Von Dr. phil. Clemens Heni, 15. April 2021
Die ganze Ignoranz, die Unwissenschaftlichkeit und die früher von uns linken Student*innen als „Fachidiotie“ bezeichnete reduktionistische Denkweise, das ganze virologische oder medizinische Korsett, das Menschen einzwängt im Denken, zeigt sich in dem weit überschätzten und als Gegenspieler zum Begründer der Panikindustrie, Christian Drosten, von den Medien gehypten Hendrik Streeck aus Bonn. In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung vom 15. April 2021 sagt Streeck nach über einem Jahr Lockdown:
Kann das menschliche Immunsystem durch Lockdowns geschwächt werden?
Es kann, aber muss nicht.
Es folgt eine ausbalancierte Antwort?
Genau. Denn wie der Lockdown auf uns wirkt, hängt von unserer Reaktion auf den Lockdown ab. Wenn man keinen Sport mehr treibt, sich schlecht ernährt und aus den Angstzuständen nicht mehr herauskommt, dann beeinträchtigt der Lockdown das menschliche Immunsystem bestimmt. Aber man kann ja aus der Not eine Tugend machen und so viel Sport treiben wie schon lange nicht mehr – dann dürfte das Immunsystem sogar gestärkt werden.
Gibt es Studien, inwiefern Angstzustände und Stress das Immunsystem schwächen?
Die gibt’s, aber das ist nicht mein Fachgebiet. (Herv. CH)
Es wundert mich nicht, was Streeck über den Lockdown sagt. Es ist Mainstream, ist Talkshow-Geschwätz eines maximal Halbgebildeten, was Streeck ja auch sofort zugibt, er ist kein Psychologe, ja nicht mal ein Allgemeinmediziner, der zumindest grob eine Ahnung hat oder haben sollte von dem Verhältnis von Stress, Angst und Panik und dem Immunsystem. Wer nach 13 Monaten Lockdown ernsthaft meint, es sei nicht klar, ob Lockdowns schädlich sind, hat ein massives Problem mit der Realität. Streeck ist gefangen in seinem überbezahlten Job an der Universität, wo er im Labor steht (wenn er gerade keine Interviews gibt und rumreist zu Talkshows) und hat keine – keine – Ahnung, wie es Dutzenden von Millionen Menschen geht, die beengt wohnen, die nicht mehr in den Club oder das Theater oder die Bibliothek, ja nicht mal ins Restaurant, nicht in Geschäfte, nicht in die Sauna oder das Hallenbad, nicht in den Zug oder ein Flugzeuge steigen können, ohne körperlich verletzt zu werden mit einer Zwangsmaske etc. pp. Da von den möglichen positiven Aspekten des Lockdowns zu reden, ist zynisch und abstoßend, ja geradezu perfide.
Dass Streeck der „Philosoph unter den Virologen“ sei, wie die NZZ schreibt, dementiert das Interview selbst. Streeck, immerhin ist er da ehrlich, konstatiert, dass er ganz sicher kein Philosoph ist:
Wie wird das neue Normal aussehen?
Da sollten Sie besser einen Philosophen fragen.
Hier zeigt sich wiederum wie affirmativ die NZZ die Fragen stellt, da von einem „neuen Normal“ schon mal ausgegangen wird.
Noch absurder – das sollte Epidemiolog*innen schockieren, denke ich, behauptet Streeck Folgendes:
Wie viele Menschen sind von Natur aus immun gegen das Coronavirus?
Das weiss man nicht. Was man hingegen schätzt: Jede fünfte Infektion verläuft ohne Symptome.
Wie bitte? Nur 20 Prozent der „Infektionen“ sollen „ohne Symptome“ verlaufen? Das widerspricht allen Erkenntnissen der internationalen epidemiologischen Forschung. Die Weltgesundheitsorganisation ging Anfang Oktober 2020 davon aus, dass ca. 750 Millionen Menschen mit Corona „infiziert“ seien, aber nur ca. 36 Millionen „Fälle“ waren gemeldet. Das heißt, es gab damals ca. 20 mal mehr „Fälle“ als bekannt, fast alle werden symptomlos oder ganz mild gewesen sein. Man kann von dem Rest davon ausgehen, dass die Menschen so gut wie keine Symptome hatten, jedenfalls nicht zum Arzt gingen. Das heißt, die WHO ging im Oktober 2020 davon aus, dass 95 Prozent aller Fälle nicht gemeldet wurde und fast alle davon werden asymptomatisch gewesen sein. Nimmt Streeck als Virologe aus Bonn am Rhein die internationale epidemiologische Forschung zur Kenntnis?
