Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Hitler

Die Achse der Frommen

Achgut, 25.04.2007

Gestern starb der Gründer des ZDF, Karl Holzamer, im Alter von 100 Jahren. Ein echter Deutscher, ja ein „Neudeutscher“ war er, was jedoch gern verschwiegen wird, ist doch der katholische Bund Neudeutschland eher Signum fanatischer Religiosität, dem auch Nazis wie Hans Filbinger die Treue schworen. Vielmehr wird so an Holzamer erinnert: »Während des Zweiten Weltkrieges kam er als Bordschütze der Luftwaffe und Hörfunk-Korrespondent in viele Länder. Das habe seinen Horizont sehr erweitert, sagte er selbst, aber auch: ›Nur mit meiner absolut christlichen Haltung konnte ich Front machen gegen die schrecklichen Erlebnisse im Krieg‹«, wie die Augsburger Allgemeine stolz verkündet. Was ist von einem Menschen zu halten, der den Zweiten Weltkrieg als ›Bereicherung seines Horizonts‹ grotesk überhöht und affirmiert?

Durch ein Zeltlager in Oranienstein 1931 wurde der

»Zusammenhalt der Neudeutschen bestimmt und die Mitträger der Politik der Bundesrepublik direkt oder indirekt beeinflußt (Rainer Barzel, Bernhard Vogel, Hans Filbinger, Josef Jansen, Hans Puhl, Josef Stingl, Peter Nellen, Bruno Heck – wieder nur einige aus dem eigenen Erfahrungsbereich vor und nach dem Kriege). An anderer Stelle habe ich in diesem Zusammenhang von einem Erlebnis berichtet, das ich während des Krieges als Luftwaffenangehöriger in Sizilien hatte (1942). Bei einer Meldung bei einem Gruppenkommandeur auf einem mir noch nicht bekannten Flugplatz sprach mich ein Fähnrich, der mit anderen Offizieren dabeistand, an: ›Ich kenne Sie, Herr Leutnant, vom Leuchtturm‹ [einer Zeitschrift dieses Bundes Neudeutschland]. Eine eindeutige Erkennung zwischen uns, ein Geheimcode für die anderen.«

»Die nachwirkenden Erfahrungen des Kaiserreichs, zumal bei den Eltern vieler Neudeutscher, die Ungerechtigkeiten des Diktatfriedens von Versailles und das Drängen der Jugendbewegung nach freier natürlicher Entfaltung schufen ein z. T. gebrochenes Verhältnis zur Weimarer Republik – auch innerhalb des Bundes (…)«.

Dieses gebrochene Verhältnis, an welches der nun 100jährig verstorbene Karl Holzamer, erster und langjähriger Intendant des ZDF, 1985 erinnerte, hat die von ihm bewunderten Leute wie Hans Filbinger zu echten Nazis gemacht. Klar, dass auch der Neudeutsche Katholik Karl Holzamer nur Gutes über sich hören wird beim Abschied in der Kirche. Was seinen katholischen Bund Neudeutschland ideologisch kennzeichnete wird in dem folgenden Beitrag deutlich.

»Schutz der Volksgemeinschaft« vor »Glück«, der »Denkweise des Liberalen« und »gutem Essen an beliebigem Ort« oder:

Hans Filbinger war ein Nazi

Wenig bekannte Quellen des katholischen Bundes Neudeutschland

Von Dr. Clemens Heni

»›Der Nationalsozialismus hat weder im Individualismus noch in der Menschheit den Ausgangspunkt seiner Betrachtungen, seiner Stellungnahme und seiner Entschlüsse. Er rückt bewusst in den Mittelpunkt seines ganzen Denkens das Volk.‹ (Adolf Hitler beim Erntedankfest auf dem Bückeberg, 1. Okt. 1933)«.

