Von Dr. phil. Clemens Heni
Update, 30. Juli 2024
Wer frühzeitig Nietzsche, Montaigne, Horkheimer, Günther Anders („Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an?“) oder Adorno gelesen hat, sagen wir mit 18 oder 19 Jahren, wird vom Leben zwar enttäuscht sein können, aber nicht überrascht.
So ergeht es womöglich auch diesem Hund auf einem Aufkleber in der Heidelberger Weststadt:
Disappointed, but not surprised.
Drei Mega-Krisen der letzten Jahren mögen die Gemütslage des kleinen Hundes verdeutlichen: Die Corona-Pandemie/Corona-Politik, der Ukraine-Krieg und der weltweite antisemitische Krieg gegen Israel und die Juden.
Wer vor einigen Wochen den Vortrag von Prof. Michael Wolffsohn in Heidelberg am Deutsch-Amerikanischen Institut (DAI) über die 3000jährige Geschichte des Antisemitismus hörte, war ob des heutigen Antisemitismus enttäuscht, wütend und angewidert, aber nicht überrascht.
Der Antisemitismus der UN-Palästinenserbeauftragten Francesca Albanese, die jüngst mit zwei Bildern Hitler mit Netanyahu verglich, ist widerlich und politisch höchst gefährlich, aber er überrascht nicht, da die Vereinten Nationen eine Ansammlung auch vieler antisemitischer Staaten und übelster Mitarbeiter*innen ist und das seit Jahrzehnten.
Es ist widerlich und politisch höchst gefährlich, dass ein antisemitischer und islamistischer Terrorstaat wie der Iran bei den Olympischen Spielen in Paris dabei sein darf, aber es überrascht nicht bei einer Sport-Weltgemeinde, die auch die FIFA umfasst, die 2022 die Fußball-WM im islamistischen Terrorstaat Katar durchführte, wo einige der führenden Hamas-Terroristen ein Luxusleben führen.
Moderate und anti-islamistische Palästinenser wie Hamza Howidy spielen in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle, Antisemiten hingegen wird immer wieder Raum gegeben, es wird äquidistant bis wohlwollend über sie berichtet und Universitäten sind äußerst zurückhaltend, Doktoranden oder Studentinnen, die als Hamas-Freund*innen oder -Verharmloser*innen berüchtigt sind, von der Universität zu werfen und zwar hochkant.
Doch auch hier gilt, dass unser enttäuschter Hund zwar angewidert sein mag von solchen anti-israelischen Hetzer*innen, die alles sind, nur nicht „Pro-Palästina“, aber nicht überrascht.
Doch es geht noch viel weiter, denn die Welt hat noch viele andere Konflikte, ja existentialistische Grundfragen zu bieten, die zu stellen vielen schon schwer fällt. So sind viele, die gegen Antisemitismus und Antizionismus aktiv sind, plötzlich blind, was den komplexen Krieg in der Ukraine betrifft und verwerfen seit dem Frühjahr 2022, als eine diplomatische Lösung und ein kompletter Rückzug Russlands greifbar waren, jedwede Kritiker*in an Waffenlieferungen an Kiew als „Putinversteher“, denn das Motto ist zwar nicht bei der Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland, aber bei den Herrschenden ganz klar: „Nie wieder Krieg ohne uns…„.
Dabei ist die Kritik am Putinismus von höchster Bedeutung, nicht zuletzt für meinen Verlag, die Edition Critic. Die FAZ schrieb im Dezember 2023:
In den Lehrmitteln für das neue Hochschulpflichtfach „Grundlagen der russländischen Staatlichkeit“ wird die Entscheidung zur Kinderlosigkeit als „Todeskult“ bezeichnet. Präsident Putin selbst kritisiert regelmäßig die Haltung des „Für-sich-Lebens“ als Ausdruck westlichen Egoismus, der der sozial orientierten Zielsetzung des Staatsaufbaus widerspreche. Das Aufbrechen des binären heterosexuellen Rahmens ohne reproduktive Verantwortung wird als „Bedrohung“ für die nationale Sicherheit angesehen. LGBTQ-Vertreter und Feministen werden als „Agenten des Westens“ und „fünfte Kolonne“ stigmatisiert und zu Extremisten erklärt.
Das betrifft somit auch die Edition Critic und die Autorin Verena Brunschweiger mit ihrem wegweisenden Band „Kinderfreie aller Länder, vereinigt Euch!„:
Ironischerweise treffen sich bei der rabiaten Abwehr kinderfreier Intellektueller oder unorthodoxer und weltlicher künstlerischer Darstellungen, wie einer lockeren Interpretation des Bildes „das letzte Abendmahl“ von Leonardo da Vinci bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris am 26. Juli 2024, der Vatikan, rechtsextreme französische Politiker*innen, spanische Reaktionäre, Victor Orbán („moralische Leere des Westens„), Magazine wie „Tichys Einblick“, die russische Orthodoxe Kirche und viele andere Traditionalisten, Reaktionäre oder Rechte.
Update: Laut Aussagen des künstlerischen Direktors der Olympia-Eröffnungsfeier war gar nicht jenes Bild von da Vinci gemeint, sondern eine antike griechische Analogie:
Thomas Jolly, der künstlerische Direktor der Eröffnung, hat inzwischen bestätigt, dass die kritisierte Szene ein antikes griechisches Bacchanal darstellen sollte und äußert sich verwundert über den Mangel an Bildung, der sich in der Kritik daran spiegelt. Kurienerzbischof Vincenzo Paglia hatte von der „blasphemischen Verspottung eines der heiligsten Momente des Christentums“ gesprochen, und der deutsche Sportbischof Stefan Oster fuhr auf X (ehemals Twitter) noch schwereres Geschütz auf.
Gleichwohl machen sich reaktionäre Katholiken und Christen sehr lächerlich mit ihrer Diffamierung dieser lustigen Szenerie.
Es ist frappierend, wenn Ungarn oder Russland den „Untergang des Westens“ verspüren angesichts einer weltoffenen und dem französischen Ideal der Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit verpflichteten Eröffnungsfeier der Olympiade.
1968 wurde die linke Analyse des Kapitalismus und einer herrschaftsförmigen Angepasstheit, die sich revolutionär dünkte, breit diskutiert, auch wenn solche SDS-Protagonisten (Männer) oft selbst Tyrannen wie Mao oder antiisraelischen 68ern wie Rainer Langhans huldigten und von Feminismus so was von gar keine Ahnung hatten und Frauen an den Rand drängten oder benutzten. Themen waren damals und sollten es bis heute sein, „repressive Toleranz“ (Herbert Marcuse) oder „repressive Entsublimierung“ (Reimut Reiche aus Esslingen am Neckar).
Der Spiegel (Rudolf Augstein persönlich) schrieb 1968:
Wenn die Unzucht mit gleichgeschlechtlichen oder mit beliebig vielen Erwachsenen oder auch mit Tieren nicht länger strafbar, wenn die Pille rezeptfrei, die Ehescheidung Formsache, die Abtreibung erlaubt wäre, wenn Verhütungsmittel überall angepriesen und Sex-Partys ohne Furcht vor dem Staatsanwalt veranstaltet werden dürften; wenn die Arbeitszeit auf vier Stunden täglich verkürzt, der Arbeitslohn verdoppelt und die Sexual-Aufklärung zum beliebtesten — oder auch langweiligsten — Schulfach avanciert wäre: hätte die sexuelle Befreiung dann stattgefunden, oder, anders herum, könnte von einer »sexuellen Unterdrückung im Spätkapitalismus« dann noch die Rede sein?
Liest man die Schrift von Reimut Reiche, dem heute 27jährigen SDS-Vorsitzenden von 1966 auf 67, so möchte man daran zweifeln. Sie betitelt sich »Sexualität und Klassenkampf — Zur Abwehr repressiver Entsublimierung«.
Die Gesellschaft in der Bundesrepublik, so erklärt uns Reiche, ist, solange kapitalistisch, notwendig eine. die verhindert, daß die Menschen je die Freiheit erlangen, ihre sexuellen Anlagen und Fähigkeiten zu entwickeln. Vielmehr bleibt diese Freiheit, wenn auch in recht verstümmelten Erscheinungen, ein Privileg der Herrschenden.
Die Boulevard-Presse im Jahr 2024 fabuliert angesichts der frivolen oder aber freiheitlichen Darstellung des „Abendmahls“ auf der Pariser Olympiaeröffnung dann auch vom „Woke-Wahnsinn“, hier ist keinerlei Dialektik oder Kritik mehr vorhanden:
Im Gegensatz zu frauenverachtenden Ländern ist es in Frankreich verboten, als Sportlerin ein Kopftuch zu tragen, was Amnesty International so was von auf die Palme bringt.
Ein Kopftuch ist kein Recht, sondern eine frauen- wie männerverachtende Zwangsmaßnahme. Nur Frauen mit extrem wenig Selbstbewusstsein und vor allem mit reaktionären Vätern, Ehemännern, Brüdern, Cousins und natürlich reaktionären Müttern haben Panik, dass Männer oder Frauen (lesbische!, bisexuelle!) Ihr Haar sehen und dadurch durchdrehen oder sich sexuell nicht im Griff hätten, wenn sie das Haupthaar einer Frau sehen.
Selbstredend wäre es noch besser gewesen, wenn die Organisator*innen der Eröffnungsfeier eine scharfe öffentliche Kritik am Islamismus geübt hätten, der in Frankreich ja überall zu finden ist wie auch der muslimische Antisemitismus.
