Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Botho Strauß

StaatsTheater: der linke Angriff von Peter Laudenbach auf kritische Mainstream-Schauspieler:innen

Von Dr. phil. Clemens Heni, 22. Juni 2023

 

Der Berliner Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung, Tourismuskritiker und Buchautor Peter Laudenbach („Die elfte Plage. Wie Berlin-Touristen die Stadt zum Erlebnispark machen“, Edition Tiamat 2013) hat jüngst im Wagenbach Verlag ein kleines Buch publiziert: „VolksTheater. Der rechte Angriff auf die Kunstfreiheit“. Ulrich Seidler hat für die Berliner Zeitung im April 2023 das wichtige und gegen die AfD und deren „Kulturkampf“ gerichtete Buch positiv besprochen. Aber hat er womöglich etwas übersehen in dem Buch?

Foto: privat

Laudenbach hat für die Süddeutsche Zeitung seit Jahren Angriffe von Rechten auf Theater, Lesungen, Galerien und alle möglichen aus Sicht von Nazis oder Neuen Rechten als ‚links‘ oder nicht deutsch-genug kategorisierten Einrichtungen dokumentiert.

Screenshot, https://www.sueddeutsche.de/kultur/von-sz-autoren-peter-laudenbach-ueber-rechte-kunsthasser-1.5776180

In dem Buch gibt es am Ende eine ausgewählte Liste solcher Übergriffe, zum Beispiel demonstrierten Neonazis im Oktober 2021 in Zwickau mit Transparenten vor einer Vernissage des Kunstvereins „Freunde aktueller Kunst“, 2019 schon brüllten Neonazis dort, dass dies eine „deutsche Galerie“ sei und kein Platz für „Ausländerinnen“, was die Rechten dann auch ändern würden, wenn sie an die Macht kämen. Die ausgewählte Chronik schockierender Angriffe von Rechtsextremen auf die Kulturszene reicht von November 2016 bis Oktober 2021. Sprengstoffanschläge, das Anzünden einer Scheune im mecklenburgischen Jamel oder Anträge der AfD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus zur Kürzung der Zuschüsse für das Deutsche Theater Berlin werden in dem Buch aufgeführt. Es ist sehr wichtig, sich gegen die AfD zu positionieren, daher habe ich 2017 mein Buch „Eine Alternative zu Deutschland“ exakt zu dem Zeitpunkt publiziert, als die AfD erstmals in den Deutschen Bundestag einzog.

Mit Hunderten weiteren Linken, Kritiker*innen und Antifas habe ich damals unweit vom Alexanderplatz an der Ecke Otto-Braun-Straße / Karl-Marx-Alle gegen die AfD, die dort in einer Location ihren Einzug in den Bundestag feierte, demonstriert.

Meine Doktorarbeit an der Universität Innsbruck in Österreich hatte ich 2006 zur Gefahr der „Salonfähigkeit der Neuen Rechten“ geschrieben, just zum Zeitpunkt der Abgabe im Juli ereignete sich das nationalistische „Sommermärchen“ während der Fußball-WM der Männer in Deutschland. Die ARD-Sportschau kontaktierte mich daher jüngst, zitiert mich in einem Beitrag ein Jahr vor der Euro 2024 und schreibt:

‚Nationalismus und Fußball toxische Mischung‘

Dr. Clemens Heni war einer derjenigen, die sich an dem schwarz-rot-goldenen Overkill mit kleinen Flaggen an Autospiegeln, gedruckten Flaggen auf Chipstüten und Backwaren, geschminkten Flaggen im Gesicht und großen Stoffflaggen schon damals störten. Heni ist Politikwissenschaftler. Er forscht mit Schwerpunkten über Antisemitismus und die Neue Rechte.

‚Das war damals kein gesunder Patriotismus, wie immer behauptet wird. Der ist in Deutschland auch schwer denkbar, weil er immer mit einer Abwertung des Gedenkens an den Holocaust einhergeht‘, so Heni.

Screenshot, https://www.sportschau.de/fussball/uefa-euro-2024/euro-2024-sommermaerchen-wm-2006-100.html, Text von Marcus Bark, Ein Jahr vor der EM 2024 Gelingt ein zweites „Sommermärchen“? Stand: 15.06.2023 10:09 Uhr

Peter Laudenbachs jahrelanges Dokumentieren und Analysieren der rechten, neu-rechten oder rechtsextremen Angriffe auf die Kulturszene sind von daher von großer Bedeutung.

Und dennoch bleibt ein sehr bitterer Beigeschmack bei der Lektüre des Buches „VolksTheater“. Warum? Es liegt an folgender Passage auf den Seiten 92 und 93. Eingebettet in eine notwendige und richtige Kritik am AfD-Kulturpolitiker Marc Jongen und an rechten Schriftstellern wie Botho Strauß und Uwe Tellkamp sowie dem rechtsextremen Netzwerker Götz Kubitschek schreibt Laudenbach nämlich Folgendes:

Die oben erwähnten, vielleicht etwas übergriffigen Versuche, Künstler:innen als Demokratiebotschafter:innen in Anspruch zu nehmen, übersehen, dass kleine und große Künstlerpersönlichkeiten nicht aufgrund von Berufswahl und Talent automatisch vor politischer Unzurechnungsfähigkeit oder irrlichternden Einstellungen gefeit sind. In jüngerer Zeit demonstrierten beispielsweise Schauspieler:innen, die sich zu Propagandist:innen der Coronaleugner:innen machten, oder ein Teilnehmer der documenta 2022, der den Bundeskanzler als ‚faschistisches Schwein‘ beschimpfte, lautstark ihre selbstbewusste Verwirrung.

Ich habe das absichtlich komplett zitiert, damit nicht wieder jemand behaupten kann, da sei etwas „aus dem Zusammenhang“ gerissen. Mit diesem Zitat meint Peter Laudenbach offenkundig, dass Schauspieler*innen der Aktion #allesdichtmachen von April 2021 wie Nina Gummich, die jüngst sehr schön in einem ARD-Zweiteiler die Feministin Alice Schwarzer der frühen 1970er Jahre spielte oder die Tatort-Schauspieler Ulrich Tukur, Felix Klare, Jan-Josef Liefers oder Cem Ali Gültekin und Dutzende weitere keine „Demokratiebotschafter:innen“ mehr seien, sondern eben „Propagandist:innen der Coronaleugner:innen“.

Laudenbach ist raffiniert oder eben perfide und feige, er sagt nicht, welche Schauspieler*innen er genau meint. Aber ganz sicher werden seine Leser*innen exakt wissen, wen er meint, da es nur eine sehr bedeutende Aktion von Mainstream-Schauspieler*innen gab, die die ganze Republik bewegte: #allesdichtmachen von Ende April 2021.