So heißt es in einem Vorspann zu dem Artikel »Volk als Begriff und Aufgabe« von Rolf Fechter (Jg. 1912) in den Werkblättern von Neudeutschland Älterenbund.1 In der gleichen Ausgabe schreibt auch Hans Filbinger seine ersten persönliche Betrachtungen über diese Neudeutschen, vgl. unten. Fechter betont, dass Hitler oder Goebbels dem Begriff Volk wieder einen gleichsam ›deutschen‹ Sinn gegeben haben:

»›Volk‹ meint in dem Sinn, in dem heute das Wort wieder erwacht ist, nicht mehr ›Untertanen‹, nicht mehr ist ›Volk‹ politisches Gegenstück zur Obrigkeit, auch nicht mehr soziales Gegenstück zu den ›oberen Zehntausend‹, — es ist weder Untertanenschaft, noch verfassungspolitische Gruppe, noch Klasse.«2

Prima, endlich erhält das Wort Volk seine positive Bestimmung wieder, jubilieren nicht nur deutsche Katholiken. Ein längerer Abschnitt befasst sich daran anschließend mit der »Judenfrage«, na klar. Ist wirklich jeder Deutscher ein Deutscher, fragt man sich nicht nur aber vor allem im Jahr 1933:

»Katholizismus ist Religion, nie Volkstum – Judentum aber ist Volkstum (Judentum ist das als Nation ›auserwählte Volk‹!). Ist nun dieses Volkstum Bereicherung oder Schaden, Sprengkörper für die Nationen?«

Das ist doch mal eine freundliche Offenheit, nicht wahr? Ganz diskursiv wird hier katholischerseits im Filbinger-Blättle Werkblätter des Bundes Neudeutschland gefragt ob Juden harmlos, deutsch oder vielleicht Sprengkörper seien. Weiter geht’s im Text:

»Zweifellos zeigt die Praxis, dass es viele Juden gibt, die echt deutsch sind und fühlen, die für das Deutschtum, für deutsche Wirtschaft und Wissenschaft viel getan und die auch ihr Blut geopfert haben – man würde bitteres Unrecht tun, wolle man dies leugnen, – aber wer objektiv ist, sieht auch, dass gerade bei den Mächten, die Sitte, Volksgesundheit und Volkstum unterhöhlen und vernichten (wie etwa bei einer gewissen Presse, beim internationalen Kapital us.), das jüdische Element in ganz hervorragendem und in ganz auffällig starkem Maße beteiligt ist. Das sind Dinge, die zu denken geben«

und denken, ja nachdenklich werden ist doch was Gutes, oder nicht? Diese Katholiken liegen ihrem „Denken“ 1933 jedenfalls voll im Trend. Der Zeitgeist hat einen Namen: »Bund Neudeutschland«, ob explizit unter diesem Banner fahrend wie anno 1933 – oder etwas verbrämter, verdruckster, evangelischer oder antiimperialistischer ausgedrückt: »Für eine Welt ohne G8«….

Doch bleiben wir jetzt einmal bei den ›völkischen Aufgaben‹ im Jahr 1933: Diese zitierten antisemitischen Fragen stellt ein guter Kollege, ›Kamerad‹ oder ›Bruder‹ Hans Filbingers ganz zu Beginn des Nationalsozialismus. Heute wollen der Öffentlichkeit nun die CDU und ihre Freunde weismachen, Filbinger sei tief im Herzen – trotz späterer NSDAP-Mitgliedschaft – kein Nationalsozialist gewesen, wie der Leiter des Studienzentrums Weikersheim, ein Prof. Bernhard Friedmann, im Fernsehen am 19. April 2007 faselte. Denn was anderes als faseln ist es? Es ist ganz etymologisch »Wirrwarr« oder auch »dummes Zeug« oder auch »Herumgeblasenes« was dieser Leiter von Weikersheim da aus seinem Mund hat kommen lassen auf Phönix.

Die glühenden Herzen Filbingers oder Fechters oder anderer im Bund Neudeutschland sollten jedoch wahr- und ernstgenommen werden in ihrem die ›Deutsche Revolution‹ unterstützenden Einsatz für Deutschland und gegen die Juden, ›Wehrkraftzersetzer‹, Kommunisten, Sozialdemokraten, Anarchisten, Liberalen, Areligiösen, Unternehmer und andere, die nicht ›arteigen‹ drauf waren. Wer ernst genommen werden möchte (also nicht Oettinger, Schönbohm, Pflüger, Kauder, Mappus, Schavan oder gar Brunnhuber heißt) bei der Beurteilung der politischen Stimmung im neuen Deutschland seit dem 30. Januar 1933 muss sich diese Quellen anschauen.

