Von Dr. phil. Clemens Heni, 11. März 2023

Noch nie gab es in der Geschichte Israels an zehn aufeinanderfolgenden Wochen jedes Wochenende und dazu unter der Woche Demonstrationen mit über 100.000 bis zu 500.000 Teilnehmer*innen im ganzen Land, vorneweg über 100.000 jeweils in Tel Aviv.

Heute am Samstag, den 11. März 2023 sind es am Abend gegen 21 Uhr Ortszeit 250.000 Demonstrant*innen allein in Tel Aviv!!

Es herrscht Revolutionsstimmung. Das Militär, die Polizei, die Unternehmer, die Student*innen, die NGO-Szene, die Kneipenwirte – alle sind sie dabei, Linke, Rechte, Liberale.

In ganz Israel sind heute laut den Organisatoren 500.000 Menschen auf den Demonstrationen gegen die Regierung Netanyahu und die geplante „Justizreform“. Man muss sich die Dimension vorstellen: Tel Aviv, die erste hebräische Stadt, die Bauhaus-Stadt, in der am 14. Mai 1948 von David Ben-Gurion die Unabhängigkeit des jüdischen und demokratischen Staates Israel verkündet wurde, hat heute knapp 450.000 Einwohner*innen. Israel hat ca. neun Millionen.

Heute wurde der entlassene und jetzt wieder eingesetzte Polizeichef von Tel Aviv beklatscht und bejubelt auf der Demonstration.

Man muss sich das alles vorstellen, weil es so phänomenal ist. Endlich gibt es Proteste, die über das typisch linke Milieu hinausgehen!!

Hier demonstriert die Mitte der Gesellschaft. Hier demonstrieren Israelis, die für ihr Land kämpfen, für den Zionismus, für die Demokratie. Sie haben es geschafft, die israelische Fahne als das Symbol des Widerstands zu etablieren – bislang waren Demonstrationen mit der Israelfahne eher mit den Rechten oder Siedlern assoziiert.

Viele verkleiden sich als oberster Richter*innen, denen kein Gehör mehr geschenkt wird. 37 von 40 Reservisten einer Elite-Einheit der israelischen Luftwaffe hatten sich am Mittwoch geweigert, eine Übung abzuhalten. Sie erschienen zwar zum Dienst, aber diskutierten über die geplante Justizreform, die einer Zerstörung der Gewaltenteilung gleich käme, da die Knesset mit einfacher Mehrheit jedes Urteil des Obersten Gerichthofs überstimmen könnte. Das könnte das Ändern von Wahlkreisen, die Zulassung oder Nicht-Zulassung zur Wahl (wie von arabischen Parteien, von Linken etc.), Urteile über illegale Siedlungen und vieles mehr bedeuten.

Dabei war der oberste Gerichtshof bislang gar nicht sonderlich links – er hat die völkerrechtlich nicht haltbaren Siedlungen in der Westbank nicht verurteilt, sondern nur besonders eklatant illegale Außenposten. Darauf weisen Texte wie in Haaretz diese Woche hin.

Es geht vor allem um den Kampf der säkularen Mehrheit des Landes gegen die Religiösen, die in einer klaren Minderheit, aber jetzt an der Macht sind. Die Pointe: die Rechtsextremen und Religiösen wie die Mitglieder, Minister oder Knessetabgeordneten der Shas-Partei oder der Partei United Torah Judaism dienen gar nicht in der Armee. Sie tun nichts zur Verteidigung Israels gegen den Iran, gegen palästinensische Terrorist*innen oder andere Gefahren. Der Volksverhetzer, Rassist, Sexist und homophobe, vorbestrafte Schläger Ben-Gvir wurde gar nicht erst zur israelischen Armee zugelassen!

Es gab Demonstrationen von Marinesoldaten im Hafen von Haifa.

Am Frauenkampftag 8. März demonstrierten Frauen in Tel Aviv, angezogen als Richterinnen:

Red was chosen as the theme color of the “Women’s Chain for Democracy” after groups of crimson-robed “handmaids” – inspired by the Margaret Atwood novel and Hulu series “The Handmaid’s Tale” – have become staples of the weekly mass demonstrations across the country.

