Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Hamed Abdel-Samad

Indonesien fordert Sicherheit für Israel, South Park attackiert Netanyahu und die deutsche Israel-Szene lebt hinterm Mond

 

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Der erste Staat, der im 21. Jahrhundert seine Unabhängigkeit erklärte, war bekanntlich Osttimor im Jahr 2002.

Der jüngste Staat, der im 21. Jahrhundert nun auch von führenden Industrienationen als unabhängiger Staat (ohne Staatsgebilde) anerkannt wird, ist Palästina.

Frankreich, England, Kanada, Spanien und Australien sind die einflussreichsten Mächte, die die letzten Tage Palästina anerkannten.

Es sind offensichtlich symbolische Schritte von Ländern, die für ihre pro-israelische Politik seit Jahrzehnten bekannt sind. Doch von Netanyahu und der Israel-Szene hierzulande werden sie alle als Antisemiten diffamiert. All diese Staaten wollen ein Palästina ohne Hamas und ohne ein Militär.

Und der 7. Oktober passierte nicht, weil die Hamas so stark gewesen wäre, sondern weil Israel so extrem schlecht vorbereitet war und so unfassbar schlecht reagiert hat. Wer seine bekanntermaßen so gefährdete Grenze nicht schützt, hat als Schutzmacht für Juden versagt. Das ist die äußerst bittere Erkenntnis dieses Tages.

Das darf nicht zu einem Antizionismus führen, muss aber linkszionistisch die rechtsextreme Regierung Israels in die Verantwortung nehmen. Ohne deren Versagen, wozu auch das Versagen der Armee, der Geheimdienste wie der Polizei gehören, wäre es nicht dazu gekommen. Es ist ja nicht so, dass die Hamas mit Hunderten Panzern und Kampfjets das Land überfallen hätte! Solche Waffen haben sie gar nicht. Aber Israel hat sie und sie waren nicht da.

Wer ebenfalls für Palästina eintritt, ist der indonesische Präsident Prabowo Subianto, der seit Oktober 2024 Präsident von Indonesien ist.

Indonesien ist das bevölkerungsreichste muslimische Land weltweit mit ca. 280 Millionen Einwohner*innen, wovon 225 Millionen Muslime sind.

Prabowo war 1991 in Osttimor mutmaßlich an Kriegsverbrechen und offenbar schon in den 1970er Jahren an Menschenrechtsverletzungen beteiligt. Jetzt ist er Präsident von Indonesien und tut so, als sei er ein gemäßigter Politiker, der sich sowohl für Gaza als auch für Israel einsetze. Eine Läuterung? Eine Ablenkung?

Er betonte diese Woche in seiner Rede vor den Vereinten Nationen in New York City auf der Generalversammlung, dass er das schreckliche Leid in Gaza sehe. Mehrmals führte er das in seiner 20-minütigen Rede an. Doch später betonte er nachdrücklich, dass auch Israel ein Recht auf Frieden und sichere Existenz habe. Gegen Ende seiner Rede sprach er gar mit dem hebräischen Wort von „Schalom“. Das ist geradezu ein „ziemliches diplomatisches Erdbeben“ der positiven Art, wie ein Blogtext in der Times of Israel (TOI) feststellt.

Die Rede von Prabowo war in der Tat eine politische Rede, die sich recht umfassend mit den Weltproblemen und vor allem der Situation im Globalen Süden befasste. Der Klimawandel bedroht vor allem arme und südlich gelegene Länder wie Indonesien, weshalb der Staat einen riesigen Schutzwall im Meer bauen wird, was Jahrzehnte dauern wird. Armut und soziale Ungleichheit sind weitere sehr zentrale Themen, die Prabowo ansprach. Indonesien ist demnach mittlerweile Selbstversorger mit Grundnahrungsmitteln wie Reis und kann sogar Lebensmittel exportieren.

Er hat gleichwohl kein Wort zum Autoritarismus in seinem eigenen Land und zu seiner eigenen Biographie gesagt. Seine Rede hat also darüber hinweggetäuscht, dass er zum Beispiel mit der GSG 9 der alten BRD kooperierte:

Prabowo hatte eine kometengleiche Karriere im indonesischen Militär vorgelegt, nicht zuletzt wegen seiner besonderen Qualifikation, die er sich bei verschiedenen Sonderausbildungen im Ausland verschaffte – beispielsweise 1981 bei der GSG 9 in Hangelar bei Bonn. 1995 wurde er Chef der militärischen Eliteeinheit Kopassus. Deren ehrenwerte Aufgabe umschrieb eine indonesische Menschenrechtsorganisation mit „Spionage, Terror und Gegenterror“, inklusive der Inszenierung gewalttätiger Provokationen. (Jungle World, 18. August 1998)

Vermutlich war Prabowo an dem Massaker in Dili im Jahr 1991 mit 250 ermordeten Zivilist*innen beteiligt. Es ist insofern nicht nur eine innenpolitische Frage, wie mit der Geschichte und den möglichen Verbrechen von Prabowo umgegangen wird. Es bleibt also ein mehr als ambivalentes Bild.

Doch für Israel und die Juden war seine sensationelle Zuwendung zum jüdischen Staat, sein explizites Betonen, dass Israel das Recht habe, als Staat in Sicherheit existieren zu dürfen, wie ein kleines Neujahrswunder.

Nur Netanyahu interessiert sich nicht für Weltpolitik und diese Unterstützung des größten muslimischen Landes für Israel. Netanyahu hat in seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen eine dermaßen peinliche Propaganda-Show abgezogen, dass einem Sehen und Hören verging. Mit keinem Wort erwähnte er die innerisraelische Kritik an seiner rechtsextremen Politik. Mit keinem Wort erwähnte er die Anerkennung Israels aus dem Mund des Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde Abbas, der ja nur per Video zugeschalten war, weil Trump der gesamten Delegation der PA die Einreise in die USA verweigert hatte, ein skandalöser Vorgang. Abbas sagte auch, dass die Palästinenser einen modernen und zivilisierten Staat anstreben, ohne Waffen. Das mögen Phrasen sein, sind aber elementar, da er zugleich die Massaker der Hamas und des Islamischen Jihad vom 7. Oktober verurteilte und damit die massive Unterstützung für die Hamas im Westjordanland unter den Palästinenser*innen frontal attackierte, also seine eigenen Leute. Das sind Zeichen eines Wandels – aber Netanyahu ist realitätsgestört und möchte diese Zeichen gar nicht sehen.

Nur ca. vier Prozent der Öffentlichkeit in Israel rezipieren die Tageszeitung Haaretz, wie in einem sehr interessanten Podcast mit dem deutschen Botschafter Steffen Seibert deutlich wurde. Selbstredend ging Seibert nicht selbstkritisch auf seine Rolle als Sprecher der Corona-Regimes unter Angela Merkel ein, wo er jegliche irrationale „Maßnahmen“ propagierte und verteidigte.

Aber Selbstkritik an der epidemiologisch, medizinisch, philosophisch, juristisch, soziologisch, politikwissenschaftlich, religionswissenschaftlich und anderweitig zu hinterfragenden Corona-Politik ist ja Mangelware, seltener noch als Bananen im Sommer 1989 in der damaligen DDR.

Aber Seibert machte seine pro-israelische Haltung unmissverständlich deutlich und ebenso sein enormes Leiden an der aktuellen rechtsextremen Politik der israelischen Regierung.

Was also sehr interessant und bemerkenswert ist, ist Seiberts klare Trennung der deutschen pro-zionistischen und pro-israelischen Haltung bei gleichzeitiger scharfer Ablehnung der aktuellen Politik der Regierung Netanyahu. Er sagte, dass es doch ein klares Zeichen sei, dass Tausende junge Israelis das Land verlassen haben und weiter verlassen würden – wegen der rechtsextremen Politik von Netanyahu und seiner Regierung. Solche in der Tat zionistischen, man würde fast sagen linkszionistischen Positionen aus dem Munde eines deutschen Botschafters, der jeweils unter CDU-Bundeskanzler*innen arbeitet (als Sprecher bzw. Botschafter), sind sehr wichtig und relevant – aber die deutsche Israel-Szene hört sich das nicht an und zieht daraus logischerweise auch keine Konsequenzen für ihr eigenes Verhalten.

Das macht Demonstrations- und Kundgebungsankündigungen der deutschen ach-so-dermaßen Pro-Israel-Szene völlig irrelevant. Wenn wir zum Beispiel lesen, zu was für einer Kundgebung die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) Stuttgart und die DIG Rhein-Neckar und viele andere Gruppen wie der weltbekannte „Denkendorfer Kreis für christlich-jüdische Begegnung“ oder die jüdische Studierendenunion Württemberg sowie die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg zum 5. Oktober 2025 aufrufen, sieht man, in welcher Welt diese Leute leben:

Aufruf:

Solidarität mit Israel.
Gegen jeden Antisemitismus!

Am 7. Oktober jährt sich das antisemitische Massaker im Westlichen Negev zum zweiten Mal. Wir rufen zur Solidarität mit den Menschen in Israel auf. Wir fordern die Freilassung aller noch in palästinensischer Geiselhaft verbliebenen Entführten!

Wir werden ein starkes Zeichen gegen JEDEN Antisemitismus setzen. Wir rufen dazu auf, sich gegen den Vernichtungsantisemitismus im Nahen Osten und den Antisemitismus auf deutschen Straßen zu positionieren und für die Sicherheit sichtbaren jüdischen Lebens im öffentlichen Raum.