Eine Studie vom 31. März 2021 analysiert den Prozentsatz der „Fälle“ in Holland, die nichts von einer Berührung mit SARS-CoV-2 merkten („Estimating the asymptomatic proportion of SARS-CoV-2 infection in the general population: Analysis of a nationwide serosurvey in the Netherlands„). Dieser wissenschaftliche Artikel ist noch nicht mal kritisch in dem Sinne, dass er das irrationale und epidemiologisch noch nie in der Geschichte der Public Health für die ganze Welt angewandte Testen auf ein für fast alle Menschen harmloses Virus (verglichen mit HIV oder Ebola oder Pocken etc.) kritisiert, schlimmer: der Artikel promotet das irrationale und als kriminell zu bezeichnende Massentesten symptomfreier und gesunder Menschen. Bekanntlich steht auf den Beipackzetteln auch der Schnelltests, dass sie nur bei Verdacht auf Covid-19 angewandt werden sollen oder dürfen:
Anyway: Das Ergebnis der Studie aus Holland zeigt, dass in 70 Prozent aller Fälle die „Infektion“ (die also keine war) ohne Symptome verläuft. Medizinisch, auch das sollte Streeck wissen, ich als Politologe weise ihn darauf hin, gilt eine Infektion nur dann als Infektion, wenn sich Erreger vermehren und zwar so stark vermehren, dass der Körper sich dagegen wehrt, also eine Reaktion hervorruft: Halsweh, Husten, Fieber, Schüttelfrost gar, oder auch nur das beliebte Sich-etwas-schlapp-fühlen – „Ich fühle mich so schlapp seit 2 Stunden, schließt alle Restaurants, alle Geschäfte, alle Theater, alle Flughäfen und alle Schulen und Universitäten und Diskotheken!“
Also widerspricht diese aktuelle Studie aus Holland der absurden Behauptung von Streeck, dass nur 20 Prozent aller „Infektionen“ ohne Symptome verlaufe.
Laut einer ebenso aktuellen Studie eines der führenden Epidemiologen weltweit, John Ioannidis aus Stanford vom 26. März 2021 („Reconciling estimates of global spread and infection fatality rates of COVID‐19: An overview of systematic evaluations„), gibt es derzeit zwischen 1,5 und 2 Milliarden Corona-„Fälle“ auf der Welt – und nicht die geradezu harmlos anmutenden 139 Millionen, die offiziell angegeben werden. Das wiederum heißt, dass zwischen 90 und 93 Prozent aller Fälle asymptomatisch verläuft.
Eventuell verstehen meine Leserinnen und Leser, wie die NZZ und Streeck darauf kommen, dass nur 20 Prozent der „Infizierten“ ohne Symptome sei, während es doch in Realität zwischen 70 und 95 Prozent sind, wenn wir uns an der WHO und der internationalen epidemiologischen Forschung orientieren.
Selbst Streeck ging letztes Jahr noch davon aus, dass es mindestens sechsmal mehr „Fälle“ in Gangelt im Kreis Heinsberg gab, daher kam er ja auch die bis heute gültige Infektionssterblichkeit von 0,37 Prozent.
Im Folgenden möchte ich für jene, die es verpasst haben, zwei Abschnitte aus dem Buch „Gefährderansprache“ von Oktober 2020 online zur Verfügung stellen. In diesen Abschnitten versuchte ich Streeck kritisch zu lesen, ihn zu würdigen, wo es angebracht ist, und ihn zu kritisieren, wo es not-wendig ist: Beim Thema Verschwörungsmythen!