Der Schauspieler Cem Ali Gültekin war mit einem Beitrag bei #allesdichtmachen dabei:

Meint Peter Laudenbach also auch Cem Ali Gültekin, der sich wie andere „zu Propagandist:innen der Coronaleugner:innen“ gemacht hätte?

Wie gesagt: Laudenbach ist raffiniert oder perfide genug und nennt keine Namen. Er kann nur diese Kampagne #allesdichtmachen meinen, das wissen alle seine Leser*innen von VolksTheater und das weiß der Wagenbach Verlag, und sie klatschen sich dabei auf die Schenkel und johlen: ‚Jetzt hat er es ihnen aber gegeben, sie in direkten Kontext von der AfD, Rechtsextremen und Kulturfeinden zu stellen. Gimme five!‘

Wenn das die ARD wüsste, was für angebliche Demokratiefeinde sie so beschäftigt:

Screenshot, https://www.daserste.de/unterhaltung/film/nord-bei-nordwest/nord-bei-nordwest-ho-ho-ho-gueltekin-100.html

Oder ich nehme Nina Gummich, die Peter Laudenbach ebenso meinen dürfte mit seiner Aussage:

In jüngerer Zeit demonstrierten beispielsweise Schauspieler:innen, die sich zu Propagandist:innen der Coronaleugner:innen machten, lautstark ihre selbstbewusste Verwirrung.

Auch Nina Gummich war bei #allesdichtmachen mit dabei:

Screenshot, https://www.emma.de/artikel/being-alice-339825

Screenshot, https://www.daserste.de/unterhaltung/film/filmmittwoch-im-ersten/sendung/alice-folge-1-100.html

Oder Ulrich Tukur:

Er fordert in seinem #allesdichtmachen Beitrag die Bundesregierung auf, wirklich „alle Handelsplätze“ zu schließen, nicht nur „Theater“ und „Knopfläden“, denn „sind wir erst am Leibe und nicht nur an der Seele verhungert und allesamt mausetot, entziehen wir auch dem Virus, samt seiner hinterhältigen Mutanten-Bagage, die Lebensgrundlage“.

Das war und ist ganz große Kunst. Eine Kunst, von der die Peter Laudenbachs dieser Welt nur träumen können.

Screenshot, https://www.daserste.de/unterhaltung/krimi/tatort/kommissare/ulrich-tukur-100.html

Nochmal das entscheidende Zitat aus dem Buch VolksTheater von Peter Laudenbach, Wagenbach Verlag 2023:

Die oben erwähnten, vielleicht etwas übergriffigen Versuche, Künstler:innen als Demokratiebotschafter:innen in Anspruch zu nehmen, übersehen, dass kleine und große Künstlerpersönlichkeiten nicht aufgrund von Berufswahl und Talent automatisch vor politischer Unzurechnunsfähigkeit oder irrlichternden Einstellungen gefeit sind. In jüngerer Zeit demonstrierten beispielsweise Schauspieler:innen, die sich zu Propagandist:innen der Coronaleugner:innen machten, oder ein Teilnehmer der documenta 2022, der den Bundeskanzler als ‚faschistisches Schwein‘ beschimpfte, lautstark ihre selbstbewusste Verwirrung. (S. 92-93)

Und das hätte das Lektorat des Wagenbach Verlags niemals überstehen dürfen – doch vermutlich ist das exakt deren Ideologie.

„Eine eigene Meinung zu haben, ist momentan wirklich krass unsolidarisch“ sagte Nina Gummich in ihrem Beitrag für #allesdichtmachen.

Und genau solche Dissident*innen und Kritiker*innen meint Peter Laudenbach ganz offenkundig, wenn er die Schauspieler*innen diffamiert, die Kritik an der unsagbar irrationalen, demokratiefeindlichen, nicht evidenzbasierten und totalitären Coronapolitik von Angela Merkel und Olaf Scholz und der an Hetze gegen Kritiker*innen überschäumenden politischen Unkultur in diesem Land von März 2020 bis wenigstens Frühjahr 2023 äußerten, wenn wir den Maskenwahn im öffentlichen Nah- und Fernverkehr sowie Krankenhäusern und Arztpraxen, der erst im Februar 2023 beziehungsweise Anfang April 2023 fiel, mit einrechnen.

Es gibt überhaupt nur sehr wenige Spinner, die tatsächlich das Virus SARS-CoV-2 leugnen. Doch somit  werden damit ganz normale bürgerliche Mainstream-Schauspieler*innen der von der AfD so abgrundtief verhassten ARD mit Rechtsextremen auf eine Stufe gestellt. Mir ist nicht eine einzige Schauspielerin und kein einziger Schauspieler dieser ganz offenkundig von Peter Laudenbach gemeinten Kampagne #allesdichtmachen bekannt, die oder der das Virus leugneten. Das ist infam und ein faktenfreies Denunzieren. Aber es flutscht durch, ja es ist Honig für die Anhänger der ZeroCovid-Ideologie – noch im Frühjahr 2023. Und Laudenbach meint ja mit seinem undifferenzierten Statement alle Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich kritisch mit der Coronapolitik beschäftigt haben, was er wie der Mainstream der irrationalen Coronapolitik-Anhänger (m/w/d) unter „Coronaleugner:innen“ dümmlich rubriziert.

Weder Gültekin, Gummich oder Tukur leugnen SARS-CoV-2, das ist völlig faktenfreies Gerede, das zu insinuieren. Wie gesagt: Laudenbach nennt keine Namen, dafür ist er zu feige oder perfide. Aber er meint eben sehr wohl die hier aufgeführten und zitierten Gültekin, Gummich und Tukur und all die anderen von #allesdichtmachen – das ist sozusagen ein Indizienprozess gegen Peter Laudenbach und wir, die Kritiker*innen der irrationalen und demokratiefeindlichen Coronapolitik, werden diesen Prozess gewinnen, wenn auch nicht vor einem deutschen Gericht, da deren Nicht-Unabhängigkeit in der Coronakrise hinlänglich deutlich wurde, bis hin nach Karlsruhe.

Heute gibt es veganes Fast-Food und irrationale, unwissenschaftliche, faktenfreie Richter*innen, früher hieß es noch:

Was Besseres gibt’s auf Erden nicht, als Frieden und ein gut Gericht.

Von den befürchteten bis zu 270 Millionen extra Hungernden im globalen Süden, die es wegen der Lockdown- und Coronapolitik gerade von Ländern wie Deutschland geben könnte, so das World Food Programme der Vereinten Nationen schon im Jahr 2020, kein Wort bei Laudenbach. Er schweigt zu der Fantasie eines führenden deutschen Soziologen, der für die Bundesregierung am berüchtigten „Panikpapier“ im März 2020 mitgeschrieben hat und später meinte, alle Ungeimpften doch nach „Madagaskar“ zu deportieren, was aber halt nicht gehen würde. Oder was sagt er denn zu den Hunderttausenden traumatisierten alten Menschen in Pflege- und Altersheimen, die monatelang in ihre Zimmer eingesperrt wurden 2020 oder später und dieses Trauma bis heute nicht überwunden haben, so sie sich nicht zuvor umbrachten oder an Erschöpfung  starben?