Einen solchen Aufruf hätte man am 8. Oktober 2023 machen können oder auch am 31. Oktober 2023. Aber man kann einen solchen Aufruf nicht im Oktober 2025 benutzen, um für Israel zu sein, ohne mit einem einzigen Wort die völkerrechtswidrige, menschenverachtende und rechtsextreme Politik der israelischen Regierung unter Benjamin Netanyahu zu attackieren. Das geht nicht. Doch es geht schon, aber nur wenn man Teil der völlig realitätsfremden offiziellen deutsch-israelischen „Szene“ ist. Wissenschaftlich und politisch ist ein solcher Aufruf grotesk.

Die Verwendung des Wortes „Vernichtungsantisemitismus“ ist doppelt problematisch. Erstens wird dabei auf die Shoah und den tatsächlich auch durchgeführten Erlösungs- und Vernichtungsantisemitismus der Deutschen angespielt. Damit wird die Shoah verharmlost. Am 7. Oktober geschahen unfassbar schreckliche Massaker. Aber das war kein zweiter Holocaust. Das war keine staatlich-industrielle Zerstörung jüdischen Lebens, sondern es waren Pogrome und Massaker. Das ist schrecklich, aber etwas kategorial Anderes.

Zweitens dementiert diese Rede den Zionismus, denn wenn in Israel – im jüdischen Staat – ein „Vernichtungsantisemitismus“ wütete am 7. Oktober 2023, denn auf dieses Datum spielt das Wort eindeutig an, es geht um den 7. Oktober und den Jahrestag, dann hat der Zionismus ja vollkommen versagt. Dann ist Israel die genau falsche Lösung des Problems Antisemitismus, würden dann viele einwerfen, denn in der Diaspora gab es jedenfalls seit 1945 kein Massaker mit 1200 Toten.

Wer also meint, besonders pro-israelisch zu sein und eine radikale Sprache zu verwenden, sollte vorsichtig sein mit Worten, deren tiefere Bedeutung ihm oder ihr nicht klar sind. Die Ideologie der Hamas wie des Iran hat vernichtungsantisemitische Dimensionen. Aber im Holocaust war die Ideologie und die Praxis auf die Vernichtung gerichtet. Es gab den Holocaust. Der 7. Oktober war kein Holocaust. Wer das insinuiert, dementiert, auch ganz unfreiwillig, den Zionismus und den Staat Israel.

Der israelische Historiker Moshe Zimmermann aus Tel Aviv sagte schon am 8. Oktober 2023 in der Tagesschau, dass das Massaker des Tages zuvor ein „Versagen des Zionismus“ sei. Es gab ja noch nie seit 1948 ein solches Massaker an Juden, weltweit gab es das nicht. Und ausgerechnet im angeblich sichersten Ort der Welt für Juden, dem jüdischen Staat Israel, gab es nun so ein Massaker. Er betonte schon damals, dass eine Division der israelischen Armee IDF, die für den Schutz der Grenze zu Gaza verantwortlich war, in das Westjordanland abkommandiert worden war. Wir wissen mittlerweile, dass es noch viel schlimmer war, weil die israelische Regierung, das Militär, die Geheimdienste und die Polizei vorsätzlich Warnungen der eigenen Leute nicht ernst nahmen. Das wird alles irgendwann wissenschaftlich aufgearbeitet werden.

Im Oktober 2024 auf 3sat in Kulturzeit sagte Zimmermann, dessen Eltern, Hamburger Juden, 1938 aus Nazi-Deutschland fliehen konnten und der Fußball interessiert und HSV-Fan ist, man sieht in seinem privaten Zimmer in Tel Aviv in den Videoschalten ein kleines HSV-Fähnchen im Hintergrund auf einer Kommode stehen, dass ein so langer Krieg offenbar nicht den Sieg über die Hamas gebracht hat und dass das ein Versagen Israels ist. Er versteht die anfängliche militärische Reaktion auf den 7. Oktober, aber danach hätte es Verhandlungen geben müssen.

Im September 2025 ist Zimmermann wiederum bei 3sat und Kulturzeit im Fernsehen zu sehen und er ist sichtlich noch niedergeschlagener. Als linker Zionist möchte er die Zweistaatenlösung, aber er betont, dass die „Mehrheit der Israelis zwar gegen Netanyahu“ sei, aber gleichwohl „nationalistisch“. Die Toten in Gaza würden die meisten bis heute mit „Indifferenz“ zur Kenntnis nehmen.

Die Opposition sei „zwar sehr laut“, aber ohne politischen Einfluss. Es müsse Druck „von außen kommen“ und vor allem von der israelischen Zivilgesellschaft. Schon 2024 in seinem zitierten 3sat-Gespräch sagte er, dass Israel zwei große Feinde habe, einen äußeren Feind – Iran, die arabische Welt – und einen inneren Feind, wie die rechtsextreme Regierung unter Netanyahu und die Siedlerbewegung. Mittlerweile seien beide Feindeslager eines friedlichen Zionismus „gleich groß“.

Doch davon hört man in der deutschen Israel-Szene rein gar nichts. Niemand würde hier von zwei großen Feindeslagern sprechen, dem Iran UND dem Rechtsextremismus in Israel bzw. jenen, die eine Zweistaatenlösung ablehnen. Aktuell, so die Kulturzeit-Moderatorin Vivian Perkovic im 2025er Gespräch mit Zimmermann, würden nur noch 21 Prozent der Israelis eine Zweistaatenlösung akzeptieren, so sei der Stand im März 2025.

Die dramatische Situation für Israel und für Überlebende der Massaker vom 7. Oktober wird im 2024er Beitrag von Kulturzeit, in dem auch das Gespräch mit Moshe Zimmermann Teil der Sendung war, in einem sehr dramatischen und bewegenden Video über eine Israelin, Danielle Aloni, deutlich. Aloni hat den Angriff auf ihr Haus mit ihrer Tochter zwar überlebt, aber wurde dann als Geisel in die Tunnel von Gaza sowie in Wohnungen verschleppt. Schließlich kam sie bei einem Geisel-Deal mit ihrer Tochter frei.

Sie war sehr von der israelischen Regierung enttäuscht, weil sie genau merkte, dass die Priorität von Netanyahu ganz sicher nicht das Überleben der Geiseln ist. Es gibt ein Video von ihr aus der Geiselhaft, das zwar von den palästinensischen Terroristen gewollt und aufgenommen wurde, aber sie selbst habe bestimmt, was und wie sie es sagt, wie sie in Kulturzeit betont. Sie schreit in diesem Video gegen Netanyahu und die israelische Regierung, die sie im Stich lassen würden. Das sieht sie auch noch viele Monate später exakt so.

Und das hat sich bis heute nicht geändert. Und DAS muss das Thema einer Kundgebung der DIG sein, wenn sie ernstgenommen werden möchte. Die Priorität der israelischen Regierung liegt im Fortdauern des Krieges, im Unterstützen von Netanyahu und nicht in der Befreiung der Geiseln.

Heute sollte ein Aufruf zum Beispiel so heißen:

Für Israel und gegen den Krieg!

Damit wäre klar, dass die Organisator*innen und Teilnehmer*innen an so einer Demonstration oder Kundgebung sowohl zionistisch und pro-israelisch, also auch nicht menschenverachtend, dafür am Völkerrecht orientiert sind und sich gegen die aktuelle israelische Regierung positionieren.

Doch so wie die Pro-Gaza-Szene niemals unter dem Motto

Für Palästina und für Israel

demonstrieren würde, so demonstriert wiederum die Israel-Szene niemals

Für Israel und für Palästina.

Und diese Verhärtung muss endlich aufgelöst werden. Dafür steht Indonesien, dafür stehen Frankreich, England, der deutsche Botschafter in Israel und sehr sehr, wirklich sehr viele andere.

Wären diese Aktivist*innen im Umfeld der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) in Israel oder würden wenigstens israelische Medien wie die Times of Israel (TOI) oder die englische Ausgabe der Haaretz rezipieren, wüssten sie ob der extrem aufgeladenen Situation in Israel gegen die Regierung.

Dort wird von Politikern wie Gilad Kariv, Knessetabgeordneter der Partei „Die Demokraten“, die im Juli 2024 gegründet wurde und ein Zusammenschluss der linken Parteien Avoda und Meretz ist, die Hauptverantwortung für die andauernde Geiselhaft israelischer Geiseln in Gaza bei der israelischen Regierung gesehen.

Netanyahu hat spätestens seit dem Frühjahr 2024 immer wieder unter perfiden Vorwänden den Krieg verlängert und weitere Geisel-„Deals“ ausgeschlagen. So sieht es fast das gesamte Hostage Forum, ein Zusammenschluss der Angehörigen und Freund*innen der Geiseln, und die kritische Öffentlichkeit in Israel. Doch davon hat die DIG nichts gehört und davon will sie nichts hören. Sonst würde sie nicht so einen desolaten, ja grotesken Demonstrations- oder Kundgebungsaufruf im September/Oktober 2025 publizieren.

Es gab gestern eine Großdemonstration für Gaza in Berlin mit bis zu 100.000 Teilnehmer*innen. Obwohl im Vorfeld klar war, dass dort viele Antisemiten, Antizionistinnen und Israelfeinde aller Couleur mitmarschieren werden, hat die im Bundestag vertretene Partei Die Linke die Demonstration angemeldet. Der Tagesspiegel hat darüber berichtet. Ein islamistischer und Pro-Hamas Demo-Zug aus Kreuzberg mit 1200 Teilnehmer*innen wurde von der Polizei gestoppt und aufgelöst, doch auf der Großdemo waren auch Transparente mit antisemitischem und Holocaust verharmlosendem Inhalt zu lesen wie „Auschwitz = Gaza“ oder „Netanyahu = Hitler“. Das ist antisemitische Volksverhetzung und gehört angezeigt und verurteilt.