. Sie sehen die Gefahr dass die extrem patriarchal-religiös-rechtsextremen Männer unter Netanyahu zum Beispiel die von vielen Religiösen gefordete Separierung von Frauen und Männern in öffentlichen Bussen wie in Stadtteilen von Jerusalem und anderen Städten einführen könnten – vorne die Männer, hinten die Frauen. Eine Apartheid gegen die Frauen, wie man sie in Saudi-Arabien verorten würde.

 

Letzten Samstag demonstrierten in Tel Aviv Zehntausende gegen „Bibistan“ und forderten wie heute auf, „zu revoltieren“.

Andere demonstrierten gegen das neu-rechte Think Tank „Kohelet Policy Forum“, das ja federführend für die Ausarbeitung der geplanten Justizzerstörung verantwortlich ist.

Es wird damit gerechnet, dass eine Vielzahl von Reservisten, gerade in Eliteeinheiten, die für Einsätze gegen Terrorgruppen in Syrien oder dem Libanon etc. verantwortlich sind, nicht für Netanyahu in den Krieg ziehen werden. Ein unglaublicher Vorgang – für den niemand anderes als Netanyahu verantwortlich ist.

Am Donnerstag musste der israelische Regierungschef mit dem Helikopter zum Flughafen Ben-Gurion geflogen werden – weil die Zufahrtsstraßen von Protestierenden völlig blockiert waren. Der amerikanische Verteidigungsminister Austin konnte am Donnerstag nicht nach Tel Aviv oder Jerusalem, sondern musste sich provisorisch in Gebäuden neben dem Flughafen mit Netanyahu treffen. In Israel wird Ben-Gvir von Oppositionschef Yair Lapid als „TikTok-Clown“ lächerlich gemacht, Netanyahu wird als Chef einer „Bananenrepublik“ bezeichnet, der gegen das eigene Volk mit dem Hubschrauber zum Flughafen geflogen werden muss.

 

Es geht um den Kern des Zionismus: gleiche Rechte für alle und ein demokratischer und jüdischer Staat für die Juden UND alle anderen Bewohner*innen des Staates Israel. Es geht um Säkularismus versus religiösem Fanatismus.

Täglich verliert das Land zig Millionen Schekel von Firmen, die sich aus Israel zurückziehen und ihr Geld in den USA, Europa oder anderswo investieren.

Die High-Tech Branche ist erstmals in höchster Alarmstimmung und zentraler Teil der mittelständischen Proteste gegen die geplante Justizreform, die einer Zerstörung der Gewaltenteilung gleich käme, da Urteile des Obersten Gerichtshofs mit einfacher Mehrheit von 61 Stimmen in der Knesset von der Regierung oder einer anderen Mehrheit überstimmt werden könnten. Dazu soll die Regierung auch fünf von neun Sitzen in dem Gremium erhalten, das neue Richter im ganzen Land bestimmt. Das alles ist seit Jahrzehnten geplant, da die Neue Rechte nach der totalen Macht strebt.

Netanyahu möchte aus Israel ein nahöstliches Ungarn machen und ein homophobes, frauenfeindliches, rassistisches Klima noch verschärfen.

Täglich gibt es neue Desinvestitionsansagen von Firmen. BDS war gestern – heute ist Netanyahu derjenige, der Israel isoliert und den Boykott des Staates voranbringt. Man muss sich nur anschauen, wie in England oder USA in jüdischen Gemeinden mit Fassungslosigkeit über die aktuelle Politik diskutiert wird. Aber in Deutschland? Ein bisschen deskriptives Beschreiben der Situation in der Jüdischen Allgemeinen und die angeblichen Pro-Israel Blogger kaprizieren sich wie immer auf Muslime und den Jihad. Israel ist ihnen schlichtweg egal!!

Und aus all diesen Gründen ist Benjamin Netanyahu die aktuell größte Gefahr für Israel – er zerstört das Land von innen heraus.