Was für Menschen waren diese Pflegekräfte, die alle immer so beklatschten, die das mitmachten, die Isolation von alten oder behinderten Menschen? Na? Die keine Ahnung hatten und haben von der sehr geringen Infektionssterblichkeit (Infection Fatality Rate, IFR) von Covid-19, nämlich schon 2020 nur ca. 0,23 Prozent, während die Grippe 1969/70 laut Robert Koch-Institut (RKI) in der alten BRD eine IFR von 0,29 hatte?

Wer hat damit kokettiert, über 10 Millionen Menschen – „Ungeimpfte“ – nach „Madagaskar“ zu deportieren? Die AfD? Oder doch eher der Lieblingssoziologe der Deutschen Bundesregierung Heinz Bude?

Warum schweigt Laudenbach ebenso zu den Vernichtungsfantasien einer preisgekrönten Kabarettistin, die am liebsten alle Kritiker:innen der Coronapolitik wie einen „Blinddarm“ aus dem (Volks) Körper schneiden wollte? Oder warum kein Wort zu all den Theatern und Kultureinrichtungen, ja KZ-Gedenkstätten, die die Impf-Apartheid exekutierten (2G)?

Die Weltgesundheitsorganisation berichtete 2022 davon, dass in den Jahren 2020 und 2021 Schweden eine weniger als halb so hohe Übersterblichkeit hatte als das Lockdown- und Maskenland Deutschland (oder Italien, Großbritannien).

Das kann man alles in dem Band 8 der Reihe „Studien zum Antisemitismus“ des Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA), in dem Buch „Pandemic Turn. Antisemitismusforschung und Corona“ nachlesen.

Wenn man denn an Fakten und kritischen Analysen Interesse hat und nicht lieber faktenfrei Menschen denunziert und diffamiert, wie es ja seit 2020 zum Volkssport geworden ist, neben dem die Diffamierungen und die Hetze durch die AfD und ihre rechten Schläger ’nur‘ eine blutige Fußnote sind, was die Masse an Denunziationen und die Anzahl der Täterinnen und Täter sowie die Anzahl der Opfer betrifft.

All diese Leerstellen sowie die Diffamierung dieser herausragenden, kritischen Schauspieler:innen machen das Buch „VolksTheater“ unterm Strich zu einem höchst problematischen Beitrag. Wer zur totalitären Coronapolitik und einer so nie dagewesenen denunziatorischen und aggressiven politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland seit März 2020 schweigt, ja sie implizit glühend feiert und die wenigen Coronapolitik kritischen Schauspieler:innen auch noch perfide diffamiert, macht sich vollkommen unglaubwürdig als Anwalt der Demokratie gegen die evidente und große Gefahr von rechts und der AfD.

Es muss gegen das völkische VolksTheater der AfD und der Neuen Rechten gehen, ganz richtig. Aber ebenso muss es gegen das StaatsTheater der unwissenschaftlichen, irrationalen und aggressiven, ausgrenzenden, Diversität und Vielfalt in Fragen der Coronapolitik gerade nicht aushaltenden Coronapolitik-Fans gehen.

Man kann nicht völlig zurecht die Transphobie, die Homophobie, den Rassismus, die Anti-Flüchtlings-Agitation der AfD, das Leugnen des Klimawandels, den Sexismus von Rammstein und Lindemann, den Turbo-Kapitalismus des Neoliberalismus oder den Deutsch-Nationalismus und den schwarz-rot-goldenen „Overkill“ und manchmal sogar den Antisemitismus kritisieren, ohne gleichzeitig die irrationale und brutale Coronapolitik der Jahre 2020 bis 2023 wie auch die fortdauernde irrationale und diplomatiefeindliche, die NATO nicht nur von ihrer Mitverantwortung am Ukraine-Krieg exkulpierende, sondern sie wie in Wunstorf und der militaristischen Mega-Übung „Defender 23“ feiernde Ukraine-Politik zu kritisieren.

Kritik an Jongen und Kubitschek, Orbán, Trump oder Meloni, Kritik an SPD-Oberstudienräten oder -Schuldirektoren, die an Spieltagen der deutschen Fußballnationalmannschaft auf dem Schulgelände die deutsche Fahne hissen – wie auch Kritik an Merkel, Scholz, Baerbock, Habeck, Lindner, Lauterbach und Laudenbach: darum sollte sich eine linke Gesellschaftskritik, eine Kritische Theorie auf der Höhe der Zeit widmen.

Schließlich noch ein Lektüretipp für Peter Laudenbach und seine Fans: das Stück „Kritik“ von Adorno, einer seiner letzten Texte, erschienen in der ZEIT am 27. Juni 1969 und wiederabgedruckt z.B. in den Gesammelten Schriften Band 10/2, darin heißt es:

Man vergißt leicht in Deutschland, daß Kritik, als zentrales Motiv des Geistes, nirgends in der Welt gar zu beliebt ist. Aber man hat Grund, bei Kritikfeindschaft zumal im politischen Bereich auch an spezifisch Deutsches zu denken. Die volle bürgerliche Befreiung ist in Deutschland nicht gelungen oder erst in einer Phase, an der ihre Voraussetzung, der Liberalismus des zerstreuten Unternehmertums, ausgehöhlt war. (…) Wollte man eine Anatomie der deutschen Kritikfeindschaft entwerfen, so fände man sie fraglos mit der Rancune gegen den Intellektuellen verbunden. (…) Offensichtlich werden Menschen, die mit bestehenden Zuständen institutionell verflochten sind, im allgemeinen zögern, an diesen Zuständen Kritik zu üben.

Screenshot, https://www.zeit.de/1969/26/kritik

Die Menschen lieben den deutschen Staat und tun alles, um zum Beispiel ein „StaatsTheater“ zu werden, feiern „Identitäten“, weil man(n) ja sonst nichts hat im Leben. Es gibt das Schöne auch im „falschen Leben“ (Adorno), aber sicher nicht im völkischen VolksTheater, aber ebenso wenig im affirmativen Corona- oder Ukrainepolitik affinen StaatsTheater.