Die Schuldabwehr und Schuldumkehr wird auch von Muslimen, Arabern und Linken bedient, was wir insbesondere seit dem Sechstage-Krieg von 1967 weltweit erleben.

Dieser antizionistische Antisemitismus ist auch 2025 schlimm, aber nicht neu. Es war schockierend, wie weite Teile der linken Szene am 7. Oktober feierten oder schwiegen, als 1200 Jüdinnen und Juden auf unschilderbare Weise massakriert, vergewaltigt, gedemütigt, gefoltert und 251 entführt wurden, worunter auch Nicht-Israelis waren.

Doch seither ist sehr viel passiert. Darauf weisen ehemalige führende Armeemitglieder der IDF hin, die sich für ein Ende des Krieges einsetzen.

Natürlich geht es gegen jeden Antisemitismus und für Israel – aber es muss genauso gegen die rechtsextreme und Israel so stark beschädigende und Zivilist*innen und Palästinenser*innen tötende Politik der aktuellen israelischen Regierung gehen. Wer das nicht sieht, hat jegliche Menschlichkeit verloren und keinen Bezug mehr zur Realität.

Netanyahu hat Israel so stark isoliert wie kein anderer israelischer Regierungschef seit 1948. Er hat unzählige Verbündete vor den Kopf gestoßen, sie beleidigt und verdammt – wie den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den britischen Premierminister Keir Starmer oder den australischen Ministerpräsidenten Anthony Albanese. Albanese habe „Israel verraten“, Starmer würde an der Seite der islamistischen Terrororganisation Hamas und Macron auf jener von „Massenmördern, Vergewaltigern, Babymördern und Entführern“ stehen.

England bzw. das Vereinigte Königreich, Frankreich und Australien sind allesamt Freunde Israels. Sie sind aber jeweils auch Anhänger des Völkerrechts und Kritiker der aktuellen katastrophalen Kriegspolitik von Netanyahu.

Die aktuelle israelische Regierung isoliert das Land und gefährdet jüdisches Leben weltweit. Nächste Woche wird die UEFA (Union of European Football Associations) darüber abstimmen, ob Israel ausgeschlossen wird. Im November 2025 wir die Eurovision Broadcasting Union darüber entscheiden, ob Israel am ESC 2026 teilnehmen darf. Das sind schockierende Vorgänge, da damit alle Juden und Jüdinnen für das Verhalten des Staates Israel haftbar gemacht werden. Es könnte ja sein, dass die Fußballspieler*innen wie die Sänger*innen jeweils gegen den aktuellen Krieg sind oder gegen die rechtsextreme Regierung. Doch sie werden alle in Haftung genommen – was jedoch schon beim russischen Krieg gegen die Ukraine 2022 der Fall war und ein Skandal, der jedoch kaum jemanden schockierte.

Die Pointe ist jedoch: weder die UEFA noch die Eurovision Broadcasting Union sind antisemitisch, sonst wäre ja Israel die letzten Jahrzehnte dort nicht Mitglied gewesen bzw. ist noch Mitglied. Es ist die aktuelle und in der Tat mit dem Völkerrecht nicht in Einklang zu bringende Kriegspolitik, die noch die Freundinnen und Freunde des einzigen jüdisches Staates an den Rand der Verzweiflung bringen.

Nicht so die DIG, die scheint keinerlei Gewissensbisse zu haben mit den Verbrechen der IDF in Gaza, der gezielten Hungerpolitik, dem Erschießen von nach Nahrung anstehenden Palästinenser*innen, worüber wir ja Berichte von IDF-Soldaten haben, die das selbst erlebt haben, wie sie oder ihre Kollegen auf wehrlose Zivilist*innen schossen. Das sind Kriegsverbrechen. Ein ausführlicher Bericht  der Haaretz berichtete im Juni 2025 darüber:

Offiziere und Soldaten der israelischen Streitkräfte berichteten der Zeitung Haaretz, dass sie den Befehl erhalten hätten, auf unbewaffnete Menschenmengen in der Nähe von Lebensmittelverteilungsstellen im Gazastreifen zu schießen, selbst wenn keine Gefahr bestand. Hunderte Palästinenser wurden getötet, woraufhin die Militärstaatsanwaltschaft eine Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen forderte. (Übersetzung CH)

Der Journalist Jonathan Freedland aus London sagt in der aktuellen Ausgabe des Podcasts Unholy (ab Min. 17) mit Yonit Levi aus Tel Aviv, dass die Anerkennung Palästinas durch führende Industrienationen keineswegs eine Honorierung des Massakers der Hamas vom 7. Oktober ist, sondern eine Reaktion auf die israelische Reaktion auf den 7. Oktober. Das ist der entscheidende Punkt, der Knackpunkt!

Doch das kann die DIG analytisch offenkundig nicht fassen. Sie bzw. die DIG Stuttgart und ihr Bündnis gehen mit keinem Wort auf diese Reaktion, den unerträglichen und brutalen Krieg, ein. So kurz ist der Ankündigungstext nicht, als ob es nicht möglich gewesen wäre, explizit und eindeutig den aktuellen Krieg Israels, der weltweit gerade auch von Israelfreunden abgelehnt wird, zu kritisieren.

Es gibt Kriegsverbrechen der IDF, aber keinen Genozid. Das muss festgehalten werden. Dieses Wort bedient viel zu stark die Täter-Opfer-Umkehr und ist auch viel zu ungenau. In einem Genozid – und Historiker des Holocaust reden von der Shoah als einzigem Genozid, worüber ich geschrieben habe – ist sowohl die Intention ein ganzes Volk zu vernichten maßgeblich, als auch die unmittelbare Anwendung von Gewalt, dieses Ziel zu erreichen. Und Israel möchte nicht alle Palästinenser ermorden, auch wenn es einzelne, faschistoide Stimmen gibt, die das sagen oder andeuten.

Es gibt nicht täglich Massaker mit Tausenden von Toten in Gaza. Das macht das Zerstören von Gebäuden und Töten von Zivilist*innen nicht vergessen. Das macht auch eine extrem brutale Hungerpolitik, an der täglich Menschen sterben und mittel- wie langfristig sterben werden, oder ein kürzeres und viel schlechteres Leben haben werden, weil zumal Kindern körperliche Schäden zugefügt werden bei einer Hungersnot, die langfristig wirken und nicht immer sofort zum Tod führen, nicht vergessen. Diese Hungerpolitik ist ein Kriegsverbrechen und muss bestraft werden. Vor allem muss dieser Krieg mit Hunger sofort beendet werden und die kriminelle Verteilungspolitik Israels muss beendet und international seriös strukturiert werden, wie es ja zu anderen Zeiten des Krieges auch schon der Fall war.

Da hilft es nichts und es ist eher zynisch, wenn pro-israelische Wissenschaftler*innen, Publizisten und Aktivistinnen mantramäßig mit „Sudan“ antworten, wenn es um die Situation in Gaza geht. Denn dass andernorts noch viel schlimmere Kriegsverbrechen und noch viel schrecklichere Politik mit Hunger gemacht wird wie im Sudan, rechtfertigt nicht Israels eigene verbrecherische Politik:

Bonn/Berlin, 14. April 2025. Anlässlich der morgen stattfindenden internationalen Konferenz für den Sudan in London appelliert die Welthungerhilfe an die Staatengemeinschaft, das Leid der Menschen nicht länger zu ignorieren und entschlossen zu handeln. Zwei Jahre nach Beginn des verheerenden Kriegs im Sudan erlebt das Land die größte Hunger- und Vertreibungskrise der Welt. 30,4 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen – so viele wie nie zuvor. Fast 26 Millionen Menschen leiden unter akutem Hunger, während 15 Millionen Menschen innerhalb des Landes oder über die Grenzen hinweg vertrieben wurden. „Die Lage im Sudan ist desaströs. Menschen sterben, weil sie keinen Zugang zu Nahrungsmitteln und sauberem Wasser haben. Die internationale Gemeinschaft muss dringend mehr finanzielle Mittel bereitstellen, um das Überleben der Betroffenen zu sichern“, fordert Mathias Mogge, Generalsekretär der Welthungerhilfe.

Viel realitätsgetreuer als die typische Israel-Szene in Deutschland geht die 1997 gestartete legendäre Animationsserie South Park mit dem Gazakrieg um. South Park spielt in Colorado, USA, und handelt von vier acht-bis zehnjährigen Freunden, die in die Grundschule in South Park gehen. Einer von ihnen, Kyle Broflovski, ist jüdisch. In der fünften Folge der 27. Staffel von Ende September 2025 reist Sheila Broflovski, die Mutter von Kyle, äußerst aufgebracht nach Jerusalem, stürmt in das Büro von Netanyahu und greift den israelischen Premierminister frontal an:

Den Höhepunkt der Episode bildet Sheilas spontaner Flug nach Israel, wo sie direkt in Netanyahus Büro eindringt. In einer emotionalen Tirade konfrontiert sie den israelischen Ministerpräsidenten mit harten Vorwürfen bezüglich seiner Kriegsführung.

Die Worte an Netanyahu sind der «Jerusalem Post» zufolge besonders scharf formuliert. «Wer glaubst du eigentlich, dass du bist? Du tötest Tausende und zerstörst ganze Stadtteile!»

Netanyahu erschwere das Leben für Juden weltweit und mache das Leben für amerikanische Juden nahezu unmöglich. Diese Aussage reflektiert die realen Sorgen vieler Diaspora-Juden, die sich durch Israels Politik in eine schwierige Lage gedrängt sehen.

