Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Graue Wölfe

Vom aristotelischen Drama hin zum Nationalismus? Politikwissenschaftliche und sportwissenschaftliche Kritik an der Löschung von nationalismuskritischem Video der Bundeszentrale für Politische Bildung, mit Anmerkungen über das NS-Thingspiel

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA), 13. Juli 2024

Den größten nationalistischen Taumel bei der EURO24 veranstalteten bislang sicher die türkischen Fans. Das Zeigen des rechtsextremen „Wolfsgrußes“ störte viele Fans gar nicht, ja Tausende zeigten den Gruß wenig später ebenfalls. Dabei sind die Grauen Wölfe die größte rechtsextreme Organisation in der Bundesrepublik Deutschland, wie der Verfassungsschutz festhält:

Rechtsextremismus stellt in Deutschland eine der größten Bedrohungen für die freiheitliche demokratische Grundordnung dar. Kernelemente rechtsextremistischer Agitation – wie ein übersteigerter Nationalismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie Rassismus und Antisemitismus – prägen auch die Ideologie der türkischen „Ülkücü“-Bewegung.

Ihre in Deutschland mehr als 12.000 Anhänger, die „Ülkücüler“ oder auf Deutsch „Idealisten“, sind bislang umgangssprachlich eher als „Graue Wölfe“ (auf Türkisch „Bozkurtlar“) bekannt.

Gleichwohl steckt natürlich im Wörtchen „übersteigert“ auch schon die nationale Falle drin, denn gibt es zumal in Deutschland oder auch in der Türkei einen nicht übersteigerten, also harmlosen „Nationalismus“?

Der Autor Burak Yilmaz sagt in einem Interview mit der ARD-Sportschau:

Der Wolfsgruß war bei Feiern nach den Siegen der Mannschaft bei der EM praktisch in jeder größeren deutschen Stadt zu sehen. Die „Grauen Wölfe“ nutzen den Fußball, um neue Anhänger zu finden. Im Umfeld der Spiele der Nationalmannschaft versuchen sie, ihre Symbole zu normalisieren. Merih Demiral hat mit dem Gruß bei seinem Torjubel maßgeblich dazu beigetragen.

Nationalismus und Islamismus sind Kennzeichen der Grauen Wölfe und sie ergänzen auch im Sport und der Fanszene weitere Formen des Islamismus wie die seit Jahren verstärkte Verschleierung von Frauen und insbesondere antisemitische Demonstrationen und Kundgebungen von türkischen Rechtsextremisten in Deutschland („Innenministerium alarmiert über Antisemitismus unter türkischen Rechtsextremen“, Der Spiegel, 10. November 2023) seit den Massakern der Hamas und des Islamischen Jihad am 7. Oktober 2023 im Süden Israels an 1200 Zivilistinnen und Zivilisten sowie dem Entführen von 240 Menschen durch die Hamas, wovon bis heute über 100 gefangen gehalten werden (und Dutzende schon tot sein könnten).

Über die Beziehung des Influencers Tarek Baé zum türkischen Nationalismus wie zum Antisemitismus und zu den Grauen Wölfen berichtete das ZDF. Die Anwesenheit des türkischen Präsidenten Erdogan beim Spiel Niederlande gegen die Türkei in eben jenem Berliner Olympiastadion war ein weiterer Tiefpunkt der EURO24 und ohne das sehr gute Spiel der Holländer wäre die Türkei (2:1 für die Niederlande im Viertelfinale) weiterhin im Turnier. Die massiven Demonstrationen von türkischen Fans auf deutschen Straßen zeigen die enorme Mobilisierung von Nationalismus gerade im Kontext von Sportereignissen und namentlich bei Fußball-Events. Die „Werde Deutscher, bleibe Türke“-Ideologie der Grauen Wölfe und türkischer Nationalisten wie Islamisten ist eine sehr große Gefahr für die Demokratie, worauf die Amadeu Antonio Stiftung 2020 hinwies.

Zwar wurde der türkische Rechtsextremismus und das Zeigen des Wolfsgrußes von der UEFA sanktioniert – der Spieler bekam aber nur eine Sperre von zwei Spielen -, doch im Alltag ist die Ideologie des Grauen Wölfe offenkundig weit verbreitet, es gab jedenfalls keine Massendemonstrationen von Türken in Deutschland gegen die Grauen Wölfe auf der EURO24.

Viele nationalismuskritischen Fußballfans wie Ultras werden froh sein, wenn die EURO24 am Sonntagabend wieder zu Ende gehen wird. Manche Fans sahen schon zu Beginn der EURO24 das Problem von nationalen Wettkämpfen, wie Fans des FC St. Pauli:

Wer als Patriot*in losläuft, kommt als Faschist*in ins Ziel“

 

Wenn nun Zehntausende englische Fans am morgigen Finaltag in Berlin im Spiel gegen Spanien wieder singen werden, wie nur Engländer in Fußballstadien singen, dann wäre es vielleicht eine letzte Möglichkeit, mit dem Song „Ten German Bombers“ dem alten Nazi-Stadion („Olympiastadion“) einen letzten Gruß zu geben.

Die taz schrieb Anfang Juni 2006, noch vor Beginn der WM, die mit Kampagnen wie „Du bist Deutschland“ seit Monaten Stimmung gemacht hatte für ein stolzes Deutschland, Folgendes über die antideutsche Adaption dieses beliebten englischen Fansongs – eine Version des Songs von der Band Egotronic um Torsun (1974-2023) kann man hier hören -:

Der 32-jährige Torsun hatte seine erste Punkband mit 13 Jahren und ist ein Kind der hessischen Autonomenbewegung von Anfang der 90er-Jahre. Sein Ziel ist es, irgendwann von der Musik zu leben. Heute singt er im Berliner Elektropopduo Egotronic, deren Texte zwar weitgehend unpolitisch sind, die sich aber trotzdem dem kommunistisch-israelsolidarischen „antideutschen“ Teil der deutschen Linken zuordnen. Ausgerechnet die bevorstehende Weltmeisterschaft, die er wegen des wachsenden Nationalgefühls in Deutschland verabscheut, und eine musikalische Koalition mit den englischen Fans haben ihn nun seinem Musikertraum näher gebracht. Denn seine Techno-Coverversion des provokanten englischen Fangesangs „Ten German Bombers“ erscheint heute auf dem Fußballparty-Sampler „Die Weltmeister – Hits 2006“. Gemeinsam mit Jürgen Drews’ Hit „FC Deutschland“ und Diana Sorbello, die auf dem Cover ihrer Solo-CD in Ballmusterbikini vor der Deutschlandflagge posiert.

Der Song „Two World Wars and One World Cup“ passt ebenfalls zum morgigen Spiel, auch wenn der Gegner Spanien heißt, es findet schließlich im Nazi-Stadium in Berlin statt:

Dass gerade die englische Fußballvereinigung FA den Song „Ten German Bombers“ respektlos und unangebracht findet und Fans, die ihn singen, mitunter Stadionsperren verpasst, ist nicht nachvollziehbar. Ist England etwa nicht dankbar für die Royal Air Force (RAF) und den gewonnenen Krieg gegen Nazi-Deutschland? Ohne Waffengewalt und ohne das Abschießen von deutschen Kriegsflugzeugen wären die Deutschen des SS-Staates nicht zu stoppen gewesen. Wo also liegt das Problem?

Das Berliner Olympiastadion wurde im Zweiten Weltkrieg leider nicht zerstört.

Das Internationale Olympische Komitee vergab dann die XI. Olympischen Sommerspiele im Jahr 1936 erneut an Berlin. Nach anfänglichen Überlegungen zum Umbau des Stadions ordnete Adolf Hitler den kompletten Neubau eines Großstadions an gleicher Stelle an. Den Auftrag erhielt Werner March, Sohn des Architekten vom Deutschen Stadion, Otto March. Das monumentale Bauwerk ist ein Beispiel für verbliebene Architektur der NS-Zeit in Berlin.

Es ist eine nationalistische und den Nationalsozialismus verharmlosende, ja seine Architektur feiernde Veranstaltung, dass es exakt dieses Stadion mitsamt den Plätzen drum herum weiterhin gibt und dort im Olympiastadion gespielt wird.