Weit entfernt davon, Genuss, das Schöne oder auch einen schmackhaften Kuchen zu perhorreszieren, schreibt Adorno gegen die „Lebkuchenworte“ und das beliebte Wort von der „konstruktiven Kritik“:

Wesentlich deutsch, obwohl wiederum nicht so durchaus, wie leicht der annimmt, der nicht Analoges in anderen Ländern zu beobachten Gelegenheit hatte, ist ein antikritisches Schema, das aus der Philosophie, eben jener, die den Raisonneur anschwärzte, ins Gewäsch herabsank: die Anrufung des Positiven. Stets wieder findet man dem Wort Kritik, wenn es denn durchaus toleriert werden soll, oder wenn man gar selber kritisch agiert, das Wort konstruktiv beigestellt. Unterstellt wird, daß nur der Kritik üben könne, der etwas Besseres anstelle des Kritisierten vorzuschlagen habe; in der Ästhetik hat Lessing vor zweihundert Jahren darüber gespottet. Durch die Auflage des Positiven wird Kritik von vornherein gezähmt und um ihre Vehemenz gebracht. Bei Gottfried Keller gibt es eine Stelle, an der er die Forderung nach dem Aufbauenden ein Lebkuchenwort nennt. Viel sei schon gewonnen, so etwa argumentiert er, wenn dort, wo ein schlechtes Gewordenes Licht und Luft versperre, der Muff weggeräumt würde.

 

Clemens Heni – Eine Alternative zu Deutschland. Essays

Clemens Heni

Eine Alternative zu Deutschland. Essays

 

Berlin: Edition Critic, 2017

The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA), Studien zum Rechtsextremismus und zur Neuen Rechten, Band 2

ISBN 978-3-946193-17-3 | Softcover | 14,8x21cm | 262 Seiten | Personenregister | 15€

Bestellbar in jeder Buchhandlung oder versandkostenfrei direkt beim Verlag:

info[at]editioncritic.de

 

Dieses Buch ist eine intellektuelle Zeitreise von Juli 2006 bis September 2017.

Es zeigt auf, wie es vom »Sommermärchen« 2006 über die Rede vom »Inneren

Reichsparteitag«, Pegida, den Austritt Großbritanniens aus der EU (Brexit), die

Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten bis hin zum Aufstieg der AfD kommen

konnte. Betont wird die Verantwortung der Medien und des Fernsehens für

diesen Aufstieg. Die demokratischen Parteien im Deutschen Bundestag müssen

sich das erste Mal in der Geschichte mit neonazistischen Positionen im Parlament

befassen – doch sind sie darauf vorbereitet?

 

»Wer nach einer Vergewisserung sucht, wo Deutschland heute steht, wird sie in diesem Buch finden. Mit scharfem Verstand und mit angespitzter Feder zeichnet Clemens Heni funkelnde Momentaufnahmen der letzten elf Jahre. Heraus kommt, wie bestürzend sich die zivile Achse des zuvor offenen Selbstverständnisses nach rechts verschoben hat. Wer die Hoffnung auf eine bessere Zukunft teilt, muss die Gegenwart schonungslos kritisch beleuchten. Daraus mag ›eine Alternative zu Deutschland‹ entstehen.«

Gert Weisskirchen, 1976–2009 Mitglied des Deutschen Bundestages (MdB), 1999–2009 außenpolitischer Sprecher SPD Bundestagsfraktion, 2006–2008 persönlicher Beauftragter des OSZE Vorsitzenden im Kampf gegen  Antisemitismus, Prof. (em.).

»Clemens Heni erkennt in der aktuellen politischen Kultur dieses Landes noch immer die Spuren des Judenhasses und des von Deutschen begangenen und zu verantwortenden Mordes an den europäischen Juden. Ohne mit Heni in allen Fällen übereinzustimmen, führen seine Beiträge doch ins Herz der aktuellen Debatte über Deutschland und regen zu fruchtbarem Widerspruch an.«

Prof. Dr. Micha Brumlik, 2000–2013 Professor für »Theorien der Bildung und Erziehung « am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Goethe Universität Frankfurt am Main, 2000–2005 Direktor des Fritz Bauer Instituts, Forschungs- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust an der Goethe Universität.

»Wo nationalistische Töne sich erheben, ein Schlussstrich unter die deutschen Verbrechen des vergangenen Jahrhunderts gefordert und Judenhass zu einer scheinheiligen Kritik an Israel sublimiert wird, holt Clemens Heni zum grossen Rundumschlag aus: gegen Zyniker, Großaffirmatoren, Antihumanisten und Holocaustverharmloser im Deutschland der Gegenwart. Selbst wenn man ihm nicht immer folgen mag, schreibt er doch mit viel Scharfsinn und Sachkenntnis. Fazit: Unbedingt lesenswert und gerade vor dem Hintergrund der Bundestagswahl von brennender Aktualität.«

Dr. phil. Michael Kreutz, Politologe und Orientalist

»Clemens Heni ist ein Ein-Mann-Korrektiv zum andauernden deutschen Geschichts-Roll-Back, wach, intelligent, unerlässlich in Zeiten der schwächelnden Demokratie.«

Georg Diez, Spiegel-Online-Kolumnist, Buchautor, 2016/17 Nieman Fellow der Harvard Universität, USA

Clemens Heni Eine Alternative zu Deutschland 2017 Inhalt Einleitung (PDF):

Einleitung  7

Das nationale Apriori: Wie aus der BRD endgültig Deutschland wurde  12

Ein deutsches Graduiertenförderungswerk, 2002:  ein Küchlein mit Folgen  13

Ein weiteres deutsches Graduiertenförderungswerk, Juni 2006:
Ich bin deutsch und was bist du?  14

Walk of Ideas, Berlin 2006  15

„Die Nazis wurden doch sportlich, 1936“ – Neu-deutsche Wissenschaft als Rehabilitierungsübung für den Nationalsozialismus  16

Weitere Beispiele ‚linker‘ Wissenschaftler und deren  Verharmlosung der deutschen Verbrechen  21

Das Opfer bringen und singen: „Blüh im Glanze“  „deutsches Vaterland“ –
von Diem zu Klinsmann  22

Keine „Reue“ zeigen: Gegen „amerikanischen Messianismus“ –  Matusseks nassforsche Invektiven oder wie funktioniert  sekundärer Antisemitismus?  25

Joachim Fests Kampf: Über Historismus und Antisemitismus  26

Ästhetizistische Parallelwelten: K.H. Bohrer möchte wieder ein stolzes Deutschland …   29

Deutsche Lust: Zusammen, was zusammengehört: Nation und Sozialismus – „Volkslust“… 32

Kritik an Broders Rechtsruck 2007  35

Martin Mosebach: Gegenaufklärung als sekundärer Antisemitismus  39

„Rheinischer” Revisionismus? Journalisten verlegen Beginn des Zweiten Weltkriegs auf 1935  41

Ausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“  45

Karl Rössel, der Mufti, und die Aporien des Antiimperialismus  45

Merkwürdiger Komparatismus: Harald Welzer  50

Antisemitismus trivialisieren? Fragen an den Facebookexperten Götz Aly  52

Das ZDF oder wenn Deutsche zu sehr lieben: „Innerer Reichsparteitag“  56

Das grüne Ressentiment: Die Grünen, Paul Bonatz, die „Adolf-Hitler-Kampfbahn“, Stuttgart 21    59

Stuttgart ist keine „Vorstadt von Jerusalem“… Paul Bonatz, der NS und Die Grünen (K21)  61