Für Sheila ist ein jüdisches Leben in den USA „gar nicht mehr lebbar“ wegen der Politik von Netanyahu.

Das ist eine satirische, scharfe Kritik, die sehr wohl das Lebensgefühl von sehr vielen Jüdinnen und Juden in den USA widerspiegelt, wie Jonathan Freedland festhält, was wiederum Yonit Levi amüsiert, da sie ihrem britisch-jüdischen Kollegen gar nicht zugetraut hätte, dass er South Park schaut…

Die Haaretz hat den Propagandaauftritt Netanyahus vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen – vor weitgehend leerem Haus, fast alle Delegationen der ganzen Welt hatten die Sitzung verlassen, als Netanyahu das Rednerpult betrat – diese Woche auf den Punkt gebracht:

Immer und immer wieder kam er auf den 7. Oktober zurück, zu einer Zeit, in der die Welt auf die schrecklichen Szenen in Gaza fokussiert ist, wo Hunderte und Tausende von Kindern und Babys zerfetzt werden. Alle liegen falsch – außer ihm. Dutzende von Staats- und Regierungschefs, treue Freunde Israels, die in ihren eigenen Ländern gegen Antisemitismus kämpfen und nach dem Massaker nach Israel kamen, um ihre Solidarität zu bekunden, hatten fast zwei Jahre lang davon abgesehen, Maßnahmen zu ergreifen, obwohl klar war, dass der Krieg nur dazu diente, seine Koalition zu erhalten – sie wurden von ihm beschuldigt, sich „voreingenommenen Medien“, „Terror“ und dem Islam zu beugen.
Seine Entourage, die zwei Reihen dominierte, spendete ihm nach jedem zweiten Satz Standing Ovations. Selbst die quasi Cheerleader auf der Tribüne kratzten hier und da Applaus zusammen. Doch das unterstrich nur die globale Isolation Israels: Netanjahu und seine törichten Spielereien spielen keine Rolle mehr. Er gilt als Relikt, als korrupter Politiker, der sich mit rassistischen Parteien verbündet hat, um an der Macht zu bleiben. (Übersetzung CH)

Das ist der Punkt. Frankreich, England, Australien, Kanada sind enge Verbündete Israels, sie des Antisemitismus oder der Nähe zur Hamas zu beschuldigen, wie es Netanyahu in der ihm eigenen vulgären Tonart getan hat, beschädigt den Zionismus und Israel ganz massiv und gefährdet jüdisches Leben in der Diaspora und zeugt von einer immensen Menschenverachtung was die Palästinenser in Gaza betrifft.

Ein sich offenbar besonders pro-israelisch vorkommender Autor der taz sekundiert ein solches Netanyahu-Verhalten mit einem vorgeblich satirischen Beitrag, der kaum anders als zynisch und rassistisch zu lesen ist:

Ein kühler Septembermorgen in der Lüneburger Heide. Und doch liegt schon früh eine aufgeheizte Spannung über Bispingen, einer 6.500-Seelen-Gemeinde, rund fünfzehn Kilometer nordöstlich der Heidemetropole Soltau. Eingebettet in ein touristisches Gewerbegebiet an der A 7 zwischen Snow Dome, Kartbahn und Trampolinlandschaft, öffnet hier heute mit dem Gaza-Adventure-Dorf eine weitere Attraktion ihre Pforten. Auf 40.000 Quadratmetern erleben Besucher eine Art künstlichen Krisenstreifen – eine Mischung aus Themenpark, Freilichtbühne und Abenteuertraining.

(…)

Laiendarsteller in zerschlissenen, aber farbenfrohen Kostümen spielen die sogenannten Streifenbewohner. Sie tragen Habseligkeiten hin und her, diskutieren die Trinkwasserqualität oder lassen sich theatralisch auf improvisierten Matratzenlagern nieder. Viele der Schauspieler stammen aus den strukturschwachen Regionen der Umgebung. „Ich habe hier einen festen Job als Geiselnehmer gefunden und gleichzeitig macht es Spaß, die Gäste zum Nachdenken zu bringen“, sagt Lars D., 33. Der ehemalige Langzeitarbeitslose aus Fallingbostel wurde vom Jobcenter ans Adventure-Dorf vermittelt.

(…)

Zu den Highlights des Dorfprogramms zählen die stündlich per Sirenenalarm angekündigten „Verpflegungsausgaben“. Da inszenieren dann Schauspieler eine handfeste Prügelei um ein paar (plastene) Brotlaibe und erzeugen so für einige Minuten ein improvisiertes Chaos, in das die Besucher spielerisch miteinbezogen werden. Danach gibt es für alle Süßigkeiten und Wassermelonenlimo, stilecht serviert in löchrigen Metalldosen.

Wer das angesichts des konkreten und unermesslichen Leidens in Gaza lustig findet, sollte vielleicht am besten nochmal ganz von vorne anfangen.

Und das sage ich als ein Wissenschaftler, Public Intellectual und Aktivist, der schon im Januar 2001 mit einer autonomen oder antideutschen Gruppe in Bremen den Antizionismus der Linken wie der Revolutionären Zellen analysierte und kritisierte.

Die taz wird sekundiert vom Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen, Philipp Peyman Engel, der jetzt einen Briefwechsel mit dem Publizisten Hamed Abdel-Samad in der Urania in Berlin vorstellte. Abdel-Samad hat eine scharfe Kritik an Israel. Diese Kritik kommt von einer grundsätzlich pro-israelischen und anti-islamistischen sowie gegen den Antisemitismus gerichteten Haltung. Gleichwohl ist seine Verwendung des Wortes „Genozid“ vorschnell. Aber er ist dennoch um Welten realitätsnaher und eloquenter, selber denkend, als sein Gegenüber. Die Süddeutsche bringt es in einem Text, der diese Buchvorstellung zum Thema hat, auf den Punkt, in dem sie Engel selbst zitiert:

Bei der Buchvorstellung sagt Engel ein paar Mal: „Jetzt klinge ich wie der israelische Regierungssprecher.“ Und Hamed Abdel-Samad bestätigt, ja, genau so klinge er.

 

Was bleibt?

Indonesien stellt sich trotz dieser Kriegsverbrechen, die es benennt und mit dem Wort „Genozid“ falsch benennt – das Wort „Kriegsverbrechen“ ist doch scharf und treffend genug -, hinter Israel und fordert die ganze muslimische Welt auf, Israels Sicherheit zu gewährleisten.

Das ist ein Fingerzeig nach Saudi-Arabien und Nahost von Fernost. Und tatsächlich: Wenn die Geiseln freikommen, der Krieg beendet ist und Netanyahu weg ist, dann könnte es in der Tat zu Sicherheits- oder Friedensabkommen mit Saudi-Arabien und der ganzen arabischen Welt kommen. Dazu braucht Israel eine neue und eine seriöse, nicht-rechtsextreme Regierung.

Sodann zeigen die sehr scharfen, politisch, diplomatisch wie künstlerisch professionell präsentierten Kritiken an der Kriegspolitik Israel von Seiten Frankreichs, des UK, Australiens und anderer, von Steffen Seibert und von South Park, dass eine Kritik an der aktuellen israelischen Regierung Kernpunkt jedweder Israelsolidarität sein muss.

Denn neben dem Krieg in Gaza kommt ja noch die rechtsextreme Siedlungspolitik im Westjordanland und die Siedlergewalt sowie das finanzielle Aushungern der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) durch Israel hinzu, die eine Zweistaatenlösung unmöglich machen sollen. Netanyahu selbst hat im September 2025 gesagt, dass das Projekt E1 einen Staat Palästina für alle Zeiten unmöglich machen wird:

„Es wird keinen palästinensischen Staat geben“, erklärte Premierminister Benjamin Netanjahu bei der Zeremonie am Donnerstag in Ma’ale Adumim. Im Jahr 2009 hatte er in seiner berühmten Bar-Ilan-Rede noch für einen palästinensischen Staat ausgesprochen, und im Jahr 2020 hatte er einem solchen Staat als Teil des „Deals des Jahrhunderts“ von US-Präsident Donald Trump unter bestimmten Bedingungen zugestimmt. Die Regierungsminister, die an der Zeremonie am Donnerstag teilnahmen, sind jedoch zuversichtlich, dass es diesmal kein Zurück mehr geben wird.
(Übersetzung CH)

Netanyahu wird und er darf nicht Recht behalten, denn sonst hat Israel als jüdischer und demokratischer Zeit keine Zukunft.

Das wird die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) nicht nachvollziehen können, da sie ihre Aktivitäten vermutlich als pro-israelisch einstufen wird. Wer sich aber in Aufrufen zu Demonstrationen zu Israel und gegen Antisemitismus nicht auch gegen Netanyahu, gegen den Krieg ausspricht, der Palästinenser tötet und die Geiseln in noch größere Lebensgefahr bringt, vorsätzlich und gegen die Warnungen der IDF selbst, hat die Zeichen der Zeit nicht gesehen und lebt weit hinterm Mond oder eben im Ländle.

Besser South Park als DIG.

 

 

2014: Ein Jahr der Klarheit

Die Bundesrepublik zwischen grünem (Hamas) und braunem (HOGESA) Nazismus und dem schwarzrotgoldenen Extremismus der PEGIDA-»Mitte«. 

Mit einem Exkurs: War Deutschland Teil des Abendlandes?

