Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Antonia Grunenberg

‚Eine Covid-19-Infektion ist so wahrscheinlich wie ein Lotto-Gewinn‘

Von Dr. phil. Clemens Heni, 3. Juli 2020

 

30 Prozent aller Landkreise in Deutschland meldeten die letzten 7 Tage null neue „Infektionen“ mit SARS-Cov-2, die anderen gut ca. 69 Prozent meldeten im Schnitt 1-3 „Infektionen“, nur im verbleibenden einen Prozent aller Landkreise gibt es eine etwas höhere Anzahl, mit bekannten „Hotspots“ wie in Nordrhein-Westfalen, wie das ZDF berichtet. Aber solche Zahlen haben keine Konsequenz. Welches Gesundheitsamt würde einen Landkreis in quasi Quarantäne versetzen, wenn wochenlang nicht eine einzige Infektion eines ohnehin nur für eine sehr kleine Gruppe von Menschen gefährlichen Virus auftaucht? Welches Gesundheitsamt würde das tun, ohne Angst zu haben, illegal und verfassungswidrig zu handeln?

Wie verfassungsgemäß ist es, angesichts der folgenden Aussage eines der führenden Virologen und Epidemiologen des Landes, den Notstand, die Abstandsregel, die Maskenpflicht und alle anderen Maßnahmen aufrecht zu erhalten?

Die Gefahr, sich in Hamburg mit dem neuartigen Coronavirus anzustecken, ist nach Ansicht des Hamburger Mikrobiologen und Krankenhaushygienikers Johannes Knobloch derzeit so groß wie die Gewinnchance beim Bingo oder Lotto.

Screenshot

Was viele Menschen bis jetzt nicht verstanden haben, obwohl man kein Dr. med. sein muss, um das zu verstehen: eine Infektion heißt noch lange nicht, dass ein Mensch krank ist oder je an dieser Infektion krank werden wird. Gerade bei SARS-CoV-2 sind ja fast alle Infizierten ohne Symptome, zwischen 80 und weit über 90 Prozent, wie es scheint.

Deshalb sind die 10 Millionen weltweit (!) offiziell „Infizierten“ eine erstens völlig irreführende und zweitens eine völlig falsche Zahl. Warum irreführend? Weil diese 10 Millionen zu einem riesigen Anteil – 80 bis weit über 90 Prozent – überhaupt nicht gemerkt haben oder merken werden, dass sie mit diesem Virus infiziert sind. Warum ist die Zahl falsch? Die Zahl ist grotesk niedrig für einen Grippevirus – und SARS-CoV-2 ist eine Erkrankung der oberen Atemwege, ergo: eine Art Grippevirus. Allein 2017/18 waren in Deutschland 9 Millionen Menschen wegen Grippesymptomen (!) beim Arzt. Das sind also ganz sicher nicht alle gewesen, die Grippe hatten, sondern nur jene, denen es etwas schlechter ging und die klare Symptome hatten und sich Linderung beim Arzt versprachen (wie sinnvoll oder sinnlos das bei einer normalen Grippe ist, sei dahingestellt). Ca. 25.000 Menschen starben in der Grippesaison 2017/18 an der Grippe. Kein Grund zur Panik.

Dass es jetzt in den USA relative viele Neuinfektionen gibt, kann u.a. an den deutlich häufigeren Tests liegen (das zeigen die Zahlen für die USA). Was in den USA zu den teils hohen Sterberaten in Alten- und Pflegeheimen führte, war skandalöserweise das Zurückschicken von infizierten alten Menschen aus Krankenhäusern – weil die Krankenhäuser für die wirklich gefährlichen Fälle Betten freihalten müssten (in den USA wird das dann oft mit dem Versagen der blauen (entgegen den roten) Staaten in Beziehung gesetzt, also den von Demokraten regierten, was hier natürlich als typische aufgeheizte US-Polemik keine Rolle spielen soll). Das waren tödliche Fehlentscheidungen, die offenbar zum Beispiel im Staat New York verheerend wirkten. Das mag am kapitalistischen Gesundheitssystem liegen, aber auch an der unglaublichen Panik, die weltweit fast alle Politiker*innen erreichte und die zu solchen falschen Entscheidungen führte.

