Von Dr. phil. Clemens Heni, 10. März 2021

Das Wunderbare für einen Publizisten und Public Intellectual ist es, dass andere Menschen auf einen zukommen, man Informationen erhält, die man sonst nicht erhalten hätte, und somit ein Sich-gegenseitiges-Beflügeln entsteht. So auch hier. Ein Leser meines Blogs schickte mir ein Urteil des Amtsgerichts Ludwigsburg (AG Ludwigsburg, Urteil vom 29. Januar 2021 – 7 OWi 170 Js 112950/20), das Hoffnung gibt, dass dieses Land doch noch als Rechtsstaat funktioniert – jedenfalls teilweise und jedenfalls in diesem Fall im Ländle. Auch das Wissenschafts-Blog von Peter F. Mayer aus Österreich hat heute  bereits über den Fall berichtet. Dort ist das Urteil des Gerichts auch verlinkt.

In einem Urteil des Amtsgerichts Ludwigsburg vom 29. Januar 2021 (rechtskräftig seit dem 9. Februar 2021) wird ein zentraler Teil der baden-württembergischen Corona-Verordnung als verfassungswidrig erklärt. Es handelt sich um ein geradezu sensationelles Urteil, das zeigt, wie verfassungsfeindlich die baden-württembergische Landesregierung unter Winfried Kretschmann (Grüne) und Thomas Strobl (CDU) agiert.

Am kommenden Sonntag will Kretschmann erneut die Landtagswahl in Baden-Württemberg gewinnen und Ministerpräsident bleiben. Ein Ministerpräsident, der gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verstößt und das seit Monaten?

Im „Leitsatz“ des Urteils von Amtsrichterin Dr. Fabian heißt es:

1. § 28 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 32 IfSG (in der Fassung bis zum 18. November 2020) ist keine taugliche Ermächtigungsgrundlage für die weitgehenden Eingriffe gemäß § 3 CoronaVO BW i.d.F. vom 9. Mai 2020, sodass § 3 CoronaVO BW schon aus diesem Grund verfassungswidrig ist.

Das Urteil spricht einen Mann frei, der die ‚Frechheit‘ besaß, am 20. Mai 2020 um 21 Uhr 10 mit zwei anderen Männern sich ohne ausreichenden „Abstand“ im öffentlichen Raum der Stadt Ludwigsburg aufzuhalten. Die Polizei war sofort zur Stelle und zeigte den Mann an bzw. stellte eine Ordnungswidrigkeit fest. Doch jetzt wurde er vollumfänglich freigesprochen.

Es heißt weiter im „Leitsatz“ des Urteils:

2. Wird das gesellschaftliche Leben in grundrechtssensibelsten Bereichen im Ganzen auf nicht vorhersehbare Dauer beschränkt, bedarf es des förmlichen Verfahrens parlamentarischer Gesetzgebung
(Verstoß gegen den Parlamentsvorbehalt).
3. Der Verordnungsgeber hat mit den Regelungen in § 3 CoronaVO BW den ihm zustehenden exekutiven Gestaltungsspielraum überschritten.

Was stand in § 3 Corona VO BW vom 09.05.2020?

§ 3 Einschränkungen des Aufenthalts im öffentlichen Raum und von Ansammlungen,
Pflicht zum Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen

Abs. 1: Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist bis zum 5. Juni 2020 nur alleine oder im Kreis der Angehörigen des eigenen sowie eines weiteren Haushalts gestattet. Zu anderen Personen ist im öffentlichen Raum, wo immer möglich, ein Mindestabstand von 11 – von 1,5 Metern einzuhalten. Personen ab dem vollendeten 6. Lebensjahr müssen zum Schutz anderer Personen vor einer Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus

1. im öffentlichen Personenverkehr, an Bahn- und Bussteigen sowie in Flughafengebäuden und
2. in den Verkaufsräumen von Ladengeschäften und allgemein in Einkaufszentren eine nicht-medizinische Alltagsmaske oder eine vergleichbaren Mund-Nasen-Bedeckung tragen, wenn dies nicht aus medizinischen Gründen oder aus sonstigen zwingenden Gründen unzumutbar ist oder wenn nicht ein anderweitiger mindestens
gleichwertiger baulicher Schutz besteht.

Die baden-württembergische Landesregierung bzw. der „Verordnungsgeber“ hat nun laut dem Amtsgericht Ludwigsburg „mit den Regelungen in § 3 CoronaVO BW den ihm zustehenden exekutiven Gestaltungsspielraum überschritten.“

Und Menschen, die den ihnen „zustehenden exekutiven Gestaltungsspielraum überschritten“ haben, sollen weiter als seriöse Politiker betrachtet werden? Ernsthaft? Solche Menschen sollen wir, die Bürgerinnen und Bürger, wieder wählen am kommenden Sonntag, den 14. März 2021? Geht’s noch?

Wer hingegen auf dem Boden des Grundgesetzes steht, ist das Amtsgericht Ludwigsburg, wenn es urteilt:

Der Betroffene war bereits aus rechtlichen Gründen freizusprechen, da § 3 CoronaVO BW in der Fassung vom 9.5.20 verfassungswidrig und damit nichtig ist.
1. Das Gericht hat über die Verfassungsmäßigkeit der Norm vorliegend selbst zu entscheiden.
Vorlagefähig gem. Art. 100 GG sind nur deutsche förmliche Gesetze, d.h. Parlamentsgesetze des Bundes und der Länder einschließlich der Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen (zu letzterem BVerfGE 95, 39 (44)). Da es sich bei der CoronaVO als Rechtsverordnung um rein materielles Recht handelt, hat der Richter über deren Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht selbst zu entscheiden.

Man stellt sich also die Frage, wie dieses Land – exakt solche Corona-Verordnungen gibt es ja bis heute in jedem der 16 Bundesländer – regiert wird: Mit verfassungswidrigen Verordnungen! Wie wir alle wissen, kennen Politiker*innen kein Schamgefühl, das gilt auch für Kretschmann und Strobl. Hätten beide Anstand oder ausreichend Schamgefühl, würden sie nach so einem Urteil zurücktreten und den Wahlkampf beenden.

Nochmal das Amtsgericht Ludwigsburg:

1. § 28 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 32 IfSG (in der Fassung bis zum 18. November 2020) ist keine taugliche Ermächtigungsgrundlage für die weitgehenden Eingriffe gemäß § 3 CoronaVO BW i.d.F.
vom 9. Mai 2020, sodass § 3 CoronaVO BW schon aus diesem Grund verfassungswidrig ist.
2. Wird das gesellschaftliche Leben in grundrechtssensibelsten Bereichen im Ganzen auf nicht vorhersehbare Dauer beschränkt, bedarf es des förmlichen Verfahrens parlamentarischer Gesetzgebung
(Verstoß gegen den Parlamentsvorbehalt).
3. Der Verordnungsgeber hat mit den Regelungen in § 3 CoronaVO BW den ihm zustehenden exekutiven Gestaltungsspielraum überschritten.