 

Das Jahr 2014 brachte Klarheit. Eine schreckliche Klarheit. Soviel Antisemitismus, soviel Pro-Hitler und Pro-Holocaust Statements, Hetze gegen Juden und Israel, muslimischen Judenhass, aber auch soviel Islamhass und Rassismus und soviel Deutsch-Nationalismus gab es selten so offen in einem Jahr. Niemand außer den Deutschen kann aufrecht gehen, dafür sind sie Weltmeister, das beliebteste Land der Welt, Angela Merkel wird zwar vom rechten »wir träumen-reden- lachen-und-fühlen-deutsch« Rand der CDU/CSU verabscheut, aber weltweit als führende Politikerin geehrt. Wenngleich Merkel sich in ihrer Neujahrsansprache von PEGIDA explizit abgrenzt, sind ihr weltpolitisches Hin- und Herschwanken, ihre Standpunktlosigkeit und die Affirmation des Bestehenden erfolgreich.

Dabei ist das Bestehende eine Mischung aus deutsch-iranischen Geschäften, sozialer Krise und Kapitalismus in Europa sowie politischen Konflikten über die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zwischen Lobhudelei für Nazis wie den Ukrainer Stepan Bandera, einer Derealisierung der Präzedenzlosigkeit der Shoah und der Stilisierung der Deutschen zu ganz normalen »Opfern« der bösen Nazis (»Unsere Mütter, unsere Väter«), was wiederum gewissen germanophilen Kreisen der weltweiten kulturindustriellen Elite gefällt (»International Grammy Award«).

Jene Kritiker, die 1989 Wi–dervereinigung ohne »e« schrieben, wurden von Helmut Kohl und der SPD, die nicht erst damals die deutsche Hymne anstimmte, diffamiert. Heute geht es so gut wie niemand mehr um eine »Alternative zu Deutschland«. Dafür gibt es die »Alternative für Deutschland« (AfD). Die Mehrheit sei a priori gut drauf, so lautet das Mantra der »Extremismustheorie« vom Schlage Uwe Backes‘, Eckhard Jesses oder Werner Patzelt, wie der Politologe Miro Jennerjahn in Anlehnung an Gesine Schwan analysierte.

 

Exkurs: War Deutschland Teil des Abendlandes?

Der Historiker Peter Viereck (1916–2006) hat in seiner Dissertation 1942 – Metapolitics. From Wagner and the German Romantics to Hitler – gezeigt, dass Deutschland nicht Teil des Abendlandes war beziehungsweise immer wieder antiwestliche »Revolten« hervorbrachte. Seine Doktorarbeit, die bereits 1941 publiziert und von Thomas Mann belobigt wurde, analysiert das antiwestliche Denken der Deutschen. Viereck macht fünf »Revolten« aus, die Deutschland vom Westen trennen. Das macht die Rede von der »Rettung des Abendlandes« gerade in Deutschland oder Dresden so ahistorisch und grotesk. Dabei schrieb Viereck seine Arbeit vor Auschwitz.

 

Die erste »Revolte«: Deutschland, das es natürlich unter diesem Namen damals gar nicht gab, kämpfte als »Germanien« gegen den »römischen Universalismus«, was sich exemplarisch in der Schlacht im Teutoburger Wald im Jahr 9 CE zeigte. Heinrich von Kleists »Hermannsschlacht« von 1808 setzte dieser allzu deutschen Schlacht ein literarisches Denkmal. Der Politik- und Literaturwissenschaftler Andreas Dörner hat die »Entstehung des Nationalbewußtseins der Deutschen» am Beispiel des »Hermannsmythos« untersucht. Dabei spielt die »schwarze Fahne« eine wichtige Rolle, da sie »als Zeichen totaler Zerstörung das Ende des Kampfes« anzeigt. Der antirömische Zug Deutschlands zeigte sich auch beim antisemitischen Agitator in Österreich Ende des 19. Jahrhunderts, Georg von Schönerer, der proklamierte: »Ohne Juda, ohne Rom bauen wir Germaniens Dom«. Für den Nationalbolschewisten Ernst Niekisch war Hitler zu »mittelmeerisch«, er habe als Österreicher ein zu »sonniges Gemüt« und sei quasi »römisch«. Für den Antisemiten Niekisch (»Hitler – ein deutsches Verhängnis«, 1932) stand Hitler nicht rechts, deutsch und preußisch genug da. Auch Niekisch-Jünger wie die »ethnopluralistische«, rassistische Neue Rechte in der Folge von Henning Eichberg sind konsequent antirömisch. Rom steht für »Reich« analog zu den USA heute.

Das steht in direkter Beziehung zu Peter Vierecks zweiter »Revolte« der Deutschen: die Abwehr des Christentums durch die mittelalterlichen Sachsen und der Einsatz des heidnischen »Wotan«. Drittens steht für einen »deutschen Weg« die lutherische Reformation, die ja offenkundig anti-römisch war. Viertens analysiert Viereck die »Revolte gegen das römische Imperium, wie es sich in der westlichen Welt« zeigte. Der deutsche »Sturm und Drang« und die Neoromantiker wandten sich gegen 1789 und Frankreichs Universalismus. Das Ressentiment gegen »zuviel« Vernunft, das Promoten von Gefühlsduselei, Heimat und Ideologeme von Klopstock, Herder, vielen anderen und das »Volkslied«, das bei PEGIDA so beliebt ist wie bei Hansi Hinterseer und den schmalzigen »Volksmusikanten«, die seit Jahrzehnten ein Millionenpublikum bedienen, stehen dafür exemplarisch. Die fünfte »Revolte« war der »radikalste Bruch jemals mit der westlichen Zivilisation«:

der Nationalsozialismus.

Selbst nazistische Termini wie »Lügenpresse« evozieren nicht die Erinnerung an die übelste braun-schwarze, antiintellektuelle, reaktionäre Moderne der völkischen Bewegung, von Joseph Goebbels und Alfred Rosenberg, sondern lösen Begeisterung aus. Das ist nicht nur Unwissen und Dummheit. Vielmehr ein gewolltes Liebäugeln. Für Cora Stephan ist es lediglich ein »Trick« Nazis bei PEGIDA und ähnlichen völkischen Aufmärschen als solche zu bezeichnen. Kluge »Bürger« wie Lutz Bachmann oder NDR-Autorin Cora Stephan haben hingegen erkannt, dass es bei der Kritik an PEGIDA um ein »Ablenkungsmanöver« handele. Auch Forderungen wie »Deutschland raus aus der NATO«, die auf PEGIDA-Demonstrationen großformatig propagiert werden, stören den neoliberalen, konservativen, angeblich pro-amerikanischen Kurs von Blogs wie Achgut gar nicht.

Henryk M. Broder kokettiert mit dem Extremismus der Mitte, den (nicht nur) ostdeutschen Spießbürgern, den Nationalisten, Rechtsextremisten, Neonazis und Rassisten und Antisemiten von PEGIDA und seine Gefolgschaft wie Matthias Matussek, der Kritiker der völkischen Dresdner Bewegung mit der Hitlerjugend (HJ) vergleicht, Hamed Abdel-Samad, der auch auf Facebook eine »irrationale Angst« der PEGIDA-Kritiker sieht, oder Cora Stephan sekundieren die Agitation gegen »den« Islam oder entwirklichen die rechtsextreme Gefahr. Broder ist blind ob der Teilnahme von antijüdischen Beschneidungsgegnern an den PEGIDA oder HOGESA Aufmärschen – wie Michael Stürzenberger, Bundesvorsitzender von der Kleinstpartei Die Freiheit, oder der großen Website Politically Incorrect (PI) – und schreibt:

»Wenn sich aber eine nationale Einheitsfront formiert, in der die christlichen Kirchen, der Zentralrat der Juden, die Gewerkschaften, das Handwerk, die Arbeitgeber und die üblichen Verdächtigen aus dem Kulturbetrieb Seit an Seit marschieren und alle, die an dieser Prozession nicht teilnehmen wollen, zu Dumpfbacken, Nationalisten, Rassisten, Nazis und einer ›Schande für Deutschland‹ erklärt werden, dann stimmt irgendetwas nicht mit der gelebten Demokratie in unserem Land.«

Wenn Nazis und Nationalisten, die mit Nazi-Vokabular und Deutschlandfahne »Wir sind das Volk« grölen, nüchtern im Gegensatz zu PEGIDAs Zwillingsbruder HOGESA (Hooligans gegen Salafisten), erhebt sich Broders Stimme gegen Kritiker und nicht gegen den rassistischen Mob. Er sieht gar nicht, dass es PEGIDA nicht um die islamistische Gefahr wie aus Iran oder den Judenhass von Islamisten geht. Viele PEGIDA-Aktivisten sind selbst Antisemiten und waren seit 9/11 auf Demonstrationen gegen Antisemitismus und Islamismus nicht zu sehen, und jene wenigen, die kamen, wie mit einer neonazistischen, Anti-Antifa »German Defence League (GDL)«-Flagge, hätten von den Organisatoren pro-israelischer und anti-islamistischer Kundgebungen besser des Platzes verwiesen gehört.