Die Toten, die wir wegen dem Lockdown zu beklagen haben werden, die werden ein Vielfaches der relativ wenigen Grippetoten wegen SARS-CoV-2 betragen, wie die kritischen weltberühmten ForscherInnen im Zuge von Ioannidis schon jetzt sagen und befürchten. Eine Milliarde Menschen könnte in Hunger und Armut stürzen, weil die Weltwirtschaft kollabiert.

Dagegen sind dann befürchtete Schließungen von stadtbekannten Kneipen wie dem „Schwarzen Café“ in Berlin-Charlottenburg in der Kantstraße, unweit des Savigny-Platzes, Ende der 1970er Jahre von einem Anarchisten gegründet, zwar schrecklich, aber von anderer Qualität als der Überlebenskampf von Straßenverkäufer*innen in Indien, weiten Teilen Asiens oder in Südamerika, von den Kindern, die in Afrika keine Masernschutzimpfung erhalten haben, weil die Panikmaßnahmen solche Präventivaktionen unmöglich machten, nicht zu schweigen.

Es wird nach Corona ganz andere Innenstädte geben als davor, trostlosere, einförmigere, leerere – und das sind „Kollateralschäden“, die allesamt vermeidbar gewesen wären.

Aber selbst diese neuen Zahlen von weltweit 10 Millionen positiv Getesteten sind überhaupt gar nichts gegen die von John Ioannidis, dem mittlerweile auch für Newcomer legendären Professor für Epidemiologie und Bevölkerungsgesundheit  an der Stanford Universität in Kalifornien, in den Raum geworfenen Zahlen: Ioannidis geht von weltweit mindestens 150 bis 300 Millionen Infizierten aus, vermutlich sind noch viel mehr Menschen mit SARS-CoV-2 in Berührung gekommen und somit infiziert (aber nicht krank). Das ist ein Hoffnungszeichen. Warum? Es zeigt ja, wie wenig tödlich das Virus ist. Nehmen wir 500.000 Coronagrippetoten von 10 Millionen Infizierten verglichen mit 300 Millionen Infizierten. 500.000 von 10 Mio. sind 5 Prozent, eine völlig unwissenschaftliche und hohe Zahl, Professor Hendrik Streeck kam in Gangelt in NRW auf 0,37 Prozent Letalitätsrate. 500.000 von 150 Mio. sind 0,33 Prozent. Das entspräche der empirisch (!) gesicherten Forschung von Streeck oder Ioannidis.

Das reduziert die von der WHO sensations- und paniklüstern in den Raum geworfene Sterberate von 3,4 Prozent der Infizierten (also positiv Getesteten) ganz extrem. Laut Ioannidis ist die Wahrscheinlichkeit für Menschen unter 45 Jahren so gut wie gleich Null, an diesem Virus zu sterben, weltweit liegt das durchschnittliche Todesalter bei über 80 Jahren, teilweise übersteigt es damit die im jeweiligen Land feststellbare durchschnittliche Lebenserwartung.

Corona ist 100 bis 1000 Mal weniger tödlich als die Spanische Grippe 1918, vor allem war damals das durchschnittliche Todesalter 28 Jahre. 1918 starben ca. 50 Millionen Menschen an dieser Grippe.

Ioannidis schreibt am 3. Juni 2020:

The infection fatality rate is thus vastly lower than the documented case fatality rates. Moreover, most covid-19 deaths affect people with limited life expectancy, while the average age at death in the 1918 flu pandemic was 28. The expected loss of quality adjusted life years, even without aggressive lockdown measures, is 100 to 1000 times lower than in 1918—perhaps comparable with (if not lower than) typical seasonal flu, which kills 34 800 (95% confidence interval 13 200 to 97 200) children every year with acute lower respiratory infections, in contrast with covid-19, which overwhelmingly spares children.

