Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Documenta

Österreich schafft Impfpflicht-Gesetz ab – es gibt dringendere Probleme: den Antisemitismus

Von Dr. phil. Clemens Heni, 24. Juni 2022

Die österreichische Bundesregierung in Wien hat ziemlich überraschend bekanntgegeben, dass sie das bislang nur auf Eis liegende und jederzeit wieder aktivierbare Impfpflichtgesetz abschaffen wird. Es wird in Österreich keine Impfpflicht gegen SARS-CoV-2 geben. Dabei war das Gesetz erst Anfang Februar 2022 in Kraft getreten. Schon damals herrschte die noch viel harmlosere Omikron-Variante im Alpenstaat vor. Dabei war aber auch die Situation vor Omikron nicht wirklich dramatisch – medizinisch gesehen. Die Infektionssterblichkeit lag laut WHO im Oktober 2020 bei ca. 0,23 Prozent. Die Influenza-Grippe hatte hingegen in der alten BRD im Jahr 1969/70 eine Infektionssterblichkeit von 0,29 Prozent, so das Robert Koch-Institut (RKI). 1969/70 gab es überhaupt keine „Maßnahmen“. Niemand hat gespürt, dass es eine Epidemie gab.

An der Harmlosigkeit von Corona hat sich zwischen Februar 2022 und Juni 2022 nichts geändert. Aber die Einstellung der österreichischen Politik hat sich geändert. Woher der plötzliche Wandel des grünen Gesundheitsministers und der gesamten Regierung? Es gebe eine zu große Spaltung in der Gesellschaft wegen der Impfpflicht.

Der Standard berichtet:

Die Impfpflicht sei „unter anderen Voraussetzungen, als wir sie heute haben“, eingeführt worden, sagte Rauch, nämlich zu einer Zeit, als Delta dominierte. Sie sei „seinerzeit“ mit deutlicher Mehrheit beschlossen worden, auch er habe sie damals befürwortet. „Aber Omikron hat die Regeln verändert“, so Rauch. Schon grundsätzlich impfwillige Personen seien nun „schwieriger von der Notwendigkeit einer Impfung“ zu überzeugen.

Rauch nahm auch Bezug auf den jüngsten Bericht der Impfpflichtkommission. Diese hatte die Impfpflicht im Mai als „nicht erforderlich“ erachtet. „Die Impfpflicht bringt niemanden zum Impfen“, sagte Rauch und bezog sich dabei auf Befragungen, die das gezeigt hätten. Er habe festgestellt: „Die Impfpflicht und die Debatte um die Impfpflicht haben tiefe Gräben aufgerissen, auch in der österreichischen Gesellschaft“ – auch durch Familien. Da seien Abwehrhaltungen gegen medizinische Maßnahmen entstanden.

Sprich: die monatelangen Proteste, die es in Österreich wie in Deutschland gab, haben sich ausgezahlt!

Wir müssen lernen, mit dem für doch fast alle Menschen relativ harmlosen Virus „zu leben“, so die österreichische Bundesregierung.

Erinnern wir uns: Nach einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO hat Österreich in den Pandemie-Jahren 2020 und 2021 eine insgesamte Übersterblichkeit von 66 Personen pro 100.000 Einwohner*innen. Da in europäischen Ländern wie Deutschland oder Österreich, Frankreich, Schweden etc., ca. ein Prozent der Bevölkerung im Jahr stirbt, also von 100.000 Bewohner*innen sterben jedes Jahr ca. 1000, sind diese 66 Übersterblichkeitstoten in Österreich eine sehr geringe Zahl. Damit meint die WHO allerdings keineswegs nur die Corona-Toten, sondern ganz im Gegenteil alle Toten, die im Zusammenhang mit den Maßnahmen und aus anderen Gründen starben.

Wie wir wissen, wurde eine ungeheure Anzahl von Patient*innen ab März 2020 einfach nicht behandelt. Routine- oder Krebs-Vorsorgeuntersuchungen wurden einfach abgesagt. Die Ärztinnen und Ärzte saßen dann däumchendrehend herum – das bestätigt jede seriöse Oberschwester und jeder Pfleger in jedem Krankenhaus in Österreich oder Deutschland – und warteten auf die Covid-Fälle, die einfach nicht kamen beziehungsweise in sehr kleiner Zahl kamen. Menschen wurde geradezu abgeraten zu Ärzten oder Zahnärzten zu gehen und wenn, dann mussten sie sich vollständig vermummen und so tun, als ob eine Seuche herrsche. Auch das hat die Gesundheit vieler, unzähliger Menschen geschädigt. Nicht weil alle Panik hatten, zum Arzt zu gehen, sondern weil der denkende Teil der Bevölkerung sich nicht ohne jede Indikation einer Krankheit sinnlos vermummen wollte und möchte.

In Schweden gab es auch in Arztpraxen zu keinem Zeitpunkt eine Maskenpflicht. Mit positivem Erfolg, wie wir gleich sehen werden.

Aber kümmert das die Politik in Berlin oder Wien? In Wien jetzt zumindest ein bisschen.

Der extreme psychische Stress – der größte Stress seit 1945 – hat viele Menschen in Depressionen, den Suizid, in chronische Krankheiten hineingedrängt. Die medizinisch nicht evidenzbasierte Coronapolitik fast aller europäischen Staaten – die sich an China anlehnten, wie Ex-Kanzlerin Merkel aus Deutschland explizit sagte, als es um öffentliche Kritik und Demonstrationen ging, die es in China eben nicht gebe, was ein Vorbild sei! -, diese Politik hat Verwerfungen sozialer, psychischer und ökonomischer Art hervorgerufen, an denen wir noch Jahrzehnte zu leiden haben werden. Doch das reicht nicht, jetzt kommen die Entbehrungen wegen dem Ukraine-Krieg, wegen den Sanktionen, als ob man mit diplomatischem Geschickt Putin nicht längst hätte einfrieden können. Aber dazu hätte es politologische Expertise und politisches Gespür und vor allem politischen Willen gebraucht, eine nicht-militärische Lösung des Ukraine-Konflikts anzustreben. Und das war weder von der NATO, noch von Selenskyi oder der EU gewollt. Sie wollten den Krieg und Putin wollte ihn auch, nachdem er merkte, dass auf sein diplomatisches Friedensangebot von Dezember 2021 so gut wie keine Antwort kam!