Hier also die beiden Abschnitte aus dem Buch:
Der Bonner Virologe Professor Hendrik Streeck sprach Mitte August 2020 im Münsteraner Dom über Corona.[1] Mit seinem Team von über 40 Mitarbeiter*innen von der Uni Bonn hat er in der seitdem weltweit bekannten Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen, unweit der Grenze zu den Niederlanden, erforscht, wie groß die Gefahr von Corona wirklich ist. Sie ist um das Zehnfache geringer, als wir tagtäglich vom Robert Koch-Institut (RKI) aus Berlin gesagt bekommen: Die Sterblichkeit liegt in Gangelt bei 0,37 Prozent, ähnlich wie in Island (0,3 Prozent). Das liegt daran, dass Streeck auch jene Personen entdeckt hat, die keine oder kaum Symptome hatten und die in den offiziellen Statistiken überhaupt nicht als „Fälle“ aufgetaucht sind. Die Universität Bonn hatte am 4. Mai 2020 von der Studie berichtet:
Im Zentrum der Studie steht die Sterblichkeitsrate der Infektion (sog. Infektionssterblichkeit, infection fatality rate, IFR), die den Anteil der Todesfälle unter den Infizierten angibt. Diese muss von der Fallsterblichkeit unterschieden werden (case fatality rate, CFR). Die IFR ist aus verschiedenen Gründen der verlässlichere Parameter, und dessen Bestimmung wird international für SARS-CoV-2 gefordert. ‚Mit unseren Daten kann nun zum ersten Mal sehr gut geschätzt werden, wie viele Menschen nach einem Ausbruchsereignis infiziert wurden. In unserer Studie waren das 15 Prozent für die Gemeinde Gangelt. Mit der Gesamtzahl aller Infizierter kann die Infektionssterblichkeit (IFR) bestimmt werden. Sie liegt für SARS-CoV-2 für den Ausbruch in der Gemeinde Gangelt bei 0,37 Prozent‘, sagt Studienleiter Prof. Dr. Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn. Mit der IFR lässt sich anhand der Zahl der Verstorbenen auch für andere Orte mit anderen Infektionsraten abschätzen, wie viele Menschen dort insgesamt infiziert sind. Der Abgleich dieser Zahl mit der Zahl der offiziell gemeldeten Infizierten führt zur sogenannten Dunkelziffer. Diese ist in Gangelt rund 5-fach höher als die offiziell berichtete Zahl der positiv getesteten Personen. Legt man für eine Hochrechnung etwa die Zahl von fast 6.700 SARS-CoV-2-assoziierten Todesfällen in Deutschland zugrunde, so ergäbe sich eine geschätzte Gesamtzahl von rund 1,8 Millionen Infizierten. Diese Dunkelziffer ist um den Faktor 10 größer als die Gesamtzahl der offiziell gemeldeten Fälle (162.496 am 03.05.2020, 07:20 Uhr).[2]
Es gibt also bis zu zehnmal mehr „Fälle“ als das Robert Koch-Institut uns tagtäglich seit dem 1. März 2020 erzählt. Warum hat das RKI keine eigene Studie geplant, und zwar zur Hochphase der Epidemie im März 2020 oder wenigstens im April 2020, um Menschen zu testen und heraus zu bekommen, wie hoch diese Dunkelziffer der Menschen ist, die mit SARS-CoV-2 in Berührung kamen, aber nie krank wurden? Diese korrekte Forschung von Streeck hat also bis heute – Mitte Oktober 2020 – trotz seiner Beratertätigkeit für den Ministerpräsidenten von NRW Armin Laschet so gut wie keinerlei Einfluss auf die Politik. Und schon gleich gar keinen Einfluss auf die vom Robert Koch-Institut falsch angegebene Todesrate (die zwischen ca. 3,3 und 4,3 Prozent liegt), da das RKI sich weigert, die Infektionssterblichkeit zu nennen und nur die Fallsterblichkeit nimmt.
Streeck will Hoffnung machen und lehnt den Begriff „zweite Welle“ ab, da Corona eine „Dauerwelle“ sei, ein Virus, das nicht mehr weggehen wird, was aber auch „keine Katastrophe“ sei.[3] Wir müssen „pragmatisch“ damit leben lernen und zum Beispiel die empirische Forschung von Streeck und seinem wissenschaftlichen Team ernstnehmen, dass Oberflächen so gut wie keine Gefahr der Übertragung dieses Virus darstellen – das macht eine Vielzahl sogenannter „Hygienekonzepte“ hinfällig, wenn manche Leute meinen, ein Kugelschreiber, eine Stuhllehne oder ein Türgriff seien Gefahrenquellen – das sind sie, so Streeck, eben gerade nicht, wenn es um Ansteckungen mit SARS-CoV-2 geht.
Verharmlosen die Fuldaer Zeitung und die Deutsche Welle Verschwörungsmythen?