Screenshot

Und wieder ist es gerade der panikgeile Journalismus, der die Massenpanik schürt: da hatte doch kürzlich eine Journalistin herausbekommen, dass Angela Merkel noch nie mit einer Maske gesehen worden sei. Anstatt das zu loben und die Nicht-Selbstdemütigung der führenden Politikerin zu registrieren wird blockwartmäßig moniert, das sei komisch. Also wurde wenige Tage später Merkel mit Maske abgelichtet – zu einem Zeitpunkt, als in Deutschland die Wahrscheinlichkeit, sich mit Corona zu infizieren, einem Lottogewinn gleichkommt, wie ein führender (!) Mediziner aus Hamburg, der oben zitierte Professor Johannes Knobloch, festhält.

Der Gesundheitsfaschismus geht diesmal vom Volk aus, die Politiker merkten das zwar von Anbeginn und setzen das Grundgesetz außer Kraft, aber ohne die extrem aggressive Bevölkerung und die agitatorischen Medien wären von Anfang an auch kritische Stimmen zu Wort gekommen.

So langsam kommen sie tatsächlich lauter im Mainstream vor, jedenfalls am Rande, die Stimmen der Kritiker*innen.

Entscheidend ist hierbei folgender philosophische und politikwissenschaftliche Gedanke von Professorin Antonia Grunenberg (76) vom 1. Juli 2020:

Was ist Bios? Bios ist die Dominanz der Epidemie über die Demokratie. Bios ist die Herrschaft der Natur über die Zivilgesellschaft. Bios ist die Stigmatisierung von Altersgruppen und von Kranken. Bios ist das Denken, wonach das Leben mehr wert ist als die Freiheit. Bios ist die vorauseilende Bereitschaft der Bürger, auf Freiheitsrechte zu verzichten. Bios ist der Glaube, als würde die Wissenschaft die Wahrheit verkünden. Bios ist die kreatürliche Angst, die nach Schutz sucht und kein Risiko eingehen will. Wenn Bios sich mit der Exekutive verbündet, ist Gefahr im Verzug. Dann ist es Zeit, die Zivilgesellschaft aufzurufen.

Grunenberg schließt ihren Text:

Es ist höchste Zeit, dass wir Bürgerinnen und Bürger uns darauf besinnen, wie sehr die freiheitliche Zivilisation und Demokratie unseres Schutzes und der Regeneration bedarf. Der Sieg über die Pandemie und die Eindämmung der Klimaschäden kann nicht oberste politische Maxime sein. Es gibt eine Freiheit, die über Bios und das individuelle Leben hinausreicht. Die haben wir bisher für geschenkt genommen. Ist sie aber nicht.

Das Paradoxe der aktuellen Situation liegt darin, dass auch ökosozialistische Anarchist*innen sich diesem Freiheitscredo anzuschließen vermögen, wie es scheint.

 

Banalisierung des Bösen: Hannah-Arendt-Preis für die Trivialisierung des Holocaust 2013

Banalisierung des Bösen: Hannah-Arendt-Preis für die Trivialisierung des Holocaust 2013

Von Dr. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

 

Am 22. August 2013 gab die Senatsverwaltung der Freien Hansestadt Bremen bekannt, dass der von ihr gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung ausgelobte Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken an den 1969 geborenen amerikanischen Historiker Timothy Snyder geht. Snyder ist weltweit bekannt geworden durch sein 2010 veröffentlichtes Buch Bloodlands, mit dem er die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust neu zu schreiben versucht. Die Bremer Senatsverwaltung schreibt:

 

In seinem Buch „Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin“ habe Snyder, so urteilte die Jury, ein vergessenes und verdrängtes Kapitel der europäischen Geschichte aufgeschlagen, über das Europa über ein halbes Jahrhundert nach dem Geschehen noch immer uneins sei. Es ist die Frage, wie das Ineinandergreifen des deutschen Genozids an den europäischen Juden, an der polnischen Elite sowie an anderen „slawischen Völkern“ und die Stalinsche Politik der Hungersnöte sowie der Vernichtung ganzer ethnischer und sozialer Gruppen zu beurteilen sei – und wie das Geschehen in die europäische Gedächtniskultur eingehen könne. „Unabhängig von den Kontroversen unter Historikern und politischen Denkern, die das Buch und sein Autor ausgelöst haben, berührt Snyder substantielle Fragen, die den Kern des europäischen Vereinigungsprojekts betreffen“ , so die Jury. Snyders streitbare historische Analyse trage damit zu einer neuen öffentlichen Debatte um die politische Gestalt Europas bei.