Erinnern, um zu vergessen: Alfred Grosser  66

„Ausgerechnet Billy Wilder“ – Christian Wulff, die „deutsche Kultur“ und der Holocaust 68

Flanierend die Verbrechen des Nationalsozialismus goutieren  69

Antisemitismus und die Prager Deklaration  75

Banalisierung des Bösen: Hannah-Arendt-Preis für die Trivialisierung des Holocaust 2013  78

Die „Bloodlandisierung“ der Linken am Beispiel Helmut Dahmer  83

Özgida – eine antirassistische Antwort auf Pegida  86

32 Thesen: Pegida zeigt den Extremismus der deutschen Mitte  90

2014: Ein Land gefangen zwischen Islamismus und dem Extremismus der Mitte  95

Exkurs: War Deutschland Teil des Abendlandes?  96

Auschwitz, 27. Januar 1945  98

Eike Geisel und die Erinnerung an den Holocaust 103

Die „Klimaverschärfung“ – AfD und Pegida machen das Land peu à peu unbewohnbar  108

Das Ende des Ludwig-Börne-Preises – Der „post-humanistische Denkraum“ Peter Sloterdijks  116

AfD für „Alphabetisierte“: Peter Sloterdijk am Sinai auf einem „deutschen Weg“  127

Die ganz normalen Deutschen des 13. März 2016  133

Gegen das Brexit-Volk des 23. Juni 138

Deutsche Männer mit Schnappatmung – Zur Kampagne gegen die
Amadeu Antonio Stiftung  142

Von der SED zur AfD? Für die Neue Rechte war die DDR schon
1981 besonders „deutsch“  145

16 Jahre NSU, 15 Jahre 9/11: Deutschland zwischen braunem und grünem Faschismus  150

Schaut auf diese Stadt: Nazis, die AfD und der Mob in Berlin vor dem Einzug ins Parlament 152

Auschwitz und andere Gemeinheiten. Carolin Emcke bekommt den Friedenspreis  159

Ein Präsident für die antiwestliche Internationale  167

Die neue Querfront – Mit Hegels „List der Vernunft“ für Trump … 175

Stalingrad, „monströser Zivilisationsbruch“ –

Die Wiedergutwerdung der Deutschen in Aleppo  184

Der Trumpismus, die Fratze des Philoisraelismus und die Chance
des säkularen Zionismus  188

Amerikas 1933 und die „identitäre Demokratie“ (=Faschismus)  192

Locker bleiben. Es ist lediglich der mächtigste Mann der Welt, der
den Faschismus intoniert 194

Erlösendes Gedenken, Norbert Lammert, die „wechselvolle“ deutsche Geschichte  200

Freiheit für Deniz Yücel – Jetzt sofort! Power durch die Mauer, bis sie bricht! 204

G20-Proteste: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ (Brecht)  206

Koscherstempel für faschistische Autoren: Die Berliner Buchhandlung „Topics“  209

Holocaustopfer, schwarzrotgold: Gerhard Richter im Bundestag  214

„Ist doch für einen guten Zweck“: Mafia-Methoden im politischen Diskurs  214

TV-Duell: AfD-Propaganda-Show führender TV-Journalist*innen in
ARD, ZDF, RTL und Sat1  217

Endnoten  223

Personenregister  256

Lesprobe:

Einleitung

Für „Otto Normalvergaser“ wie die Politiker*innen und Wähler*innen der Alternative für Deutschland (AfD) „ist die Welt von gestern noch in Ordnung gewesen“.[1] Das zeigt sich an der Parteivorsitzenden Frauke Petry, die das Wort „völkisch“ wieder verwendet, an dem ehemaligen (1973–2013) CDU-Mitglied und AfD-Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl 2017, Alexander Gauland, der „stolz“ ist auf die deutschen Soldaten im „Ersten und Zweiten Weltkrieg“ und an Björn Höcke, für den das Holocaustmahnmal ein „Mahnmal der Schande ist“. Die Welt am Sonntag berichtete am 9. September 2017 über einen E-Mail-Wechsel der AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel von 2013, worin es über Mitglieder der Regierung Angela Merkel heißt:

„Diese Schweine sind nichts anderes als Marionetten der Siegermaechte des 2. WK und haben die Aufgabe, das dt Volk klein zu halten indem molekulare Buergerkriege in den Ballungszentren durch Ueberfremdung induziert werden sollen.“[2]

Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 24. September 2017 führt das erste Mal dazu, dass Neonazis im Deutschen Bundestag sitzen werden. Bundesaußenminister Sigmar Gabriel sprach im Vorfeld von der Gefahr, dass „echte Nazis“ im Parlament vertreten sein werden.[3] Der 24. September 2017 war der schlimmste Tag für die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik. Die 12,6% Stimmen für die AfD zeigen die Fratze des Volkes. Die Millionen AfD-Wähler*innen wissen, wie völkisch, rassistisch, nationalistisch, agitatorisch und antisemitisch diese Partei ist und haben sie gerade deshalb gewählt.

Dieses Land braucht eine Alternative zu Deutschland. Es war noch vor fünf Jahren undenkbar, dass eine Partei in den Bundestag einziehen wird, die „Deutschland erwache“ twittert,[4] so wie damals die Nazis mit diesem Spruch agitierten. Eine Partei, die Politiker hat, die so reden wie Goebbels und die Erinnerung an den Holocaust nicht nur abwehren, sondern im Kokettieren mit dem damaligen Propagandaminister die Shoah gar nicht so klammheimlich affir­mieren. Eine Partei, die deutschen Staatsbürgerinnen die Staatsbürgerschaft abspricht und diese in „Anatolien entsorgen“ will. Schließlich eine Partei, die Mitglieder hat, welche die gefährlichste aller antisemitischen Verschwörungsmythen, die Protokolle der Weisen von Zion, unterstützen.[5] Der Mob schreit „Volksverräter“, „Lügenpresse“ oder „Merkel muss weg“, wie es auf Wahlkampfveranstaltungen der AfD passierte, und möchte die Kanzlerin wegputschen und die Demokratie zerstören. Solche Neo-Nazisprüche und -Ideologie gibt es schon seit Jahrzehnten – aber niemals im Deutschen Bundestag als Teil der Ideologie einer ganzen Partei. Dazu kommen eine ungeheuerliche Agitation gegen die Demokratie und Gewaltfantasien, die rechte Aktivisten von Pegida und Politiker*innen der AfD und deren Anhängerschaft in den sozialen Medien äußern.[6] Wie Bundesjustizminister Heiko Maas knapp zwei Wochen vor der Bundestagswahl schreibt, ist die AfD „in Teilen verfassungswidrig.“[7] Doch die Alternative für Deutschland (AfD) entstand nicht in einem Vakuum, sondern ist Ausdruck eines lang andauernden Prozesses der Renationalisierung dieses Landes wie auch Europas und des Westens. Rassismus, Separatismus und die Hinwendung zum „Eigenen“ sind schockierender Aus­druck sowohl des Brexit im Juni 2016, dem Ausstieg Großbritanniens aus der EU, wie der Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten im November 2016.