Benjamin Netanyahu möchte am 16. März 2023 nach Berlin reisen.

Am Donnerstag, vorgestern, sprach der israelische Präsident Herzog in ganz scharfen Worten gegen die „Justizreform“ und sagte, die Regierung solle das Unterfangen sofort stoppen – sonst würde Israel auseinanderbrechen.

Letzteres ist ja das Ziel der Neuen Rechten, sie lieben den permanenten Ausnahmezustand. Darin ähneln sie der Hamas, die gestern wieder einen Terroranschlag in Tel Aviv verübte. Das sehen sehr viele Israelis exakt so. Sie sehen sich in einem zweiten Unabhängigkeitskrieg – dieses Mal nicht gegen die Araber, sondern gegen extremistische Juden der Regierung Netanyahu.

Nächsten Donnerstag also möchte Netanyahu nach Berlin fliegen, angenommen, er kommt überhaupt am Flughafen an und es gibt eine Crew, die ihn fliegen will – denn auch das gab es diese Woche, dass El Al Mitarbeiter*innen sich weigerten, Netanyahu nach Rom zu fliegen.

Ich habe Netanyahu im Mai 2015 in Jerusalem auf dem Global Forum for Combating Antisemitism in Jerusalem erlebt. Es war ein peinlicher Auftritt. Anfangs musste der ganze Saal sich erheben, Minuten bevor der König hereinkam. Eine Bekannte von mir aus Tel Aviv blieb sitzen. Die Arroganz dieses wegen Korruption angeklagten Mannes, der eigentlich viel für Israel geleistet hat, aber seit Jahren dabei ist, das Land zu zerstören, war schwer erträglich. Das hatte mit Zionismus und Sozialismus nichts mehr zu tun. Sicher sind auch die StartUp-Nation-Zionisten alles nur keine Sozialisten. Aber sie bekämpfen Minister wie Smotrich, der nach einem mörderischen Terrorangriff in der Westbank auf zwei Juden forderte, man sollte den Ort, wo es passierte, die Kleinstadt Huwara, „platt machen“. Wer einen solchen Typen als Minister hat, hat kein Recht, sich Demokrat zu nennen.

Und gestern bekam ich wieder mal einen Newsletter von so selbst ernannten Israelfreunden aus Deutschland, die sich primär um den Iran und den Islamismus kümmern, was natürlich wichtige Themen sind. Aber deren Schweigen zum aktuellen Rechtsextremismus in Israel, zur geplanten „Justizreform“, die auch alle amerikanischen Juden in Aufruhr versetzt – bis auf die extremen Rechten natürlich, wie AIPAC -, dieses Schweigen schadet Israel.

Wer wirklich das Gute möchte für Israel, muss jetzt protestieren. Die Times of Israel oder Haaretz tun das auch mit einer Intensität, die ihresgleichen sucht.

Der Deutsche Bundestag hat sich gegen die BDS-Bewegung ausgesprochen.

Also muss er sich auch gegen Netanyahu aussprechen, keiner hat mehr zur Destabilisierung und zum Desinvestment beigetragen wie er.

Nieder mit Netanyahu und der aktuellen Regierung.

Für ein jüdisches UND demokratisches Israel.

Für die Gleichheit aller Bürger*innen in Israel.

Für Minderheitenrechte.

Für Gewaltenteilung.

Für eine israelische Verfassung.

Es lebe der Zionismus.

Am Israel chai.

 

Update 12. März 2023:

Die Times of Israel berichtet jetzt auch von Verschwörungsmythen aus Netanyahus direktem Umfeld, dass die USA – wer sonst – hinter den Protesten stehen würden und Demonstrant*innen bezahlen würden. Soviel Realitätsverleugnung gepaart mit antisemitischen Verschwörungsmythen (Juden würden nicht von sich aus gegen die Politik demonstrieren, sondern seien gekauft!!) – passen zu einem korrupten Politiker wie Bibi und seinem rechtsxtremen und religiös-fanatischen Umfeld.