Die Jury für diesen Preis setzt sich wie folgt zusammen: Prof. Antonia Grunenberg (Berlin/Oldenburg), Dr. Otto Kallscheuer (Sassari/Berlin), Marie Luise Knott (Berlin), Dr. Willfried Maier (Hamburg), Prof. Karol Sauerland (Warschau), Joscha Schmierer (Berlin), Prof. Christina Thürmer-Rohr (Berlin).[i]

 

Timothy Snyder

Das Elend und die Antiquiertheit der Studie Snyders wird schon im Vorwort von Bloodlands unumwunden deutlich; geradezu lapidar spricht er davon, dass die “meisten deutschen Juden, die Hitler 1933 die Wahlen gewinnen sahen, eines natürlichen Todes starben”:

Hitler was an anti-Semitic politician in a country with a small Jewish community. Jews were fewer than one percent of the German population when Hitler became chancellor in 1933, and about one quarter of one percent by the beginning of the Second World War. During the first six years of Hitler’s rule, German Jews were allowed (in humiliating and impoverishing circumstances) to emigrate. Most of the German Jews who saw Hitler win elections in 1933 died of natural causes.[ii]

Wenn die meisten deutschen Juden, die 1933 in Deutschland lebten, gar nicht ermordet wurden, warum dann diese ‚enorme Erinnerungskultur an die Shoah‘, möchte der Nachwuchshistoriker insinuieren. Mehr noch: Jeder dieser soeben zitierten Sätze aus Bloodlands benennt Hitler. Diese Obsession Snyders mit der sog. Great Man Theory von Mitte des 19. Jahrhunderts ist auffällig und zeigt, dass er wissenschaftsgeschichtlich nicht auf der Höhe der Zeit ist.

 

Heute wird nicht mehr nach ‚großen Männern der Geschichte‘ geforscht, vielmehr nach strukturellen Beziehungen, nach ideologischen, alltäglichen, kulturellen oder religiösen und vielen anderen Spezifika und Entwicklungen. Bezüglich des Zweiten Weltkriegs wird ganz entgegen Synder seit Jahren in der Forschung ein Schwerpunkt auf die einzelnen Täter gelegt, auf Einheiten der Wehrmacht, der Schutzstaffel (SS, Waffen-SS), des Sicherheitsdienstes (SD), der Polizeibataillone etc.

 

Doch schockierend an diesem zentralen Satz aus Snyders Buch Bloodlands ist die Eiseskälte mit welcher er über die deutschen Juden schreibt. Für ihn geht es nicht darum, dass sich die deutschen Juden nicht vorstellen konnten, in Eisenbahnwaggons gepfercht, tagelang transportiert und dann an der Rampe selektiert und in Gaskammern vernichtet zu werden. Pogrome waren aus der Geschichte des Judenhasses seit Jahrhunderten bekannt. Doch der Zivilisationsbruch, den Auschwitz darstellt, war präzedenzlos, ohne Vergleich in der Geschichte. Für Snyder alles kein Problem, er geht über das Schicksal der deutschen Juden hinweg, machten sie doch für ihn geradezu läppische 0,25 Prozent der deutschen Bevölkerung 1939 aus. Für einen Mann der großen Zahlen, für einen, der mit 14,5 Millionen Toten jongliert und rot und braun ganz kategorial gleichsetzt, sind so wenige Menschen, 165.000 deutsche Juden, so gut wie nichts.