Die deutsche Renationalisierung kann hier nicht in allen Einzelheiten untersucht werden. Die jüngste Form der Renationalisierung war ein Epochenbruch: 2006. Eine Kernthese dieses Bandes lautet: Ohne das „Sommermärchen“ von 2006 und den schwarzrotgoldenen Taumel, ohne die „inneren Reichsparteitage“ und gegenintellektuelle Stimmungsmache für mehr Nation und weniger Reflektion, mehr Stolz auf die deutsche Geschichte und weniger Gesellschaftskritik, wäre es nicht zu Pegida und zur Katastrophe der völkischen AfD gekommen. Die AfD hat am Wahlabend die deutsche Nationalhymne gesungen,[8] es ist die gleiche Hymne, die schon zu Nazizeiten gesungen wurde.

Es sind krasse Zeiten. Wir können mittlerweile wählen, ob wir den braunen, nazistischen, oder lieber den grünen, islamistischen Faschismus bevorzugen. Zwischen diesen beiden Polen ist der Westen derzeit gefangen. Der jihadistische Terrorismus, der Islamismus, das Ressentiment auf die westliche Welt, der Antiamerikanismus, der Antisemitismus und der Israelhass des 11. September 2001 veränderten die Welt. Seit jenem Tag wachen wir jeden Morgen auf, und wissen nicht, ob wieder ein jihadistischer Anschlag passierte, ob auf Bali, im Irak, in Syrien, Afghanistan, den USA, Frankreich, Dänemark, Berlin, Tel Aviv, Jerusalem, Brüssel, Toulouse, London, Manchester, Madrid, Djerba, Barcelona, Nizza und unzähligen weiteren Orten. Seit über 16 Jahren geht das so und es ist kein Ende in Sicht. Weltweite massive Sicherheitsvorschriften an Flughäfen, das unwillkürliche Aufmerksamwerden auf isoliert herumstehende Koffer, Taschen oder Rucksäcke an Bahnhöfen, Flughäfen und sonst im öffentlichen Raum waren vor 9/11 nicht denkbar. Unser Blick auf die Realität hat sich verändert. Dazu kommt in der Bundesrepublik ein noch viel heftigerer, massenwirksamerer und seit dem 24. September 2017 auch bundespolitisch mit enormen Konsequenzen und einem Machtzuwachs nie geahnten Ausmaßes ausgestatteter nationalistischer, rechtsextremer und neonazistischer Aufbruch.

Das Volk ist nicht „abgehängt“ oder „perspektivlos“, nein, das Volk ist durchaus böse, rassistisch, antisemitisch, dumpf, brutal und abstoßend. Das zeigt sich nicht nur an Tomaten- wie Verbalattacken auf Angela Merkel bei Wahlkampfauftritten während des Bundestagswahlkampfes 2017 oder bei den Pegida Demonstrationen seit Oktober 2014, sondern zum Beispiel auch im Sommer 2017, als in einem ganz normalen westdeutschen Dorf bekannt wurde, dass dort seit 83 Jahren eine „Hitlerglocke“ im Kirchturm hängt und der Pfarrer (aus musikalischen Gründen, klar) wie der Bürgermeister total „stolz“ sind auf ihre Glocke mit der Inschrift „Alles fuer’s Vaterland. Adolf Hitler“ und darunter befindet sich ein dickes Hakenkreuz. Das hat seit 1945 keinen Menschen in diesem ganz normalen deutschen Dorf in Rheinland-Pfalz (Herxheim am Berg) gestört.

Diese beiden Großthemen, Jihad und der stolzdeutsche Aufbruch, das „nationale Apriori“ der Deutschen, bestimmen in weiten Teilen die politische Kultur, möchte man meinen. Wer aber am 3. September 2017 das einzige TV-Duell der beiden Kanzlerkandidat*innen zur Bundestagswahl am 24. September auf den vier größten Fernsehkanälen ARD, ZDF, RTL und Sat1 gesehen hat, traute seinen Augen und Ohren nicht mehr. Da wurde weit über die Hälfte der Sendezeit nur gegen Nicht-Deutsche gleichsam agitiert, die Fragen hörten sich an, als wären alle vier Fragenden direkt von der AfD bestellt gewesen. Die Gefahr des Rechtsextremismus wurde verleugnet. Die Medien haben eine Hauptverantwortung für den Aufstieg der AfD. Der Journalist Georg Diez resümiert am Vormittag des 24. September 2017:

Die Erfolge der AfD haben auch die Plasbergs dieser Welt mitzuverantworten. Denn die öffentlich-rechtlichen Talker haben den reaktionären Kräften schon früh und dann immer wieder eine Bühne geboten.“[9]

Die AfD hat es in zwei Jahren, seit Beginn der „Flüchtlingskrise“ Anfang September 2015, geschafft, dieses Thema als das zentrale Thema des ganzen Landes durchzusetzen, auch wenn im Spätsommer 2017 kaum noch Flüchtlinge nach Deutschland und Europa durchkommen, da die Abschottung jetzt schon in Afrika beginnt. Die Renationalisierung, die in dieser Aggressivität nie dagewesene nationalistische Rede, wurde von der AfD in den Mainstream gebracht und die Medien nahmen das geradezu dankbar und begierig auf. Aufgrund dieses In-die-Zange-Nehmen der westlichen Welt durch den braunen und grünen Faschismus verschwinden andere Themen oft. Der Klimawandel, der von US-Präsident Donald Trump und seinen deutschen Fans geleugnet wird, aber auch viel weiter gefasste Themen wie Entschleunigung, Ökologie und das Mensch-Natur-Verhältnis, vom Atomausstieg über Braunkohleabbau, Windkraft oder Solarenergie hin zum Dieselskandal, der nur die Wahrheit auf den stinkenden Punkt bringt, dass der Kapitalismus nicht zum Vergnügen da ist, sondern zur Profiterzielung. Themen wie das Grundeinkommen, ungebremste Mietsteigerungen in Großstädten und Ballungsräumen, prekäre Arbeitsverhältnisse für die gut und sehr gut Ausgebildeten, Minijobs und Mehrfachjobs für alle und sicherlich die neoliberale Deregulierung vieler Ge­sell­schaftsstrukturen wie die Internalisierung der Imperative des Kapi­ta­lis­mus: Das wären alles sehr wichtige Themen, die aber seit 9/11 und dann seit 2006 sowie später weltpolitisch durch die Wahl Trumps wie den Aufstieg der AfD massiv überlagert werden durch diese beiden Großthemen brauner versus grüner Faschismus.