Doch – nächste Paradoxie, enttäuschend, aber nicht überraschend -, gerade viele Aktivist*innen aus dem Pro-Israel Lager haben auch ein Problem mit Gender oder Religionskritik oder „woke“. Dabei wissen sie, dass es doch viele LGBTQI-Aktivist*innen gibt, die zionistisch sind und Unterstützung dringend nötig haben, da eben Queers for Palestine (=Selbstmord) immer noch sehr stark und super aggressiv sind, wie ein antisemitischer Mob in Berlin auf einer Soliparty vor wenigen Wochen zeigte:
Allerdings zeigt der Vorfall auf der Soliparty, wie tief sich miefiger antisemitischer stalinistischer Sowjet-Agitprop festgefressen, queeren Aktivismus gar gekapert hat – nicht nur in der Berliner Szene. Auch beim Dyke March in New York fühlen sich jüdische Lesben nicht mehr sicher und machen nun getrennte Veranstaltungen, wie das Portal „Mena-Watch“ berichtete. Die Organisatorinnen des US-Pendants solidarisierten sich offen mit antisemitischen Gruppen und sammelten gar Geld für diese.
Sehr viele Leute schaffen es nicht, mehrere gefährliche Tendenzen in der Gesellschaft gleichzeitig zu hinterfragen. Viele waren entweder für Israel oder gegen die irrationale Coronapolitik und ignorierten die israelische Kritik an der Coronapolitik, die es unter Fachwissenschaftler*innen wie Aktivisti*innen 2020 bis 2023 sehr wohl gab, Stichwort „Pandemic Turn„.
Wieder andere hatten ein klares Gespür für die Absurdität der Coronapolitik, aber badeten dafür jeden Morgen bauchnabeltief in antisemitischer Brühe und prahlten damit auch noch.
Und nochmal andere sind zwar gegen Antisemitismus und sogar gegen den konservativen Backlash, aber hegen doch tiefe Ressentiments gegen ihre kinderfreien Nachbarn, vor allem gegen die Frauen, dabei gibt es derer immer mehr – vorneweg Kamala Harris. Das wäre eine Überraschung, wenn auch Amerika endlich einmal eine Frau als Präsidentin hätte und noch dazu eine unkonventionelle, jedenfalls was die doch lebensprägende Frage nach einem eigenen Kind, der narzisstischen Delegation betrifft.
Trump dreht schon jetzt durch und wütet gegen Abtreibung und setzt die Lüge in den Raum, dass Harris Kinder töten wollen würde. Er hat aber gleichwohl und seit Jahren auch in der Pro-Israel Szene viele Freund*innen, nicht zuletzt in der Bundesrepublik.
Und wieder andere sind kinderfrei und gegen Waffen für die Ukraine, aber auch ohne jede Moral und Ethik und schließen sich dem säkularen Jihad gegen den Judenstaat an, während manche Schwule sich für $100.000 eine Leihmutter in den USA kaufen (aus Kolumbien zum Beispiel) oder Lesben die Pointe des Lesbisch-Seins verpassen und selbst unbedingt Mama werden wollen… Da würde unser Hund dann wohl schon sagen:
enttäuscht und überrascht.
Schließlich gilt es in Zeiten von Gentechnik und Klimawandel, fehlendem klarem Wasser für Millionen Menschen, KI-Überwachungskapitalismus, der auch auf der Eröffnungsfeier der Olympiade gefeiert wurde, eine zukünftige Gesellschaftskritik zu antizipieren.
Eine solche Gesellschaftskritik würde sich sowohl gegen Antizionismus und Antisemitismus in all seinen Formen einsetzen. Zugleich würde sie Herrschaftstendenzen wie die herkömmliche Familienideologie, den Natalismus wie auch den autoritären Glauben an technische und posthumanistische Lösungen, KI und High-Tech in Frage stellen.
Darüberhinaus würde eine solche Gesellschaftskritik den Irrationalismus der Corona-Politik wie Lockdowns, Maskenpflicht, das totalitäre 2G oder gar das geradezu religiöse Anbeten eines ‚Impfstoffs‘, der gar keiner ist, sondern eine „Gentherapie“ (so die Firma Bayer ganz ehrlich), attackieren und eine scharfe und luzide unabhängie Aufarbeitung der Corona-Vergangenheit einfordern. Denn was nicht aufgearbeitet ist, kann sich wiederholen …
Und natürlich würde eine solche zukünftige Gesellschaftskritik die brüllenden (Talkshow-) Absagen an eine diplomatische Lösung wie beim Ukraine-Krieg scharf kritisieren und sich gegen Putin, gegen Waffen für die Ukraine und allgemein für Emanzipation, Individualität und Freiheit einsetzen, ohne naiv pazifistisch herum zu dümpeln, da zum Beispiel Waffen für Israel existentiell wichtig sind. Man kann gegen die NATO-Osterweiterung sein und für Israel, dazu braucht man nur etwas Fantasie und rationales Denkvermögen.
Eine Welt ohne Waffen und ohne Militär wie ohne Grenzen ist in vielen Teilen der Welt vielleicht eine Utopie, doch in Nahost würde es den Genozid an den Juden bedeuten („Die Juden ins Meer treiben“, wie viele Araber nicht nur früher immer dachten und sagten).
Die Welt ist also schlecht und die Menschheit übel. Und doch liegt in solcher Anthropologisierung immer auch die Entpolitisierung, da es egal sei, ob mann oder frau was macht oder nicht. Doch das ist ein Trugschluss.
Denn schließlich hat sicher jeder Hund auch solche Momente:
glücklich und überrascht…