Allerdings ist auch beim eben vorgestellten Hendrik Streeck mitunter in Ansätzen zu erkennen, dass ihm die enorme mediale Präsenz seiner Person nicht immer gut tut: Er überschätzt sich womöglich etwas als Virologe und meint, damit Politik machen zu können wie sein Kollege und Scharfmacher Drosten, nur softer. Es gilt aber, der Virologie das Heft aus der Hand zu nehmen und wieder interdisziplinär und gesamtgesellschaftlich zu denken und handeln. Das wäre ein Public Health-Ansatz, der soziale, ökonomische, psychologische, kulturelle und medizinische Aspekte gemeinsam betrachtet. Die Virologie hat keinerlei Ahnung von der Gesellschaft, sie ist eine Laborwissenschaft.
Die Medien wiederum greifen häufig nur dann Streeck positiv auf, wenn er nicht das RKI oder die falsche Todesrate kritisiert. Das wird aber nicht betont, sondern Streeck neuerdings mit der Aussage zitiert, dass Corona viermal gefährlicher als die Grippe sei. Er meint vielleicht die schnelle Ausbreitung, Übertragbarkeit oder die starke Viruslast bei manchen Infizierten. Aber viermal stärker? Für alle Altersgruppen? Woran misst er das? Gab es viermal mehr Arztbesuche wegen Corona, viermal mehr Infizierte? Dabei geben die Daten der Realität – 25.000 Grippetote 2018, 9000+ Coronatote 2020 – das erst mal nicht her, 2020 gibt es in Deutschland wie zitiert keinerlei Übersterblichkeit, es sind also trotz der Epidemie nicht mehr Menschen gestorben, als man statistisch ohnehin erwartet hätte (bis 30. Juni 2020)[4], aber das zitiert die Fuldaer Zeitung nicht.[5]
Dabei gab es 2018 bereits eine Grippeimpfung, die Millionen Menschen auch gemacht hatten. Bei Corona gibt es bislang keine Impfung und fast dreimal weniger Tote. Das spricht jedenfalls nicht zwingend dafür, dass Corona „viermal“ gefährlicher ist als die Grippe, egal welche virologischen Details Streeck herausfand. Wir reden hier zudem über eine Zeit, wo es noch keine Maskenpflicht gab, die Gangelt/Heinsberg-Studie wurde von Ende März bis in die erste Aprilwoche hinein gemacht.
Nach einer Analyse von Mitarbeiter*innen der Abteilung für Infektionsepidemiologie des Robert Koch-Instituts von 2016 war die „Letalität“ (=Infektionssterblichkeit) 1969/70 bei der Grippe in der BRD (+DDR) „0,29 %“.[6] Streeck hat für Gangelt eine Letalität von 0,37 % bei Corona herausbekommen. Wie kann Streeck dann behaupten, Corona sei „viermal“ gefährlicher als die Grippe? Er spricht ja ganz allgemein von Grippe, also ist damit auch jene von 1969/1970 gemeint. Streeck mag dieses Medienspiel der soften Panikindustrie genießen, auch er scheint mitunter von der evidenzbasierten Medizin zur eminenzbasierten zu wechseln. Er tut oft so, als wolle er die Panik drosseln, aber agiert dann doch selbst panisch. Gleichwohl schiebt er in dem Interview hinterher:
Wir haben im Kreis Heinsberg selber herausgefunden, dass das Virus mindestens viermal gefährlicher ist als eine saisonale Grippe. Es hat natürlich immer auch etwas mit der Population zu tun, in der getestet wird. Es ist ein Virus, das man ernst nehmen muss, aber natürlich auch nicht überdramatisieren kann.[7]
Er schürt massiv die Panik und behauptet, Corona sei viermal gefährlicher als die Grippe und sagt sofort man „kann natürlich nicht überdramatisieren“? Was jetzt? Viermal gefährlicher ist doch überdramatisieren.
Was sagt nun der Kopf des quasi österreichischen RKI, Franz Allerberger, Leiter der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH (AGES), einem österreichischen Staatsunternehmen, zur Sterblichkeit von Corona?