Dazu kommt: Die Entpolitisierung ist prägend für weite Teile dessen, was früher einmal als „bürgerliche Mitte“ wie auch „die Linke“ (jenseits der Partei) bezeichnet wurde. Unabhängig von bezahlten Jobs in NGOs gibt es nur noch sehr wenige politisch aktive Menschen, die grundsätzliche Fragen an die Gesellschaft stellen und nicht nur Einpunktbewegungen anhängen. Jene, die sich in den letzten Jahren massiv politisiert haben, sind die Völkischen oder „besorgten Bürger“. Der Antisemitismus wird äußerst selten zu einem zentralen Thema der Kritik gemacht. Daher versuchen die Essays in diesem Band ganz unterschiedliche Aspekte des heutigen Antisemitismus zu thematisieren und sie am Beispiel von teils zentralen Akteuren oder Ereignissen im politischen, wissenschaftlichen wie kulturellen Feld zu analysieren. Wenn zum Beispiel ‚linke‘ Aktivisten oder Künstler aktiv werden, sieht das heute so aus: Auf der documenta14 in Kassel sollte es im Sommer 2017 eine Aktion geben mit dem Titel „Auschwitz on the Beach“. Dabei sollten Salzwasser mit Zyklon B und Flüchtlinge mit Juden verglichen und gleichgesetzt, sowie darüber hinaus die europäischen Gesellschaften und Israel als neue „Gauleiter“ zu den Nazis von heute gemacht werden.[10] Diese Abwehr der Er­inn­er­ung an die präzedenzlosen Verbrechen der Shoah geschieht mit dem best­en linken Gewissen, was sich darin zeigte, dass der Event zwar aufgrund von Protesten abgesagt wurde, aber ohne eine inhaltliche Distanzierung der documenta-Leitung von diesem doppelten Antisemitismus. Es handelte sich um einen Antisemitismus, der die Erinnerung an den Holocaust für politische Zwecke instrumentalisiert und zudem noch antizionistisch agitiert. Dann gibt es mittlerweile ‚Linke‘, selbst Kritiker solcher Events auf der documenta, welche die Agitation gegen den Islam als fortschrittlich empfinden und den Rechtsextremismus der AfD schlicht verdrängen. Das ist auch bei vielen Trump-Anhängern so, die sich zuvor als liberal oder links tarnten.

Wie der Spiegel Online Kolumnist Georg Diez wenige Wochen vor der Wahl schrieb, kann man sehen, wie seit Jahrzehnten in Deutschland

„der Diskurs mehr und mehr nach rechts verschoben wurde, von Martin Walsers Paulskirchenrede über Thilo Sarrazin bis zu den Untergangsfantasien von Botho Strauß. In der Sprache von Peter Handke könnte man sagen, es waren Zurüstungen für die Unmenschlichkeit.“[11]

Die Essays in diesem Band spannen einen Bogen vom „Sommermärchen“ 2006 über den „Inneren Reichsparteitag“ (2010) hin zu Pegida (2014), den Brexit, die Wahl Trumps (2016) und den Aufstieg der AfD zur ersten Partei mit Neonaziideologie im Deutschen Bundestag (2017). Während es Hunderte ehemaliger NSDAPler im Bundestag und anderen Parlamenten seit 1949 gab,[12] werden ab September 2017 erstmals neue Nazis im Bundestag sitzen. Die Essays[13] in diesem Band umfassen eine Zeitspanne von Juli 2006 bis September 2017 und können als eine Art intellektuelles Tagebuch betrachtet werden. Mögen sie zur Kritik und Reflektion, zum Nachdenken über eine Alternative zu Deutschland anregen.

[1] Eike Geisel (1998): Triumph des guten Willens. Gute Nazis und selbsternannte Opfer. Die Nationalisierung der Erinnerung, Berlin: Edition Tiamat, 69.

[2] Sven-Felix Kellerhoff/Martin Lutz/Uwe Müller (2017): „Diese Schweine sind nichts anderes als Marionetten der Siegermächte“, Die Welt, 09.09.2017, https://www.welt.
de/politik/deutschland/article168480470/Diese-Schweine-sind-nichts-anderes-als-Marionetten-der-Siegermaechte.html (18.09.2017); „Die WELT AM SONNTAG hält an ihrer Berichterstattung über die Mail in vollem Umfang fest. Der Redaktion liegt eine eidesstattliche Versicherung des E-Mail-Empfängers vor. Um Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit auszuräumen, könnte Weidel ihrerseits bei Gericht eine eidesstattliche Versicherung einreichen, in der steht, was zuvor schon der Anwalt behauptet hatte: Dass sie den Text nicht verfasst hat. Doch dies hat sie bisher nicht getan. Die Abgabe einer falschen Versicherung an Eides statt wird nach dem Strafgesetzbuch mit bis zu drei Jahren Gefängnis oder Geldstrafe geahndet“, Martin Lutz/Uwe Müller (2017): AfD-Spitzenkandidatin Weidel spricht nicht mehr von Fälschung, Die Welt, 15.09.2017, https://www.welt.de/politik/deutschland/article168695526/AfD-Spitzenkandidatin-Weidel-spricht-nicht-mehr-von-Faelschung.html?wtrid=socialmedia.
email.sharebutton (18.09.2017); „AfD-Spitzenkandidatin Weidel plötzlich kleinlaut. Ein Bericht über eine Wut-Mail hat die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel erzürnt. Sie sprach von einer Fälschung. Doch davon ist jetzt keine Rede mehr“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.09.2017, http://www.faz.net/aktuell/politik/wut-mail-afd-spitzenkandidatin-weidel-ploetzlich-kleinlaut-15202774.html (18.09.2017).

[3] http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bundestagswahl/alle-schlagzeilen/gabriel-attackiert-afd-echte-nazis-am-rednerpult/20315768.html (16.09.2017).

[4] http://www.jc-courage.de/wp-content/uploads/2017/02/Die_AfD_in_Koeln.pdf (16.09.2017), 11; http://www.rp-online.de/nrw/panorama/koelner-hauptmann-und-afd-politiker-soll-ns-parole-getwittert-haben-aid-1.6807113 (15.09.2017): „Die Linken-Politiker werfen [Hendrik] Rottmann vor, am 29. Januar auf Twitter eine Meldung der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Aydan Özoguz, mit den Worten ‚Deutschland erwache‘ kommentiert zu haben – eine Parole, die im Dritten Reich von der Nazi-Organisation SA benutzt wurde. Ein Screenshot des Tweets liegt unserer Redaktion vor – der Twitter-Account, von dem der umstrittene Spruch abgesetzt worden sein soll, existiert nicht mehr.“

[5] So Wolfgang Gedeon aus Baden-Württemberg, siehe dazu meine Analyse: Germany’s Hot New Party Thinks America Is ‘Run by Zionists’, Tablet Magazine, 1. August 2016, http://www.tabletmag.com/jewish-news-and-politics/209243/germanys-hot-new-party (24.09.2017).