In Schweden gab es nie eine Impfpflichtdiskussion. In Schweden gab es auch nie eine Maskenpflicht. Und siehe da: Schweden hat laut WHO-Bericht nur halb soviel Übersterblichkeit in den Pandemie-Jahren 2020 und 2021 wie Deutschland und auch weniger als Österreich:

Übersterblichkeit pro 100.000 laut WHO-Bericht:

Deutschland: 116

Österreich: 66

Schweden: 56.

Da müsste doch jedem Politiker und jeder Politikerin irgenwie klar werden, dass es nicht an den Masken liegen kann. Ja, mehr noch: es könnte an den Masken und der von ihnen eindeutig ausgehenden Panik liegen, dass Schweden enorm viel weniger Tote hat als Deutschland und auch weniger Tote als Österreich.

Wie harmlos aktuell die „Zahlen“ sind, sehen wir hier:

‚Die Zahlen steigen eindeutig, wobei fast alle, die in meine Praxis zum Test kommen, milde oder gar keine Symptome haben‘, sagt der Heilbronner Ärztesprecher Martin Uellner. Er geht von einer hohen Dunkelziffer unentdeckter Infektionen aus. Er persönlich glaube nicht mehr an ‚Schreckensszenarien‘ für den Herbst und Winter, sagt Uellner.

Da stellt man sich natürlich die Frage, warum gehen Menschen ohne Symptome oder nur mit leichten Symptomen überhaupt zum Arzt? Warum werden drei- und vierfach Geimpfte wie verschiedene Minister in Deutschland aktuell getestet, auch wenn sie keine Symptome haben? Und warum jubelte der baden-württembergische Innenminister Strobl im Frühjahr 2022, dass er ’nur‘ eine Lungenembolie bekommen hat und im Krankenhaus lag? Nur eine Lungenembolie wegen Corona, und das obwohl oder weil er dreifach geimpft war? Stellt er sich diese Frage überhaupt? Jedenfalls zeigte dieses Beispiel besonders deutlich, dass man bei Corona im Gegensatz zu Masern oder Pocken nicht von einer Impfung im herkömmlichen Sinn sprechen kann. Denn bei einer Impfung wird man zu fast 100 Prozent gerade nicht krank, also wenn man als Kind gegen Masern geimpft ist, bekommt man keine Masern, eine Krankheit, die zumal im Globalen Süden häufig tödlich endet.

Und dann gibt es noch die wirklich scharfe Kritik am deutschen Gesundheitsminister von der Kassenärztlichen Vereinigung in Hessen, die womöglich für sehr viele Kassenärztlichen Vereinigungen spricht. Was dort in deren aktueller Broschüre über Karl Lauterbach zu lesen ist, kann für einen noch amtierenden Bundesgesundheitsminister gar nicht blamabler sein – immerhin wird er hier von denen kritisiert, die tatsächlich Menschen behandeln, die medizinische ExpertInnen sind. Was schreiben der Vorstandsvorsitzende und sein Stellvertreter der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen in deren Heft von Juni 2022?

Sicher, man kennt diesen Spruch nur zu gut: ‚Hinter her ist man immer schlauer.‘ Doch im Fall unseres aktuellen Bundesgesundheitsministers gilt dieser Satz nicht. Jede oder jeder, der sich ein bisschen mit der Materie auskennt, wusste, auf was es mit dieser Personalie hinauslaufen würde. Klar, Herr Prof. Lauterbach ist nicht  so fachfremd wie Herr Spahn und Herr Gröhe oder auch Frau Schmitt. Aber wer geglaubt hat, dass dieses Plus an Expertise die anderen absehbaren Probleme aufwiegen würde, sieht sich nun getäuscht. Wir wollen hier nicht beckmesserisch auftreten, aber dieses Scheitern – und anders kann man das leider nicht mehr einordnen – ist ein Scheitern mit jahrelanger Ansage. Lauterbach, der als skurriler Wissenschaftler mit vermeintlicher epidemiologischer Expertise seine Nische dank Corona gefunden zu haben schien, wäre wohl besser in selbiger geblieben. Es hatte wohl valide Gründe, warum sich der damals noch Bundeskanzler in spe so zierte, Herrn Lauterbach, den Bundesgesundheitsminister vieler Herzen, in dieses Amt zu berufen.

Eine schallende Ohrfeige für Klabauterbach.

Am 23. Juni 2022 hat die südafrikanische Regierung eine Erklärung zum offiziellen Ende der Corona-Pandemie in Südafrika publiziert. Alle verbliebenen Maßnahmen werden vollständig aufgehoben, darunter Masken in Innenräumen, Begrenzungen bei Versammlungen und jeglicher Testnachweis im Lande selbst wie auch bei der Einreise. Es ist also ein „historischer Tag“:

Today is a very historic day as we have reached a turning point since the outbreak of Covid-19 in the world and in the country.

In Österreich gilt nirgendwo mehr Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln – also in allen acht Flächenbundesländern ist diese irrationale Maßnahme aufgehoben, nur nicht in Wien. Man stelle sich das vor. Am Wochenende ist das große Donauinselfest in Wien mit Hunderttausenden Menschen, ohne jeden Abstand, ohne jede Maske.

Die gleichen Leute müssen dann mit der Maske in der U-Bahn, S-Bahn, dem Bus oder dem Zug bis zur Grenze nach Niederösterreich fahren, z.B. Richtung Baden, und nach der Grenze können sie den Lappen vor dem Gesicht wieder abnehmen. In Salzburg, Innsbruck, Graz oder Villach ist der Maskenwahn in Bussen, Bahnen oder Trams aufgehoben.

Deutschland ist noch viel irrationaler als Österreich. Hier dürfen zwar Zehntausende auf Rockfestivals ohne jeden Nachweis und ohne Maske, grölend, schreiend, kreischend, schwitzend, aber in Bussen und klimatisierten Zügen etc. gilt der Maskenwahn wie seit Ende April 2020.

Nochmal: Schweden hat weniger als halb soviele Extra-Toten, also Übersterblichkeit, in den Jahern 2020 und 2021, als Deutschland, 56 zu 116 pro 100.000 EinwohnerInnen.

Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum die Kassenärztliche Vereinigung in Hessen Lauterbach jegliche Qualifikation abspricht, ein Ministerium für Gesundheit zu leiten:

Was wir an InsiderInformationen aus dem BMG und seinem Umfeld hören, lässt schlimmste Befürchtungen wahr werden beziehungsweise übertrifft sie sogar noch: Strategie, Organisation, Idee – alles Fehlanzeige. Und wir sprechen hier wohlgemerkt von der Pandemie, nicht von sonstigen gesundheitspolitischen Planungen. Mittlerweile sitzt der Bund dem Vernehmen nach auf rund 70 Millionen Impfdosen, die auch noch bald ablaufen werden. Zeitgleich fantasiert der Minister nach dem grandiosen Scheitern der Impfpflicht davon, die Impfkampagne wiederbeleben zu wollen, und ignoriert damit erneut, dass das Potenzial an Impfungen in Deutschland wahrscheinlich ziemlich ausgeschöpft ist.

Österreich hat als eines der ersten Länder in der EU eine „nationale Strategie gegen Antisemitismus vorgelegt“, wie die Juristin, ehemalige Richterin und aktuelle EU- und Verfassungsministerin Österreichs Magistra Karoline Edtstadler jüngst im Fernsehen betonte.

Namentlich der muslimische, migrantische und postkoloniale, gegen Israel gerichtete antizionistische Antisemitismus sind für die Juden in Österreich eine große Gefahr. Das sagt die Ministerin in diesem Gespräch zwar nicht, aber sie weiß es bestimmt. Jüngst schrieb mich ein sich selbst als „links“ verstehender Coronapolitik-Kritiker an und meinte – ganz ohne Ironie oder Sarkasmus, der Typ scheint kein Satiriker zu sein, sondern ein vor antijüdischem Ressentiment triefender deutscher Aktivist:

Antisemitismus hat sich auch zu einem solchen Kampfbegriff entwickelt.

Der Mailschreiber meint ernsthaft, ohne jede weitere Einordnung oder eine luzide Kritik der Besatzungspolitik etc.,

dass der Staat Israel eine rechtlose und menschenunwürdige Politik gegenüber den Palästinensern betreibt.

Dass bei mehreren Coronapolitik kritischen Demonstrationen wie in Kassel Israelfahnen geschwenkt wurden, erwähnt er nicht. Aber insgesamt mag sein Ressentiment gegen Israel typisch sein für die Szene der Kritiker*innen der Coronapolitik. Was nicht heißt, dass im übergroßen Feld der Pro-Coronapolitik-Szene weniger Antisemitismus vorherrsche. Von wegen. Nehmen wir nur mal Claudia Roth, die eine vehemente Anhängerin der Coronamaßnahmen war und ist, und die Documenta in Kassel:

Für wen das Versprechen ‚Nie wieder Antisemitismus‘ keine wohlfeile Phrase ist, und davon ist bei der Bundesregierung ganz sicher auszugehen, der muss das Kulturstaatsministerium jemandem anvertrauen, der glaubhaft gegen Judenhass eintritt. Jemandem, der sein Amt mit Kompetenz und Würde ausübt. Claudia Roth hat mit ihrem Koschersiegel für die BDS-Ideologie weder das eine noch das andere an den Tag gelegt.

Eine wenig beachtete Frage ist übrigens, welchen Anteil die Vorgängerin von Claudia Roth (Grüne), Monika Grütters (CDU), als Kulturstaatsministerin für die Einladung an diese ganze Gruppe von indonesischen und sonstigen antisemitischen ‚Künstler*innen‘ hat … Immerhin wurde die Documenta mit exakt diesen ‚Künstler*innen‘ ja nicht erst seit einigen Monaten, sondern seit Jahren geplant und Claudia Roth hat ihre Stelle erst seit Dezember 2021. Eines der jetzt gezeigten antisemitischen Agitations-‚Kunstwerke‘ tingelt seit 2002 durch die Welt der Antisemitischen Internationale. Hat das niemand gemerkt, wenn man die Namen der ‚Künstler*innen‘ recherchiert im Vorfeld der Einladung zur angeblich wichtigsten Kunstaustellung alle fünf Jahre in der hessischen Provinz?

Die Jüdische Allgemeine wiederum ist auch eine Anhängerin der Coronamaßnahmen und feiert zudem Selenskyi…

Jedenfalls vertritt der E-Mail-Schreiber, der mir schrieb, im Kern die gleichen antiisraelischen Ressentiments wie wir sie jetzt auf der Documenta 15 in Kassel erleben, nur drückt er es etwas anders aus, sein Tonfall ist aber der gleiche wie der in Kassel. Denn eine luzide linkszionistische Kritik hört sich anders an. Aus ihm sprudelt aber das Ressentiment.

Der Kern des palästinensisch-israelischen Konflikts ist die Weigerung der Palästinenser, Israel anzuerkennern. Das ist seit 1947 und schon zuvor der Kern. Davon unabhängig hat auch Israel viele politische Fehler gemacht, über die ich regelmäßig berichte – aber aus linkszionistischer Position heraus.

Schließlich kommt der Klassiker, den alle Antisemiten drauf haben. Der Briefschreiber sendete mir also auch Folgendes:

Ich habe nichts gegen Juden, im Gegenteil ich bewundere deren Zielstrebigkeit, deren Intellekt, Geschäftstüchtigkeit und Humor.

Diese geradezu seinsontologische, philosemitische Tirade gegen Juden als Menschen, die ganz vielfältig, arm, reich, dumm, klug sind, wie alle Menschen, diese Verteidigungsrede nach dem Motto „Ich hasse Israel, aber liebe die Juden“, hätte auch von Judith Butler und einer Phalanx antizionistischer Juden kommen können.

Der Briefeschreiber sendet mir also: ‚Der‘ Jude an und für sich habe also z.B. „Humor“, „Zielstrebigkeit“, sogar „Intellekt“ und natürlich „Geschäftstüchtigkeit“. So denken Antisemiten.

Antisemitismus sei ein „Kampfbegriff“, um Kritik an Israel oder Juden abzuwehren. Er preist dann noch typische Coronapolitik kritische Portale an wie „NachDenkSeiten“, „Rubikon“ oder „Gunnar Kaiser“. Deren jeweils antisemitische oder/und neu-rechte Ideologie hatte ich bereits im Jänner 2021 in einem Working Paper – Antisemitismus im Zeitalter von Corona – des Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA) decodiert und kritisiert.

Soviel antizionistisches Ressentiment gekoppelt mit philosemitischem Antisemitismus wie in dieser Zuschrift, die ganz typisch ist für unendlich viele Protagonist*innen in Deutschland, nicht nur in der Anti-Coronapolitik-Szene, sind ein Zeichen für politische Unkultur in Österreich oder Deutschland. Die Zuschrift zeigt, wie tief antisemitische Ressentiments sitzen, einerseites im regelrechten Hass auf Israel und andererseits im Betonen der ach-so-schönen Seiten der Juden, ihrem Geist oder Humor, über den die Nicht-Juden vorgeblich so gerne lachen. Soviel Ungebildetheit, soviel Stereotype zeigen an, wie wenig die 68er bezüglich der Kritik am Antisemitismus gebracht haben, wobei solch philosemitischer Antisemitismus auch von ganz rechts kommen kann, denken wir an Thilo Sarrazin und sein Lob für die „jüdische Intelligenz“, die gar vererbbar sei.

Kritik am heutigen Antisemitismus in Österreich oder Deutschland ist von herausragender Dringlichkeit. Dabei muss man klare Kategorien haben, wie man Antisemitismus erkennt. BDS und die Ablehnung jüdischer Souveränität im jüdischen Staat Israel ist die gefährlichste Form des heutigen Antisemitismus. Die ach-so-deutsche oder auch österreichische Vorliebe – gerade nach der Shoah – für jüdischen Humor oder Intellekt ist nur die Kehrseite derer, die gegen „den“ Juden in den Krieg zogen. Wieder andere lehnen die Beschneidung ab und insinuieren wie andere Antisemiten, dass Juden Kinder misshandeln würden. Es gibt noch unzählige weitere Formen des heutigen Antisemitismus. Es ist gut, wenn die österreichische Bundesregierung sich jetzt stark der Kritik des Antisemitismus widmet und so unsinnige wie für die Demokratie gefährliche Vorhaben wie eine Impfpflicht gegen Corona beendet.

Dazu sollten die österreichische wie die deutsche Bundesregierung antidemokratische und irrationale Maßnahmen wie eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln oder in Räumen, sowie natürlich die besonders antidemokratische 2G-Regel und alle anderen „Maßnahmen“ für alle Zeiten ad acta legen.

Der „historische Tag“ Südafrikas, die gestrige Verkündigung des Endes aller Corona-Maßnahmen, sollte auch Deutschland oder Österreich ein Vorbild sein.

Der Antisemitismus hingegen wird da bleiben. Wir können versuchen ihn einzuhegen, ihn öffentlich zu bekämpfen, aber tief drinnen in den ach-so-linken, rechten, mainstreamigen, deutschen wie österreichischen Herzen sind diese antiisraelischen wie auch philosemitisch-antisemitischen Ressentiments jederzeit abrufbar.

Der Unterschied ums Ganze zur Zeit vor 1948 liegt darin, dass es jetzt Israel gibt, das jederzeit und für alle Zeit ein sicherer Ort ist für Juden, auch für die Juden Österreichs oder Deutschlands.

 

Hoffnung vom „State of Tel Aviv“: Die Zukunft Israels zwischen Mansour Abbas, Ze’ev Jabotinsky, zionistischen „Militaristen“ und „Vegetariern“ (1923-2022 ff.)…

Von Dr. phil. Clemens Heni, 19. Juni 2022 [Update 20.06]

Der Antisemitismus in Amerika, Deutschland, Österreich und Europa wird seit Jahren bedrohlicher und offener. Gleichzeitig ist Israel als jüdischer Staat im Nahen Osten und weltweit so akzeptiert wie noch nie in seiner Geschichte seit 1948. Der Abraham-Vertrag vom 13. August 2020 mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und in dessen Folge diplomatische Annäherungen und Verträge mit Marokko, Bahrain wie auch dem Sudan sind historisch und zeigen: die arabische Welt beginnt, Israel als jüdischen Staat und Teil des Nahen Ostens zu akzeptieren.

Doch paradoxerweise ist womöglich gerade deshalb eine Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts derzeit so weit weg wie lange nicht mehr. Das liegt am Antizionismus der Palästinensischen Autonomiebehörde und am Islamismus von Hamas und anderen Gruppen. Das liegt aber auch an extrem rechten Tendenzen in Israel, der Drohung der Annexion von Teilen oder der ganzen Westbank. Symbolisch dafür mag das Projekt „E1“ unweit von Ma’ale Adumin stehen.

Ein Text der israelischen Politologin und ehemaligen Knesset-Abgeordneten Einat Wilf im neuen Portal „The State of Tel Aviv“ vom 17. Juni 2022 versprüht hingegen Hoffnung. Und diese Hoffnung kommt – nächste Paradoxie – von einem Islamisten und religiösen Konservativen der Ra’am Partei, Mansour Abbas.

Mansour Abbas ist der erste arabisch-israelische Politiker, der in eine Regierung in Israel eintrat. Das war im Sommer 2021. Auch wenn aktuell die Acht-Parteien-Koalition von rechts bis links am Zerbröseln ist: dieser Regierungseintritt von Mansour Abbas ist historisch. Er zeigt die Akzeptanz Israels durch arabische Israelis. Das hatte es seit 1948 noch nicht gegeben. Wie die Ultraorthodoxen, die den Zionismus ablehnen, hatten sich bislang die Araber in Israel jeglicher Regierungsbeteiligung enthalten und wurden auch von den anderen israelischen Parteien geschnitten.

Doch dann kam Mansour Abbas. Die Publizistin Einat Wilf schreibt in „The State of Tel Aviv“:

Abbas represents a radical break with decades of Israeli-Arab refusal to join an Israeli government coalition. Yet, his party is also loyal to the Muslim Brotherhood, which is the parent movement of Hamas and other sworn enemies of Israel.

Das hört sich auf den ersten Blick absurd an. Ein Unterstützer der Muslimbruderschaft, die seit ihrer Gründung im Jahr 1928 durch Hassan al-Banna Juden und den Zionismus bekämpft und mit den Nazis kooperierte – wie al-Banna -, unterstützt explizit den jüdischen Staat Israel. Im Dezember 2021 sagte Mansour Abbas, dass er Israel als „jüdischen Staat“ akzeptiere. Doch für Einat Wilf ist Mansour Abbas exakt das, was dem Zionismus vorschwebte! Juden und Araber in einem Staat, aber – und das ist absolut entscheidend – mit einer jüdischen Mehrheit, kein binationaler Staat und keine Einstaatenlösung mit einer palästinensischen Bevölkerungsmehrheit.

Wilf schreibt:

Abbas was bold enough to raise the ante yet again when he stated clearly in December 2021 that: ‚Israel was born as a Jewish state. It was born that way and that’s how it will remain… the question is how we integrate Arab society into it.‘

Such unqualified acceptance of Israel by an Arab political leader is unprecedented.

Der religiöse Muslim Abbas ist hier fortschrittlicher und aufgeklärter als weite Teile der deutschen und internationalen links-liberalen intellektuellen Szene in jüdischen Studien oder im Bereich der etablierten (zumal deutschen) Antisemitismusforschung, wo BDS und postkolonialer Antisemitismus der letzte Schrei sind.

Einat Wilf geht so weit und analysiert, dass Mansour Abbas den Kern des Zionismus in Bezug auf die arabische Situation auf den Punkt bringe. Gleiche Rechte für alle israelischen Bürgerinnen und Bürger – Juden und Araber, Atheisten, Christen und Muslime und alle anderen. Dazu geht die Tel Aviver Politologin, die ich vor einigen Jahren in Tel Aviv besuchte (wir sind zufällig beide Jahrgang 1970), auf den großen konservativen zionistischen Denker Ze’ev Jabotinsky ein. Jabotinsky, wurde 1880 im russischen Odessa geboren und starb 1940 im US-Bundesstaat New York. Er ist in Israel wohl neben Theodor Herzl und David Ben-Gurion die bekannteste und verehrteste, aber eine umstrittene zionistische Persönlichkeit. Wilf geht auf einen legendären Text von Jabotinsky aus dem Jahr 1923 ein: „The Iron Wall“. Eine „Eiserne Wand“ solle die Juden vor den Arabern beschützen, damit sie ihren Staat aufbauen können. Diese „Eiserne Wand“ waren die Briten. 1918 kämpfte Jabotinsky mit der jüdischen Legion gegen Truppen des Osmanischen Reiches im Jordantal unweit von Jerusalem.

Interessant ist nun, dass eine eher linke Publizistin wie Einat Wilf den sehr konservativen und anti-sozialistischen Ze’ev Jabotinsky als Vordenker einer jüdisch-arabischen Gemeinsamkeit israelischer Staatsbürger*innen wieder liest. Das Leben ist voller Widersprüche, die sich mitunter doch auflösen oder etwas Neues entwickeln – oder aber man muss sie eben aushalten, wie es in einer Demokratie Heterogenität geben muss, wenn sie eine Demokratie sein möchte. Jabotinsky forderte in seinem knappen Pamphlet von 1923 „Iron Wall“ nichts weniger als Gewalt und Stärke, da ein freiwilliges Abkommen mit den Arabern unrealistisch, ja naiv sei.

Jabotinsky beschwört die zionistische Einheit, obwohl ihm klar ist, wie heftig umstritten sein militanter Vorschlag im Jahr 1923 war:

In this matter there is no difference between our ‚militarists‘ and our ‚vegetarians‘. Except that the first prefer that the iron wall should consist of Jewish soldiers, and the others are content that they should be British.

Jabotinsky und sein „revsionistischer Zionismus“ sind die Vorläufer des heutigen Likud und von Benjamin Netanyahu. Doch ganz im Gegensatz zu Netanyahu kokettiert Wilf gerade nicht mit einer Annexion der Westbank, sondern will nur vier Prozent der Westbank, auf der ein Großteil der jüdischen Siedlungen stehen, Israel zuschlagen und alle anderen Siedler sollen keinerlei Unterstützung mehr vom Staat Israel bekommen oder eben Bürger eines zukünftigen Staates Palästina werden, so wie es ja auch 20 Prozent Araber in Israel gibt.

Wie lange muss Israel noch eine harte Politik fortführen?, fragt Wilf:

Israel is closer today than it has ever been in its history to realizing the goal of full acceptance in a predominantly Arab and Islamic region. The Abraham Accords present a compelling alternative Arab-Muslim narrative, one that embraces the Jewish state as an integral part of the region rather than a foreign implant.

Similarly, Mansour Abbas has given political voice to the Arab citizens of Israel who seek true integration into the Jewish state. Those are the Arab citizens who are volunteering in increasing numbers to serve in Israel’s Defense Forces. Those are the Arab citizens who defend Israel in diplomatic forums and on social media against its detractors.

These developments reflect very real achievements of Jabotinsky’s Iron Wall. Many Arab Israelis do not seek the country’s destruction. They support and participate in its success.

But these achievements remain fragile. Abbas’ political rival among Israel’s Arab political leaders, Ayman Odeh, leader of the Joint List (an alignment of Arab parties), recently told young Israeli-Arabs not to join the ‚occupation forces.‘ Odeh described Abbas’ conduct as being ‚insulting and humiliating‘ and called on those who already serve in the security forces to ‚throw the weapons in their (the Israelis’) face and tell them that our place is not with you.‘

Odeh represents a substantial number of Israel’s Arab citizens, if not its majority. This complex situation is best summed up by Abbas himself who, criticizing his colleagues, called on them ‚to not look at the half-empty cup but at what we have achieved so far.‘

Sprich: Abschreckung und militärische Stärke wirken. Die Frage ist nur: Was hat das mit den Palästinensern, zu denen Israel ja am härtesten ist, zu tun? Ist die Kooperation mit arabischen Staaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten nur auf der gemeinsamen Feindschaft gegenüber dem Iran gegründet? Oder ist es zudem die Erkenntnis, dass Israel militärisch und ökonomisch zu stark ist, um ignoriert zu werden, ja dass es für viele arabische Staaten ein westlicher Kooperationspartner ist?

Es gibt nun entgegen dem Abraham-Vertrag innerhalb der großen arabischen Minderheit in Israel zwar weiterhin starke Kräfte, die gegen Israel als jüdischen Staat sind, aber durch Mansour Abbas tritt jetzt erstmals ein Politiker aus deren Kreisen lautstark in der Politik für eine Anerkennung Israels als jüdischer Staat ein.

Und doch ist die Sache noch komplizierter, denn gerade die Abraham Verträge von 2020 zeigen zudem eine starke Abkehr der arabischen Welt von den Palästinensern. Darauf hatte „State of Tel Aviv“ vor wenigen Wochen hingewiesen:

Israel bekommt erstmals offizielle Anerkennung von gleich mehreren arabischen Staaten, von denen so etwas in den letzten Jahrzehnten nicht zu erwarten war. Das ist ein riesiger außenpolitischer Erfolg. Aber zu welchem Preis? Die Palästinenser sind einfach kein Thema mehr, auch nicht für die Araber, wie der Journalist der größten israelischen Nachrichtenseite Ynet News Attila Somfalvi festhält:

Israel’s diplomatic successes have not had any effect on the unresolved issues between Israel and the Palestinians, nor on the sense of neglect that many Israeli Arabs may feel.

Prof. Youssef Masharawi, chairman of the steering committee to integrate Arab students at Tel Aviv University, challenges what he sees as an Israeli approach that deliberately ignores the Palestinian issue, and warns about the fire that is smoldering beneath the surface.

‚In the Arab community there’s a sense of ‘trust-but-verify’ vis-à-vis the Abraham Accords,‘ he says. ‚They’re always trying to put the real story, the harsh, human story of the occupation, to the side. And it blows up every year before Ramadan. It’s been a whole year of suffering and hopelessness, of people getting shot to death in the street. Why do they think they can sweep it under the rug and hide it?‘

Kobi Michael, an expert on the Palestinians and a senior research fellow at the Institute for National Security Studies at Tel Aviv University, has studied the deterioration of the diplomatic status of the Palestinians in recent years.

Palestinian leadership, he notes, has adhered rigidly to its refusal to acknowledge any normalization of relations between Israel and the Arab world, and sees such developments as a threat to Palestinian national and strategic interests.

Arab leaders, however, had made their own calculation: They see Israel as a critically important ally. And the obstructionist Palestinian approach has worn out everyone.

Ohne ein Abkommen mit den Palästinensern, ohne einen zivilen, entmilitarisierten Staat Palästina wird Israel keinen Frieden bekommen. Dass es seit Jahren einen Stillstand im palästinensisch-israelischen Konflikt gibt, mit regelmäßigen Terrorwellen, das liegt eben nicht nur an den Palästinensern, die zwischen Korruption und Jihad hin und her schwanken, wie Somfalvi festhält. Nein, das liegt auch an der israelischen Politik, die sich dem Siedler-Nationalismus und dem religiös-nationalistischen Diskurs anschmiegt und ihn mitbestimmt, anstatt ihn zu bekämpfen.

Überspitzt ausgedrückt: neben der iranischen Gefahr ist Israel aktuell vor allem durch interne Konflikte bedroht, die BDS-Bewegung ist hingegen für Juden in der Diaspora eine sehr große Gefahr. Eine große Hoffnung für Israel liegt in Mansour Abbas, während der (Noch-)Oppositionspolitiker Benjamin Netanyahu und sein ganzes rechtes Umfeld – weite Teile der jüdisch-israelischen Gesellschaft – nach Einschätzung von Kritiker*innen in Israel eine sehr große Gefahr für Israel als demokratischer und jüdischer Staat darstellen.

Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach gestern auf der Eröffnung der Documenta in Kassel, er erzählte von seinen Eindrücken einer kürzlichen Reise nach Indonesien, dem unendlich vielen Müll, den der deutsche, europäische und westliche Kapitalismus dorthin verschifft, über die Klimakastrophe, die Hitze, die Armut und den Erfindungsreichtumg der Slumbewohner*innen, und sagte aber vor allem bezüglich der von der neunköpfigen indonesischen Gruppe Ruangrupa, welche die 15. Documenta kuratieren, zu verantwortenden antiisraelischen Stimmung:

Ich will offen sein: Ich war mir in den vergangenen Wochen nicht sicher, ob ich heute hier bei Ihnen sein würde. (…)

Ich habe die Diskussion im Vorfeld der jetzigen documenta sehr genau verfolgt, über das was wir an Kunst zu erwarten haben, aber auch über manchen gedankenlosen, leichtfertigen Umgang mit dem Staat Israel. Denn so nachvollziehbar manche Kritik an der israelischen Politik, etwa dem Siedlungsbau, ist: Die Anerkennung der israelischen Staatlichkeit ist die Anerkennung der Würde und Sicherheit der modernen jüdischen Gemeinschaft. Die Anerkennung ihrer Existenzgewissheit. Als deutscher Bundespräsident halte ich für mein Land fest: Die Anerkennung Israels ist bei uns Grundlage und Voraussetzung der Debatte!

(…) Ein Boykott Israels kommt einer Existenzverweigerung gleich. Wenn unabhängige Köpfe aus Israel unter ein Kontaktverbot gestellt werden; wenn sie verbannt werden aus der Begegnung und dem Diskurs einer kulturellen Weltgemeinschaft, die sich ansonsten Offenheit und Vorurteilsfreiheit zugutehält; dann ist das mehr als bloße Ignoranz. Wo das systematisch geschieht, ist es eine Strategie der Ausgrenzung und Stigmatisierung, die dann auch von Judenfeindschaft nicht zu trennen ist.

Der Kampf gegen Antisemitismus muss sich also mit dem postkolonialen Antizionismus der Documenta in Kassel oder dem unverhohlenen Antisemitismus, der Erinnerungsabwehr an das Präzedenzlose von Auschwitz auf einer Konferenz im Haus der Kulturen der Welt in Berlin widmen, an der unter anderem das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin (ZfA) beteiligt war, was aufgrund der langen Geschichte der Verharmlosung des Antisemitismus an diesem Institut seit der Zeit von Wolfgang Benz, nicht verwundert. Ich habe zum Beispiel auf einem Vortrag in Jerusalem beim World Jewish Congress, als ich mein Buch „Antisemitism: A Specific Phenomenon“ im Mai 2013 vorstellte, unter anderem Benz und das ZfA kritisiert.

Der Beifall für antisemitische Invektiven auf dieser Konferenz vor wenigen Tagen in Berlin im Haus der Kulturen der Welt ist schockierend, wie der polnisch-kanadisch-jüdische Holocausthistoriker Jan Grabowski in einem Interview mit der Welt am 15. Juni 2022 berichtet:

Grabowski: Ich befinde mich in der privilegierten Situation, die kanadische Staatsbürgerschaft zu besitzen. Doch: Wenn ich mir an einem sonnigen Samstagnachmittag in Berlin anhören muss, wie der Holocaust zum ‚jüdischen Psychodrama‘ heruntergespielt wird, während Deutsche dem zujubeln, dann muss ich sagen: Für mich ist das tödlicher Ernst. Der Antisemitismus ist auf dem Vormarsch, und er kann gleichermaßen befeuert und beschworen werden durch die rechtspopulistischen Regierungen in Osteuropa wie durch den Nahostkonflikt.

Und weil das alles noch nicht komplex genug zu sein scheint, ist im kleinen Beraterkreis von „State of Tel Aviv“ ausgerechnet der rechtszionistische Publizist Yoram Hazony vertreten, der kürzlich auf einer skandalösen, homophoben Veranstaltung des Tikvah Funds und der Jewish Leaderhip Conference in New York City mit dem Hauptredner und Gouverneur von Forida, Ron DeSantis, auftrat. Auch die bekannte Wissenschaftlerin und Publizistin Ruth Wisse trat dort auf, wie auch der viel jüngere Liel Leibowitz vom Tablet Magazine, der 2014 bei einem Vortrag von mir über „Critical Theory and Zionism“ als Zuhörer in Manhattan dabei war, aber meiner Betonung, dass Adorno, Horkheimer, Löwenthal und Marcuse, also die Hauptvertreter der Kritischen Theorie, unterm Strich (und im Gegensatz zu Erich Fromm) sehr wohl pro-israelisch und zionistisch waren, nicht recht folgen mochte. Linke und Marxisten für Israel? Das kann nur ein böses Gerücht sein…

Dr. Clemens Heni- “Critical Theory and Zionism”

Die New York Jewish Week hat den homophoben, antifeministischen und extrem rechten Auftritt des Trump-Anhängers Ron DeSantis scharf kritisiert:

Outside the venue, several dozen demonstrators from progressive groups, including members of Jews for Economic & Racial Justice, protested his appearance. Chelsea Piers also faced backlash from politicians and activists who denounced the venue for allowing DeSantis to speak there.

Rich Ferraro, a spokesman for LGBTQ advocacy group GLAAD, told the New York Times that the organization would ‚refrain from future events‚ at the venue. The Ali Forney Center, which works with homeless LGBTQ youth in New York, also canceled a program at the venue next month.

In a statement released on Friday, the venue said that it ‚could not disagree more strongly with many of Ron DeSantis’ actions in office.‘

‚Pier Sixty will direct every dollar it receives from Tikvah to groups that protect LGBTQ+ communities and foster and amplify productive debates about LGBTQ+ issues,‘ the statement said.

Protesters noted that DeSantis was speaking in New York during Pride Month and on the six-year anniversary of the shooting at Pulse, a gay club in Orlando, in which 49 people were murdered.

Joseph Kleinplatz, a protester who referred to the Florida governor as ‚DeSatan,‘ told the New York Jewish Week that it’s ‚wrong‘ to have him in the city. ‚The Jewish religion is not about hate,‘ he said.

 

Kehren wir zurück zum „State of Tel Aviv“. Das Projekt „State of Tel Aviv“ wurde im Mai 2022 von der ehemaligen kanadischen Botschafterin in Israel Vivian Bercovici ins Leben gerufen. Bercovici ist die Tochter von Holocaustüberlebenden, das Grab ihrer Oma, die 1969 starb, befindet sich nördlich von Afula und sie schreibt, wie stolz ihre Großmutter wäre, wüsste sie, dass jetzt Vivian in Israel lebt, forscht und schreibt und der zionistische Traum weitergeht.

Bercovici beschreibt ihre Zeit als Botschafterin sehr persönlich. Sie ist im Gegensatz zu den meisten anderen Diplomat*innen keine Karriere-Botschafterin gewesen. Sie wurde aus politischen Gründen vom damaligen kanadischen Premierminister Stephen Harper ernannt. Auf einem ganz typischen Dinner-Empfang in Israel erlebte sie den krassen und so typischen Antisemitismus der sonstigen nicht-jüdischen Botschafter, die ihr zum Beispiel unloyales Verhalten gegenüber Kanada vorwerfen und so weiter und so fort.

Ich wurde einfach so von „The State of Tel Aviv“ im Mai 2022 in deren Mailingliste aufgenommen, das ist womöglich der Vorteil, wenn man ein auch englischsprachiges Forschungsinstitut hat – The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA) –

und dazu seit 2013 einen Blog bei einer der größten pro-israelischen bzw. jüdischen Blogger-Communities, der Times of Israel (TOI), betreibt. Jedenfalls ist „State of Tel Aviv“ ein ganz herausragendes Projekt, dem man viel Erfolg wünschen kann. Eine vielfältige Debatte über die Zukunft des jüdischen und demokratischen Staates Israel ist exakt das, was wir heute brauchen. Ergänzt wird das durch den fortdauernden Kampf gegen den Antisemitismus, gegen BDS, gegen das palästinensische „Rückkehrrecht“, das keine „Rückkehr“ ist, sondern die Drohung Israel zu zerstören, und ein Kampf gegen Holocaustverharmlosung, gegen den Antijudaismus wie die Ablehung der Brit Mila auch in pro-israelischen, nicht-jüdischen Kreisen, der sehr wichtige wissenschaftliche und publizistische Einsatz gegen antisemitische Verschwörungsymthen und vieles mehr.

Das dialektische Moment der aktuellen Situation für Israel und die Juden besteht darin, die riesigen Erfolge wie die Anerkennung durch substantielle Teile der arabischen Welt, und die gleichzeitige extrem rechte Politik von weiten Teilen der Israelsolidarität – wie von Typen vom Schlage DeSantis‘ – in eine geradezu synthetische Gemeinsamkeit von zionistischer Politik und dem Kampf gegen Antisemitismus zu bringen. Man kann aber nicht gegen Antisemitismus sein und Homophobie säen, wie es DeSantis tut. Das ist ein  Widerspruch in sich. Man kann nicht gegen Abtreibung sein wie DeSantis und zugleich so tun, als ob man gegen Antisemitismus sich einsetzen würde. Das ist pure Heuchelei. Jetzt hat eine Synagogen-Gemeinde in Florida die Regierung in Tallahassee verklagt, weil DeSantis Abtreibung nach der 15. Woche für strafbar erklären will.

Doch in Israel geht es nicht weniger widerspruchsvoll zu. Pointiert gesagt: Mit Mansour Abbas und einem sehr konservativen religiösen Muslim und zuglich mit dem zionistischen Juden Ze’ev Jabotinks gegen Netanyahu und die rechten Israelfreunde in der Diaspora. Denn Netanyahu lässt keinen Tag verstreichen, wo er Mansour Abbas nicht diffamiert und Unwahrheiten über ihn verbreitet.

Die aktuelle Acht-Parteien-Regierung mit Mansour Abbas als historischem Beispiel der arabischen Anerkennung Israels als jüdischer Staat, ist in starker Bedrängnis und kurz vor dem Kollaps. Der Publizist Yossi Klein-Halevi, ein Senior Fellow beim Shalom Hartman Institute, wo er zusammen mit Imam Abdullah Antepli der Duke University und Maital Friedman die „Muslim Leadership Initiative (MLI)“ betreibt, ein so eloquenter und scharfer Redner wie Yossi Klein-Halevi, der im akademischen Jahr 2008/09 bei unserer Yale Initiative for Interdisciplinary Study of Antisemitism (YIISA) der Yale Univeristy sprach, hat am 12. Juni 2022 ein düsteres Bild der aktuellen Situation gemalt. Und dennoch gibt es Hoffnung, die für ihn wie für Einat Wilf, Vivian Bercovici und „State of Tel Aviv“ in der Person Mansour Abbas, mit all den konservativen, religiösen Implikationen, inkarniert ist:

For years we Jews have rightly insisted that the core of the Palestinian-Israeli conflict is the refusal of Palestinian leaders (including Palestinian citizens of Israel) to come to terms with our indigenousness in this land. Abbas delivered; yet many Israeli Jews, especially on the right, have dismissed his outreach or ignored it altogether.

Abbas, whose Islamist Ra’am party has roots in the Islamic Brotherhood and was once close to Hamas, is the least likely candidate for the role of national healer. But this government has proven that when Jews truly own Israel’s democratic identity and treat Arabs as equal players, an opening is created for Arab acceptance of Israel’s Jewish identity. That dynamic will be a long and slow process; much of Abbas’s party has followed him only reluctantly. But Abbas, who is denounced by Hamas as a traitor and is the target of death threats, has taken a step from which there is no turning back.

Klein-Halevi resümiert:

Netanyahu once promised to bring to Israel the ‚can-do‘ spirit of American efficiency and creativity. Now, though, he has brought us the dysfunctional America of fake news and political hatred.

Israel is divided by two visions. But that divide, it turns out, doesn’t run between religious and secular, left and right, or even Arab and Jew. Instead, the divide is between the camp that is committed to the hard and frustrating work of strengthening our common identity, and the camp that relentlessly pries open our schisms and wounds, the multiple ethnic and ideological fault lines that threaten our fragile cohesiveness. One is a coalition of healing; the other, a coalition of hurban, national ruin.

Given the alternative that awaits us if Netanyahu returns to power, it is frankly unbearable to watch the government’s unraveling, the ease with which renegade MKs defect to the opposition or attempt to hold the coalition for ransom. But however this government ends, its vision of an Israel striving for its highest aspirations will remain as an option. For that too, this government deserves our blessing of dayenu.

 

Update 20.06.2022:

Im Spiegel gibt es einen treffenden Kommentar von Ulrike Knöfel zur Rede Steinmeiers in Kassel, sein Nicht-Attackieren von BDS und sein Bezug zu Beuys mögen dabei hervorstechen. Der Spiegel schreibt:

Steinmeier erwähnt also den Streit und landet dann ausgerechnet beim früheren Documenta-Star Joseph Beuys, der sagen würde, alles sei Kunst. Und auch wenn Steinmeier klarmacht, dass die Kunstfreiheit seiner Meinung nach sehr wohl Grenzen hat. Allein die bloße Nennung dieses Künstlers in diesem Zusammenhang lässt einen aufschrecken.

Warum das so ist? Beuys ist längst kein Synonym mehr für einen besonders freiheitsliebenden, weltoffenen und integren Künstler. Vielmehr steht er für eine rechte Schlagseite der Kunst. Schließlich war er ein Mann, der sich mit etlichen Alt-Nazis umgab, sie als seine Entourage auch mit zur Documenta brachte. Dem ehemaligen Nazifunktionär Werner Georg Haverbeck – seine Witwe ist die verurteilte Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck – verschaffte er sogar einen eigenen Redeauftritt auf der Documenta 1977, der Mann sprach da zur »Neuorientierung der Entwicklung unserer Zivilisation«.

Zweites Update:

Wie ich gestern befürchtete, ist es heute passiert: die vielfältige Acht-Parteien-Koaliton in Israel ist am Ende. Es wird Neuwahlen geben. Bis dahin wird Lapid Interimsministerpräsident.

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