Bei den Schätzungen der Mortalitätsrate von Covid-19 hält sich Allerberger an jene des US-Epidemiologen John Ioannidis (Uni Stanford), der von einem vergleichsweise geringen Wert von rund 0,25 Prozent ausgeht, der nicht unumstritten ist. ‚Das ist auch der Wert, der sich aus den Zahlen von Ischgl ergibt, wo bei einer Durchseuchungsrate von mehr als 42 Prozent der knapp 1.600 Bewohner nur zwei Tote vermeldet wurden‘, sagt Allerberger.[8]
Allerberger ist aktuell Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats Public Health Mikrobiologie des Robert Koch-Instituts, er ist also auch in Deutschland bekannt.[9] Im Gespräch mit dem Standard heißt es:
‘Am Ende des Tages sind diese Mortalitätsdaten das Einzige, was für einen Public-Health-Experten wie mich zählt‘, sagt Allerberger.
Vor diesem Hintergrund wäre es interessant zu wissen, was die Deutsche Welle, die Fuldaer Zeitung und Streeck zu Allerberger sagen. Immerhin bezieht sich der Österreicher auf Professor John P.A. Ioannidis, der in diesem Buch noch ausführlich dargestellt werden wird und der im Gegensatz zu Streeck ein Epidemiologe ist und weltweite Zusammenhänge analysiert, ja ähnlich wie die Public Health-Forschung die Gesamtgesellschaft im Blick hat und nicht nur labortechnisch ein Virus untersucht. Festzuhalten ist: „Österreichs oberster Virendetektiv“ (Standard) Franz Allerberger sagt, dass die Todesrate, Infektionssterblichkeit oder Letalität von Corona der einer Grippe entspricht und ungefähr bei 0,25 Prozent liegt. Streeck behauptet, Corona sei „viermal gefährlicher“ als die Grippe.
Wem soll man glauben? Ist es eine Frage des Glaubens oder der Daten und der evidenzbasierten Wissenschaft? Streeck unterscheidet noch nicht mal im Interview zwischen der Gefahr für junge, ganz junge, mittelalte, alte und sehr alte Menschen. Wir wissen, dass Corona für junge Menschen um den Faktor 1000 weniger gefährlich ist also für sehr alte Menschen (siehe die Great Barrington Erklärung).
Das Interview Streecks mit der Deutschen Welle sowie der Text in der Fuldaer Zeitung sind aber noch viel problematischer. Es geht um das Umdefinieren dessen, was eine „Verschwörungstheorie“, besser, was Verschwörungsmythen sind. Denn das, was die Fuldaer Zeitung hier als sechs „Verschwörungstheorien“ präsentiert und was auf einem Interview von Streeck mit der Deutschen Welle (DW) basiert[10], ist problematisch.
Es gibt Verschwörungstheorien, und die sind gefährlich, z.B. dass Juden, Israel oder Amerika hinter Corona steckten, dass Bill Gates die Weltherrschaft via Zwangsimpfung wolle oder dass es Corona gar nicht geben würde und eine Erfindung böser Mächte sei. Doch keine davon wird erwähnt. Die Fuldaer Zeitung schreibt, was sie, die Deutsche Welle und Streeck für „Verschwörungstheorien“ bezüglich Corona halten:
Aussage 1: ‚Das Coronavirus ist gar nicht so gefährlich, die Gefahr wird von Medien, Politikern und Wissenschaftlern aufgebauscht‘, Aussage 2: ‚In Italien oder den USA gibt es so viele Tote. Hier gar nicht. Da stimmt doch etwas nicht‘, Aussage 3: ‚Das Virus ist bereits so oft mutiert, da bringt eine Impfung gar nichts. Oder man muss sich jedes Jahr wie bei der Grippe neu impfen lassen‘, Aussage 4: ‚Diese Impfungen sind höchst gefährlich und greifen unsere DNA an. Außerdem will nur die Pharmaindustrie dran verdienen‘, Aussage 5: ‚Das Coronavirus stammt aus einem Labor in China oder wurde versehentlich freigesetzt‘, Aussage 6: ‚Die Corona-Maßnahmen sind völlig übertrieben. Ich will meine Freiheit zurück.‘‚[11]
Mindestens fünf und eigentlich alle der hier von der Fuldaer Zeitung und in der Langversion von der Deutschen Welle und Streeck präsentierten sechs „Verschwörungstheorien“ sind schlicht keine Verschwörungstheorien, sondern nur andere Positionen. Dazu gehört selbst die Nr. 5, da ein „versehentliches“ Freisetzen des Virus ja wohl kaum eine Verschwörung sein kann, sonst wäre es nicht „versehentlich“.