[6] „Alle Tünche, die Pegida am Anfang noch trug, war in den sozialen Netzwerken schnell hinfällig. In der scheinbaren Anonymität des WorldWideWeb oder in geschlossenen Facebook-Gruppen, in denen man sich unter sich glaubte, nahmen Mitglieder des Pegida-Orgateams kein Blatt mehr vor den Mund. Verfolgte man Bachmanns inzwischen gelöschten Twitter-Account, der auch in die Zeit vor Pegida zurückreicht, so stieß man auf vulgären Rassismus und Homophobie. Beispielsweise twitterte er am 6. September 2013 über die Grünen: ‚Gehören standrechtlich erschossen diese Öko-Terroristen! … allen voran Claudia Fatima Roth!‘“ (Lucius Teidelbaum (2016): Pegida. Die neue deutschnationale Welle auf der Straße, Münster: Unrast, 31); Die Hannoversche Allgemeine berichtet am 10. September 2017: „Von der AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel soll eine E-Mail mit rassistischen Bemerkungen und Demokratie-verachtenden Thesen aufgetaucht sein. Die AfD bestreitet allerdings in Weidels Namen, dass sie die Autorin ist. Die ‚Welt am Sonntag‘ berichtet jedoch, ihr liege eine eidesstattliche Versicherung des Mail-Empfängers, eines früheren Bekannten Weidels, vor. Der Zeitung zufolge heißt es in der E-Mail vom 24. Februar 2013 in Originalschreibweise: ‚Der Grund, warum wir von kulturfremden Voelkern wie Arabern, Sinti und Roma etc ueberschwemmt werden, ist die systematische Zerstoerung der buergerlichen Gesellschaft als moegliches Gegengewicht von Verfassungsfeinden, von denen wir regiert werden.‘ Zudem werde in dem Schreiben die Bundesregierung von Angela Merkel (CDU) verunglimpft: ‚Diese Schweine sind nichts anderes als Marionetten der Siegermaechte des 2. WK und haben die Aufgabe, das dt Volk klein zu halten indem molekulare Buergerkriege in den Ballungszentren durch Ueberfremdung induziert werden sollen‘, zitiert das Blatt weiter“, http://www.haz.de/
Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/Diese-Schweine-sind-nichts-anderes-als-Marionetten (11.09.2017). Der Ex-AfDler Holger Arppe aus Mecklenburg-Vorpommern hat Pro-Nazi und zur Gewalt aufrufende Nachrichten verschickt und war jahrelang eng verbunden mit führenden AfDlern. Sein Austritt aus der Partei ist rein taktisch. Der NDR berichtet über ihn: „Arppes Chatverläufe dokumentieren auch, wie nah die AfD in Mecklenburg-Vorpommern offenbar an die rechtsextreme ‚Identitäre Bewegung‘ (IB) herangerückt ist – obwohl es einen Unvereinbarkeitsbeschluss der Bundespartei gibt. Über Monate hinweg chattete Arppe ausweislich der Protokolle mit Daniel F., einem der führenden Köpfe der IB. F. war früher bei der NPD engagiert. Im Juli 2015 schrieb Arppe: ‚Diesen Revoluzzergeist brauchen wir! Der [Daniel F.] ist ein absolutes Muss für unsere Partei. Seine Vergangenheit interessiert mich einen Scheißdreck.‘ Die Dokumente zeigen auch, dass Arppe die IB darum bittet, als Ordner für eine Demonstration zur Verfügung zu stehen. ‚Daniel, könnten von Euch welche als Ordner fungieren bei unserer Demo am Samstag? Wir brauchen noch ein paar ordentliche Nazis als Freiwillige‘, schrieb Arppe demnach im Oktober 2015. Der IB-Mann sichert daraufhin drei Helfer aus seinen Reihen zu“, https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Rassistische-Chats-Fraktionsvize-verlaesst-AfD,afd1204.html (11.09.2017). Das Handelsblatt vom 9. September 2017 ergänzt diese Analyse des rechtsextremen Netzwerkes, in das Arppe eingebunden ist: „Arppe war, wie andere umstrittene AfD-Politiker auch, schon früher wegen seiner deutschnationalen Gesinnung aufgefallen. Er übte mit Wissen der Bundespartei offen den Schulterschluss mit der ‚Identitären Bewegung‘, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird und pflegte Kontakte zum Chefredakteur des rechten Monatsmagazins ‚Compact‘, Jürgen Elsässer. Bei einer entsprechenden Veranstaltung im vergangenen Jahr war das AfD-Bundesvorstandsmitglied André Poggenburg mit dabei. Arppe nahm auch schon am sogenannten ‚Kyffhäuser-Treffen‘ in Thüringen teil. Veranstalter ist die rechtsnationale AfD-Gruppierung ‚Der Flügel‘ der AfD-Fraktionschefs Björn Höcke (Thüringen) und Poggenburg (Sachsen-Anhalt). Am vergangenen Wochenende kamen nach Polizeiangaben 550 bis 600 Teilnehmer zu der Kundgebung am Kyffhäuserdenkmal. Unter ihnen waren neben AfD-Chef Jörg Meuthen auch Vize-Parteichef Gauland und Pegida-Chef Lutz Bachmann“, http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/
bundestagswahl/alle-schlagzeilen/der-fall-arppe-und-die-folgen-staatsrechtler-bringt-afd-beobachtung-ins-spiel/20302334.html (11.09.2017).

[7] http://www.fr.de/politik/meinung/gastbeitraege/heiko-maas-afd-ist-in-teilen-verfassungswidrig-a-1348338?GEPC=s5 (11.09.2017).

[8] https://twitter.com/maria_fiedler/status/911984268355805185 (24.09.2017).

[9] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/afd-im-bundestag-wie-der-rechtsruck-herbei-geredet-wurde-a-1169404.html (24.09.2017).

[10] https://jungle.world/blog/von-tunis-nach-teheran/2017/08/auschwitz-am-strand-die-documenta-ueber-den-einsatz-von-zyklon (18.08.2017).

[11] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/rechtsruck-in-deutschland-die-geistig-moralische-wende-zum-schlechten-a-1166689.html (11.09.2017).

[12] Eine inoffizielle Liste ehemaliger Nazis, die nach 1945 politisch aktiv waren (wie z.B. als Abgeordnete im Bundestag) findet sich hier: https://de.wikipedia.
org/wiki/Liste_ehemaliger_NSDAP-Mitglieder,_die_nach_Mai_1945_politisch_t%C3%
A4tig_waren (21.09.2017).

[13] Bis auf die Einleitung und den Text „Ist doch für einen guten Zweck…“ sind alle Texte dieses Bandes online auf verschiedenen Portalen erschienen und wurden für diese Publikation überarbeitet. Die Datumsangaben am Ende von URLs zeigen das Datum des letzten Abrufs der Seite an.

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