Dabei ist Broders Kritik an der antiamerikanischen Schadenfreude ob des 11. September und der Trivialisierung des Islamismus so aktuell wie zuvor. Denn weiterhin schreiben Altlinke wie der Herausgeber der einzigen linken Publikumszeitschrift in diesem Land, Konkret, Hermann L. Gremliza, im Dezember 2014 über den islamistischen Massenmord im World Trade Center am 11. September 2001 und die islamistischen Enthauptungen, Pogrome und Massenmorde in den letzten Jahren:

»Der Krieg, der seit dem Ende des Kalten geführt wird, spielt sich nicht da ab, sondern dort, wo die USA von Natur aus zuständig sind: weit hinten in der globalen Türkei. Er heißt war on terror und hat eine sechs-, bald siebenstellige Zahl an Menschen jeden Alters und Geschlechts umgebracht. Nicht Menschen im engeren Sinn, versteht sich, um die ein Aufhebens zu machen sich lohnte wie um die drei bis vier in Allahs Namen abgeschlachteten Amerikaner, Briten und Franzosen, die tagelang die Bildschirme füllten.« (Konkret 12/14)

Nach einer knappen Übersicht über weltweite »Sprenggürtel«-»Märtyrer«, »failed states«, »Islamisten und Mörderbanden« von »Nord- und Zentralafrika«, Erdogan, Syrien, Irak, Pakistan, Hindukusch, Hongkong bis hin nach Korea resümiert Gremliza:

»Überall legen die USA Lunten, ziehen sie ›rote Linien‹, stellen Ultimaten, schicken Drohnen, werfen Bomben.«

Dieses perfide, antiamerikanische, den Jihadismus und Islamismus als Phänomene sui generis negierende, delirierende, linke Gerede bekommt im antiwestlichen, die USA dämonisierenden Verschwörungswahnsinn der »Russia Today« / »Friedenswichtel«-Szene um das »Compact«-Magazin und Jürgen Elsässer, der früher als quasi Nachfolger Gremlizas aufgepäppelt worden war, ehe es zum Bruch kam, ein Echo.

Viele, die im Sommer angesichts des Pro-Hitler- und Pro-Holocaust-Gebrülle von (organisierten) Islamisten und (unorganisierten) Muslimen und ihren extrem rechten und linken Freunden schwiegen, sind jetzt lautstarke Kritiker von PEGIDA. Doch warum nur Nationalismus und Rassismus kritisieren und zum Antisemitismus schweigen? Linke zelebrierten mit ihren islamistischen und neonazistischen Kolleg_innen ein antizionistisch-antisemitisches Hassfestival auf den Straßen EUropas.

Was viele in der »Pro-Israel«-Szene sich jedoch weigern zu sehen: es gibt eine zunehmende Zahl von Leuten, die gegen Antisemitismus und Israelhass wie auch gegen PEGIDA, Nationalismus, Rassismus, Agitation gegen »den« Islam und Muslime und Flüchtlinge sich wenden.

2014 war somit ein Jahr der schrecklichen Klarheit: Viele Kritiker des antizionistischen Antisemitismus schweigen nicht nur zu PEGIDA, sondern stimmen in den völkischen Chor gegen Flüchtlinge, Muslime, »den« Islam, »die Lügenpresse«, »die Parteien« und »das System« mit ein, sei es offen, verbrämt oder klammheimlich.

Schließlich haben sich einige Liberale und Linke als Kritiker sowohl des Antisemitismus als auch des Rassismus, Deutsch-Nationalismus und Islamhasses erwiesen.

Wer vom Extremismus der deutschen Mitte und von PEGIDA nicht reden will, soll von der islamistischen Gefahr schweigen.

 

Der Autor, Dr. phil. Clemens Heni, promovierte 2006 über »Ein völkischer Beobachter in der BRD. Die Salonfähigkeit neu-rechter Ideologeme am Beispiel Henning Eichberg« an der Universität Innsbruck; 2011 publizierte er die Studie »Schadenfreude. Islamforschung und Antisemitismus in Deutschland nach 9/11«, 2013 das Buch »Antisemitism: A Specific Phenomenon. Holocaust Trivialization – Islamism – Post-colonial and Cosmopolitan anti-Zionism«.

Von Weimar nach Berlin – Antisemitismus vor Auschwitz und im Jahr 2012

Von Susanne Wein und Clemens Heni

 

Das Jahr 2012 ist so dicht an antisemitischen Ereignissen, dass ein vorgezogener Jahresrückblick lohnt. Das Jahr zeigt wie flexibel, vielfältig, codiert und offen sich Antisemitismus äußern kann. Drei Forschungsfelder seien hier knapp vorgestellt, um schließlich ein besonders markantes und schockierendes Beispiel von 2012 mit einem Fall aus dem Jahr 1925 zu vergleichen.

1)     Holocaustverharmlosung.

Im Januar wurde in Leipzig bekannt gegeben, dass der amerikanische Historiker Timothy Snyder den Leipziger Buchpreis 2012 erhalten wird.

Snyder hat 2010 das Buch Bloodlands publiziert, worin er leugnet, dass der Holocaust ein spezifisches Verbrechen war, ohne Vergleich in der Geschichte. Vielmehr konstruiert der „Genozid“-Forscher, der dem sog. spatial-turn folgt (eine Modeerscheinung der Kulturwissenschaft, die den Raum als zentrale Größe postuliert), einen Raum in Osteuropa zwischen dem Baltikum und der Ukraine, den er Bloodlands nennt und in dem zwischen 1932 (!) und 1945 ca. 14 Millionen Menschen starben bzw. ermordet wurden. Hitler und Stalin sind für ihn gleich schlimme historische Figuren. Snyder bemüht die veraltete Great Man Theory und hat keinen Blick für die sehr ausdifferenzierte Forschung zum Nationalsozialismus und zum Holocaust.

Vielmehr kooperiert er mit dem litauischen Staat und unterstützt eine dortige, weltweit in Misskredit geratene historische Kommission, die die Verbrechen von Hitler und Stalin wiederum gleichsetzt. Dramatisch ist, dass selbst die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und ihr wissenschaftliches Personal in Person der neuen Chefhistorikerin Dina Porat  mit dieser Kommission in Litauen kooperiert, was zu scharfen Protesten von Holocaustüberlebenden führte.

Kurz gesagt: Timothy Snyder ist ein geistiger Enkel Ernst Noltes, er möchte die Deutschen entschulden und die Präzedenzlosigkeit von Auschwitz verwischen oder leugnen. Historiker wie Omer Bartov (Brown University), Dan Michman (Yad Vashem) oder Jürgen Zarusky (Institut für Zeitgeschichte, München) haben Snyder dezidiert kritisiert. Der Jiddisch-Forscher Dovid Katz dokumentiert und analysiert seit Jahren den Antisemitismus in Osteuropa, insbesondere in Litauen, auch er hat sich intensiv mit Snyders Bloodlands befasst und zeigt, warum extrem rechte Kreise in Osteuropa Snyder feiern.

Die Wahl von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten im März 2012 verstärkt die Holocaustverharmlosung, da Gauck die „Prager Deklaration“ vom Juni 2008 unterzeichnet hat, die – ganz im Sinne von Snyder – rot und braun gleichsetzt und die Verbrechen des Holocaust trivialisiert. Die Unterzeichner wollen als gesamteuropäischen Gedenktag den 23. August (der Tag des Ribbentrop-Molotow Paktes von 1939) etablieren und schmälern damit implizit die Bedeutung des Holocaustgedenktages am 27. Januar, wenn sie diesen Gedenktag nicht sogar ganz abschaffen wollen. Gauck sprach zudem 2006 davon, dass jene, die die Einzigartigkeit des Holocaust betonen, nur einen Religionsersatz suchen würden. Auch Neonazis, Holocaustleugner, manche christliche Aktivisten, Forscher oder auch Autoren der tageszeitung (taz) frönen einer solchen Sprache und reden von der „Holocaust-Religion“ oder einer „Pilgerfahrt“, wenn es um Auschwitz geht. Ohne den Dammbruch durch Martin Walsers Paulskirchenrede von Oktober 1998 wäre das alles nicht so ohne Weiteres im Mainstream der deutschen Gesellschaft denk- und sagbar.

2)     Antizionismus.

Der zweite Aspekt des Antisemitismus ist der seit der zweiten Intifada im September 2000 und nach dem islamistisch motivierten Massenmord vom 9/11 weltweit bei den wenigen Kritikern im Zentrum der Aufmerksamkeit stehende antizionistische Antisemitismus bzw. die Israelfeindschaft.

Am 4. April 2012 publizierte der Literaturnobelpreisträger Günter Grass in der größten deutschen Tageszeitung (nach der Boulevardzeitung BILD), der Süddeutschen Zeitung aus München, ein Gedicht mit dem Titel „Was gesagt werden muss“. Darin schreibt der deutsche Denker:

„Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden?“

Nicht der Iran droht Israel mit Vernichtung, die Juden („Atommacht Israel“) seien die Gefahr. Diese Leugnung der Wirklichkeit, die Derealisierung, Schuldprojektion und die Schuldumkehr sind ein typisches Muster des neuen oder Post-Holocaust Antisemitismus. Israel gefährde den Weltfrieden und nicht der „Maulheld“ Ahmadinejad, wie er vom deutschen Dichter verniedlichend genannt wird; dabei haben die Verharmlosung der iranischen Gefahr bzw. das klammheimliche Liebäugeln mit dem vulgären, iranischen, islamistischen aber natürlich auch dem arabischen Antisemitismus Konjunktur. Die Diffamierung Israels ist auch unter deutschen Wissenschaftlern, Journalisten, Politikern, NGO-Aktivisten und der Bevölkerung gern gesehen. Die ARD jedenfalls war von Grass so begeistert, dass der Tagesthemen-Anchorman Tom Buhrow ein Exklusivinterview mit dem Schriftsteller führte und tags darauf Grass das Gedicht in der ARD vortragen durfte.