Oder nehmen wir die These Nr. 6: „Die Corona-Maßnahmen sind völlig übertrieben. Ich will meine Freiheit zurück.“ Wo liegt hier die behauptete Verschwörung? Oder die „Aussage Nr. 3“, dass eine Impfung nichts bringe, da das Virus mutiere – wo ist da eine Verschwörungstheorie? Und dann die „Aussage Nr. 1“: „Das Coronavirus ist gar nicht so gefährlich, die Gefahr wird von Medien, Politikern und Wissenschaftlern aufgebauscht.“ Was soll daran eine Verschwörungstheorie sein? Selbst wenn Corona gefährlicher sein sollte, als gedacht, wo soll in dieser Aussage eine Verschwörung stecken?
Vielmehr erwecken diese reißerische Überschrift und diese sechs „Aussagen“ den Eindruck, als wollten die Fuldaer Zeitung, die Deutsche Welle und Hendrik Streeck jede Meinung, die die Coronapolitik kritisiert, als eine von Verschwörungsmythenanhänger*innen diffamieren. Damit aber relativieren die Deutsche Welle, die Fuldaer Zeitung und Streeck selbst den tatsächlichen Antisemitismus der Verschwörungsideologie ganz vehement, denn die Protokolle der Weisen von Zion, die gefährlichste aller Verschwörungstheorien bis heute, waren eine (russische) Fälschung von 1905 und beinhalten eine tödliche Ideologie und antisemitische Agitation gegen Juden.
Die heutigen Verschwörungsideologien angesichts von Corona sind auch gefährlich – und keine passt zu dem obigen Schema der Deutschen Welle oder der Fuldaer Zeitung. Ich hatte bereits am 20. März 2020 zu Corona-Verschwörungsmythen geschrieben[12]:
China[13] wiederum, wie ein Sprecher des dortigen Außenministeriums,[14] fantasiert, die USA stünden hinter dem Virus und wollen China schaden. Solcher Verschwörungswahnsinn[15] kommt in anderer Form auch im Iran[16], der Türkei[17] oder in Russland vor. Schon wird der Coronavirus, sein Entstehen und die Verbreitung etc. antisemitisch[18] gedeutet.
So sehen Verschwörungsmythen bezüglich Corona zum Beispiel aus: Das American Jewish Committee (AJC) hat eine Übersicht über einige der übelsten antisemitischen Verschwörungsmythen zu Corona weltweit zusammengestellt, vom brasilianischen antizionistischen Cartoonisten Carlos Latuff über ägyptische, jordanische, palästinensische Beispiele hin zu amerikanischen Neonazis und deren Hetze gegen Juden, z.B. mit einem Cartoon, der eine Ratte zeigt, die in den israelischen Farben blau-weiß angemalt ist, einen Davidstern auf dem Rücken hat und beschriftet ist mit „The Real Plague“.[19] Auch George Soros kommt häufig bei Verschwörungswahnwichteln zu Corona vor, wie in Deutschland[20] oder den USA[21].
Man muss also auch angesichts von Corona solche Verschwörungsmythen bekämpfen und die weniger offensichtlichen umgehend knacken – doch genau das tun weder die Deutsche Welle noch die Fuldaer Zeitung oder deren Kronzeuge Hendrik Streeck. Dass die „Corona-Maßnahmen“ „völlig übertrieben“ sind, ist eine Meinung und keine Verschwörungstheorie. Mit dieser entgrenzten Nicht-Definition von Verschwörungstheorie leisten die Deutsche Welle und Fuldaer Zeitung der Aufklärung einen Bärendienst.
Sie kritisieren gar keine Verschwörungsideologen, die es gibt und die gefährlich sind, sondern verharmlosen die wirklichen Verschwörungswahnwichtel, wenn sie schon Menschen mit einer anderen Meinung, die keinerlei bösen Akteure herbeifantasieren, als Verschwörungsideologie-Anhänger*innen diffamieren.
Wer also, wie es in diesem Buch von vielen zitierten Professor*innen und anderen Autor*innen geschieht, die „Corona-Maßnahmen“ als „völlig übertrieben“ charakterisiert, und das evidenzbasiert sowie demokratietheoretisch, der oder die wird von der Fuldaer Zeitung, der Deutschen Welle oder Hendrik Streeck offenbar als Anhänger*in von Verschwörungstheorien betrachtet und entsprechend sozial geächtet und diffamiert. Die Mission scheint erfüllt: Die Diskussion über die Verhältnismäßigkeit, Rechtmäßigkeit und über die Demokratie in Zeiten der Coronapolitik ist beendet, bevor sie richtig beginnen durfte. Hendrik Streeck ist sicher ein guter Virologe – aber bei sozial- und geisteswissenschaftlichen Themen wie der Analyse und Kritik von Verschwörungsmythen sollte er sich besser zurückhalten.
