdeutschen‘, will das ’normale Gefühl‘ des Stolzes aufs deutsche Vaterland ’nicht den Bekloppten‘ überlassen, missbilligt es, ‚wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird‘, besteht darauf, dass der Kommunismus ‚mit ausdrücklichem Bezug auf die DDR als ebenso totalitär eingestuft werden muss wie der Nationalsozialismus‘, trägt es den SED-Kommunisten nach, das ‚Unrecht‘ der Vertreibung ‚zementiert‘ zu haben, indem ’sie die Oder-Neiße-Grenze als neue deutsch-polnische Staatsgrenze anerkannten‘, und fragt – nicht ohne die Antwort zu kennen –, ‚ob Solidarität und Fürsorglichkeit nicht auch dazu beitragen, uns erschlaffen zu lassen‘. Einem Apparatschik wie Wulff hätte man es nicht durchgehen las-sen, Leichenberge mit Aktenbergen zu verwechseln oder alleinerziehenden Stützeempfängerinnen mangelnden Schwung vorzuhalten.
Daraus wird klar, dass dein Anheuern bei Springer sicher nicht auf ideologiekritischen Übereinstimmungen basiert, gell 😉
Die Pressefreiheit in Germany ist natürlich die beste, wo gibt – nehmen wir Jürgen Trittins Reaktion auf deine Kritik an Gauck. Die deutschen Zustände zeichnen sich dadurch aus, dass er, damaliger Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, am 24. Februar 2012 in der TV-Sendung MAYBRIT ILLNER dir „Schweinejournalismus“ vorwarf.
Wir trafen uns im taz-Café in Kreuzberg und dein Text wurde Teil unseres super schnell produzierten (von der Idee bis zum Druck vergingen keine vier Wochen) „Super-GAUck. Politische Kultur im neuen Deutschland“.
Deine Kritik an Gauck war natürlich verglichen mit deinen scharfen Analysen und Kommentaren zum Autokraten und islamistischen Diktator Erdogan nicht mutig, sondern selbstverständlich, auch wenn 90% der Wahlfrauen/männer den Ossi tatsächlich zum Präsidenten wählten.
Knapp die Hälfte der türkischen Bevölkerung hat gegen Erdogan gewählt (nach den offiziellen Zahlen), du bist also nicht alleine in der Türkei. Aber sehr alleine in deiner Zelle. WTF!!!
Selbst als türkischer Deutscher oder hessischer Türke bist du vermutlich nicht alleine in der heutigen Türkei – aber alleine in dieser beknackten Zelle. Das durchzustehen, ohne durchzudrehen, ist eine Leistung, die man sich schwer vorstellen kann.
Aber du schaffst das, Deniz! Du bist mutig, schau dir alleine mal deinen Oberlippenbart (ist es noch einer?) an! („Die absolute Härte sind die Oberlippenbärte“ riefen wir damals immer, wenn wir es mit den Bullen zu tun bekamen… ) Du hast Gauck überstanden und bist gerade wegen deines „Schweinejournalismus“ besser als die anderen im Mainstream, kritischer und lustiger. Und du wirst Erdogan überstehen und bald wieder den köstlichen Nieselregen genießen dürfen und gar die Sonne – und das Coolste: die Gefahr, dabei in der Türkei an öffentlichen Plätzen Max Giesinger hören zu müssen, ist hoffentlich relativ gering.
Du willst einen „fairen Prozess“ – und zwar sofort! – und ich hoffe, das ist wahrscheinlicher als eine Bundesligameisterschaft für Leverkusen in den nächsten paar Jahrzehnten ….
Besser: Freiheit für Deniz Yücel! Freiheit für alle inhaftierten Journalist*innen in der Türkei! Für eine demokratische Türkei!
©ClemensHeni