 

Entgegen aller wissenschaftlichen und historischen Kenntnis behauptet Snyder sodann, der Zweite Weltkrieg habe am 1. September „with friendship between Nazi Germany and the Soviet Union”[iii] begonnen. Er leugnet also die Alleinverantwortung der Deutschen und des Nationalsozialismus für den Beginn des schrecklichsten Krieges in der Geschichte der Menschheit. Da klatschen nicht nur die NPD und die autonomen Nationalisten, auch in nationalistischen Kreisen in Osteuropa wie in Litauen, wo Synder gern gesehener staatsoffizieller Gast ist, wird gejubelt.

 

Der litauische Außenminister (li.) und Timothy Snyder im Mai 2012

Der Historiker der Yale University, die schon bessere Zeiten gesehen hat, hat sich kaum neue oder unbekannte Quellen angeschaut. Er setzt vielmehr Bekanntes völlig neu zusammen und erfindet ein Gebiet, das zwischen den baltischen Staaten und der Ukraine auf der Nord-Süd-Achse sowie zwischen Polen und dem westlichen Russland (also vor allem Weißrussland und Ukraine) auf der West-Ost-Achse liegt: Bloodlands. Snyder geht es um folgende Verbrechen[iv]:

  • Hungersnot in der Ukraine 1932/33: 3 Millionen Tote.
  • Stalins Großer Terror 1937/38: 700.000 Tote
  • Tötungen von Polen durch Nazis und Sowjets 1939–1941: 200.000 Tote
  • Von den Nazis hervorgerufener Hunger 1941–1944: 4,2 Millionen Tote
  • Racheaktionen der Nazis: 700.000 Tote
  • Von den Nazis ermordete Juden: 5,4 Millionen

 

Insgesamt spricht der Historiker von ca. 14,5 Millionen Toten in diesem imaginären „Bloodland“.

Dabei fällt jeder Holocausthistorikerin und jedem Holocausthistoriker schon der Name Bloodlands (=Blutländer, oder blutende Länder) als völlig abwegig auf, da die Vernichtung in den Vernichtungslagern der Deutschen im SS-Staat schon sprachlich derealisiert wird: Treblinka, Sobibor, Chelmno, Majdanek, Belzec, Auschwitz-Birkenau stehen für die industrielle Vernichtung der europäischen Juden, für Vergasungen und gerade nicht für ein blutiges Schlachtfeld. Die blutige Vernichtung der Juden in den Wäldern und Feldern im Osten ist ebenso seit Jahrzehnten analysiert, nicht zuletzt von Daniel J. Goldhagen im Jahr 1996 in dessen Dissertation an der Harvard University über Hitler’s Willing Executioners.

Der Historiker Efraim Zuroff, Leiter des Jerusalemer Büros des Simon Wiesenthal Centers (SWC), kommentierte die Entscheidung der Senatsverwaltung von Bremen und der Heinrich-Böll-Stiftung im persönlichen Gespräch mit dem Autor sarkastisch als „exzellente Wahl“. Damit werde ein „Wissenschaftler, der die lokale Kollaboration mit den Nazis in Osteuropa herunterspielt“ einen Preis erhalten, „der nach einer Wissenschaftlerin benannt ist, die ihre osteuropäischen Brüder und Schwestern verachtete“, osteuropäische Juden, die „von genau diesen begeisterten lokalen Nazikollaborateuren ermordet wurden“:

What an excellent choice! The scholar who downplayed local collaboration with the Nazis in Eastern Europe will receive a prize named for a scholar who despised her Eastern European brethren who in many cases were murdered by those same zealous local Nazi collaborators. How fitting.[v]

Der Historiker Thomas Kühne von der Clark University (Massachusetts) stellt Snyder in Beziehung zur extremen Rechten und zur deutschen Geschichtspolitik seit Nolte.[vi] Kühne zeigt, dass Snyder bezüglich der geschichtswissenschaftlichen Forschung nicht up to date ist, wenn er sich primär auf ‚große Männer‘ bezieht:

Notwithstanding decades of research that has shown that major parts of all ranks of the Wehrmacht willingly and voluntarily joined in genocidal warfare, Bloodlands presents the German army as a mere tool n Hitler’s hands, as if the soldiers had no choices.[vii]

Der Leipziger Historiker Dan Diner kritisiert Snyder und stellt heraus, dass unterm Stalinismus jeder zu “dem anderen” gemacht werden konnte, während der Nationalsozialismus die Juden als den Feind bestimmte, rassisch gedacht.[viii] Dieser Unterschied ist einer ums Ganze.