Ganz anders dagegen der oben zitierte Auftritt Streecks in der ARD-Sendung zu Corona am 5. Oktober 2020 abends zur Primetime, wo er völlig richtig sagt, dass aktuell und in Zukunft selbst „20.000 Neuinfektionen“ bundesweit am Tag „kein Problem“ darstellten, weil fast niemand mehr krank wird.
[1] https://www.youtube.com/watch?v=MVcCRDQJOmE.
[2] „Ergebnisse der ‚Heinsberg-Studie‘ veröffentlicht“, 04.05.2020, https://www.uni-bonn.de/neues/111-2020.
[3] „Hendrik Streeck im Dom. „Wir brauchen Routine im Umgang mit dem Virus“, 20.08.2020, https://www.muensterschezeitung.de/Lokales/Staedte/Muenster/4254
586-Hendrik-Streeck-im-Dom-Wir-brauchen-Routine-im-Umgang-mit-dem-Virus.
[4] Aust 2020.
[5] „Coronavirus-Verschwörungstheorien: Virologe Hendrik Streeck stellt klar: ‚Diese Thesen sind eindeutig falsch‘“, 02.10.2020, https://www.fuldaerzeitung.de/fulda/
coronavirus-verschwoerungstheorien-virologe-hendrik-streeck-bonn-sechs-thesen-impfstoff-90053780.html.
[6] Udo Buchholz/Silke Buda/Annicka Reuß et al. (2016): Todesfälle durch Influenzapandemien in Deutschland 1918 bis 2009. Bundesgesundheitsbl. 59, S 523–536 (2016), 17. März 2016, https://doi.org/10.1007/s00103-016-2324-9.
[7] Fabian Schmidt (2020): Virologe Streeck entkräftet Verschwörungstheorien. Was denkt einer der führenden deutschen Corona-Experten über abstruse oder auch plausibel klingende Thesen von Verschwörungstheoretikern, „Querdenkern“ oder Impfgegnern?, 17. September 2020, https://www.dw.com/de/virologe-streeck-entkr%C3%A4ftet-verschw%C3%B6rungstheorien/a-54959531.
[8] Klaus Taschwer (2020): Österreichs oberster Virendetektiv. Franz Allerberger analysiert mit seinem Team von der Ages, wo und wie sich das Coronavirus in Österreich ausbreitet. Eine Zwischenbilanz und ein Ausblick, 01. August 2020, https://www.derstandard.de/story/2000119089756/oesterreichs-oberster-virendetektiv.
[9] https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/WissBeirat_PH/Mitglieder_Gaeste/mitglieder_node.html;jsessionid=631B44791C0749148F3868406A95DBC2.internet052.
[10] Schmidt 2020.
[11] „Viermal gefährlicher als eine Grippe. Coronavirus: Verschwörungstheorien haben gegen Top-Virologen Hendrik Streeck keine Chance“, 11.10.2020, https://www.fuldaerzeitung.de/fulda/coronavirus-verschwoerungstheorien-virologe-hendrik-streeck-grippe-leiter-heinsberg-studie-bonn-90053780.html.
[12] Clemens Heni (2020a): Jenseits von Ausnahmezustand und Verschwörungswahnsinn: Kritiker*innen der Corona-Massenhysterie aller Länder vereinigt euch, 20. März 2020, https://www.clemensheni.net/jenseits-von-ausnahmezustand-und-verschwoerungswahnsinn-kritikerinnen-der-corona-massenhysterie-aller-laender-vereinigt-euch/.
[13] Gerry Shih (2020): Conspiracy theorists blame U.S. for coronavirus. China is happy to encourage them, 05. März 2020, https://www.washingtonpost.com/world/asia_pacific/conspiracy-theorists-blame-the-us-for-coronavirus-china-is-happy-to-encourage-them/2020/03/05/50875458-5dc8-11ea-ac50-18701e14e06d_story.html.
[14] Lijian Zhao, 12. März 2020 auf Twitter: „It might be US army who brought the epidemic to Wuhan“, https://twitter.com/zlj517/status/1238111898828066823?s=20.
[15] Aaron Bandler (2020): Rosanna Arquette Claims in Deleted Tweet That Israel Knew About Coronavirus and Put ‘Lives at Risk for Profit’, 17. März 2020, https://jewishjournal.com/news/united-states/312218/rosanna-arquette-claims-in-deleted-tweet-that-israel-knew-about-coronavirus-and-put-lives-at-risk-for-profit/. Rosanna Arquette ist eine Schauspielerin (u.a. „Pulp Fiction“, 1994), die am 17. März 2020 in einem Tweet die perfide Frage aufwarf, ob Israel schon seit einem Jahr an einem Impfstoff arbeite und dass die Pharma-Firma des Bruders von Trumps Schwiegersohn Jared Kushner, Kushner Oscar, der Hauptinvestor in den neuen Impfstoff sei. Das ist eine typische Verschwörungsideologie, wie wir sie auch in anderer Form vom Coronaskeptikerlager kennen. Doch genau auf solche perfiden Ideologien gehen weder die Deutsche Welle und Streeck noch die Fuldaer Zeitung ein.
[16] Kasra Aarabi (2020): Iran Knows Who to Blame for the Virus: America and Israel. The regime’s ideological army is spinning conspiracy theories even as it helps spread the virus among Iran’s long-suffering people, 19. März 2020, https://foreignpolicy.com
/2020/03/19/iran-irgc-coronavirus-propaganda-blames-america-israel/.
[17] Louis Fishman (2020): As Coronavirus Cases Spike in Turkey, So Does anti-Semitism. Erdogan is cracking down on ‘provocative’ and ‘unfounded’ social media posts on the coronavirus. Will he halt pro-government channels spreading conspiracy theories blaming the outbreak on the Jews?, 19. März 2020, https://www.haaretz.com/middle-east-news/turkey/.premium-as-coronavirus-cases-spike-in-turkey-so-does-anti-semitism-1.8682725.
[18] Rossella Tercatin (2020): Will the coronavirus lead to yet another spike in antisemitism in the US? „It happens every time there is a major pandemic: it happened with Africans around Ebola, and it happened recently with the Orthodox community in New York City around the measles scare that we had“, 09. März 2020, https://www.jpost.com
/Diaspora/Antisemitism/Will-the-coronavirus-lead-to-yet-another-spike-in-antisemitism-in-the-US-620252.
[19] Alyssa Weiner (2020): Global Trends in Conspiracy Theories Linking Jews with Coronavirus, 01. Mai 2020, https://www.ajc.org/news/global-trends-in-conspiracy-theories-linking-jews-with-coronavirus.
[20] Angesichts einer Anti-Coronamaßnahmen-Demonstration in Hannover Anfang September 2020, auf der es wenige Nazis oder Reichsbürgerfahnen gegeben habe, schreiben drei Journalist*innen: „Auch ein anderer ist sich sicher, es seien ‚Finanzkräfte, die im Hintergrund wirken, die nicht in der ersten Reihe stehen‘, am Werk. Der nächste sieht einen ‚Staatsputsch‘ hinter dem sehr ‚wenige Reiche, sehr Mächtige‘ stecken würden. Das Parlament spiele dabei keine Rolle mehr. Fast alle von uns auf der Demonstration Befragten sehen Drahtzieher im Hintergrund, die bei der Pandemie und den Maßnahmen gegen diese eine Rolle spielen würden. Mal ist es Bill Gates, dann wieder George Soros oder Finanzeliten, die angeblich die Fäden ziehen. Johanna Thiemecke von der Amadeu Antonio Stiftung gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus sieht in solchen Sichtweisen ‚antisemitisch strukturiertes Denkverhalten‘, bei dem Einzelne für die Pandemie und ihre Auswirkungen verantwortlich gemacht würden“, Philipp Hennig/Jörg Hilbert/Lea Struckmeier (2020): Corona-Demos: Was eint die Protestierenden?, 15.09.2020, https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Corona-Demos-Was-eint-die-Protestierenden,coronademo204.html. Bei aller richtigen Kritik am Antisemitismus und an Verschwörungswahnwichteln erkennt man doch erschreckend wenig Reflektionsvermögen der drei Autor*innen, was die Gefährdung der Demokratie durch die Regierungspolitik und eine politisierte Virologie betrifft.
[21] Weiner 2020.