Gleichzeitig drehte letzte Woche die Bundeszentrale für Politische Bildung ziemlich durch. Sie hat ein von ihr selbst publiziertes und in Auftrag gegebenes Reel oder Kurzvideo zum „Sommermärchen 2006“ – das in einem Text des österreichischen Express verlinkt ist – auf Druck von rechten, extrem rechten, nationalistischen wie Mainstream-Kreisen wieder gelöscht. Das Video wurde produziert von einer Firma im Auftrag der Bundeszentrale für Politische Bildung und moderiert von der Influencerin Susanne Siegert, die mit ihren Videos Hunderttausende junge Menschen erreicht und Aufklärung bezüglich des Nationalsozialismus und des Holocaust betreibt. Das Video bezieht sich auf meine Kritik in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 16./17. Dezember 2017, Printausgabe, Feuilleton, S. 34/35, Titel: „Der Hitler-Stalin-Vergleich hat eine enorme Entlastungsfunktion“, Online-Version leicht verändert vom 4. September 2019, Titel „Sommermärchen bereitete der AfD den Boden“, wo ich die These aufstelle:

Ohne 2006 wäre es nicht in diesem Ausmaß zu Pegida gekommen, und ohne Pegida gäbe es keine AfD in dieser Form. Die Deutschland-Fahne bei der WM hat eine unglaubliche Bedeutung für das Zusammenschweißen von atomisierten Einzelnen, die sich zu großen Teilen gar nicht für Fußball interessiert haben. Insofern war das Thema nicht Sport, sondern nationale Identität.

Darauf bezieht sich die Bundeszentrale für Politische Bildung in ihrem Video und Nationalisten können das nicht ertragen und bringen die Bundeszentrale dazu, das Video nach knapp zwei Tagen online am Donnerstag, den 4. Juli 2024 wieder zu löschen.

Ein Shitstorm von NIUS, der WELT, t-online, der Jungen Freiheit, Reitschuster.de, Journalistenwatch, dem Compact Magazin und vielen weiteren teils obskuren oder randständigen, aber teils eben auch Mainstream-Medien sowie Aussagen von ein paar wenigen Bundestagsabgeordneten sorgten dafür, dass die Bundeszentrale für Politische Bildung nicht etwa eine weitere Diskussion über das Thema „Sommermärchen“ und Nationalismus anregte, wie es eine demokratische Einrichtung tun würde, sondern sie zensierte ihr eigenes Video und distanziert sich davon.

Das RTL-Nachtjournal (Freitag, 05. Juli 2024, ab 0:20 Uhr) berichtete auch vollkommen tendenziös und bettete, wie zu erwarten, eine kurze Stellungnahme von mir, die der TV-Sender wenige Stunden zuvor aufgenommen hatte, in einen deutsch-nationalen Trommelwirbel ein, der von kritischer Sportwissenschaft oder von Nationalismuskritik noch nie etwas gehört hat. Das wunderschöne Kopfballtor des Mittelfeldspielers Mikel Merino einige Stunden später, am Freitagabend zum 2:1 Sieg Spaniens, dürfte auch der deutsch-nationalen Dekoration des RTL-Studios wie von Kameras wieder die nüchterne Realität vor Augen geführt haben. Ende Gelände für die deutsche Elf, die ja primär nur gegen wirklich schwache Teams wie Schottland (5:1 gleich im ersten Spiel der EURO24) gut aussah, wobei die teils lustigen Dudelsack spielenden schottischen Fans den schlechten sportlichen Eindruck ihres Teams jenseits des Platzes zu kompensieren suchten.

Über das skandalöse Löschen des eigenen Videos durch die Bundeszentrale für Politische Bildung berichten Medien wie Telepolis („Nun muss man sich einerseits fragen, warum ein Shitstorm von konservativen und extrem rechten Kreisen ausreicht, damit die BPB einknickt“), der Merkur („Nun beweisen die in der Vergangenheit durchgeführten Studien tatsächlich, dass ein Zusammenhang zwischen Fußball-Patriotismus und Nationalismus besteht“), Der Spiegel („Die WM 2006, so also der Konsens, habe maßgeblich dazu beigetragen, Nationalstolz und nationale Symbolik zu normalisieren. Das Bild vom Harmlosen ‚Party-Patriotismus‘ wird in der Forschung dabei mit Skepsis gesehen.“), das ND („Kritik an Nationalstolz gelöscht“) oder die taz („Bundeszentrale für politische Bildung: Vor den Rechten eingeknickt“). All diese Medien diskutieren meine These, kontextualisieren sie oder nehmen Bezug auf andere Forscher*innen, die ähnliche Kritik am schwarzrotgoldenen „Overkill“ von 2006 hatten oder haben.

Die ARD-Sportschau hatte schon vor einem Jahr über meine These berichtet und selbstverständlich diese These zur Diskussion gestellt, auch neben anderen Thesen, die dem zuwiderlaufen. So etwas nennt man Demokratie:

Dr. Clemens Heni war einer derjenigen, die sich an dem schwarz-rot-goldenen Overkill mit kleinen Flaggen an Autospiegeln, gedruckten Flaggen auf Chipstüten und Backwaren, geschminkten Flaggen im Gesicht und großen Stoffflagen schon damals störten. Heni ist Politikwissenschaftler. Er forscht mit Schwerpunkten über Antisemitismus und die Neue Rechte.

„Das war damals kein gesunder Patriotismus, wie immer behauptet wird. Der ist in Deutschland auch schwer denkbar, weil er immer mit einer Abwertung des Gedenkens an den Holocaust einhergeht“, so Heni.

These: Ohne WM 2006 kein Erstarken der AfD

Seine These: Ohne die WM 2006 wären weder die rechtsextreme Pegida („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“) noch die AfD so stark geworden.

Auch der Berliner Tagesspiegel berichtete 2023 noch über meine These:

Der Politikwissenschaftler Clemens Heni stellte kürzlich einem Interview mit der „Sportschau“ zudem die These auf, dass die AfD ohne die WM 2006 nicht so stark geworden wäre und bezeichnete Nationalismus und Fußball als „eine toxische Mischung in Deutschland“.

Und diese These der Beziehung von 2006 zum deutschen Nationalismus soll nur ein Jahr später, jetzt im EURO24-Jahr ein Grund sein, dass die Bundeszentrale für Politische Bildung ihr eigens hergestelltes Video wieder löscht? Ernsthaft?

Die Beziehung von Sport und Politik, um die es ja in dem gelöschten Video der Bundeszentrale geht, hat in Deutschland eine lange Tradition. In meiner Doktorarbeit von 2006 habe ich mich mit einem der einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten, Henning Eichberg (1942–2017), befasst. Dabei geht es auch um die Sportwissenschaft und die Beziehung von Sport und Politik. Zu diesem Zweck zitiere ich einige Seite aus meiner publizierten Dissertation („Salonfähigkeit der Neuen Rechten. ‚Nationale Identität‘, Antisemitismus und Antiamerikanismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1970-2005: Henning Eichberg als Exempel, S. 154-165).

Zur Nazi-Olympiade und dem NS-„Thingspiel“ schreibe ich:

 

Eichbergs Habilitation und das Thingspiel (1976)

Für die politische Kultur der Bundesrepublik ist die Stellung zum Nationalsozialismus ein zentrales Moment. Dabei positionierte sich die alte Rechte in etwa so: Hitler war irgendwie die ganze Sache mit dem Krieg aus dem Ruder gelaufen, aber die Idee des Nationalsozialismus war im Kern richtig. Die Neue Rechte, die sich gegen diese apologetischen, einfachen alt-rechten Antworten zu sträuben versucht, ist nun keineswegs anti-nationalsozialistisch. Die Analyse des Thingspiels, einem nicht unwesentlichen kulturpolitischen Baustein der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, kann zeigen, wie eine antihitleristische Neue Rechte die ›guten Seiten des Nationalsozialismus‹ begründen möchte. Weiter wird gezeigt werden, wie fahrlässig bis affirmativ Eichberg am Beispiel des Thingspiels bis heute in der Wissenschaft rezipiert wird.

Eichberg konnte sich 1976 an der Universität Stuttgart habilitieren. Sein Habilitationsvortrag vom Juni hatte das nationalsozialistische Thingspiel zum Thema. Dieser Vortrag war Basis des im Dezember desselben Jahres erschienen Artikels,[1] um den es hier wesentlich geht.

Die Geschichte des Thingspiels mit den Stadionspielen als direkten Vorläufern wird hier nicht dargestellt. Dies haben bereits die beiden Deutschlandfunk-Redakteure Klaus Sauer und German Werth 1971[2] geleistet. Erwähnt sei kurz der wichtige Programmatiker und Stückeschreiber der Stadionspiele, Gustav Goes. In dessen Stück »Opferflamme der Arbeit. Ein Freilichtspiel«[3] wird »Ahasver«, Abgesandter des »internationalen Judentums«, vorgestellt:

»Ahasver: Deutschland? …Kenne ich nicht! Ausgestrichen ist es aus der Karte! Wozu noch Deutschland? International Sind wir alle geworden Seit jenem Tag von Versailles …«.[4]

Wer ist Ahasver? Der ›Ewige Jude‹.[5] Dieser antisemitische Topos Goes’ ist Sinnbild auch des NS-Thingspiels.

a) Euringers Deutsche Passion (1933)

Gleich zu Beginn intoniert Eichberg, der Goes en passant erwähnt und dessen Rolle als Wegbereiter des Thingspiels durch Ablösung der »Guckkastenperspektive zugunsten eines Zuschauerrunds um ein Freilichtfeld herum« gut findet[6], mit dem ersten als Thingspiel des Nationalsozialismus betrachteten[7] Stück von Richard Euringer Deutsche Passion 1933. Hörwerk in sechs Sätzen.[8] Die »blutrote Nacht« am Ende des 1. Weltkrieges, lässt den »bösen Geist« jubilieren.