Der Historiker Dan Michman von der israelischen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem kritisiert Snyder ähnlich scharf.[ix] Der Historiker Kenneth Waltzer von der Michigan State University meint, dass Snyder den nationalsozialistischen Antisemitismus herunterspielt und damit den Kern der deutschen Volksgemeinschaft verfehlt.[x]

Timothy Snyders Infamität und Abwehr der Präzedenzlosigkeit des Holocaust geht soweit, dass er der westlichen Welt gleichsam vorwirft, nur deshalb Auschwitz und die Shoah zu erinnern, weil in Auschwitz die ‚bourgeoisen‘ Juden ermordet worden seien, die kapitalistischen und nicht die armen osteuropäischen:

The metonym of anonymity is of course Auschwitz, which Adorno once thought should prevent us from writing and presumably from citing poetry, and Diner faults me for underestimating. The gas chambers of Auschwitz-Birkenau become widely known precisely because, unlike most important German killing sites, they were associated with a labour camp which Jews and others survived. Auschwitz is where Jews from (in Cold War terms) Western countries were killed, and thus Auschwitz was preserved as a memory during the Cold War. It helped that victims of Auschwitz were more likely to be bourgeois and thus suitable targets of comfortable identification, much more so, say, than Yiddish-speaking Jewish workers from Poland or Russian speaking Soviet Jews. But Auschwitz is in numerical terms only a fraction of the horror: five sixths of the Holocaust happened elsewhere, and, crucially, earlier.[xi]

Der englische Historiker Richard Evans, bekannt durch seine Kritik an Ernst Nolte und seiner Analyse des Historikerstreits[xii], ist schockiert über Snyders Bloodlands[xiii]. Neben der Kritik an vielen kleineren handwerklichen Mängeln in der Studie kommt Evans zum Kern: die Banalisierung des Holocaust. Die spezifische antijüdische Dimension der Shoah kommt nicht vor, weder die Demütigung und das Quälen der Juden vor ihrer Ermordung noch die ideologische Dimension, dass für die Deutschen im Nationalsozialismus die Juden der „Weltfeind“ waren und nicht die Slawen oder andere.[xiv]

Eine der bislang umfangreichsten und detailliertesten Kritiken an Timothy Snyders Bloodlands hat der Historiker Jürgen Zarusky vom Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München publiziert, die mittlerweile auch in polnischer und russischer Sprache vorliegt.[xv] Wie die Historiker Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffel würde Snyder behaupten, dass sowohl Hitler als auch Stalin “kollektive”, “ethnisch” definierte “Feinde” eliminiert hätten.[xvi] Dabei hatten weder die ukrainische Hungersnot 1932/33[xvii] noch der Große Terror[xviii] unter Stalin eine essentialistisch ethnische Dimension und selbst der Stalinsche Antisemitismus unterschied sich vom Rassen-Antisemitismus im NS.

Viel Freude bei offenen wie klammheimlichen Sympathisanten von Vertriebenenideologie sowie bei Mitgliedern von Vertriebenenverbänden sowie der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach, dürfte Snyders Agitation gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten nach sich ziehen, wenn Snyder die Vertreibung von Deutschen nach Ende des SS-Staates als „ethnische Säuberung“ und Teil von Stalins vermeintlichem „ethnischem Modell“ erklärt.[xix] Die Deutschen als Opfer in einem Buch über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust: das liegt im Trend, der Zeitgeist ruft.