Das wird ergänzt durch die Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt am Main am 11. September 2012 an die amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Judith Butler von der University of California in Berkeley. Butler ist als antiisraelische Agitatorin weltweit berüchtigt, wenn sogar der Präsident der Harvard University im Jahr 2002, Lawrence Summers, unter anderem sie meinte als er den Hass auf Israel und die Boykottaufrufe gegen den jüdischen Staat thematisierte. Butler steht für einen Antizionismus, der sich in der Tradition von Martin Buber und Hannah Arendt verortet und die Gründung eines explizit jüdischen Staates (der zudem so tolerant ist und 20% Araber und Muslime und andere zu seiner Bevölkerung zählt) ablehnt. Mit fast vollständig homogenen islamischen Staaten wie Saudi-Arabien, Iran oder Jordanien und ihren antidemokratischen, homophoben und misogynen politischen Kulturen hat Butler selbstredend kein Problem. Die Wochenzeitung Die Zeit publizierte gar einen Text der BDS-Unterstützerin Butler und unterstützt somit den Aufruf zum Boykott Israels. Früher wäre das fast nur in der jungen Welt oder der Jungen Freiheit propagiert worden, doch längst sind solche antisemitischen Positionen Mainstream.

Eine Vertraute und Freundin von Butler, die Politikwissenschaftlerin Seyla Benhabib (Yale University) wurde 2012 in Deutschland ebenfalls geehrt. Sie erhielt am 8. Mai den Dr. Leopold Lucas-Preis der Universität Tübingen für ihren Einsatz für Hospitalität und „universelle Menschenrechte“ – auch dieser Preis ist mit 50.000€ dotiert, was ja von der schwäbischen Alma Mater freundlich ist, wenn man bedenkt, wie schlecht bekanntlich die Yale University ihre Professoren bezahlt. Benhabibs Vorbilder sind Immanuel Kant („Der Ewige Frieden“ von 1795) und Hannah Arendt. Die problematischen Aspekte dieser Art von Kosmopolitanismus oder vielmehr die anti-israelische Dimension bei Arendt,  kehren bei Benhabib verstärkt wieder. 2010 diffamierte sie Israel  indem sie es mit der südafrikanischen Apartheid und mit den „1930er Jahren in Europa“ (sie erwähnt den Slogan „Eine Nation, Ein Land, Ein Staat“ und spielt offensichtlich auf Nazi-Deutschland an) verglich – während selbstverständlich auch sie den Jihadismus z.B. der Gaza Flottille ignorierte und ihn bis heute ausblendet. Dies sind die eigentlichen Gründe für die Ehrungen und den Beifall aus Deutschland für Personen wie Butler und Benhabib. Kritik an Arendt, Kant und der europäischen Ideologie (wie sie auch Jürgen Habermas vertritt) eines Post-Nationalstaats-Zeitalter, wie sie von dem israelischen Philosophen Yoram Hazony bekannt ist, wird in Deutschland entweder gar nicht zur Kenntnis genommen oder abgewehrt.  Aufgegriffen und promotet wird sie höchstens von problematischen, nicht pro-israelischen, vielmehr deutsch-nationalen, rechten und konservativen Kreisen wie der Zeitschrift Merkur (dessen Autor Siegfried Kohlhammer den Islam mit seinen Dhimmi-Regelwerken für Nicht-Muslime schlimmer findet als den Nationalsozialismus und die Nürnberger Gesetze, und der zudem gegen Israel argumentiert).

3)     Antijudaismus.

Diese älteste Form des Antisemitismus spielt auch im nachchristlichen Zeitalter eine zunehmende Rolle. 2012 tritt ein in seiner Vehemenz seit 1945 ungeahnter und ohne Vergleich dastehender Angriff auf Juden und das Judentum auf: Hetze gegen die Beschneidung und religiöse Rituale. Alles, was Juden im Post-Holocaust Deutschland dachten, als selbstverständlich annehmen zu können, steht jetzt in Frage: Juden als Juden werden hinterfragt. Wie im Holocaust sollen männliche Juden die Hosen runter lassen, damit die arischen Deutschen nachschauen, ob er ein Jude ist oder nicht; sie durchleuchten Juden auf ihre Gesundheit, sexuellen Praktiken und Fähigkeiten und finden diese Art von Zurschau-Stellung von Juden notwendig und emanzipatorisch. Heute wird diese antijüdische Propaganda nicht unter dem Schild der SS oder der Wehrmacht durchgeführt, nein: heute geht es um „Kinderrechte“ und die angebliche Freiheit, nur als nicht-beschnittener Mann im Erwachsenenalter über die Religionszugehörigkeit entscheiden zu können.

Am 7. Mai 2012 befand das Kölner Landgericht in einem die politische Kultur in Deutschland für immer verändernden Urteil die Beschneidung von Jungen als gegen „dem Interesse des Kindes“ stehend und somit als nicht vertretbar. Die Beschneidung von jüdischen Jungen am achten Tag bzw. die Beschneidung von muslimischen Jungen im Alter zwischen 0 und 10 Jahren, sei somit nicht legal. Ein deutsches Gericht urteilt über das Judentum, das die Beschneidung vor über 4000 Jahren einführte. Der Volksgerichtshof des Nationalsozialismus hätte seine Freude gehabt an diesem 7. Mai 2012. 600 Ärzte und Juristen, angesehene normale Deutsche, agitierten sodann unter Federführung des Mediziners Matthias Franz von der Universität Düsseldorf am 21. Juli 2012 in einem Offenen Brief in der Zeitung für Deutschland (Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZ) gegen die Beschneidung und forderten politische und rechtliche Konsequenzen aus dem Kölner Urteil. Selbst pro-israelische Aktivisten zeigen nun ein ganz anderes Gesicht und machen sich über das Judentum lustig. Offenbar hatten diese Leute schon immer ein Israel ohne Judentum im Sinn. Die Zeitschrift Bahamas

aus Berlin folgte dem Ruf aus Köln, der FAZ und dem Zeitgeist und sprach sich gegen eine Kundgebung für Religionsfreiheit/für die Beschneidung aus und forderte ihre 23 oder 34 Anhänger auf, dieser ohnehin kleinen Manifestation vorwiegend deutscher Jüdinnen und Juden am 9. September 2012 in Berlin fern zu bleiben, da sie „den kulturellen und religiösen Traditionen von Kollektiven grundsätzlich misstraut“. Autoren dieses Sektenblattes wie Thomas Maul und Justus Wertmüller bezeichnen die Beschneidung als „archaisch“ und diffamieren dadurch mit Verve das Judentum. Derweil kringeln sich die Neonazis, die NPD und autonome Nationalisten, da doch der deutsche Mainstream das Geschäft des Antisemitismus (bis auf die Verwüstungen jüdischer Friedhöfe und von Gedenktafeln, bis heute eine typisch neonazistische Form des Antisemitismus) übernommen hat. Die Wochenzeitung jungle world 

mit ihrem Autor Thomas von der Osten-Sacken machte gegen die Beschneidung mobil und stellte Bezüge zur kriminellen Klitorisverstümmelung bei Mädchen, der Female genital mutilation (FGM), her. Sein Kollege Tilman Tarach war auf Facebook nicht weniger obsessiv dabei,

die Beschneidung und somit das Judentum zu schmähen. Eine Internetseite, Politically Incorrect (PI), die aus dem Umfeld von Parteien wie Die Freiheit, der Bürgerbewegung Pax Europa (BPE), der Pro-Bewegung und anderen Gruppierungen der extremen Rechten oder des Rechtspopulismus kommt, droht Juden:

„Wenn sich aber jüdische Verbände und Organisationen beispielsweise so an die uralte Vorschrift der Beschneidung klammern, zeigen sie damit, dass sie sich in diesem Punkt nicht vom Islam unterscheiden. So etwas können wir nach meiner festen Überzeugung in unserem Land nicht zulassen.“

Die Giordano Bruno Stiftung (GBS) mit ihrem Vorbeter Michael Schmidt-Salomon (übrigens sitzt Hamed Abdel-Samad im wissenschaftlichen Beirat der GBS),

die Deutsche Kinderhilfe, Evolutionäre Humanisten Berlin Brandenburg e.V., der Zentralrat der Ex-Muslime, die Freidenkervereinigung der Schweiz, der pflegeelternverband.de und einige andere Organisationen und Gruppen agitieren besonders aggressiv gegen Juden (und Muslime) und starten im Herbst 2012 die perfide Anzeigenkampagne

„Mein Körper gehört mir“. Zu sehen ist das Bild eines Jungen, der sich völlig verängstigt in den Schritt fasst und darunter steht: „Zwangsbeschneidung ist Unrecht – auch bei Jungen.“ Damit wird nicht nur die kriminelle und zumal islamistische Praxis der Klitorisverstümmelung mit der harmlosen Beschneidung von Jungen gleichgesetzt, vielmehr wird in Stürmer-Manier gesagt: vor allem das Judentum basiert auf Unrecht! Hieß es 1879 bei Heinrich von Treitschke „Die Juden sind unser Unglück“, was zu einem der Propagandasprüche des Nationalsozialismus avancierte, so wird im Jahr 2012 von Atheisten, Positivisten und anderen Aktivisten (die sich teils anmaßend Humanisten nennen) die Beschneidung als das Unglück für Kinder dargestellt oder Juden (und Muslime) gar als Kinderschänder diffamiert. Das liest sich wie eine post-christliche Version der Blutbeschuldigung, der antisemitischen Blood Libel.