Doch ein Kind klagt:

»Not.—Not.—Not.—

Hunger und kein Brot.

Herd, und kein Brand.

Und kein Vaterland.«[9]

Da werden

»die Gefallenen unruhig. Chöre der Toten fragen aus der Tiefe, Chöre der Jungdeutschlandregimenter aus der Ferne. Da ›der Arbeitslose‹ die Klagen über das ökonomisch zerrüttete und von fremden Mächten geknechtete Land bestätigt, erhebt sich ›der Gefallene‹, der ›namenlose Soldat‹, um – als Mahnender – seine ›Passion‹ zu leiden und das Volk zu retten. Der böse Geist, eine Mischung aus Kriegsgewinnler, Umsturzpartei, Landesverrat und Kapitalismus, ruft gegen ihn zum totalen Konsum auf und hetzt unter dem Beifall des ›Hauptaktionärs‹ die Massen auf den ›namenlosen Soldaten‹. Aber sie können ihn nicht fassen und schließen sich ihm (…) an. Eine neue Welt der Arbeit entsteht.«[10]

Mehr wird Eichberg zu diesem Stück nicht sagen.

Dieser Bezug zu Euringer ist allerdings Anlass genug, die ganze Passion unter die Lupe zu nehmen und Eichbergs Auslassungen (…) deutlich werden zu lassen.

Der Antisemitismus Euringers steht dabei in direktem Verhältnis zum Judenhass bei Eberhard Wolfgang Möller, dessen Thingspiel Frankenburger Würfelspiel von 1936 Eichberg gleichfalls so darstellt, dass der Kontext Möllers, dessen nationalsozialistisches, parteipolitisches Engagement und seine antisemitischen Texte bewusst und gezielt verschwiegen werden (…). Für meine Kritik ist konstitutiv, dass das, was Eichberg zum Thingspiel sagt, so anti-individualistisch und pro-nationalsozialistisch ist, dass das Aufdecken der Auslassungen nur ergänzenden Charakter hat. Seine rhetorische Mimikry jedoch basiert auf solchen Auslassungen, mit explizit antisemitischen Texten eines Euringer oder Möller hätte er vermutlich nicht in zwei linken Zeitschriften reüssiert. Neben Ästhetik&Kommunikation übernahm auch die linke US-amerikanische Zeitschrift new german critique Eichbergs Aufsatz.[11]

Ziel seiner Beschäftigung mit dem NS-Thingspiel ist das Aufmachen einer fiktiven Opposition: hier das massengesättigte, revolutionäre, nationalsozialistische Thingspiel, dort das elitäre, hierarchisch, führermäßig gesteuerte Herrschaftssystem und die Kulturpolitik des NS-Staates. Sowohl »NS-Kulturfunktionäre« als auch »germanistische Autoren des Nachkriegs«[12] haben in seinen Augen den spontaneistischen Charakter der Thingspielbewegung negiert. Diese Gleichsetzung von germanistischer Kritik nach 1945 mit nationalsozialistischer Politik während des NS verharmlost letzteren in traditionell rechtsextremer Art und Weise. Somit hält sich Eichberg vor Angriffen schon einmal geschützt, stellt er doch NS-Kulturpolitik und Germanistik nach ‘45 auf eine Stufe und sich selbst abseits davon.

Der deutsche Hörer, Leser und später Zuschauer dieser Deutschen Passion 1933 wird nicht enttäuscht. Deutsch ist das Stück bis in die Kinderstube hinein, in die neben dem Schrei nach Brot der nach dem Vaterland hineinprojiziert wird. Der »Gefallene« war »Soldat«, jedoch: »Und bin ich gefallen, so richt’..ich..mich..auf. Deutschland muß leben. Ihr Toten, herauf!«[13]

Die christliche Symbolik von Dornenkrone und Leidensweg sticht stark hervor – »Der Gefallene ›Ob Stacheldraht, ob Dornenkron: ich will sie leiden, die Passion«[14] – und verleiht dem Stück eine christlich-endzeitliche Dimension: das Dritte Reich als Wiederkehr des (anti-jüdischen) Heilands nach 2000 Jahren. »Der Auswurf bin ich. Der Prolet, ein Fraß für Trust und Kapital, verschachert international«.[15] Und es ist der »Teufel, der dies getan«. Geradezu als Epitaph einer ganzen Generation werden die Täter herbeihalluziniert:

»Man lag da an der Somme und so, vor Ypern, Verdun, ich weiß nicht wo, da haben sie’s angezettelt, Phantasten und Literaten, Verbrecher und Demokraten, Juden und Pazifisten, Marxisten und Himbeerchristen. (…) Sie organisieren den Volksverrat. (…) Sie zerbrachen uns das Genick«.[16]

Juden sind also neben Marxisten, Demokraten und ›Himbeerchristen‹ die expliziten Feinde des Thingspiel-Autors Richard Euringer. Die komplette nationalsozialistische Kampftirade seit Anbeginn der Weimarer Republik wird in der Deutschen Passion in Szene gesetzt. Der tapfere Soldat wurde hinterrücks verraten – »Der Feind, er saß im eigenen Land«[17] –, doch nicht nur der Dolch im Rücken, auch das Ausland vor der Brust trägt Schuld:

»Als Rechtsanwalt ein Völkerbund der ungeheuren Lüge«.

Schließlich, in der Mitte des Stückes:

»So wahr ich lebe, mitten im Tod: ein Mann, ein Mann tut Deutschland not«.[18]

Doch der ›böse Geist‹ hintertreibt diese Ode an Hitler mit allen Mitteln:

»Bedarf an Damen! Wir führen aus. Europa wird ein Freudenhaus. Export in alle Lande. Gefragt ist Rassenschande«.[19]

Es wird immer »reeperbahnmäßiger«[20] und eine weitere bis unsere Tage hinein beliebte Formulierung hat ihren Auftritt, als »Kreischen der entfesselten ›Sieger‹«[21]:

»Am Ellbogen erkennt ihr den Mann, der das Rennen machen kann. Es reicht nicht für die Massen.«[22]

Ganz im Einklang mit völkischer und nationalsozialistischer Ideologie wird der »böse Geist«, der nur wenige Seiten bzw. Augenblicke zuvor klar und deutlich als »Jude« benannt wurde, mit seinen ›irdischen Materialisierungen‹ kenntlich gemacht:

»Der ist’s, der aus Warenhäusern gleißt, der hockt an der Börse als böser Geist«.[23]

Die antiurbane, antijüdische Abwehr von Warenhäusern und die häufig verschwörungstheoretisch argumentierende Angst vor ›zirkulärem Kapital‹, das an der Börse gehandelt wird, werden hier wie selbstverständlich theatralisch aufgeführt und sind deutlicher Ausdruck der ›Deutschen Revolution‹ im Jahr 1933.

Dieses erste Thingspiel hat einen alles vereinigenden Kristallisationspunkt, der ›namenlose Soldat‹[24] spricht es vor (und das »Echo aus der Menge«[25] wird immer hörbarer): er will die ›Rachsüchtigen‹ und ›Gierigen‹ »ackern lehren«, der Bauer soll auch die Stadt ehren, der Adel seine Herkunft nicht verachten, »[d]er Höfling war die welsche Schand«.[26] Der Bürger wird ermahnt, nicht nur zu »raffen«, und die Jugend beschworen:

»Von dir, du deutsche Jugend, erbitt ich eine Tugend: dein Leib und Leben ist nicht dein. Stirb, und du wirst unsterblich[27] sein!«, sodann, »mit offenen Armen«, die Arbeiterbewegung implizit für tot erklärt und propagiert: »du Klassenkämpfer und Prolet, tritt aus deiner Wolke! Sei wieder Volk vom Volke!«[28]

Von oben herab verkünden die »seligen Krieger« im Chor: »Mutter, klag nicht, daß wir geendet! Es war nicht umsonst: wir sind vollendet«[29] – und die himmlischen »Stimmen der Jungdeutschlandregimenter«[30] untermalen das effektiv. Der »böse Geist«, kurz vor dem ›tosenden Niedergang‹ in die »Tiefe«[31], hält es nicht mehr aus: »Das auch noch! Da zerplatz doch gleich! Das also gibt’s: ein drittes Reich!!?!!«[32], wobei der ›himmlische Orgelton‹[33] »rhythmisch und harmonisch vermählt dem irdischen Marschlied«[34] erklingen soll.