Das Herunterspielen des Antisemitismus ist der Kernpunkt des Buches von Bloodlands. Zarusky zeigt, dass für Snyder der Holocaust nur eine Reaktion Hitlers auf den verloren geglaubten Krieg gegen die Sowjetunion spät im Jahr 1941 gewesen sei.[xx] Diesen schwerwiegenden analytischen Fehler Snyders analysiert Zarusky, wonach es lediglich einen Wechsel der Feindbilder der Nazis gegeben habe, weg von den Slawen (UdSSR, Polen etc.) und hin zu den Juden.

Doch genau dieser Geschichtsrevisionismus kommt in Deutschland, beim Bremer Senat und der Heinrich-Böll-Stiftung an.

2005 erhielt die damalige lettische Präsidentin Freiberga den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken. In ihrer Dankesrede erwähnte sie mit keinem Wort den Holocaust, was der Historiker Jürgen Zarusky 2012 wie folgt einordnete:

 Das ersparte ihr auch die Erwähnung der Tatsache, daß von den 66.000 lettischen Juden die zur Zeit der deutschen Besatzung ermordet wurden, 15.000 Opfer des Erschießungskommandos des lettischen Polizeioffiziers Viktor Arajs wurden. [xxi]

1997 hatte der heutige Bundespräsident Joachim Gauck diesen Hannah-Arendt-Preis erhalten.

Alles passt ‚wunderbar‘ zusammen und wurde 2007 – wen wundert’s? – durch  Antizionismus als Element des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken ergänzt, denn mit Tony Judt wurde ein Historiker geehrt, der auf brachiale Weise antiisraelisch agitierte und 2003 schrieb, dass „Israel schlecht für die Juden sei“[xxii]. Es ließen sich weitere antizionistische Texte zitieren, in denen Judt  z.B. auf den Israelhasser und ‚Postorientalisten‘ Edward Said rekurrierte. Snyder war ein sehr enger Freund von Judt, was die Jury aus Bremen im Jahr 2013 bemerkte.

Es gibt eine ‚wunderbare‘ Bebilderung dieser Hannah-Arendt-Preis-Posse. Bundespräsident Gauck, Preisträger und Super-GAUck, erhob Anfang Juli 2013 mit süffisantem Lächeln die Rot=Braun-These in symbolischer Politik zur Normalität: Mit dem estnischen Präsidenten Toomas Hendrik posierte er vor einem revisionistischen Denkmal im „Museum der Besatzung“ in Estlands Hauptstadt Tallin. Hinter ihnen ein Tor, dessen einer Pfeiler einen roten Stern ziert (und somit alles „Linke“ oder „Rote“ und nicht ‚nur‘ die Sowjetunion, was schlimm genug wäre), den anderen Pfeiler schmückt das Hakenkreuz. Das ist die Ikonografie des Geschichtsrevisionismus der Mitte der europäischen Gesellschaften. Ernst Nolte ist längst Mainstream.

Timothy Snyder hätte hier sicher auch gerne dabei gestanden. Der nun 90jährige Ernst Nolte würde anerkennend nicken und kann zufrieden auf seinen letztendlichen Sieg im Historikerstreit blicken.

 



[i]               Mitglieder des Vorstandes des Vereins Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V. sind: Prof. Antonia Grunenberg, Peter Rüdel, Ole Sören Schulz, Prof. Eva Senghaas-Knobloch.

[ii]              Timothy Snyder (2010): Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, New York: Basic Books, viii-ix.

[iii]             Timothy Snyder (2010a): Echoes from the killing fields of the east. The second world war is often seen through western allies‘ eyes. But the real geopolitics – and worst atrocities – scarred the east, 28. September 2010, http://
www.guardian.co.uk/commentisfree/cifamerica/2010/sep/27/secondworldwar-poland (eingesehen am 10. Juni 2012).

[iv]             Siehe dazu die Analyse und Kritik an Timothy Snyders Bloodlands von Dovid Katz (2011): Review Article. Detonation of the Holocaust in 1941: A Tale of two Books, East European Jewish Affairs, Jg. 41, Nr. 3, 207–221.

[v]              Efraim Zuroff in einer E-Mail vom 22. Mai 2013.