Der Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel, Alfred Bodenheimer, ist zutiefst schockiert über den Anti-Beschneidungsdiskurs und hat im Sommer 2012 ein kleines Büchlein dazu verfasst: „Haut-Ab! Die Juden in der Besschneidungsdebatte“ (Göttingen: Wallstein). Darin analysiert er:

„Aus christlich-theologischer Sicht war die Kreuzigung ein sehr ähnliches Vergehen wie das Beschneiden der Kinder aus der heutigen säkularen: Denn die Taufe als unmittelbare Partizipation des einzelnen Gläubigen an der Kreuzigung Christi (und der damit verbundenen Sündenvergebung) machte letztlich jeden Getauften zum partiell von den Juden Gekreuzigten ­– und damit jenes Ereignisses, in dem gerade Paulus die Beschneidung aufgehoben hatte. Der säkulare Ausgrenzungsdiskurs folgt dem christlichen auf dem Fuße, er ist kultur- und mentalitätsgeschichtlich so leicht abrufbar, dass insbesondere den dezidierten Säkularisten die Ohren sausen dürften, wären sie sich der Sensoren gewahr, die ihren Furor geweckt haben. Der säkularistische Anspruch, Gleichheit in allen Belangen zur Ausgangslage eines frei auslebbaren Individualismus zu machen, trägt mehr vom Paulinischen Universalismus in sich (dessen Gegenbild die auf defensiver Differenz bestehenden Juden waren), als dem Gros seiner Vertreter klar ist.“ (ebd., 58f.)

Die Internetseite HaOlam mit ihrem Vertreter Jörg Fischer-Aharon, die sich jahrelang als pro-israelisch gab, hat den Anti-Beschneidungsvorkämpfer Schmidt-Salomon exklusiv interviewt und macht damit Werbung für obige Anzeigenkampagne.

Manche Organisationen, die häufig mit HaOlam bzw. deren Umfeld und vielen anderen aus der nie näher definierten „pro-Israel-Szene“ kooperierten, werden ins Grübeln kommen.

Sei es Ressentiment auf Religion oder kosmopolitisch inspirierte Universalität, jedenfalls wird mit bestem Gewissen jedwede Partikularität – wie die des jüdischen Staates Israel und des Judentums, inklusive seiner religiösen Traditionen, die auch von nicht-gläubigen Juden mit überwältigender Mehrheit praktiziert werden – abgelehnt.

Es ist unerträglich, mit welcher Arroganz, Obszönität und Dreistigkeit ausgerechnet deutsche Areligiöse,  Christen, selbsternannte Israelfreunde und „Antifas“ sich de facto zu den islamistischen und neonazistischen Judenfeinden gesellen und völlig geschichtsvergessen das Nachdenken einstellen.

Kaum jemand hat heute in Deutschland noch Beißhemmungen wenn es um Juden geht.

Dieser hier skizzenhaft aufgezeigte neu-alte Antisemitismus zeigt sich in dramatischer Form in vier antisemitischen Vorfällen in wenigen Wochen bzw. Tagen allein in Berlin:

  • Am 28. August 2012 wurde in Berlin-Friedenau am helllichten Tag der Rabbiner Daniel Alter von mehreren vermutlich arabischen Jugendlichen und Antisemiten krankenhausreif geschlagen. Er trug eine Kippa und wurde gefragt, ob er Jude sei. Das „Ja“ führte zu einem Jochbeinbruch und Todesdrohungen gegen seine 6-jährige Tochter. Die Täter sind bis heute nicht ermittelt.
  • Am 3. September wurde gegen 10 Uhr vormittags eine Gruppe von jüdischen Schülerinnen vor der Carl-Schuhmann-Sporthalle in der Schlossstraße in Berlin-Charlottenburg von vier ca. 15-16-jährigen Mädchen muslimischer Herkunft (eine der Antisemitinnen trug ein Kopftuch) diffamiert und u.a. als „Judentussen“ beleidigt.
  • Am höchsten jüdischen Feiertag, Yom Kippur, am Mittwoch, den 26. September 2012, rief Esther Dobrin aus Berlin gegen 11 Uhr ein Taxi, um mit ihrer 11-jährigen Tochter und zwei weiteren Personen zur Synagoge in die Pestalozzistraße zu fahren. Der Taxifahrer verhielt sich reflexhaft feindselig, als der genaue Bestimmungsort als „Synagoge“ benannt wurde; er warf die vier Fahrgäste sozusagen aus dem Wagen.
  • Wenig später, gegen 18 Uhr an diesem 26. September, wurden drei andere Juden in Berlin verbal attackiert. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, kam gerade mit seinen beiden Töchtern im Alter von 6 und 10 Jahren von der Synagoge, ebenfalls in Charlottenburg, unweit des Kurfürstendamms, als er offenbar wegen eines klar ersichtlichen jüdischen Gebetsbuches beleidigt wurde. Im Laufe eines aggressiven Wortgefechts hat Kramer nicht nur die Polizei zu Hilfe gerufen, vielmehr auch auf seine Waffe gezeigt, die er seit acht Jahren zum Selbstschutz und als ausgebildeter Sicherheitsbeauftragter bei sich trägt. Die Polizei hat nun zwei Anzeigen zu bearbeiten, Kramer zeigte die Beleidigungen des Antisemiten an, während derselbe Kamer wegen Bedrohung anzeigte, wozu er, nach unbestätigten Informationen,  von der Berliner Polizei durchaus ermutigt worden war.

Kramer kennt die Zusammenhänge des GraSSierenden Antisemitismus in Deutschland und weiß, dass sich die geistigen Zustände und Debatten in gewalttätigen Straßenantisemitismus entladen können – darum ist er bewaffnet. Welche zwei komplett disparaten Lebensrealitäten – eine jüdische und eine nicht-jüdische – werden von nichtjüdischen Deutschen tagtäglich stillschweigend hingenommen? Wie fühlt es sich an, ständig in den Einrichtungen der eigenen Religion/Gruppe, Kindergarten, Schule, Synagoge etc. unter Polizeischutz stehen zu müssen?

1925, einige Jahre vor NS-Deutschland, im demokratischen Rechtsstaat der Weimarer Republik passierte in Stuttgart Folgendes:

„An einem Sonntag im November 1925 las der Kaufmann Ludwig Uhlmann in der Gastwirtschaft Mögle Zeitung und trank ein Bier. In provozierender Absicht beleidigte ihn der am Nachbartisch sitzende Franz Fröhle mit spöttischen Bemerkungen und ließ mehrfach die Bezeichnung ‚Jude Uhlmann‘ fallen. Dieser reagierte nicht. Daraufhin sagte Fröhle: ‚Was will der Judenstinker hier, der Jude soll heimgehen‘, was Uhlmann sich verbat. Als die Pöbeleien anhielten, zog Uhlmann eine Pistole, mit der Bemerkung, dass Fröhle damit Bekanntschaft machen könne, falls er nicht aufhöre. Schließlich setzten der Wirt und die Polizei den Beleidiger vor die Tür. Die Staatsanwaltschaft beantragte nicht nur einen Strafbefehl gegen Fröhle wegen Beleidigung in Höhe von 50 RM Geldstrafe, sondern auch einen gegen Uhlmann wegen Bedrohung und abgelaufenen Waffenscheins. Bei der Hauptverhandlung des Amtsgerichts wurde er zwar von der Anklage der Bedrohung freigesprochen, aber wegen der Bagatelle des abgelaufenen Waffenscheins von wenigen Monaten zu einer Geldstrafe von 30 RM verurteilt.“ (Martin Ulmer (2011): Antisemitismus in Stuttgart 1871–1933. Studien zum öffentlichen Diskurs und Alltag, Berlin: Metropol, S. 350)

 

Dieses Schlaglicht zeigt die Normalität antisemitischer Beleidigungen, die in der deutschen politischen Kultur bereits damals, wie sich an unzähligen Beispielen aufzeigen lässt, tief verankert und sedimentiert war.

Heute nun, im Jahr 2012, über 67 Jahre nach dem Holocaust und Auschwitz – welch ein Unterschied ums Ganze! –, müssen sich Juden wieder bewaffnen. Sie sind fast täglich Angriffen, Beleidigungen und Hetzkampagnen ausgesetzt und es kann sich eine Szene abspielen, die der in einer Stuttgarter Kneipe von 1925 gruselig ähnelt.

 

Auf der einen Seite haben wir diese Vorfälle aus dem Jahr 2012 und insbesondere die „Beschneidungsdebatte“ mit all ihren antisemitischen Internet-Kommentaren -und Forenbeiträgen, die einen an Max Liebermanns Ausspruch zum 30. Januar 1933 denken lassen. Auf der anderen sucht man vergebens die arrivierten Antisemitismusforscherinnen und -forscher, die sich der skizzierten Forschungsfelder annehmen. Werner Bergmann schrieb 2011 in einer Festschrift für einen Kollegen:

„Im historischen Vergleich mit der Zeit vor 1945, aber auch in den letzten 60 Jahren in Deutschland […] war Antisemitismus gesamtgesellschaftlich wohl selten so sehr an den Rand gedrängt wie heute.“

Antisemitismus ist in Deutschland nicht erst, aber insbesondere im Jahr 2012 gesamtgesellschaftlich so weit verbreitet wie vielleicht noch nie seit 1945.

 

 

Susanne Wein ist Historikerin und promovierte im September 2012 an der Freien Universität Berlin  mit einer Arbeit über „Antisemitismus in der politischen Kultur der Weimarer Republik. Eine Untersuchung anhand der Debatten im Reichstag“.

Clemens Heni ist Politikwissenschaftler und promovierte im August 2006 an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck mit einer Arbeit über die „Salonfähigkeit der Neuen Rechten. ‚Nationale Identität‘, Antisemitismus und Antiamerikanismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1970 – 2005: Henning Eichberg als Exempel“.

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