Damit endet die Deutsche Passion 1933[35] von Richard Euringer.[36]

Die Agitation gegen Warenhäuser, Sexualität und Nachtleben – »immer reeperbahnmäßiger« – und die Anklage gegen die ›Verräter‹ – »Juden, Marxisten, Himbeerchristen« – ist in ihrer explizit und implizit antisemitischen Diktion evident.[37] Dass das Thingspiel keineswegs vom Himmel fiel, so wenig wie der Nationalsozialismus, sondern auf der Akzeptanz weiter Teile der Bevölkerung aufbauen konnte, macht Eichberg in seiner Stil- oder Formfragen zentrierten Apologie dieser Frühform nationalsozialistischer Theaterkultur und -politik vergessen, er rehabilitiert vielmehr diesen Resonanzboden.

Die Schuldumkehr Euringers, schon kurz nach dem Ende des Nationalsozialismus, macht ihn für die Neue Rechte bedeutsam. Er, der Deutsche aus Passion, nach der Befreiung vom Nationalsozialismus von den Alliierten zumindest vorübergehend interniert, schreibt in seiner

»dreisten Rechtfertigungsschrift ›Die Sargbreite Leben‹ eine lange Liste von ›pathologischen‹ Auswüchsen und ›Phantasien einer keimenden Psychose‹ unter den Häftlingen auf: ›Die Ausrottung im Westen erfolgt nicht durch Massenerschießungen, sondern westlich humanitär mit feineren, unsichtbaren Methoden, und zwar in Etappen: (…) Preisgabe der Frauen an die Besatzung. Ruinierung der Frauen durch Überbürdung, Infizierung, Prostitution aus Not, künstliche Vermischung mit Fremdrassen (…). Systematische Verderbung durch ›Umerziehung‹ mittels Kino, Radio, Presse und Broschüren. (…) Ruinierung der Gesundheit der Internierten durch systematische Entziehung der notwendigen Aufbaustoffe‹«.[38]

Heutige Neonazis sprechen vom »›Massenmord an deutschen Kriegsgefangenen‹«.[39]

»Das heißt: In den Veröffentlichungen neonazistischer Gruppen wird das Wort Völkermord systematisch aus seinem gemeinsprachlich konventionalisierten Gebrauchszusammenhang herausgelöst; man deutet es um, transformiert es in ein ideologiespezifisches Schlagwort, indem man unterm dem Lexem Mord, das Bestandteil des Kompositums ist, nicht mehr die gewaltsame Vertreibung von Gruppen oder die Tötung von Menschen versteht, sondern das Resultat von Rassenmischung und die Vernichtung einer rassisch definierten Identität. Diese Umdeutung ist es, die das Schlagwort Völkermord in das Zentrum der für diese Gruppe spezifischen Geschichtsverdrängung und –verleugnung hineinrückt. Es ist ein Zeugnis der offensiven Selbststilisierung als Opfer.«[40]

Eichberg ist ein Freund und Anwalt des Things, denn »in den Schriften der Thingspieltheoretiker« werde »der Wille zum Bruch mit dem Bestehenden in revolutionärem Pathos immer wieder herausgestellt.«[41] Der ›Wille zum Bruch mit dem Bestehenden‹, der gewalttätige, mörderische Drang, namentlich der SA vor 1933, wird von ihm als kulturelles, ›revolutionäres Pathos‹ in die Frühphase des Nationalsozialismus an der Macht transportiert. Er stilisiert die Thingspielbewegung zum Opfer der NS-Führung, wenn er in den Raum wirft, dass

»das Thingspiel vom NS-Staat letztlich als zur ›Manipulation‹ untauglich angesehen und schon 1935/37 fallengelassen oder gar unterdrückt wurde.«[42]

Eichberg konstruiert das Thingspiel als quasi Gegenspieler des SS-Staates, um nicht als Apologet des Nationalsozialismus zu gelten. Die Marxisten von Ä&K wie auch die Editoren von New German Critique nahmen ihm diese Mimikry ab. De facto war das Thingspiel jedoch eine Bündelung genuin nationalsozialistischer Ideologeme.

Der Kampf gegen Versailles, das Pathos des nicht umsonst gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges, das den Zweiten mit vorbereiten hilft, die Sehnsucht nach Erlösung und nach dem Retter, dem ›namenlosen Soldaten‹, der Hass auf den Westen, die Moderne, das Heterogene, Sexualität, Marxismus, (christlichen) Universalismus und Juden ist konstitutiv für die völkische Paranoia. Der anti-bürgerliche Affekt, der in Deutschland Tradition hat, ist hier auf der Ebene des Theaters konkret geworden. Eichberg unterstreicht dies:

»In dem Augenblick, in dem jedoch in unseren Tagen die liberale Totalitarismustheorie in die Krise geriet, entdeckte man auch, daß das Thingspiel als Formierungsinstrument des NS-Staates nur die eine Seite war. Die andere war eine bisher übersehene Spontaneität der Weihespielbewegung in den ersten Jahren nach 1933. Die Baupläne des NS-Staates (1934: 66 Thingstätten im ersten Bauprogramm) wurden weit übertroffen durch Anträge, die von lokaler Seite her an die Ministerien und Behörden gesandt wurden (1934: 500). Als 1933 die Deutsche Arbeitsfront ein Thingspiel-Preisausschreiben veranstaltete, sollen über 10 000 Einsendungen eingegangen sein. (…) Auch wäre das Thingspiel ohne ein spezifisches Rezeptionsverhalten breiter Volksschichten nicht realisierbar und wohl nicht einmal konzipierbar gewesen.«[43]

Das deutsche Volk konstruierte sich weitgehend homogen, was nicht nur die Leugnung des Klassencharakters einer kapitalistischen Industriegesellschaft impliziert und im Zerschlagen freier Gewerkschaften sowie im Kampf gegen die organisierte Arbeiterbewegung mörderisch zu Tage trat, vielmehr im ›Ausscheiden‹[44] des als »fremd« und »undeutsch« Imaginierten, Jüdischen, aus dem Deutschen, die Volksgemeinschaft kreierte. Eichberg möchte zu Euringer zurück und Strukturen einfordern

»mit denen das NS-Thingspiel die neue Theaterform hervorbringen wollte: Gesamtkunstwerk aus Bewegungs-, Sprech- und Musikformen, Freilichttheater, Vermengung von Darstellern und Publikum. Rhythmisierung durch musikalische und chorische Techniken, Massenhaftigkeit, agitatorische Typisierung der agierenden Gestalten und ihre Einfügung in ein duales Muster, im dem die politische Entscheidung für eine bessere Zukunft fällt.«[45]

Die »bessere Zukunft« heißt Deutsche Revolution, meint den nationalen Sozialismus an der Macht – er bezieht sich ja ganz explizit auf das NS-Thingspiel, das für ihn »für eine bessere Zukunft« steht – und verteidigt somit den Nationalsozialismus. Er hebt die antiuniversalistische und antiindividualistische Dimension hervor in der schwelgerischen Betonung der volksgemeinschaftlichen ›Vermengung von Darstellern und Publikum‹.

b) Zenit des ›kulturellen Things‹[46]: Möllers Würfelspiel (1936)

Die Kontinuität der extremen Weimarer Rechten in den NS hinein wird in dem Bezug Eichbergs auf Eberhard Wolfgang Möllers Thingspiel Das Frankenburger Würfelspiel noch deutlicher. Möller war schon vor seinem Eintritt in die NSDAP im Jahr 1932 SA-Mitglied geworden.[47]

Möllers Würfelspiel wurde am 2. August 1936, einen Tag nach der Eröffnung der Olympischen Sommer-Spiele in Berlin, auf der Dietrich-Eckart-Bühne als Thingspiel uraufgeführt. Das dem Stück zugrunde liegende historische Ereignis ist Teil der Gegenreformation im 17. Jahrhundert. Graf Herbersdorf, Gesandter Kaiser Ferdinands II., obliegt es, die Bauern in Oberösterreich zu rekatholisieren. 36 dieser Bauern sollen um ihr Leben würfeln, um die restliche Bevölkerung einzuschüchtern. Doch schließlich dreht sich alles gegen Graf Herbersdorf selbst; es fallen in diesem Bauernkrieg bis zu 7000 Bauern.[48] Möller bezieht die Klage der toten Bauern auf das nationalsozialistische Deutschland. Wie bei Euringer spielt die Klage über die Toten bzw. der noch Nicht-Toten eine große Rolle:

»Gebt uns die Todgeweihten wieder her, die uns auf unserm Weg vorangezogen! Wir sind nicht Kinder und nicht Bettler mehr, wir sind ein neues Volk, ein neues Heer, und wehe denen, welche uns betrogen. Wir sind ein Wille, und wir sind ein Schrei, und kein Versprechen kann uns mehr entzweien. Wir wollen uns von aller Schinderei von allem Joch und aller Tyrannei in Gottes Namen endlich selbst befreien«.[49]

Nicht nur 20 000 Zuschauer verfolgten die Aufführung, sondern auch 1200 Laiendarsteller und 27 Sprechrollen bestimmten »das Verhältnis von Individuum und Gesamtheit neu«.[50] Eichberg schwelgt:

»Auch wenn zu einer Aufführung in Erfurt 1937 fast 2000 Arbeiter und Mitglieder der Parteiformationen aufgeboten und eine ganze Stadt beschäftigt wurde, war die Grenze zwischen Akteuren und Publikum gleitend geworden.«[51]

Es handelt sich hier um seinen Habilitationsvortrag an der Universität Stuttgart vom 02. Juni 1976, der in der linken Szene-Zeitschrift Ästhetik&Kommunikation veröffentlicht[52] wurde, und Eichberg führt sich als der auf, der er sein möchte: als völkischer Beobachter.

Zu Möller, dessen Antisemitismus völlig offen zu Tage liegt[53], sagt er nicht mehr als in folgendem Zitat, Distanz oder gar Kritik entfallen im Schwärmen ob der ›Neubestimmung im Verhältnis von Individuum und Gesamtheit‹:

»Dieser Massenhaftigkeit standen auf dem Spielfeld nicht Individuen in ihrer Besonderheit gegenüber, sondern Typen, abstrakte Gestalten, häufig ohne Namen. Die Schauspieler des ›Frankenburger Würfelspiels‹ 1936 wurden sogar auf Kothurne[54] gestellt. Nicht individuelle Moral oder Psychologie wurde vorgeführt, sondern ein politisches Lehrstück. Nicht um persönliches Schicksal, Schuld und Sühne ging es, sondern um das Volk und um abstrakte Gegebenheiten, wie sie in ›dem Arbeitslosen‹, ›dem Bonzen‹ oder ›dem namenlosen Soldaten‹, in ›dem Richter‹ oder ›der Gestalt in schwarzer Rüstung‹ in Erscheinung traten.«[55]

Das Frankenburger Würfelspiel als »Weihe der Machtübernahme von 1933«[56] führt Möllers Sprache von vor ’33 fort, als er sie in den »Dienst der Massenmobilisierung durch Mobilisierung der Ressentiments der Masse gegen das ›System‹«[57] einspannte. (…)

Für Eichberg zeigt sich im ›olympischen Zeremoniell‹ die Kontinuität der mit »Weihe- und Feierspiele« »zusammenhängenden Verhaltensformen« über die »Veränderungen um 1937/45« hinaus.[58] Deshalb geht er gegen Ende seines Beitrages im Thingspiel-Band auf das während der Olympiade uraufgeführte ›Weihespiel‹ »Olympische Jugend« von Carl Diem ein.[59] Die verschiedenen Bilder dieses Spiels mit über 10.000 Teilnehmern werden dargestellt und einige zentrale Stellen ausführlich zitiert. Es geht in diesem olympischen Weihespiel um »›Kampf um Ehre, Vaterland‹«[60] (im ersten Bild), was ihn bei der Analyse des dritten Bildes unter Hinzuziehung einer zeitgenössischen Darstellung ausführen lässt:

»Während sich die Mädchen zum weiten Rand der Arena zurückziehen und diesen säumen, stürmen von der Ost- und Westtreppe Tausende von Knaben in das Spielfeld, lassen die Romantik aller Jugend aufklingen, indem Jugendgruppen verschiedener Nationen um Lagerfeuer geschart Volkslieder ihrer Heimat singen«.[61]

Gerade vor dem Hintergrund Eichbergs politischer Biografie, zu denken ist an sein Zeltlager 1966 in Südfrankreich (…), ist die Beschreibung einer weihevollen, heimatumwobenen (jugendlichen) Zeltlager-Stimmung des Jahres 1936 im nationalsozialistischen Deutschland bezeichnend. Die Jugend sieht ihrem Selbst-Opfer ins Gesicht:

»Allen Spiels heil’ger Sinn: Vaterlands Hochgewinn. Vaterlandes höchst Gebot in der Not: Opfertod!«[62]

 

Soviel zu Henning Eichberg und der Salonfähigkeit der Neuen Rechten schon in den 1970er Jahren bis heute. Wen wird es morgen Abend schon stören, dass das Berliner Olympiastadion ein Nazi-Stadion ist und dort antisemitische und das deutsche Opfer einfordernde Thingspiele aufgeführt wurden? Das ist eine historische Analyse der Beziehung von Sport und Politik.

Wen wird die Beziehung von NS-Stadion und NS-Thingspiel zum heutigen Berliner Olympiastadion stören in einer Zeit des Aufrüstungswahnsinns (für die Ukraine, für die NATO, für den Militarismus) und einer Zeit, wo noch jeder Magenta- oder ARD/ZDF-Moderator (m/w/d) von „wir“ gleichsam faselt und von einer nüchternen Betrachtung zumal der Spiele mit deutscher Beteiligung nicht ansatzweise die Rede sein kann? Wenn bei einer klaren Regel, die nicht jede Berührung mit der Hand als einen Regelverstoß sieht, die halbe Republik durchdreht und nur am Rande in sachlichen Berichten wie in der Sportschau („Das vermeintliche Handspiel erfolgte in der 106. Minute. Cucurella hatte den Arm draußen und berührte den Ball mit der Hand. Dass es in solchen Situationen keinen Strafstoß geben wird, hatte Roberto Rosetti, der Schiedsrichter-Chef der UEFA, vor dem Turnier angekündigt.“) auf deren Homepage die Sachlage korrekt dargestellt wird?

Vor 17 Jahren konnte man angesichts der Fußball-WM 2006 oder dem „Party-Patriotismus“ Folgendes lesen:

„Ein aktueller Anlaß der Analysen dieses Beitrags waren Identitätskampagnen und die nationale Euphorie während der Fußballweltmeisterschaft [2006]. (…) Während viele Menschen der Meinung sind, ein gesunder patriotischer Nationalstolz sei positiv, zeigen die vorliegenden Befunde, daß es sich hierbei um eine Fehleinschätzung handelt. Auch der während der Fußball-Weltmeisterschaft zu beobachtende  ‚Party-Patriotismus‘ zieht keine positiven Effekte nach sich – im Gegenteil, es zeigt sich ein Anstieg des Nationalismus.“[63]

So heißt es 2007 in einem Beitrag in der Langzeitstudie „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, die unter anderem im Suhrkamp Verlag in der Reihe „Deutsche Zustände“ publiziert wurde, die der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer von 2002 bis 2012 herausgegeben hat. Abgesehen davon, dass dieses Konzept der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ insbesondere in der kritischen Antisemitismusforschung skeptisch betrachtet wird, da jedwede Spezifik des Antisemitismus verwässert wird und er im Orkus x-beliebiger Vorurteile oder Ressentiments untergeht, und namentlich aufgrund des problematischen Begriffs der „Islamophobie“, der auch von islamistischen Kreisen gerne verwendet wird, ist dieser Forschungsansatz generell nicht unumstritten. Das heißt logischerweise nicht, dass dort nicht auch wichtige und relevante Forschungsergebnisse herausgekommen sind.

Nehmen wir das Beispiel Fußball-WM 2006, das allseits gehypte „Sommermärchen“, das dann 2024 bei der Fußball-Europameisterschaft der Männer doch nicht wirklich eine Wiederauflage bekam, jedenfalls nicht, was das exzessive Aufhängen von Fahnen und Wimpeln an Häusern, Balkonen oder Autos betrifft. Gefühlt nur ein Prozent der Anzahl der Fahnen wie 2006 waren zu sehen, auch schon vor dem Ausscheiden der deutschen Mannschaft im Viertelfinale gegen Spanien am Freitag, den 5. Juli 2024 (2:1 für Spanien nach Verlängerung).

Der Professor für Sozialwissenschaften des Sports an der Justus-Liebig-Universität Giessen Michael Mautz und sein Co-Autor Markus Gerke untermauern die Kritik am ach-so-harmlosen deutschen Fußball-„Patriotismus“:

Gunter Gebauer (1996) hat in einem kurzen Beitrag über die Olympischen Sommerspiele 1992, bei denen zum ersten Mal nach der deutschen Wiedervereinigung eine gesamtdeutsche Auswahlmannschaft an den Start ging, einen fundamentalen Wandel der Sportberichterstattung diagnostiziert. Er beschreibt einen Wandel von einer „aristotelischen“ zu einer „nationalistischen“ Logik der Darstellung. Die aristotelische Logik der Inszenierung – entlehnt aus Aristoteles‘ Dramentheorie – basiert auf der In-sich-Geschlossenheit einer Handlung und der Einheit von Ort und Zeit. Bezogen auf den Sport wäre der einzelne sportliche Wettkampf eine geschlossene Handlungsepisode, die vom Beginn bis zum Ende am gleichen Austragungsort präsentiert wird. Die Dramatik ergibt sich hier aus der steigenden Spannung, die dem sportlichen Wettbewerb inhärent ist, sich in der Regel von den Vorkämpfen bis zum Finale langsam aufbaut und sich ruckartig löst, wenn die Siegerin oder der Sieger am Ende feststeht. Diese Inszenierungslogik wurde, so Gebauer, durch eine nationalistische Dramaturgie abgelöst, bei der die Regie schnell zwischen verschiedenen Wettbewerben, Orten und Zeiten hin und her springt und zwar immer dorthin, wo gerade deutsche Sportlerinnen und Sportler an den Start gehen. Die Einheit der TV-Berichte sind nicht mehr einzelne sportliche Wettbewerbe, sondern die Einheit wird dadurch konstruiert, dass entlang der Nationalität berichtet und selektiert wird.[64]

Mutz und Gerke resümieren:

Darüber hinaus zeigen unsere Daten – einschließlich der flankierenden Experimente –, dass Patriotismus und Nationalismus benachbarte, eng korrelierte Einstellungen sind, sodass jede Verstärkung patriotischer Bindungen immer auch mit nationalistischen Ressentiments assoziiert ist. Von der Liebe zum eigenen Land zur Überzeugung, das eigene Land sei besser und mehr wert als alle anderen, ist es kein langer Weg, sondern nur ein kurzer Schritt.[65]

Schließlich:

Zudem haben andere Studien zeigen können, dass sportbezogener Nationalstolz mit einer ethnisch-kulturell fundierten Vorstellung des Nationalen stärker korrespondiert als mit der Idee der zivilen Staatsnation.[66]

Das alles sind wissenschaftliche Analysen, die zeigen wie wichtig es ist, sich kritisch mit der Beziehung von Massenbewegungen wie den obsessiven „Party-Patrioten“ von 2006 ff. zu befassen.

Angesichts der Tatsache, dass bei der Europawahl 2024 die rechtsextreme AfD auf den zweiten Platz nach der CDU und vor der SPD kam, hätte man erwarten können, dass auch die Bundeszentrale für Politische Bildung sich kritisch und diskursiv mit den Folgen von 2006 und dem Fußball-Nationalismus beschäftigt. So wie es zum Beispiel die ARD-Sportschau 2023 unter anderem anhand meiner Thesen auch getan hat. Und diese Kritik war ja offenkundig auch die Intention der Produktionsfirma für das Video und der Serie „Politik raus aus den Stadien“.

Doch ein kleiner Shitstorm von rechten Kreisen reicht heutzutage schon aus, dass eine große Institution wie die Bundeszentrale einknickt und der kritischen Wissenschaft keinen Platz mehr einräumt und eine gesellschaftskritische Publizistik diffamiert.

Selbstbewusstes Handeln sieht anders aus.

Ob es morgen Abend auch nur ein Moderator oder eine Kommentatorin schaffen wird, ein aristotelisches Drama von Spanien gegen England zu übertragen, ohne auf die morgen beim Finale völlig irrelevante Situation der deutschen Nationalmannschaft in diesem Turnier zu rekurrieren oder diesen oder jenen Pass, Freistoß oder Kopfball geradezu zwanghaft obsessiv mit diesem oder jenem Pass, Freistoß oder Kopfball eines x-beliebigen deutschen Nationalspielers der letzten Jahrzehnten irgendwie in Beziehung zu setzen (wie es auch Co-Moderatoren wie Michael Ballack oder Lothar Matthäus gerne tun), um ganz sicher zu betonen, dass „wir“ ja auch so toll Fußball spielen können (nur halt „leider, leider“ diesmal wieder frühzeitig ausgeschieden sind), das ist zu bezweifeln.

Viele Fußball-Fans schauen ja ohnehin solche Spiele ohne Ton an oder haben eine Technik, nur die Stadiongeräusche zu hören, aber nicht die geschwätzigen und a priori pro-deutschen Kommentator*innen oder Moderator*innen.

Das Video über das Sommermärchen und den Nationalismus entspricht exakt dem „Beutelsbacher Konsens“ von 1976, der bis heute immer angeführt wird in der politischen Bildung:

I. Überwältigungsverbot.

2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.

3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren

Das Video entspricht genau diesem Standard, es überwältigt nicht, sondern regt zu Diskussionen an, es zeigt sowohl nationalistische Symbole, also auch die Kritik daran, also beide Seiten. Das Thema „Sommermärchen“ wird „kontrovers“ diskutiert, in aller Kürze der Zeit eines Reels oder Kurzvideos, und die Schüler*innen oder eben Rezipient*innen werden in die Lage versetzt, „eine politische Situation“ und „eigene Interessenlagen“ „zu analysieren“. Aufgrund dieses Videos ließe sich vortrefflich diskutieren, was die Beziehung von Nationalismus und Sport mit der politischen Kultur eines Landes macht, denn wegreden wird ja wohl niemand, dass es nach 2006 den Beginn und Aufstieg sowohl Pegida als auch der AfD gegeben hat und bis heute gibt, die nun mal beide, auch das wird niemand abstreiten, die deutsche Fahne als eines ihrer zentralen Symbole verwendet.

Was bleibt? Die Bundeszentrale für Politische Bildung muss das zensierte Video bzw. die zensierten Videos wieder online stellen und zeigen, dass es eine demokratische Institution ist, die sich umfassend, kritisch und wissenschaftlich mit Phänomenen beschäftigt, hier mit der Beziehung von Sport und Politik.

 

 

[1] Henning Eichberg (1976): Das nationalsozialistische Thingspiel. Massentheater in Faschismus und Arbeiterkultur, in: Ästhetik und Kommunikation, Jg. 7. (1976), H. 26, S. 60–69, hier S. 68.

[2] Klaus Sauer/German Werth (1971): Lorbeer und Palme. Patriotismus in deutschen Festspielen, München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

[3] Gustav Goes (1934): Opferflamme der Arbeit. Ein Freilichtspiel, Berlin, zitiert nach Sauer/Werth 1971, S. 177. Goes hat auch den Aufsatz »Vom Stadion zum Thingspiel«, in: Bausteine zum deutschen Nationaltheater verfasst, der die »maßlose Wut« der Deutschen zum Thema hatte und den Konnex von Stadion- und Thingspiel beleuchtete, zitiert nach Sauer/Werth 1971, S. 176. Ohne Eichberg substantiell zu kritisieren oder seine Mimikry, im Reden über den Nationalsozialismus eine subkutane Apologie desselben zu leisten, zu erfassen, ist der Anspruch, die Bedeutung der Stadionspiele weniger als Vor- als vielmehr ›Nach‹läufer der Thingspielbewegung zu analysieren von Bernhard Helmich zu erwähnen, vgl. Bernhard Helmich (1989): Händel-Fest und »Spiel der 10.000«. Der Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard, Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXX, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, Bd. 32), hier S. 12 f. (u. a. im Bezug auf Eichberg).

[4] Goes 1934, zitiert nach Sauer/Werth 1971, S. 181 f.

[5] Vgl. Clemens Heni (2006): Ahasver, Moloch und Mammon. Der ‘ewige Jude‘ und die deutsche Spezifik in antisemitischen Bildern seit dem 19. Jahrhundert, in: Andrea Hoffmann et al. (Hrsg.) (2006), Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Shoah, Tübingen: TVV, S. 51–79.

[6] Eichberg 1976, S. 62.

[7] Es wurde offiziell nie als Thingspiel bezeichnet, doch das tut hier nichts zur Sache. Über solche Kompetenzstreitigkeiten und inner-nationalsozialistischen Machtspiele werde ich hier nicht berichten. Beispielsweise verwahrte sich in einer Presseanweisung vom 23.10.1935 die NS-Führung dagegen, zukünftig Worte wie »Thing« zu verwenden. Eine solche Position ist selbstredend nicht anti-germanisch oder antivölkisch, vielmehr machtpolitisch motiviert gewesen, vgl. Wolfgang Emmerich (1971): Zur Kritik der Volkstumsideologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (edition suhrkamp), S. 146 ff.

[8] Richard Euringer (1933): Deutsche Passion 1933. Hörwerk in sechs Sätzen, Oldenburg i. O./Berlin: Gerhard Stalling, Verlagsbuchhandlung. Es handelt sich um Band 24 der von Werner Beumelburg herausgegebenen Schriftenreihe »Schriften an die Nation«. Sie wirbt im Bandumschlag damit, » …hat die Schriftenreihe im stärksten Maße dazu beigetragen, die deutsche Revolution vorzubereiten«. Auch Euringer hat die deutsche Revolution antizipiert: »Entworfen Weihnacht 1932. Vollendet Frühmärz 1933. Urgesendet in der ›Stunde der Nation‹, Gründonnerstag, 13. April 1933, über alle deutschen Sender« (ebd., S. 4). Dieses Werk erhielt am 1. Mai 1934 durch den Reichspropagandaminister Goebbels den ›nationalen Buchpreis‹ als bestes Buch des Jahres, vgl. Umschlag.

[9] Euringer 1933, zitiert bei Eichberg 1976, S. 60.

[10] Eichberg 1976, S. 60.

[11] New german critique, 1977, H. 11, darin Henning Eichberg (1977b): The Nazi Thingspiel, in: New German Critique, No. 11, S. 133–150. In dem Standardwerk Sachwörterbuch der Literatur taucht in der Auflage von 1979 erstmals das Stichwort »Thingspiel« auf, und auch Eichbergs erst kurz zuvor erschienenen Texte, sowohl seine Monografie als auch sein englischer Aufsatz werden hierbei aufgeführt, vgl. Gero von Wilpert (1955)/1979: Sachwörterbuch der Literatur, 6. Aufl., Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, S. 836 f.

[12] Eichberg, Henning u. a. (1977a): Massenspiele. NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog (problemata 58), S. 158.

[13] Euringer 1933, S. 16.

[14] Ebd. Auch auf dem Umschlag des schmalen Euringer-Bandes ist eine große Dornenkrone abgebildet.

[15] Ebd., S. 20.

[16] Ebd., S. 22.

[17] Ebd., S. 24.

[18] Ebd., S. 25.

[19] Ebd., S. 28.

[20] Ebd., Regieanweisung.

[21] Ebd., S. 29, Regieanweisung.

[22] Ebd., S. 29.

[23] Ebd.

[24] Dass das ›Führerprinzip‹ erst mit Möllers Würfelspiel (vgl. unten) 1936 eingeführt worden sei – so Henning Rischbieter (Hg.) (2000): Theater im ›Dritten Reich‹. Theaterpolitik Spielplanstruktur NS-Dramatik, Seelze-Velber: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung, S. 41 – ist also schon bei Betrachtung des ersten de facto Thingspiels zu revidieren: »Die Legende bezieht ihre mythische Qualität aber nicht nur aus ihrer Analogie zur Christuspassion, sondern bemüht zusätzlich den Mythos vom ›Unbekannten Soldaten‹, mit dem Euringer eindeutig auf Hitler verweist. Hitler nannte sich selbst gern den ›unbekannten Gefreiten des Weltkriegs‹« (Hannelore Wolff (1985): Volksabstimmung auf der Bühne? Das Massentheater als Mittel politischer Agitation, Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang (Europäische Hochschulschriften, Reihe 30, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, Bd. 23), S. 198). Wolff nimmt Eichbergs Thingspiel-Aufsatz (Eichberg 1976) in ihr Literaturverzeichnis auf, ohne sich jedoch näher mit ihm zu befassen, also auch nicht seine Apologie des Thingspiels, zu erfassen.

[25] Euringer 1933, S. 34, Regieanweisung.

[26] Ebd., S. 35.

[27] Vgl. unten zu den Unsterblichen/Toten auch Diems »Weihespiel«.

[28] Euringer 1933, S. 34 f.

[29] Ebd., S. 46.

[30] Ebd., Regieanweisung.

[31] »Mit Getöse in die Tiefe« (ebd., S. 47, Regieanweisung).

[32] Ebd., S. 47.

[33] »Aus den Himmeln Orgelton« (ebd., Regieanweisung).

[34] Ebd., Regieanweisung.

[35] Von den 1920er bis in die 1950er Jahre war Hanns Niedecken-Gebhard Intendant und Regisseur, eine prägende Figur im Theaterleben der Nazis, zuvor und unmittelbar danach. Er durfte Euringers Passion in deutsche Szene setzen. Helmichs pure Deskription kann ich nicht anders als affirmativ lesen: »Statt der ›stumm vorbeiziehenden Jüngsten‹ hätte der Kritiker des ›Völkischen Beobachter‹ lieber ›stramme Hitler-Jugend oder SA‹ aufmarschieren sehen. Immerhin erreicht Niedecken, dass die fast 2.000 Zuschauer sich am Ende – beim Erklingen von volkstümlicher Musik und gleichzeitigem Entrollen von Hakenkreuzfahnen – spontan von ihren Plätzen erheben und die Arme zum ›Deutschen Gruß‹ in die Höhe strecken« (Helmich 1989, S. 180). Was für ein ›immerhin‹!

[36] Allgemein lässt sich zu den Thingspielen sagen: »Die Aufführungen endeten fast immer nach dem gleichen Schema, das häufig bereits in den Texten vorgegeben war: am Schluß des Spiels zogen nationalsozialistische Formationen, die Kolonnen der SA, der SS, des Arbeitsdienstes oder anderer Verbände mit ihren Fahnen und Standarten und begleitet von Marschmusik durch die Zuschauerreihen hindurch in das Theaterrund ein. Das Singen des Horst-Wessel- oder des Deutschland-Liedes, in das alle Versammelten, Mitwirkende und Zuschauer, einfielen, war in der Regel Höhepunkt und Abschluß eines Thingspiels« (Wolff 1985, S. 225).

[37] Scheits Interpretation, die das Fehlen eines offenen Antisemitismus in diesen Stücken betont, ist gleichwohl aufschlussreich. Sie sieht in dem »bösen Geist« die Gegenfigur zum »namenlosen Soldaten« bei Euringer: »Schon der erste große Erfolg in diesem Genre [dem ›Thingspieltheater‹, C. H.] – Richard Euringers Deutsche Passion 1933 – hatte nicht zufällig die Dramaturgie des Passionsspiels adaptiert; zugleich ist dieses Thingspiel der ersten Stunde so etwas wie eine trivialisierte und proletarisierte Version des Parsifal – mit deutlichen Anleihen beim deutschen Expressionismus. Es fällt auf, dass der Antisemitismus des Stücks dabei kaum konkreter wird als der von Wagners Musikdramen: Kontrahent des gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs, der als Wiederauferstandener Deutschland erlöst wie Christus die Menschheit und Parsifal die Ritter, ist nicht ›der Jude‹, sondern ein »Böser Geist«, der nicht deutlicher auf das Judentum anspielt als etwa Alberich, Kundry oder Klingsor. (…) Die Christus- und Parsifalfigur der Deutschen Passion, der gefallene und wiederauferstandene Soldat, bedeutete eine unmittelbare und für jeden verständliche Anspielung auf Adolf Hitler. Näher wagten sich Theater und Spielfilm nie wieder an den ›Führer‹ heran« (Gerhard Scheit (1999): Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus, Freiburg: ça ira, S. 358).

[38] Zitiert nach Stefan Busch (1998): »Und gestern, da hörte uns Deutschland«. NS-Autoren in der Bundesrepublik. Kontinuität und Diskontinuität bei Friedrich Griese, Werner Beumelburg, Eberhard Wolfgang Möller und Kurt Ziesel, Würzburg: Königshausen & Neumann (Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte Band 13), S. 206, Anm. 180.

[39] So ein Flugblatt des »Freundeskreises Freiheit für Deutschland«, zitiert nach: Bernhard Pörksen (2000): Die Konstruktion von Feindbildern. Zum Sprachgebrauch in neonazistischen Medien, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 143. Seit 02.09.1993 ist der »Freundeskreis Freiheit für Deutschland« eine verbotene Organisation.

[40] Pörksen 2000, S. 144; vgl. zum Topos ›Völkermord‹ bzw. ›Volkstod‹ III.4.e [in meiner Dissertation].

[41] Eichberg 1976, S. 62.

[42] Ebd., S. 61.

[43] Ebd.

[44] Vgl. bezüglich Achim von Arnims Antisemitismus und dem ›Ausscheiden‹ alles Fremden Susanna Moßmann (1994): Das Fremde ausscheiden. Antisemitismus und Nationalbewußtsein bei Ludwig Achim von Arnim und in der ›Christlich-deutschen Tischgesellschaft‹, in: Hans Peter Herrmann/Hans-Martin Blitz/dies. (1994): Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (suhrkamp taschenbuch wissenschaft), S. 123–159.

[45] Eichberg 1976, S. 65.

[46] Das ›kulturelle Thing‹, d. h. das Thingspiel, wurde womöglich auch aufgrund der Konkurrenz zum ›politischen Thing‹, den Nürnberger Reichsparteitagen bzw. insgesamt der Inszenierung des Staates als »›Volksdrama‹« (Goebbels), aufgegeben, vgl. Peter Reichel (1991)/1994: Der schöne Schein des Dritten Reichs. Faszination und Gewalt des Faschismus, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag (Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Buchreihe), S. 339 f.

[47] Busch 1998, S. 148. »Zum ›Führergeburtstag‹ am 20.4.1934 schrieb Möller im Völkischen Beobachter: ›Wir sind in die S.A. gegangen, um als Soldaten die nationale Revolution durchzukämpfen, die wir an unseren Schreibtischen nicht hätten durchkämpfen können, und wir bleiben als Soldaten in unsern Stürmen, auch wenn wir schreiben‹« (ebd., Anm. 15).

[48] 25 Jahre nach seinen Thingspiellobeshymnen spricht Eichberg nebenbei und gezielt in der Diktion seiner rhetorischen Mimikry sein antiaufklärerisches Politikkonzept wieder an: »In seinem Buch ›Thing und Polis‹ versuchte der Maler Asger JORN eine politische Theorie aus dem Geiste des situationistischen Anarchismus heraus. Er setzte zwei Konfigurationen scharf gegeneinander, als historische Erfahrungen und zugleich als Ausgangspunkte zweier unterschiedlicher Auffassungen von Demokratie. Die Polis stand für das Modell der Bürgerpolitik; sie entstand historisch aus der Kombination von Burg bzw. Befestigung, stadtbürgerlicher Klassengesellschaft und Sklavenökonomie. Der Thing stand für die Selbstverwaltung ländlicher Sippen, für die Dorfdemokratie, und der Bauer wurde zum Joker zwischen urbaner Bourgeoisie und Proletariat« (Henning Eichberg (2001a): Bewegung in der Stadt – Bewegung im Labyrinth. Über fraktale Aspekte körperlicher Praxis, in: Jürgen Funke-Wiencke/Klaus Moegling (Hg.) (2001): Stadt und Bewegung. Knut Dietrich gewidmet zur Emeritierung, Immenhausen bei Kassel: Prolog-Verlag (Bewegungslehre & Bewegungsforschung Bd. 12), S. 28–44, hier S. 34 f.).

[49] Eberhard Wolfgang Möller (1936)/1940: Das Frankenburger Würfelspiel. Volksausgabe, mit einem Nachwort und einer Bühnenskizze, Berlin: Theaterverlag Albert Langen/Georg Müller, S. 52.

[50] Eichberg 1976, S. 62 f.

[51] Ebd., S. 62.

[52] Das Zeitschriftenprojekt Ästhetik und Kommunikation bot Eichberg gleich mehrmals die Gelegenheit zur Publikation seiner neu-rechten Gedanken, 1976, 1979 und 1994.

[53] »Whether in his dramatic works, poetry, or radio dramas, Möller always stressed the leitmotifs of heroism, anti-Semitism, and anticapitalism« (Jay W. Baird (1994): Hitler’s Muse: The Political Aesthetics of the Poet and Playwright Eberhard Wolfgang Möller, in: German Studies Review, Vol. XVII (1994), No. 2, S. 269–285, hier S. 270). Als Beispiel für Möllers Antisemitismus vgl. Eberhard Wolfgang Möller (1934): Rothschild siegt bei Waterloo. Ein Schauspiel, Berlin: Theaterverlag Albert Langen Georg Müller, das seine Uraufführung am 5. Oktober 1934 in Aachen und Weimar hatte. »Eberhard Wolfgang Möllers ›Rothschild siegt bei Waterloo‹ liegt eine Anekdote zugrunde, nach der aus dem Blutopfer von Zehntausenden ein Börsenmanöver gigantischen Ausmaßes gemanagt wird. Es ist die bitterernste Satire des ewig raffenden Geistes schlechthin. Verdienen statt dienen, Risiko statt Einsatzbereitschaft, Geld als Endziel aller Macht sind seine Schlagworte«, Rhein.-Westf. Zeitung, Essen, Buchumschlag Möller 1934. Entgegen dem bereinigten Stück Frankenburger Würfelspiel, das ja der internationalen Öffentlichkeit zur Zeit der Olympiade 36 galt, ist hier also der Antisemitismus offenkundig. Im September 1939 fasste Möller während der Vorbereitung zu ›Jud Süß‹ sein nationalsozialistisches Weltbild zusammen: »Wir lassen die Geschichte sprechen. Und sie zeigt nicht, daß ›der Jude auch ein Mensch‹ ist, nein, sie stellt klar, daß der Jude ein ganz anderer Mensch ist als wir, und daß ihm die uns angeborene sittliche Kontrolle über sein Handeln fehlt. (…) Keinen bösen Dämon wollten wir darstellen, aber den Abgrund zwischen der jüdischen und der arischen Haltung wollten wir dartun«, zitiert nach Busch 1998, S. 157, Herv. im Original. Allerdings verweist Busch ohne Kommentar an mehreren Stellen auf Eichbergs NS-Thingspiel Band von 1977, vgl. Busch 1998, S. 149, Anm. 21; 163, Anm. 72; 184, Anm. 133. Ein solches Rekurrieren auf Eichberg noch im Jahre 1998 halte ich gerade in einer wissenschaftlichen Arbeit für symptomatisch für die Virulenz Eichbergs rhetorischer Mimikry. Ebenfalls kommentarlos wird Eichbergs Apologie Möllers nicht gesehen, wenn Sarkowicz/Mentzer in ihrem Standardwerk Eichberg in die sehr knappe Literaturliste aufnehmen, vgl. Hans Sarkowicz/Alf Mentzer (2000): Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon, Hamburg/Wien: Europa-Verlag, S. 284 f.

[54] Kothurne sind in der Antike aufgekommene Bühnenschuhe.

[55] Eichberg 1976, S. 63.

[56] So die Darstellung bei Karl-Heinz Joachim Schoeps (1992)/2000: Literatur im Dritten Reich (1933–1945), 2., überarb. u. erg. Aufl., Berlin: Weidler Buchverlag (Germanistische Lehrbuchsammlung), S. 160. Allerdings zitiert Schoeps Eichberg ebenfalls gleich mehrfach, um ihn gar als ernstzunehmenden Historiografen der Thingspielbewegung heranzuziehen, demnach sei es evident, dass das »›Thingspiel als politisch-kultisches Massentheater den wichtigsten Beitrag darstellte, den der Nationalsozialismus zur Kunstform des Theaters und der Literatur leistete‹« (Eichberg 1977, S. 5, zitiert bei Schoeps 1992, S. 162, zu weiteren Bezugnahmen auf Eichberg vgl. ebd., S. 167 f.).

[57] Christina Jung-Hofmann (2002): Engagierte Literatur und rhetorischer Realismus. »Panamaskandal« und Weimarer Republik bei Wilhelm Herzog und Eberhard Wolfgang Möller, in: Stefan Neuhaus/Rolf Selbmann/Thorsten Unger (Hg.) (2002): Engagierte Literatur zwischen den Weltkriegen, Würzburg: Köngishausen & Neumann ( Schriften der Ernst-Toller-Gesellschaft, Band 4), S. 219–237, hier S. 236.

[58] Eichberg 1977, S. 143. Genau diese Seite führt [die Historikerin Christiane Eisenberg] abschließend an, um Eichberg Recht zu geben in seinen Analysen. Allein schon die Zeiteinteilung »1937/45«, Eichberg meint ganz offensichtlich das vermeintliche Verebben der Thingspielbewegung 1937 und mit 1945 das Ende des Nationalsozialismus, ist eine Verharmlosung nationalsozialistischer Totalität. Dieser sehr einfache Trick Eichbergs, ein vermeintlich diskontinuierliches Moment des Nationalsozialismus hervorzuheben und zu einer Periode zu stilisieren, fällt Eisenberg entweder nicht auf oder sie affirmiert diese Sichtweise.

[59] Ebd., S. 143-146.

[60] Ebd., S. 144.

[61] Ebd.

[62] Ebd., S. 145. Helmich stellt diesen Opfertod recht positiv dar: »Für Diem liegt in dieser Szene [der vorletzten von Olympische Jugend, C. H.], die die Olympische Flamme zum Sinnbild der Seele der Jugend werden läßt, der ›geistige Höhepunkt‹ des Spiels. Dessen eigentlicher Sinn aber erschließe sich im folgenden Bild, ›Heldenkampf und Totenklage‹«; es folgt die oben zitierte »Opfertod«-Passage, die weiter erläutert wird: »Für den Rezitator Joachim Eisenschmidt werden diese Verse wenige Jahre später zur Realität werden«, um schließlich mit dem »Anspruch der Tanzkunst« eines Rudolf von Laban die praktisch werdende Frage »Wann und wie darf ich töten« zu stellen, Helmich 1989: 209 f. In der Weimarer Republik war Laban »zum großen Guru des Ausdruckstanzes« avanciert, später konnte er die Olympische Jugend mit inszenieren, vgl. Horst Koegler (1980): Vom Ausdruckstanz zum »Bewegungschor« des deutschen Volkes: Rudolf von Laban, in: Karl Corino (Hg.) (1980): Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus, Hamburg: Hoffmann und Campe, S. 165–179, hier S. 171 bzw. S. 176.

[63] Julia Becker/Ulrich Wagner/Oliver Christ (2007): Nationalismus und Patriotismus als Ursache von Fremdenfeindlichkeit, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 131–149, hier S. 146f.

[64] Michael Mutz/Markus Gerke (2019): Fußball und Nationalstolz in Deutschland. Eine repräsentative Panelstudie rund um die EM 2016, Wiesbaden: Springer VS, S. 26.

[65] Ebd., S. 161.

[66] Ebd., S. 161f.

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