[vi]             Thomas Kühne (2012): Great Men and Large. Numbers: Undertheorising a History of Mass Killing, Contemporary European History, Jg. 21, Nr. 2, 133–143, 134–135.

[vii]            Kühne 2012, 138.

[viii]           Dan Diner (2012): Topography of Interpretation: Reviewing Timothy Snyder’s Bloodlands, Contemporary European History, Jg. 21, Nr. 2, 125–131, 130.

[ix]             Dan Michman (2012): Bloodlands and the Holocaust: Some Reflections on Terminology, Conceptualization and their Consequences, Manuskript [wurde im Journal of Modern European History, 2012, publiziert]; Danke an Dan Michman, der mir seinen Artikel vor der Veröffentlichung zukommen ließ.

[x]              Kenneth Waltzer (2011): Review of Timothy Snyder, Bloodlands, Holocaust Studies: A Journal of Culture and History, 188–194, 192, online at http://defendinghistory.com/wp-content/uploads/2012/02/Kenneth-Waltzers-Review-of-Snyders-Bloodlands-in-Holocaust-Studies.pdf (visited June 19, 2012).

[xi]             Timothy Snyder (2012): The Causes for the Holocaust, Contemporary European History, Jg. 21, Nr. 2, 149–168, 154–155.

[xii] Richard Evans (1989): In Hitler’s Shadow. West German Historians and the Attempt to Escape from the Nazi Past, London: I.B. Tauris & Co. Ltd. Publishers; Richard Evans (1991): Im Schatten Hitlers? Historikerstreit und Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik, Frankfurt: Suhrkamp; Richard Evans (2000): Expert Report by Professor Richard Evans. Irving VS. (1) Lipstadt and (2) Penguin Books. Expert Witness Report by Richard J. Evans FBS, http://www.phdn.org/negation/irving/EvansReport.pdf (visited October 10, 2012)

[xiii]           Richard Evans (2010): Who remembers the Poles. Review of Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, by Timothy Snyder, London Review of Books, 4. November 2010, 21–22.

[xiv]           Evans 2010, 22.

[xv]            Jürgen Zarusky (2012): Timothy Snyders „Bloodlands“. Kritische Anmerkungen zur Konstruktion einer Geschichtslandschaft, Vierteljahreshefte für Zeit­geschichte, Jg. 60, Nr. 1, 1–31. „Krovavye zemli“ Timoti Snajdera: Kritičeskie zamečanija i k konstruirovaniju istoričeskogo landšafta [= russische, leicht gekürzte Version des Aufsatzes „Timothy Snyders ‚Bloodlands‘. Kritische Anmerkungen zur Konstruktion einer Geschichtslandschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 1–31.], erschienen am 03.02.2013 auf der Internetplattform „Uroki istorii“ von „Memorial“, http://urokiistorii.ru/media/book/51683; „Skrwawione ziemie“ Timothy Snydera. Krytyczne uwagi na temat konstrukcji krajobrazu historycznego [= polnische Version des Aufsatzes „Timothy Snyders ‚Bloodlands‘. Kritische Anmerkungen zur Konstruktion einer Geschichtslandschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 1-31.], in: „Studia Litteraria et Historica”. Pismo Instytutu Slawistyki Polskiej Akademii Nauk, 1/2012, S. 1–32, http://www.slh.edu.pl/content/skrwawione-ziemie-timothy-snydera.

[xvi]           Zarusky 2012, 2–5.

[xvii]          Zarusky 2012, 6.

[xviii]         Zarusky 2012, 10.

[xix]           Zarusky 2012, 13.

[xx]            Zarusky 2012, 21.

[xxi]           Jürgen Zarusky (2012a): Europäische Erinnerungskonflikte um den deutsch-sowjetischen Krieg – geschichtspolitische Spannungsfelder nach 70 Jahren, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 16. Jg., Heft 1, 45–73, hier S. 65.

[xxii]          Tony Judt (2003): Israel: The Alternative, 23. Oktober 2003, http://www.
nybooks.com/articles/archives/2003/oct/23/israel-the-alternative/ (eingesehen am 23. Mai 2012)

 

 

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner