Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Esther Dischereit

Auschwitz und andere Gemeinheiten. Carolin Emcke ist gegen „Hass“ und bekommt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

 

Die Publizistin Carolin Emcke schreibt in ihrem Buch „Gegen den Hass“, das 2016 auf den kulturindustriellen Markt geworfen wurde (Frankfurt a.M.: S. Fischer):

„Das Thema des Zugangs zu Toiletten für Transpersonen ist jüngst vor allem in den USA kontrovers diskutiert worden.“ (S. 158)

Es ist ein Buch über Hass hier und dort, und für Emcke führt die Diskriminierung von „Transpersonen“ ohne Umschweife zu allen möglichen Formen von „Hass“.

Nehmen wir Auschwitz als Beispiel, denn mehr als ein Beispiel ist es kaum. Immerhin nimmt sie EinwanderInnen in die Pflicht, sich auch mit den nicht so tollen Kapiteln eines Landes zu befassen (S. 203) – aber bitte einfühlend, sie hat schließlich Michel Foucault, Judith Butler und Axel Honneth gelesen (siehe Anmerkungen, S. 220–240), die immer wieder herbeizitiert werden. Emcke postuliert:

„Für das Erinnern an Auschwitz gibt es keine Halbwertszeit“. (S. 203)

Puuh, das ging nochmal gut. Der Holocaust war offenbar doch kein chemisches Experiment. Weiter schreibt die Preisträgerin:

„Es wird deswegen nötig sein, mit modernen didaktischen Methoden diese Geschichte als etwas zu erzählen, das sich mit neugieriger Einfühlung selbst aneignen lässt. Die vielen wunderbaren Beispiele aus den Programmen von Museen und Kultureinrichtungen zeigen längst, dass es möglich ist, auch Jüngere anzustiften, sich so kreativ wie ernsthaft mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.“ (S. 203)

„Wunderbare Beispiele aus den Programmen von Museen und Kultureinrichtungen“, die es ohne deutsche Vorarbeit gar nicht geben könnte, hätte an dieser Stelle der Publizist Eike Geisel festgehalten.

Bislang war es ja so gut wie unmöglich für junge Menschen, sich mit dem SS-Staat zu befassen, aber, endlich, dank „moderner didaktischer Methoden“ klappt das jetzt. Vor allem nicht so staubtrocken und nüchtern (wie z.B. ein Buch lesen), sondern mit „neugieriger Einfühlung“. „Frau Emcke, wie fühlt sich das an, einen Tag nackt im Schnee zu stehen und nicht umzufallen, im KZ?“ „Bekamen die danach wenigstens einen heißen Kakao?“ Sowas könnte man als Rollenspiel durchspielen, aber sicherlich einfühlend, nicht grob und unsensibel.

Oder: „Anstiften, hey, das klingt obercool“, denken sich ein paar Teenager, „lasst uns mal schauen, was wir Spannendes oder Schockierendes entdecken, bei den Juden geht immer was Krasses ab, eh“.

Oder sich „einfühlen“ in Anne Frank, der Klassiker schlechthin. „Sich einfach nicht alles gefallen lassen!“ „Tagebuch schreiben!“

Dass Anne Frank in Bergen-Belsen qualvoll starb und alles nur kein „Vorbild“ ist, geschenkt. Diese „Amerikanisierung“ des Holocaust (so der Kritiker Alvin Rosenfeld in „The End of the Holocaust“) ist längst eingermanisiert.

Ideologisierte AnhängerInnen der antisemitischen BDS-Kampagne drucken Anne Franks Bild als Ikone mit einem Palästinensertuch um den Hals und kämpfen so ausgestattet gegen „den“ Juden im Namen „der“ Juden gegen Rassismus und Israel und fügen Juden, Holocaustüberlebenden und ihren Nachfahren damit absichtlich Schmerzen zu, von der Verhöhnung Anne Franks und der Opfer der Shoah nicht zu schweigen.

Doch selbst und gerade die tollen neumodischen Konzepte, die Emcke vorschweben, sind das Problem. Die „Familiarisierung“, wie es die kritische Pädagogik nennt, promotet ein Einfühlen in die Geschichte Nazideutschlands und gerade der Holocaustopfer, suggeriert, „wir“ könnten so tun, als ob wir wüssten, was Auschwitz war und wie es sich „anfühlte“[1] und tut den Opfern somit ein zweites Mal Gewalt an. Die meisten der sich gutfühlenden Erinnerer merken das gar nicht.

Aber unterm Strich, und darauf kommt es ja an, ist Emcke glücklich und fröhlich:

„Mich beglücken die verschiedenen Rituale und Feste, Praktiken und Gewohnheiten. Ob Menschen sich in Spielmannszügen oder bei den ‚Wagner-Festspielen‘ in Bayreuth, ob sie sich im Stadion von FC Union Berlin oder bei ‚Pansy Presents…‘ im ‚Südblock‘ in Kreuzberg vergnügen, ob sie an die unbefleckte Empfängnis glauben oder an die Teilung des Roten Meeres, ob sie Kippa tragen oder eine Lederhose oder Drag – die gelebte und respektierte Vielfalt der Anderen schützt nicht nur deren Individualität, sondern auch meine eigene.“ (S. 195)

„Meine eigene“ – das passt, denn das Buch wirkt wie ein narzisstisches Bekenntnis. Sie sieht sich selbst als gleich doppeltes Opfer:

„Als Homosexuelle und als Publizistin gehöre ich gleich zu zweien der in diesem Kontext besonders verhassten gesellschaftlichen Gruppierungen.“ (S. 71)

So richtig und wichtig Ihre Kritik an Pegida oder AfD, an Homophobie, Rassismus und völkischem Nationalismus, an Antiintellektualismus, an Reinheit und Einheit ist, so völlig analyselos, eklektisch, additiv ist ihre Aufzählung der „Opfer“-Gruppen, was im ganzen Buch so rüberkommt, als ob sie es nur wegen sich selbst geschrieben habe.

Im Grunde analogisiert sie permanent und obsessiv Antisemitismus mit Homophobie, Rassismus und allerlei Diskriminierungen oder auch Hass. Sie verkennt den genozidalen Charakter des Antisemitismus und hat keinen Begriff davon. Keine andere Gruppe wird in aller Welt beschuldigt, an dieser oder jener Verschwörung beteiligt zu sein.

Die „Protokolle der Weisen von Zion“ inspirierten Deutsche und Hitler dazu, den Juden zu bekämpfen. Christen agitieren bis heute in nicht wenigen Kreisen, Juden hätten Jesus auf dem Gewissen. Arabische Antisemiten wie islamistische fantasieren, Israel und die Juden würden Wasser oder Bonbons vergiften und überhaupt hätten die Juden die Medien, das Kapital und die Regierungen in der Hand.

Ressentiments und Verschwörungsmythen, die nicht wenige Araber und alle Islamisten mit vielen FanatikerInnen in Deutschland bis weit in die Mitte der Gesellschaft teilen. Man denke nur an 9/11 und die diesbezüglichen Verschwörungsmythen, eine Kopplung aus Antiamerikanismus und Antisemitismus.

Juden stünden hinter dem Kapitalismus, dem Kommunismus, den Medien, der Moderne, der großstädtischen ausschweifenden Sexualität usw. usf.: keines dieser klassischen Topoi des Antisemitismus trifft auf Frauen, Homosexuelle, Flüchtlinge, Schwarze oder neue Nachbarn zu.

Die „lethal Obsession“ (Robert S. Wistrich) des Antisemitismus oder der „longest hatred“ (Robert S. Wistrich) zeigen einen obsessiven Hass, ein irrationales Ressentiment und gerade kein x-beliebiges Vorurteil oder eine x-beliebige „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ an. Der Antisemitismus kann sich in unendlich viele Facetten kleiden, wie die Geschichte seit der Antike gezeigt hat.

Aber auch die Abwehr der Erinnerung an die Shoah ist sehr spezifisch antisemitisch konnotiert und gerade nicht Ausdruck einer x-beliebigen „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“. Für die nationale Identität in Deutschland ist ein Trivialisieren der Shoah essentiell, wie das geschieht, ist variabel. Gleichsetzende „Vergleiche“ von Nationalsozialismus und Stalinismus oder Sozialismus (Rot=Braun)  sind derzeit beliebt („Schwarzbuch des Kommunismus“, „Prager Deklaration“), postkoloniale Ideologie ist ebenfalls en vogue („Von Windhuk nach Auschwitz“) und natürlich die Pegida-Agitation mit ihren Anleihen bei Goebbels und NSDAP-Propaganda, wie sie nicht zuletzt am 3. Oktober, dem „Tag der deutschen Einheit“ zu erleben war.

Sehr beliebt sind zudem die penetranten Vergleiche von Israel und den Nazis oder der Apartheid, typische Muster der Schuldabwehr und Schuldprojektion. Sodann nicht zu vergessen die Hinweise, welche perfiden britischen oder amerikanischen Bomber diese Brücke oder jenes Haus in Dresden, Hamburg oder Wien „zerstört“ haben und welche tapferen Deutschen oder Österreicher in einem neuen Kraftakt des „wir“ sie nach dem 8. Mai 1945 wieder aufbauten (oder sie als Mahnung gegen Krieg an und für sich stehen ließen, wie in Berlin die „Gedächtniskirche“).

Oder man denke an elaboriertere Theoreme wie jenes der bösen Moderne, die ein „Lager“ und das KZ nur die vollendete bürgerliche Gesellschaft sei, das seit Jahren Teil antisemitischer Trivialisierung der Shoah ist, hier vorgetragen vom italienischen Modephilosophen Giorgio Agamben.[2] All das kommt in „Gegen den Hass“ selbstredend nicht vor, weil das Decodieren subtilen Hasses oder antisemitischer Ressentiments Emckes Geschäft nicht ist.

Das angedeutete Spezifische des Antisemitismus kommt bei der Autorin nicht vor. Für sie sind die unterschiedlichsten Gruppen gleichermaßen, ohne kategorialen Unterschied, Opfer, sie wendet sich gegen Hass auf

die Juden, die Frauen, die Ungläubigen, die Schwarzen, die Lesben, die Geflüchteten, die Muslime oder auch die USA, die Politiker, der Westen, die Polizisten, die Medien, die Intellektuellen.“

Es ist diese Aufzählung, die das genozidale Ressentiment gegen die Juden – womit sie die vernichtungsantisemitische Pointe gegen den Juden treffsicher verpasst – mit Hass gegen die Frauen gleichsetzt; als ob ein Genozid an Frauen stattgefunden habe oder in Planung sei; ganz abgesehen davon, dass natürlich auch deutsche Frauen, oder auch ungarische, österreichische, litauische Antisemitinnen waren und auf andere Weise heute wieder oder noch sind. Wer Sexismus analysieren und bekämpfen möchte, kommt mit solchen undifferenzierten Analogien nicht weiter.

Mehr noch: Wenn Emcke schon ziemlich umfassend alle ihr in den Kopf kommenden Großgruppen, denen Hass begegnet, aufzählt, fehlen, das nur am Rande, einige Gruppen, neben Behinderten, Obdachlosen, frisch Um- oder Zugezogenen vor allem auch Hartz4-Empfänger oder Arme, Opfer des Kapitalismus.

Das mit den ‚frisch Um- oder Zugezogenen‘ („Etabliertenvorrechte“) ist nicht ironisch gemeint, nein, die sind ernsthaft Teil der sogenannten „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (GMF) und meinen auch ganz normale Deutsche, die – umziehen. Deshalb hätte auch der Erfinder des Wortungetüms „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, Wilhelm Heitmeyer, den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten müssen und nicht Carolin Emcke, das wäre ehrlicher gewesen.

Denn Emcke plappert nur nach, was Heitmeyer seit über 10 Jahren schon formuliert, und ein Kapitel in ihrem Buch heißt denn auch „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“. Um Nachfragen vorzubeugen: nein, auch der Verfasser dieses Textes ist nicht für „Menschenfeindlichkeit“, „gruppenbezogene“, wobei es gerade mit Blick auf den Deutschen schwer ist, jene nicht zu verspüren.

Auschwitz und die Shoah kommen in „Gegen den Hass“ im Kontext x-beliebiger „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ vor. Ein weiteres Beispiel ist der rassistische Mob gegen Flüchtlinge in Sachsen in Clausnitz, ein anderes Rassismus in USA. Hass auf alle möglichen Gruppen, eben auch Juden. Emcke schreibt explizit, nachdem sie „Antisemitismus“ erwähnte, „[n]och immer gibt es gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (S. 69), also war die Shoah auch eine.

In ihrer publizierten Dissertation spricht Emcke wie der des Deutschen nicht mächtige gewöhnliche Feuilletonredakteur von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, wo es doch „gegen die Menschheit“ heißen muss. Gegen die Menschlichkeit verstößt auch der ganz normale Kapitalismus der Deutschen Bank, oder jeder x-beliebige Vorstand einer Aktiengesellschaft, der Menschen als Ware betrachtet, wie es der Kapitalismus, das ökonomische a priori verlangt.

Der Holocaust hat damit gar nichts zu tun und ist ein Zivilisationsbruch gewesen, der nicht nur gegen die „Menschlichkeit“ gerichtet war, sondern gegen die Juden und die Menschheit.

Geradezu obsessiv verquickt Emcke Juden und Homosexuelle (also sich selbst), sie scheint Opfer sein zu wollen wie die Juden:

– „Es gab diesen diskreten, aber eindeutigen Vorwurf, nun sei doch seitens der Juden oder der Homosexuellen oder der Frauen auch mal etwas stille Zufriedenheit angebracht, schließlich würde ihnen so viel gestattet.“ (S. 13)

Man könnte meinen, Frauen seien Opfer einer Shoah geworden und würden nun so ressentimentgeladen attackiert werden wie Juden.

Weiter geht’s in Emckes Analogieamoklauf, dem friedfertigen, unblutigen und einfühlenden:

– „… das Geraune von einer ‚schwulen Lobby‘ oder jener Sorte Israel-Kritik, die mit einem ‚man wird ja wohl mal sagen dürfen‘ anhebt“ (S. 76)

– „…humorlos zu sein (gegenüber Feministinnen oder auch lesbischen Frauen gehört das zum Standardrepertoire), von der eigenen qualvollen Geschichte ‚profitieren‘ zu wollen (gegenüber Jüdinnen und Juden)“ (S. 102)

So als ob eines der antisemitischen Topoi nach dem Holocaust, die „Holocaustindustrie“, auch nur im Ansatz damit zu vergleichen sei, dass angeblich sehr häufig Feministinnen oder Lesben als humorlos bezeichnet würden. Was für ein additives, ohne jede Struktur mit Wörter herum fuchtelndes Gerede das ist.

Dann bringt sie besonders „surreale Beispiele“:

-„ …wenn an öffentlichen Schulen nur jüdische Feiertage gelten würden, wenn nur homosexuelle Paare Kinder adoptieren dürften …“ (S. 114)

Für Emcke ist Antisemitismus, auch der sekundäre, um den es hier geht (auch wenn sie das Wort nicht kennen sollte), nicht mehr als eine „abwertende Etikette“ und „strukturelle Missachtung“ (S. 102).

Diese völlige analytische Hilflosigkeit, die weder sozialpsychologische noch politisch-kulturelle oder ideologiekritische Analysemuster kennt, kommt gut an, weil sie „uns“ alle (solange „wir“ zu einer „diskriminierten“ Gruppe gehören) zu einem „wir“ der Opfer zusammen schmiedet, das ist der Tenor hierbei, der das ganze Buch  durchzieht.

Sodann folgt eine Analogie von Morden an Transgenderpersonen mit antisemitischen und rassistischen Morden (S. 156f.), und schließlich setzt Emcke am Beispiel des sog. Islamischen Staats dessen „Hass“ gegen Frauen, Juden und Homosexuelle auf eine Stufe (S. 169).

Jede Differenz wird hier geleugnet. Niemand strebt danach einen Staat der Homosexuellen zu zerstören, niemand agitiert weltweit gegen die Protokolle der Weisen der Transgenderpersonen. Die schrecklichen Diskriminierungen und der homophobe oder transphobe Hass sind schlimm und müssen bekämpft werden. Aber nicht indem man wie Heitmeyer oder Emcke das mit dem Konzept der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ macht, indem der einzige weltweite, genozidale Hass, der Antisemitismus (und Antizionismus) völlig als solcher derealisiert wird.

Probleme über die Benutzung von Toiletten von Transgenderpersonen müssen in der Gesellschaft diskutiert und gelöst werden. Aber das auch nur in einem Atemzug mit dem genozidalen Hass auf „den ewigen“ Juden zu vergleichen ist das Ende jeder Analyse.

Es gibt widerliche Hetze gegen Schwule und Lesben oder „Transen“, nicht nur online, auch und gerade offline. Aber das homophobe Geschwätz von einer „schwulen Lobby“ ist eben lächerlich und konsequenzlos verglichen mit der auf die Auslöschung von Millionen Juden gerichteten Hetze gegen die „Israellobby“ oder die „jüdische Lobby“. Wer das nicht kapiert, hat wirklich gar nichts kapiert von der Gefahr, die vom Antisemitismus ausgeht.

Mehr noch: auch das Gendern Emckes von Jüdinnen und Juden in der Shoah ist an Absurdität und Perfidität nicht zu überbieten. Hierzu hat die Autorin Esther Dischereit schon vor über 20 Jahren geschrieben:

„Ende der achtziger Jahre schließlich – noch vor Ausbruch der Pogrom’feierlichkeiten‘ – ich meine die explosionsartig ins öffentliche Bewußtsein drängende Etablierung einer Erinnerungs’kultur‘ – war ich zu Gast bei einer kleinen radikal feministischen Gruppe, die sich vorgenommen hatte, etwas von Frauen zu erfahren, die während des Nationalsozialismus im Widerstand aktiv waren. Die Frauen wollten sich auch mit dem KZ Ravensbrück beschäftigen. Im Verlauf des Gesprächs wurde als Motiv formuliert: Die Jüdinnen seien es, mit denen sie sich befassen wollten, denn daß sie als Frauen so behandelt worden seien, sei das, was sie empörte. Ich weiß noch, daß ich wegen der feministischen Trauerbedürfnisse aufstand und wegging. Mir gelang keine Begründung, weil ich stammelte und mir die Luft wegblieb. Mit war das ganze Ansinnen der Gruppe diskreditiert. Sollte die Asche in männlich und weiblich geteilt werden? (…) Das, was mich so sprachlos machte, war wohl die Rigidität und Erbarmungslosigkeit, mit der mir der Begriff vom Mensch-Sein ersetzt schien durch Frau-Sein. Gegenüber den Lebenden in der patriarchalen Gesellschaft hätte mich solche Übertreibung nicht weiter aufgeregt, vielleicht hätte ich sie für eine Zeitlang als notwendig angesehen. Gegenüber den Toten war sie für mich von einer Grausamkeit, die ich nicht fassen konnte. (…) Der Jude war getötet worden als Jude – als non-human, als Nicht-Mensch –, es spielte vor der Geschichte keine Rolle mehr, ob er nach gender per se ein Patriarch gewesen oder nicht.“ (Esther Dischereit (1995): Übungen, jüdisch zu sein, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 168–170.)

***

Schließlich passt der Friedenspreis zu Carolin Emcke wie zu Martin Walser. Auch Emcke strebt nach einem starken „wir“ (S. 218), sie schreit danach dazugehören, ob nun als Teil einer Opfergruppe in einer Reihe mit Juden oder nicht, Hauptsache „wir“, natürlich kein fixes „wir“, ein offenes, lustiges, glückliches, nicht festgelegtes. Und wer in Buchläden geht, derzeit, sieht den Schrei nach einem „wir“ all überall, nicht nur bei Nazis und Pegidisten, grade auch bei den vorgeblich nicht so Völkischen.

Und sie gehört auch zum Kreis derjenigen um Axel Honneth und das heutige Frankfurter Institut für Sozialforschung, die Adornos Namen in den Dreck ziehen und feierte 2012 ihre alte Freundin (siehe den „Dank“ in der publizierten Fassung der Dissertation von Emcke), die antisemitisch-antiisraelische Autorin Judith Butler, die tatsächlich Adorno-Preisträgerin wurde. Emcke nahm die amerikanische Agitatorin, die nicht nur die Hamas als soziale linke Bewegung betrachtet, sondern vor allem Israel als jüdischen Staat kategorisch ablehnt, gegen Kritik in Schutz.

Emcke zitiert in „Gegen den Hass“ unkritisch die antisemitische Autorin Jacqueline Rose, die dafür berüchtigt ist, an anderer Stelle die unfassbare Lüge geschrieben und gedruckt bekommen zu haben, nach der sich womöglich Hitler und Theodor Herzl während des gleichen Konzerts mit Wagner-Musik für ihre jeweiligen Bücher „Mein Kampf“ oder „Der Judenstaat“ inspirieren hätten lassen. Das hätte bekanntermaßen spätestens im Mai 1895 stattfinden müssen, da zu diesem Zeitpunkt Herzl sein Manuskript abschloss. Hitler war da sechs Jahre alt. Und er kam erst 1940 in des Erzfeindes Land, mit der Wehrmacht.

Doch für Emcke ist das keine Erwähnung wert, für sie ist Rose zitierbar, was nicht wundert, wenn sie auch ein Fan von Butler ist oder dem antiamerikanischen und mit antisemitischen Invektiven nur so um sich werfenden Holocaustverharmloser Giorgio Agamben.

Emcke zitiert Agambens Buch „Homo Sacer“, in dem der Autor die Festsetzung illegaler Einwanderer in Italien 1991 mit der Deportation von Juden aus Vichy-Frankreich oder heutigen Warteräumen für Flüchtlinge auf internationalen Flughäfen gleichsetzt. Agamben schreibt darin auch folgenden Satz, der einer Preisträgerin für den Frieden mit dem Deutschen Buchhandel offenbar runterflutscht wie Honig:

„Jedenfalls wissen die Juden in Auschwitz, und dies wirkt wie eine grausame Selbstironie, daß sie nicht als Juden sterben werden.“

In einem seiner Bremer Vorträge von 1949 redet der deutsche Denker Martin Heidegger von der „Fabrikation von Leichen“, was Agamben im von Emcke zitierten Band ebenso unkritisch wiedergibt, ohne dieses Wort zu analysieren oder den Kontext des Zitats kenntlich zu machen. Heidegger sagt:

„Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.“

Die Gleichsetzung der präzedenzlosen Vernichtung der europäischen Juden in Gaskammern mit modernem Ackerbau ist ein Antisemitismus neuen Typs, eine Banalisierung des Unfassbaren wie eine Opferstilisierung der deutschen Täternation.

Für Carolin Emcke gibt es offenbar keinen kategorialen Unterschied zwischen Gaskammern und dem „Hass“, Transgenderpersonen die Benutzung dieser oder jener Toilette schwer zu machen. Sie meint es sicher nur gut, beide „Beispiele“ (für das eine steht Auschwitz) kommen im selben Buch offenkundig als Beispiele für „Hass“ vor.

Carolin Emcke ist eine würdige Preisträgerin, sie ist gegen das Differenzieren und das kritische Denken, für das Geplapper und die Affirmation der Kulturindustriemaschine. So mag es der Betrieb, und alle werden klatschen. Glück wird sich ausbreiten in der Paulskirche, langsam, aber immer stärker.

Für die Publizistin sind St.-Pauli-Fans so bescheuert oder gefährlich, deppert oder skurril wie Jihadisten, die sich 72 Jungfrauen erhoffen, nur böse „liberale Rassisten“ sehen das nicht, weshalb ich schon vor sechs Jahren schrieb:

„Heute spricht die junge und bislang kaum aufgefallene Autorin Carolin Emcke in der ZEIT in einem kulturrelativistischen Amoklauf, der zwischen islamistischen suicide bombern und den Fußball-Fans von St. Pauli keinen nennenswerten Unterschied sehen möchte, von einem ‚liberalen Rassismus‘ der Islamkritiker.“[3]

Die Preisträgerin ist „beglückt“ von den Wagner-Festspielen wie von den Dragqueens, ihre postmodern kapitalistische Offenheit lässt alles gelten. Carolin Emcke ist wirklich „beglückt“, weil nur das, diese vorgebliche Vielfalt, ihr erlaube als Lesbe und Publizistin so zu sein, wie sie ist. Ihr Beglücktsein wird von der Paulskirche ausgehend sich im ganzen Land verbreiten. Und das ist doch das Wichtigste.

 

[1] Zur Kritik an dieser Einfühlung und „Familiarisierung“ siehe die unpublizierte Dissertation von Marion Bremsteller: „Didaktik der Verfremdung. Bertolt Brechts Theater und seine Bedeutung für die Pädagogik, gezeigt am Stück Die Dreigroschenoper“.

[2] Siehe zu Agamben Clemens Heni (2013): Antisemitism: A Specific Phenomenon. Holocaust trivialization – Islamism – Post-colonial and Cosmopolitan anti-Zionism, Berlin: Edition Critic, 375–378.

[3] „[D]er männliche Blick, der junge Mädchen unter den Schleier zwingt, erscheint den einen ebenso sexistisch wie anderen der, der sie sich in High Heels quetschen und rundum entblößen lässt; die Vorstellung der Eucharistie ist den einen so befremdlich wie den anderen der Glaube an 72 Jungfrauen im Paradies; die Wagner-Begeisterten in Bayreuth wirken auf die einen so befremdend wie auf andere die St.-Pauli-Fans am Millerntor“ (Carolin Emcke (2010): Liberaler Rassismus. Die Gegner des Islams tun so, als würden sie Aufklärung und Moderne verteidigen. In Wahrheit predigen sie den Fremdenhass, in: Die Zeit, 25.02.2010).

Ein Schlag ins Gesicht der Überlebenden. Eine retrospektive Kritik an Aimée und Jaguar

Original auf LizasWelt am 17. September 2006

Die deutsche Selbstversöhnungsrhetorik erreichte mit dem Film Aimée und Jaguar von Max Färberböck, der auf seine Weise das Textmaterial des gleichnamigen Buches von Erica Fischer umsetzte, im Jahre 1999 einen weiteren Höhepunkt. Das wurde insbesondere von der Schriftstellerin Esther Dischereit bereits damals deutlich festgehalten:

„Die feministischen Reflexionen über nazideutsche Täterinnen waren immer recht spärlich und spät gefallen. Und Aimée wirkt entlastend, so wurde letztlich nicht die Geschichte der Felice Schragenheim geschrieben, sondern die von Lilly Wust. Die Stilisierung zur Love-Story, wie die Geschichte im Titel eines Dokumentarfilms über Jaguar und Aimée genannt wurde, und zu einem – wenn möglich – neuen deutschen Kultfilm entspräche dem fortschreitenden Wir-Gefühl. Da haben die Täterinnen schon fast so viel gelitten wie die Opfer, und die Nicht-Opfer sind den Opfern emphatisch jedenfalls beinahe gleich. Alle handelnden Personen im Film haben verdeckte Namen, nur Jaguar nicht. Sie heißt Felice. Sie kann keinen Einspruch erheben. Es fehlt nicht mehr viel, bis Auschwitz als das kollektive Massada der Deutschen in eine geläuterte nationale Selbstdefinition eingeht. Opfer sind alle und Erinnerung gemeinsam: die Toten aber könnten beiseite bleiben. Die stören. Überlebende manchmal noch mehr. Ehre, Würde, Vermögen, Leben der Opfer waren schon gestohlen, bleibt noch deren Geschichte.“

Dischereit hat gründlich recherchiert, Akten studiert, die Stationen des Überlebens der Jüdin Felice Schragenheim in Berlin zwischen 1941 und 1944, ihr Fliehen von der Prager Straße 29 zur Claudiusstraße, vom Nollendorfplatz nach Friedenau etc. erkundet sowie den Konnex von Deportation, Untertauchen und einer letzten Möglichkeit – der Beziehung zu einer ganz normalen, deutschen Frau, die Schutz bieten könnte – dargestellt. Liebe als Rettungsanker, wie Dischereit aufzeigt:

„Im Vorwort [von Erica Fischer] heißt es, dass die Überlebenden keinen Frieden mit Lilly Wust schließen können und wollen. Nein, können sie auch nicht, wenn da Schuld wäre, gäbe es keinen Grund, ‚Aimée’, Lilly Wust, zu einer Retterin zu stilisieren. Die Buchautorin Erica Fischer äußerte unlängst, ihr scheine es im Film immerhin gelungen, ‚mit dem Thema nicht voller Schuld, Selbstbezichtigung und Schwere umzugehen’. Nun ja, es gibt wohl Themen, da gibt es Schuld und Schwere, und auf Selbstbezichtigung warten die Staatsanwaltschaften noch immer.“

Dabei ist es gewiss kein Zufall, dass das Material einer arischen Deutschen wie Lilly Wust nicht den Behörden, sondern einem Regisseur vorgelegt wurde. Schlimmer noch: Der Film ist ein Schlag ins Gesicht der Überlebenden. Er basiert auf den Fantasmen der Lilly Wust, die von Erica Fischer lanciert wurden und in Deutschland, dem Land der großen Wiedergutmachung mit sich selbst, bestens ankommen. Denn das Publikum ist eine Volksgemeinschaft der besonderen Art: Künstler, Kulturtheoretikerinnen und Kulturtheoretiker, Feministinnen, Berlinale-Fans und programmatische Lesben kommen gleichermaßen auf ihre identitären Kosten. Am Ende des Streifens wird Felice Schragenheim ermordet; die Vorgeschichte wird dabei jedoch vollkommen entstellt. Dass Felice beispielsweise ihrer Geliebten Lilly noch auf dem Sammelplatz der Gestapo einen Erbschein unterschrieb, den letzere – vormals stramme Nationalsozialistin – nach dem Krieg bei der überlebenden Schwester sowie Freundinnen und Freunden von Felice einlösen wollte, kommt gar nicht erst vor. Esther Dischereit stellt klar:

„Am 28.7.44 erhält Lilly Wust eine Schenkungsurkunde von Felice Schragenheim; am 21.8.1944 wird Felice Schragenheim deportiert. Also drei Wochen später. In den Krimis kommt an dieser Stelle immer eine Lebensversicherung vor, anschließend der Tote. Das hätte uns stutzig gemacht.“

Dischereit berichtet darüber hinaus von vielen Geschenken, die Felice Lilly machte bzw. machen musste: „Frauenkleider aus Foulardseide und feinem Leinen, Abendkleid aus Taft…“ Und selbst Lillys Besuch im Konzentrationslager Theresienstadt – von dem der Deutschen mit Mutterkreuz und der Manie, ihre jüdische Geliebte bevorzugt vor ihren SS-Freunden auf Partys zu präsentieren, alle im Untergrund lebenden Juden und Jüdinnen abgeraten hatten – wird in dem Film nicht in seiner für Felice eine Todesgefahr heraufbeschwörenden Dimension dargestellt. Doch weder das noch die Tatsache, dass Lilly Wust eine waschechte Nationalsozialistin war, hat die Szene, insbesondere die Frauen-Lesben-Szene, nachhaltig irritieren können – offenbar aber auch nicht die Leiterin des Jüdischen Museums Berlin, Cilly Kugelmann.

Elenai Predski-Kramer jedoch, jüdische Überlebende und Freundin von Schragenheim, stellt die Fragen, die sich aufdrängen. Sie ist enttäuscht und traurig ob der Geschichtsfantasmen von Wust, die Erica Fischer als Wahrheit niederschrieb und verkaufte. Wer sich kritisch mit Aimée und Jaguar beschäftigen möchte, dem sei daher neben dem bereits zitierten Beitrag von Esther Dischereit der auf einem Gespräch mit Predski-Kramer basierende und im Gegensatz zu Erica Fischer deren Stimme sehr ernst nehmende Artikel von Katharina Sperber empfohlen, „Eine andere Version: Schmerzhafte Erinnerungen einer Überlebenden“. In ihm heißt es zu Beginn:

„Wie vor den Kopf geschlagen fühlte sich Elenai Predski-Kramer, als sie vor acht Jahren die Auslage einer Buchhandlung betrachtete. Zwischen all den Titeln, die da ausgestellt waren, entdeckte sie einen Buchdeckel mit einem großen Schwarz-Weiß-Foto. Darauf zwei Frauen im Badeanzug am Havelstrand. Beide Frauen kannte sie. Die eine ist die Jüdin Felice Schragenheim, die andere Lilly Wust, eine mit dem Mutterkreuz dekorierte Nazi-Mitläuferin.“

Fischers Geschichten interessierten seinerzeit sofort mehrere Verleger; das Buch erfuhr zahlreiche Auflagen – weltweit, wie sie stets betont – und wurde in dreizehn Sprachen übersetzt. Selbst die unwissendsten, sich aber irgendwie zum Thema „Juden“ hingezogen fühlenden Menschen haben nicht selten zumindest ein Buch in ihrem kleinen Bücherregal: Erica Fischers Aimée und Jaguar eben – eine allzu deutsche Story, die nicht aneckt und daher gefällt.

Ihr Plot hat den Fokus auf die arische Lilly gerichtet; das ist die Basis sowohl für den Film als auch für das Buch. In ersterem wird das bereits zu Beginn deutlich, in der Szene mit dem „lesbischen Blick“ nämlich, die die Perspektive Wusts einnimmt – eine Sicht, die den ganzen Film bestimmt und somit keine Brüche, Zweifel oder gar die Frage nach Schuld aufkommen lässt. Denn es geht nicht um Kritik, es geht um Identität. Gleichwohl ist es falsch, die Vereinnahmung von Felice für derlei Identitätspolitiken – durch lesbische Frauen einerseits und durch Jüdinnen andererseits – in einem Dritten, einem vermeintlichen Ort der Nicht-Identität, aufgehen zu lassen, wie es im 2001 veröffentlichten Beitrag „Of Death, Kitsch, and Melancholia – Aimée und Jaguar: ‚Eine Liebesgeschichte, Berlin 1943’ or ‚Eine Liebe größer als der Tod’?“ von Anna M. Parkinson geschieht*.

Parkinson argumentiert dabei in Anlehnung an Judith Butlers Konzept von gendered Melancholie. Demnach habe Lilly nach der Deportation und Ermordung von Felice sich selbst „zur Jüdin gemacht“ und das verlorene Objekt der Begierde verinnerlicht – eine melancholische Introversion also, die Parkinson mit Freud untermauert wissen möchte. Dass Lilly Wust aufgrund einer möglichen Verantwortung für die Deportation von Felice selbst Anteil an deren Ermordung haben könnte, zieht Parkinson in ihrem beredten Abstrahieren von diesen realen Fragen und Fakten jedoch nicht in Betracht. Doch wie kam die Gestapo an eines der wenigen Fotos von Felice, die außer Lilly nur andere Jüdinnen in Besitz hatten? Und weshalb ließ Lilly sich einen Erbschein unterschreiben? Warum, schließlich, hat sie ihre Freundin – so dies denn stimmt – in Theresienstadt besucht, obwohl alle Jüdinnen ihr abgeraten hatten von diesem narzisstisch motivierten Besuch, der – in einem Konzentrationslager! – nur die Liebe bestätigt sehen wissen wollte?

Wären das nicht alles Gründe für eine radikale Infragestellung der Erinnerungen einer Lilly Wust? Es sind jedenfalls die Fragen der jüdischen Freundin von Felice, die Fragen Elenai Predski-Kramers. Parkinsons Analyse ist demgegenüber geradezu grotesk: Ohne die Frage nach all diesen Schuldanteilen auch nur zu stellen, zimmert sie sich eine kultur- und gender studies-theoretische Analyse zusammen, die im typischen Stil der Sozial- und Kulturwissenschaft Täter und Opfer in einem sehen möchte – alles sei im Fluss, lautet die Botschaft. Dass eine solche Analyse eine Derealisierung der Wirklichkeit darstellt, ist jedoch offensichtlich. Denn wenn sich beispielsweise die arische Deutsche Wust beim Einmarsch der Roten Armee in Berlin Anfang 1945 den gelben Stern gleichsam stolz ans Revers heftet, ist das gerade nicht „ironically“, weil Felice ihn nie trug. Parkinson lässt letztlich die Geschichten von Wust und Fischer unbeanstandet und zeigt eine die Empathie gleichsam eskamotierende Ferne zu der realen Überlebenden Elenai Predski-Kramer. Man könnte also von einer kulturtheoretischen Derealisierung sprechen.

Im Rekurs auf Freud kann Parkinson zwar interessante Elemente von Melancholie, Identitätsverweigerung und -wandel auftun, nicht aber die konkrete Historie erhellen. Denn die Leidensgeschichte der Jüdin Felice wird nicht aus ihrer Sicht oder aus der ihrer noch lebenden Freundin Elenai Predski-Kramer erzählt und festgehalten, sondern aus der die jüdische Perspektive derealisierenden Perspektive einer arischen Deutschen.

Zudem: Wie kommt es zu dem unglaublichen Spitznamen „Jaguar“? Gerade die existenziell bedrohte, vom Verhalten ihrer deutschen Umwelt abhängige Jüdin wird dadurch zur Jägerin gemacht, die sich eine deutsche Geliebte sucht. Würde die Geschichte aus Felices Sicht erzählt, wäre es nie zu so einem grotesken und infamen Namen gekommen. Doch gerade mit ihm reüssieren Buch und Film. Es wird kokett mit der – nach Parkinsons bloß „ironischen“ – Verkehrung von Opfer und Täterin, Jägerin und Geliebter hantiert. Doch es ist natürlich keine Ironie, sondern der deutsche Fokus, der hier dominiert.

Die Abstraktion von der deutschen Volksgemeinschaft – auch nach 1945 – durch das Fokussieren der lesbischen Liebe lässt das von Dischereit so treffend bezeichnete „Massada der Deutschen“ traurige Wirklichkeit werden. Zu suggerieren, weder die eine noch die andere „Seite“ habe Recht, wie Parkinson es tut, mag zwar der Diskursanalyse, den gender studies mithin, schmeicheln, schlägt sich jedoch wenigstens subkutan auf die Seite der Siegerin, der egomanischen Nazisse Lilly Wust. Es geht um deren Identität – eine deutsche Identität mit Feder und Kamera im Gefolge. Noch einmal Esther Dischereit:

„Das Leben der in Auschwitz getöteten Jüdin Felice Schragenheim scheint durch die Akteurin ‚Aimée’, real Lilly Wust, hindurch und über diese vermittelt. ‚Jaguar’ – im Kosenamen eine grotesk absurde Verkehrung darüber, wer hier Jäger und wer hier Gejagte ist. Das ist eine Übernahme aus dem gleichnamigen Buch, in dem die Geschichte bereits so angelegt ist, dass wir letztlich erfahren, wie sehr die Nicht-Jüdin, Kosename ‚Aimée’, leidet. Durch den Filter ihrer Person erfahren wir von der Verfolgungsgeschichte der Jüdin, die die Deutsche ‚Aimée’ wie in einem Mysterienspiel auf sich nimmt und posthum zu ihrem Leiden macht. In Talk-Sendungen in Deutschland verstieg sich die authentische, nun schon betagte ‚Aimée’, Lilly Wust, zu der Bemerkung, die Tote erscheine ihr gegen Abend. Statt Hitler-Bild ist nun ein siebenarmiger Leuchter in Betrieb. Und – mit dem jüngst zur Welt gekommenen Baby der Maria Schrader sei nun wieder eine wunderbare Felice auf der Welt.“

Heute nun werden die Dokumente der Lilly Wust einem allzu deutschen Publikum dargeboten; von „Arierin“ und „Tränen“ ist viel die Rede. Ganz normale Deutsche, die auf dem Rücken ihrer jüdischen Opfer oder „Freundin“ ihre pekuniären, emotionalen und politischen Geschäfte mach(t)en, wollen das letzte Wort behalten, Geschichte bestimmen und umschreiben. Für immer. Auch mit „jüdischen Kronzeugen“ des Jüdischen Museums Berlin.

* In: Helmut Schmitz (Hrsg.): German Culture and the Uncomfortable Past, Aldershot u.a. (Ashgate), Seite 143–163

 

Ein Schlag ins Gesicht der Überlebenden: Eine retrospektive Kritik an „Aimée und Jaguar“

Dieser Text wurde zuerst am 25. April 2004 auf www.hagalil.com publiziert

Die deutsche Selbstversöhnungsrhetorik hat mit dem Film „Aimée und Jaguar“ von Max Färberböck, der auf seine Weise das Textmaterial des gleichnamigen Buches von Erica Fischer filmisch umsetzte, im Jahre 1999 einen weiteren Höhepunkt erreicht. Das wurde insbesondere von Esther Dischereit bereits zur selben Zeit klar und deutlich festgehalten.

Dischereit hat gründlich recherchiert, Akten gewälzt, die Stationen des Überlebens, des Fliehens von der Prager Straße 29 zur Claudiusstraße, vom Nollendorfplatz nach Friedenau etc. der Jüdin Felice Schragenheim in Berlin 1941-1944 erkundet, den Konnex von Deportation, Untertauchen und einer letzten Möglichkeit: einer Beziehung zu einer ganz normalen, deutschen Frau, die Schutz bieten könnte, dargestellt. Liebe als Rettungsanker. All das ist bei Dischereit auch online nach zu lesen, vgl. unten.

„Im Vorwort [von Erica Fischer] heißt es, daß die Überlebenden keinen Frieden mit Lilly Wust schließen können und wollen. Nein, können sie auch nicht, wenn da Schuld wäre, gäbe es keinen Grund, ‚Aimée‘, Lilly Wust, zu einer Retterin zu stilisieren. Die Buchautorin Erica Fischer äußerte unlängst, ihr scheine es im Film immerhin gelungen, ‚mit dem Thema nicht voller Schuld, Selbstbezichtigung und Schwere umzugehen‘. Nun ja, es gibt wohl Themen, da gibt es Schuld und Schwere und auf Selbstbezichtigung warten die Staatsanwaltschaften noch immer“( Esther Dischereit (2001): Mit Eichmann an der Börse. In jüdischen und anderen Angelegenheiten, Berlin (Ullstein), S. 71)

Denn auch gewisse Teile des interessierten Publikums, das ansonsten sehr offen ist für radikale Kritik an Deutschland und Antisemitismus, haben sich an diesem Punkt der innerdeutschen Selbstversöhnung, die von Dischereit verweigert wird, resistent gezeigt. Die Erzählungen einer Erica Fischer haben offenbar eine lange Haltbarkeitsdauer. Da selbst die Stimme einer jüdischen Überlebenden des Holocaust in diesem Fall nichts zu zählen scheint, möchte ich dieser Stimme wenigstens ein klein bißchen Raum verschaffen und an sie erinnern, sie aufwärmen.

Die aktuelle Rezension des Bildbandes „Erica Fischer: Das kurze Leben der Jüdin Felice Schragenheim „Jaguar“, Berlin 1922 Bergen-Belsen 1945. Mit Reproduktionen und Fotos von Christel Becker-Rau, dtv, München 2002″, der das Buch „Aimée und Jaguar“ (Erica Fischer), dessen Erstauflage 1994 erschienen war, Ende 2002 noch einmal publikumswirksam untermalen möchte, von Petra M. Springer, deren kleiner aber bezeichnender Artikel zuweilen über Monate hinweg auch von Online-Magazinen sehr positiv aufgenommen wurde und im Original auf http://www.neuewelt.at (Ausgabe 4/5 2003) nachzulesen ist, ist ein Schlag ins Gesicht der Überlebenden. So heißt es:

„Die Liebe zueinander veränderte das Leben beider Frauen grundlegend. Lilly ließ sich scheiden, Felice gab ihre Tarnung auf und lieferte sich dadurch ihrer großen Liebe aus. Das Glück der beiden währte aber nur kurze Zeit.“

Hier wird schon festgezurrt, daß es sich um „Liebe“ gehandelt habe, primär (!), und nicht um die einzig verbliebene Möglichkeit für eine Jüdin im Berlin jener Jahre zu überleben.

Sie basiert auf den Phantasmen der Lilly Wust, die von Frau Fischer seit Jahren lanciert werden und natürlich in Deutschland, dem Land der großen Wiedergutmachung mit sich selbst, ankommen. Das Publikum ist eine Volksgemeinschaft der besonderen Art: Künstler, KulturtheoretikerInnen, Feministinnen, Berlinale-Fans und unkritische Lesben kommen gleichermaßen auf ihre identitären Kosten.

Denn es liegt ein weiterer Fall von Verwertung jüdischen Lebens in dem Film Aimée und Jaguar vor, der auf der wahrhaften Geschichte beruhen soll (!), dessen Hauptdarstellerinnen auf der Berlinale 1999 den silbernen Bären bekamen, als beste Darstellerinnen. In diesem Film wird das Leben der Jüdin Felice Schragenheim und ihrer Geliebten Lilly Wust (die noch lebt) im Berlin der Jahre 1943/44 gezeigt. Am Ende wird Felice ermordet. Die Vorgeschichte wird dabei nicht nur in dem Film entstellt. So hat sie z. B. ihrer lesbischen Geliebten Lilly Wust noch auf dem Sammelplatz der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) einen Erbschein unterschrieben, den Lilly Wust, vormals stramme Nazi-Frau, nach dem Krieg bei der überlebenden Schwester und FreundInnen von Felice einlösen wollte, was in dem Film gekonnt verschwiegen wird.

„Am 28.7.44 erhält Lilly Wust eine Schenkungsurkunde von Felice Schragenheim; am 21.8.1944 wird Felice Schragenheim deportiert. Also drei Wochen später. In den Krimis kommt an dieser Stelle immer eine Lebensversicherung vor, anschließend der Tote. Das hätte uns stutzig gemacht“(Dischereit 2001: 69)

Es ist gewiß kein Zufall, daß das Material einer arischen Deutschen wie Lilly Wust nicht der Staatsanwaltschaft sondern einem Regisseur vorgelegt wurde.

Dischereit berichtet auch von vielen weiteren Geschenken, „Frauenkleidern aus Foulardseide und feinem Leinen, Abendkleid aus Taft“…

Noch der Besuch von Felice im KZ Theresienstadt, von dem alle im Untergrund lebenden Juden und Jüdinnen der arischen Deutschen mit Mutterkreuz und der Manie, ihre (jüdische) Geliebte gerade vor ihren SS-Freunden auf Parties zu präsentieren, abgeraten hatten, wird nicht in seiner Todesgefahr heraufbeschwörenden Dimension erkannt. Elenai Predski-Kramer, die jüdische Überlebende und Freundin von Felice, stellt diese Fragen. Sie ist stark enttäuscht, getäuscht und traurig ob der Geschichtsphantasmen von Wust, die von Fischer als Wahrheit angenommen wurden. Noch 1999 als Esther Dischereit ihre Recherchen veröffentlichte und als erste die Hintergründe des skandalösen Films von Färberböck beleuchtete, hatte Dischereit Elenai P.s Namen nicht ausgeschrieben. Frau Predski-Kramer wollte nicht genannt werden. Die Verletzungsgefahr ist zu hoch in diesem Deutschland. Doch Jahre später, viele Auflagen und Preise für Aimée und Jaguar später, möchte Elenai Predski-Kramer nicht länger schweigen und tritt mit großem Mut an die Öffentlichkeit. Katharina Sperber hat auf sehr einfühlende, nachdenkliche, kritische, emphatische Art und Weise aus den Gesprächen mit Elenai Predski-Kramer einen sehr wichtigen Artikel verfasst (vgl. link).

Doch selbst dieser Artikel wird z. B. von einer Petra M. Springer nicht zur Kenntnis genommen. Auch sie schlägt mir ihrer Rezension Predski-Kramer ins Gesicht. Da Springers Artikel schon über ein Jahr alt ist und sie offenbar kein Bedürfnis sah, ihn zu ergänzen, zu revidieren gar, halte ich diese harsche Kritik für unabdingbar.

Viele Ungereimtheiten (die in den unten angehängten links zu Dischereit und Sperber sehr gut nach zu lesen sind) lassen Fragen über Fragen offen, schließlich Wut:

„Die feministischen Reflexionen über nazideutsche Täterinnen waren immer recht spärlich und spät gefallen. Und Aimée wirkt entlastend, so wurde letztlich nicht die Geschichte der Felice Schragenheim geschrieben, sondern die von Lilly Wust. Die Stilisierung zur Love-Story, wie die Geschichte im Titel eines Dokumentarfilms über Jaguar und Aimée genannt wurde, und zu einem – wenn möglich – neuen deutschen Kultfilm entspräche dem fortschreitenden Wir-Gefühl. Da haben die Täterinnen schon fast so viel gelitten wie die Opfer, und die Nicht-Opfer sind den Opfern emphatisch jedenfalls beinahe gleich. Alle handelnden Personen im Film haben verdeckte Namen, nur Jaguar nicht. Sie heißt Felice. Sie kann keinen Einspruch erheben. Es fehlt nicht mehr viel, bis Auschwitz als das kollektive Massada der Deutschen in eine geläuterte nationale Selbstdefinition eingeht. Opfer sind alle und Erinnerung gemeinsam: die Toten aber könnten beiseite bleiben. Die stören. Überlebende manchmal noch mehr. Ehre, Würde, Vermögen, Leben der Opfer waren schon gestohlen, bleibt noch deren Geschichte”(Esther Dischereit 1999).

Daß es zumal in der linken Szene der Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus immer um das Suchen der eigenen Widerständigkeit ging und geht hat bis auf den heutigen Tag verhindert, die Rolle der Linken bei der Mythifizierung des guten Volkes zu hinterfragen. Noch nicht einmal die Tatsache, daß Lilly Wust, die arische Deutsche, eine Nazi-Frau war, hat die Szene, mithin und insbesondere die FrauenLesben-Szene nachhaltig irritiert. Die (vermeintlich) lesbische Liebe hat alles übertüncht und die deutsche Narzisstin konnte ihren Coup landen. Im Film mit deutscher Besetzung (Maria Schrader, Juliane Köhler) und deutschem Regisseur (Max Färberböck) wurde das mit einem silbernen Bären auf der Berlinale 1999 ausgezeichnet. Bei einer Geschichte die so grotesk und infam an der Wahrheit vorbei schrammt, die Worte einer Überlebenden denen einer deutschen „Nazi-Mitläuferin“ nicht vorzieht sondern übergeht, bei solch einer Geschichte wird mir übel.

Wer sich also kritisch und nicht links-identitär mit dem Nationalsozialismus beschäftigen möchte, dem und der seien die beiden wichtigsten Texte einer Hinterfragung der Phantastereien Erica Fischers empfohlen: erstens Esther Dischereits Artikel in der FR, der komplett bereits in der Wochenzeitung aus der Schweiz vom 20. Mai 1999 abgedruckt worden war (http://www.hagalil.com/archiv/99/10/jaguar.htm) und zweitens der auf einem Gespräch mit der Freundin von Felice Schragenheim basierende und im Gegensatz zu Erica Fischer die Stimme von Elenai Predski-Kramer sehr ernst nehmende Artikel von Katharina Sperber aus der FR vom 07. Januar 2003:

„Eine andere Version: Schmerzhafte Erinnerungen einer Überlebenden

Von Katharina Sperber

Elenai Predski-Kramer, mit der im KZ ermordeten Felice Schragenheim befreundet, erzählt eine andere Version von „Aimee und Jaguar“

Wie vor den Kopf geschlagen fühlte sich Elenai Predski-Kramer, als sie vor acht Jahren die Auslage einer Buchhandlung betrachtete. Zwischen all den Titeln, die da ausgestellt waren, entdeckte sie einen Buchdeckel mit einem großen Schwarz-Weiß-Foto. Darauf zwei Frauen im Badeanzug am Havelstrand. Beide Frauen kannte sie. Die eine ist die Jüdin Felice Schragenheim, die andere Lilly Wust, eine mit dem Mutterkreuz dekorierte Nazi-Mitläuferin“ (http://www.berlin-judentum.de/frauen/predski.htm).

Auf geradezu obszöne Weise geriert sich Erica Fischer (Ende Januar 2003) zum Opfer; auf alle Argumente, die Dischereit oder Predski-Kramer und andere KritikerInnen ihrer Geschichtsklitterung bringen, reagiert sie gar nicht, schweigt sie einfach, wie in einem hagalil-forum (des größten deutschsprachigen, jüdischen Magazins im Netz) und möchte einfach nur ihren „Erfolg“, der „gut tut“, genießen:

„Veröffentlicht am Montag, 27. Januar 2003 – 15:21 Uhr:

Betrifft: Felice Schragenheim („Jaguar“)
Beitrag 117

Sie irren entschieden, Frau Inge: An Haut und Zähnen haben die Deutschen entschieden mehr verdient. Ich finde Ihren Vergleich widerwärtig. Die Lebensgeschichte von Felice Schragenheim ist ebensowenig gefälscht wie die vielen anderen Biographien, die ohne die Möglichkeit des direkten Befragens der Betroffenen geschrieben wurden und werden. Sie ist nach bestem Wissen und Gewissen recherchiert. Unbeweisbare Spekulationen habe ich allerdings nicht aufgegriffen. Ich weiß nicht, wer Sie sind und womit Sie sich das Leben verdienen, ich weiß nur, dass ich mit meinen Büchern gute Arbeit leiste, die von Menschen, die ebenso seriös sind wie ich selbst, als das geschätzt werden, was ich mit ihnen beabsichtige: Aufklärung.

Nur eines darf eine Frau und Jüdin in den Augen Ihresgleichen wohl nicht haben: Erfolg. Neid und Missgunst sind ihr dann gewiss. Gerade Frauen und Jüdinnen sind da besonders gnadenlos. Ich wünsche Ihnen ein wenig Erfolg. Es tut einfach gut.

Erica Fischer Berlin“

Die folgende Irritation blieb ohne Antwort der angesprochenen Erica Fischer, und diese Antwort bleibt sie notgedrungen schuldig, sie müßte der Überlebenden Jüdin Elenai Predski-Kramer noch einmal, wie schon im erwähnten Bildband, der ja ihr Buch Aimeé und Jaguar nur noch potenziert in seiner Aussage: eine tragische, lesbische „Liebe im Dritten Reich“ (so die Überschrift auf www.neuewelt.at), zum wiederholten Mal die Kompetenz absprechen über Verhältnisse und Situationen zu urteilen, die Predski-Kramer selbst erlebt hat im Berlin 1942/43 und sich als Nachgeborene Erica Fischer über die realen Erfahrungen einer Überlebenden stellen:

„Veröffentlicht am Montag, 27. Januar 2003 – 21:47 Uhr:

Hallo Erica,

als ich hörte, daß Du Dich im haGalil-Forum geäußert hast, habe ich mich erst einmal gefreut, als ich Deinen Beitrag gelesen habe – allerdings weniger.

Ich finde es schwach, die Kritik an Deinem Vorgehen auf die Ebene zu reduzieren:

„Da gönnt mir eine meinen Erfolg nicht“.

Ich finde es sogar weit unter der Gürtellinie.

Ich kann durchaus verstehen, wie es zur ersten Auflage von Aimee und Jaguar kam und daß Du seinerzeit einige Zusammenhänge noch nicht so klar hattest.

Ich verstehe allerdings nicht, daß Du in den folgenden Ausgaben und fremdsprachigen Übersetzungen so weitgehend bei Deiner vorherigen Darstellung geblieben bist. Was sagst Du denn zur Kritik von Elenai Predski-Kramer?

Als Esther Dischereit den Artikel „Zwischen Abhängigkeit, Prostitution und Widerstand“ (http://www.hagalil.com/archiv/99/10/jaguar.htm) veröffentlicht hatte, hatten wir beide ein Gespräch. Du warst ganz verwundert und meintest:

„Das habe ich doch auch schon geschrieben“.

Wenn es denn so gewesen wäre, wären die beiden Artikel von Esther Dischereit und Frau Sperber überflüssig.

Noch zum Stichwort „Erfolg“ ein Gedanke:

Kann es sein, daß Du Dich vom Erfolg verführen hast lassen?

Viele Grüße

Iris,

die sich fragt, warum Du sie permanent ignorierst, seit der Esther Dischereit Artikel bei haGalil steht.“ (http://forum.hagalil.com/board-a/messages/3320/11923.html?1044348347)

Fischers Geschichten hingegen bekamen gleich mehrere Verleger und viele Auflagen, weltweit, das betont sie auch: Sie stellt voller Genugtuung dar, wieviele Auflagen sie erreicht hat

„Aimée & Jaguar, Eine Liebesgeschichte, Berlin 1943, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994, 1996; dtv (Neubearbeitung), München 1998; rororo (Neubearbeitung), Reinbek 2001 (übersetzt in 13 Sprachen)“
http://www.erica-fischer.de/werkverzeichnis.html

plus dem von Petra M. Springer gepriesenen Bildband vom November 2002. Springer ist für mich ein typischer Fall von links-identitärem Gerede, das sich um kritische Darstellung nicht zu kümmern scheint.

Denn – und das mag für das Motiv, sich damit überhaupt zu befassen wegweisend sein oder wieso läuft der Film Aimèe und Jaguar nicht nur immer und immer wieder im TV sondern wird auch noch auf allen möglichen AstA-Etagen bundesdeutscher Universitäten, wie der von Bremen, von jedem x-beliebigen FrauenLesben Referat für jede neue Studentinnen-Generation gezeigt ?? – das eigene Stilisieren zu einer Opfergruppe ist für die Linke in der BRD bzw. Österreich konstitutiv.

Auch die unwissendsten Interessierten haben zumindest ein Buch in ihrem kleinen Bücherregal: Erica Fischers Aimée und Jaguar. Eine allzu deutsche Geschichte, die gefällt. Der Plot hat den Fokus der arischen Frau als Ausgangspunkt. Das ist basal für Film und Buch. Im Film wird das auf eklige Weise schon zu Beginn deutlich, als in der Szene mit dem „lesbischen Blick“der Fokus von Wust die Grundlage und den ganzen Film bestimmt, somit keine Brüche, Zweifel oder Schuld aufkommen lassen. Es geht nicht um Kritik. Es geht um Identität. Und dabei geht es mir gar nicht darum und kann es auch gar nicht darum gehen die Vereinnahmung von Felice einerseits von Lesben andererseits von Jüdinnen für ihre jeweiligen Identitätspolitiken in einem Dritten – einem vermeintlichen Ort der Nicht-Identität – aufgehen zu lassen: hiermit kritisiere ich den Artikel „Of Death, Kitsch, and Melancholia – Aimée und Jaguar: ‚Eine Liebesgeschichte, Berlin 1943‘ or ‚Eine Liebe größer als der Tod‚? von Anna M. Parkinson (2001), in: Helmut Schmitz (ed.): German Culture and the Uncomfortable Past, Aldershot u.a. (Ashgate), S. 143-163.

Solche ‚Dialektik‘ ist an genau diesem historischen Ort schal und schief. Parkinson argumentiert in Anlehnung an Judith Butlers Konzept von gendered Melancholie. Demnach habe Lilly nach der Deportation und Ermordung von Felice sich selbst zur Jüdin gemacht und das verlorene Objekt der Begierde verinnerlicht, eine melancholische Introversion, die Parkinson mit Freud untermauert wissen möchte.

Daß aber Lilly Wust aufgrund ihrer möglichen direkten Verantwortung für die Deportation von Felice selbst Anteil hätte – denn wie kam denn die Gestapo an eines der wenigen Fotos von Felice, die außer Lilly nur andere Jüdinnen in Besitz hatten ?? Und wieso ließ Lilly sich einen Erbschein unterschreiben ? Und wieso schließlich hat sie Felice, so denn dies stimmt, im KZ besucht, obwohl alle Jüdinnen ihr abgeraten hatten von diesem narzistisch evozierten Besuch, der sich nur die Liebe bestätigt sehen wissen wollte (im KZ!!) und evtl. selbst große Mitschuld an der baldigen Ermordung von Felice Schragenheim trägt ??? – das verschweigt Parkinson im beredten Abstrahieren von diesen realen Fragen und Fakten.

Sind das nicht alles Anhaltspunkte einer radikalen Hinterfragung der Phantasmen einer Lilly Wust ? Es sind die Fragen der jüdischen Freundin von Felice, die Fragen Elenai Predski-Kramers. Parkinsons kulturtheoretische Analyse ist somit geradezu grotesk: ohne die Frage nach all diesen Schuldanteilen auch nur zu stellen imaginiert Parkinson sich eine kultur- und gender-studies-theoretische Analyse, die in typischem Stil gegenwärtiger Sozial- und Kulturwissenschaft Täter und Opfer in einem sehen möchte. Alles im Fluß. Daß eine solche Analyse eine Derealisierung darstellt, ist offenbar. Wenn sich die arische Deutsche Wust beim Einmarsch der Roten Armee Anfang 1945 in Berlin den gelben Stern gleichsam stolz ans Revers heftet ist das doch nicht „ironically“ (Parkinson 2001: 147), weil Felice ihn nie trug !

Parkinson läßt letztlich die Geschichten von Wust/Fischer stehen und zeigt eine Empathie gleichsam eskamotierende Ferne zu der realen Überlebenden Elenai Predski-Kramer. Ich würde es ‚kulturtheoretische Derealisierung‘ nennen. Im Rekurs auf Freud kann Parkinson zwar interessante Elemente von Melancholie, Identitätsverweigerung oder –wandel konstatieren aber nicht die konkrete Historie erhellen. Denn Täter und Opfer, die konkrete Leidensgeschichte der Jüdin werden nicht aus deren Sicht oder der ihrer noch lebenden Freundin Elenai Predski-Kramer erzählt und festgehalten sondern aus der die jüdische Perspektive derealisierenden Sicht der arischen Deutschen. Wie kommt es denn zu der unglaublichen nick-name-Bildung von „Jaguar“?

Gerade die existenziell bedrohte, vom Verhalten ihrer deutschen Umwelt abhängige Jüdin wird als Jägerin tituliert, die sich eine arische Deutsche Geliebte sucht. Wäre die Geschichte aus ihrer Sicht erzählt, wäre es nie zu so einer grotesken, infamen, derealisierenden Begrifflichkeit gekommen. Doch mit so einem Titel reüssieren Buch und Film. Es wird geradezu kokettiert mit der – um Parkinsons merkwürdige Verdrehung von ‚ironisch‘ aufzugreifen – ‚ironischen‘ Verkehrung von Opfer und Täter, Jägerin und Geliebter hantiert. Doch es ist natürlich keine Ironie sondern der arisch-deutsche Fokus, der hier dominiert.

Es ist schließlich im Kontext der politischen Kultur der BRD eben kein Zufall, daß genau so ein Plot, so ein Fokus reüssiert. Erinnerungsabwehr wird so in Sinne identitärer Politik fortgeführt. Die Abstraktion von der deutschen Volksgemeinschaft auch nach 1945 im Fokussieren der lesbischen Liebe läßt das von Dischereit so treffend bezeichnete „Massada der Deutschen“ Wirklichkeit werden. Zu suggerieren, weder die eine noch die andere ‚Seite‘ habe Recht wie es Parkinson tut, mag zwar der Diskursanalyse, den gender-studies mithin schmeicheln, schlägt sich jedoch subkutan zumindest auf die Seite der Siegerin, der egomanischen Nazi-Frau Lilly Wust. Es geht um deren Identität. Deutsche Identität mit Feder und Kamera im Gleichschritt.

„Das Leben der in Auschwitz getöteten Jüdin Felice Schragenheim scheint durch die Akteurin „Aimée“, real Lilly Wust, hindurch und über diese vermittelt. „Jaguar“– im Kosenamen eine grotesk absurde Verkehrung darüber, wer hier Jäger und wer hier Gejagte ist. Das ist eine Übernahme aus dem gleichnamigen Buch, in dem die Geschichte bereits so angelegt ist, daß wir letztlich erfahren, wie sehr die Nicht-Jüdin, Kosename „Aimée“, leidet. Durch den Filter ihrer Person erfahren wir von der Verfolgungsgeschichte der Jüdin, die die Deutsche „Aimée“wie in einem Mysterienspiel auf sich nimmt und posthum zu ihrem Leiden macht. In Talk-Sendungen in Deutschland verstieg sich die authentische, nun schon betagte „Aimée“, Lilly Wust, zu der Bemerkung, die Tote erscheine ihr gegen Abend. Statt Hitler-Bild ist nun ein siebenarmiger Leuchter in Betrieb. Und – mit dem jüngst zur Welt gekommenen Baby der Maria Schrader sei nun wieder eine wunderbare Felice auf der Welt“(Dischereit 2001: 63f).

hagalil.com 25-04-2004

 

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