Die Neudeutschen denken rassebiologisch:

»Aufgaben nach innen. Die Träger des Volkstums sind Menschen, gesunde körperliche Grundlage ist Vorbedingung gesunden Volkstums. Hier liegt die ›völkische Aufgabe‹ der Ärzte. Das von der Reichsregierung jüngst erlassene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses darf vom Standpunkt der Volksgesundheit aus nur begrüßt werden.«3

»Wer an den Volksgedanken glaubt, der glaubt an die Aufteilung der Welt in Völkern, von denen jedes seine Aufgabe hat, von denen jedes wieder Glied eines großen Ganzen ist. Der Reichsgedanke wird nur dann leben können und nicht in Utopie oder Imperialismus ausarten, wenn er den Volksgedanken bejaht und in sich schließt«.4

Jetzt aber möchte ich zum ersten Mal Han[n]s Filbinger selbst zu Wort kommen lassen, als Teenager:

»Aus einem ›Jüngerenkreis‹ (…) Du fragst nach dem tatsächlich Stattgehabten in unserm Kreis? Zuviel darfst Du da nicht erwarten: Was wir getan haben, war ein Anfangen, wesentliche Menschen zu werden. Darum suchten wir Beziehung zu finden zu Ganzheitswerten wie Kunst, Gemeinschaft, Natur, Religion. Alles war bescheidenes Beginnen«.5

»Es ist schon sehr spät, da zieht die gleiche Gruppe – manche stecken schon im Schlafanzug mit Mantel drüber – auf den Schloßberg. Unterwegs wirds immer stiller, keiner spricht mehr. Es ist eine sternenhelle Nacht. Unten in Freiburg brennen nur noch wenige Lichter, der Münsterturm steht wie ein ragender Schatten. Wirklich andächtig singen wir vom Gipfel aus unsere schönsten Lieder. – Romantik und Ausgelassenheit, – auch das ist zuweilen notwendig und schön. Zum Abschluß unseres Einführungskreises sitzen wir im Hof unseres Heims in der Laube. Alles klingt noch einmal zusammen, was der Kreis gewollt hatte in seiner Mittlerrolle zu Gruppe und Bund und echtem Menschsein. Mannheim/Freiburg i. B. Dein Hanns Filbinger.«6

Filbinger auf dem Weg zu ›echtem Menschsein‹ auf dem Freiburger Schlossberg. Der ›Max‹, an den Filbinger, oder das kleine Hänslein diese Eindrücke adressierte, ist Dr. Max Müller, Neudeutscher wie Hans, der spätere Marinerichter.

In der nächsten Nummer der Werkblätter, im Herbst 1933, schreibt Müller:

„Echtes Soldatentum aber hebt nicht die Freiheit personaler Entscheidung für uns auf, sondern setzt sie voraus. Der Neudeutsche Hochschüler ist nicht nur SA-Mann, er ist SA-Student: d.h. mit der soldatischen Unterordnung unter den Führer und seinen Befehl verbindet er das Wissen um den geistigen Auftrag, den er nicht aufgeben kann, ohne sich aufzugeben. Nationalsozialistische Staatsform: das bedeutet nicht ›autoritärer Staat‹, ›Absolutismus‹ und ›Diktatur‹, sondern das bedeutet in erster Linie ›Völkisch-Sozialistischer Staat‹. In ihm ist die politische Autorität und Verantwortung wohl in einem unerhörten Maße beim Führer, der sie sich in 14-jährigem Kampfe erkämpft hat.“7

In der heutigen Diskussion über Filbinger, seinen Enkel Oettinger wird überhaupt nicht erkannt, welch völkische Weltanschauung dieser katholische Bund Neudeutschland propagiert hat in der Zeit des Nationalsozialismus bzw. schon davor. Es wird meist von der ideologischen Vordenkerfunktion dieses Bundes abgesehen.

Zudem: Gerd Langguth z.B. meinte auf Phönix am 19.04.2007, dass nach »unseren heutigen moralischen Maßstäben« Todesurteile für Deserteure »nicht tragbar seien«. ›Nach unseren heutigen moralischen Maßstäben‹, na dann. Bettina Gaus hätte auch gerne, dass Filbinger »in Ruhe« im Grabe liegen möge, Oettinger hätte einfach den Nazismus Filbingers auf sich beruhen lassen sollen und nicht irgendetwas zu dieser Zeit sagen. Dann wäre alles gut, auch für die jedweder Hetze gegen Israel und die Juden von heute so aufgeschlossene taz.

Eine Etymologie des Deutschen harrt immer noch ihrer ideologiekritischen Ausarbeitung. So wäre zu überdenken, ob nicht das Wort ›eigenartig‹ eine völkische Kampfvokabel ist und nichts anderes, abgeleitet von seinem Nomen:

»Ohne Gemeinschaft mit dem Volk, ohne ein Wissen um die Eigenart des Volksgeistes und der ihm eigentümlichen Kräfte kann der Aufbau einer neuen Kultur und eines neuen Reiches nicht erfolgen. Deshalb sagten bei einer Feier ›Das deutsche Volk im deutschen Raum‹ die Vertreter der wichtigsten deutschen Stämme und Landschaften, was diese an wertvoller Eigenart aufweisen und heute zu geben haben.«8

Ein Karl Giess sagt bereits gegen Ende der Weimarer Republik im Jahr 1932, offenbar den NS-Staat gedanklich vor Augen, in einer völkischen Hetze gegen gutes Essen:

»In der Sache z.B. stärkere Berücksichtigung von Heimatboden und Volksgemeinschaft; denn meine Beziehung zum Vaterland geht über den Mutterboden, auf dem ich zu Hause bin und meine Beziehung zum Gesamt-Volk über meine engere und weitere Nachbarschaft. Die Hinkehr des Volkes zum Nationalismus ist zugleich eine Abkehr vom Sozialismus-Bolschewismus, der den Menschen zu einem internationalen (außerhalb der Nation stehenden) aus Boden und Familie entwurzelten Allerweltsbürger macht, dessen Grundsatz lautet: ›Wo ich gut zu essen bekomme, fühle ich mich zu Hause‹ (Ubi bene, ibi patria).«9

Dieser gleichsam auch orale Kosmopolitismus (welcher wortwörtlich nicht unbedingt ›Essen‹ heißen muss), der aus dem Spruch Ubi bene, ibi patria Ciceros zu hören ist und auch von dem Humanisten Erasmus von Rotterdam (1466-1536) positiv übernommen wurde, wird hier bereits zu demokratischen, Weimarer Zeiten, rabiat abgewehrt und ein Nationalismus auch beim Essen eingefordert. Eine Hetze gegen ›entwurzelte Allerweltsbürger‹ kennzeichnet also diesen Bund Neudeutschland schon vor 1933! Ein Nationalismus der Alltäglichkeiten, wie er Hans Filbinger gefallen hat. Singen, Jauchzen, Essen, alles nur auf katholischer, ›reiner‹ deutscher Erde, so soll es offenbar sein.

Im ersten Heft des 7. Jg., im Mai 1934 heißt es dann in den Werkblättern:

»Es stärkt uns dabei das Wissen, dass die echte Form des Nationalsozialismus, wie ihn der Führer vertritt, ›auf dem Boden positiven Christentums steht‹ (so auch Reichsminister Dr. Goebbels wörtlich in einer Rede in Düsseldorf am 25. April 1934).«

In einer längeren Buchbesprechung des Werkes »Der Individualismus als Schicksal« von Otto Miller, 1933 erschienen, schreibt Rolf Fechter:

»Das Zeitalter des Individualismus, dessen Anfänge man mit dem spätmittelalterlichen Nominalismus einsetzen lassen kann, ist in seine vielleicht entscheidende Krisis gekommen. Einsichtigen, vor allem Katholiken, war es von Anfang an nicht ungewiß, dass diese Krisis kommen musste, ob auch solche Gewissheit bis vor kurzem von vielen, die heute am lautesten davon reden, weidlich verspottet und hochmütig belächelt wurde. Mit dem Durchbruch des Nationalsozialismus ist ein entscheidender Schlag geführt worden. Aber man darf nicht glauben, dass der Geist des Individualismus schon ausgetrieben sei: zu viele sind es, die – falls sie nicht dem andern Extrem, dem aus gleicher Wurzel kommenden Kollektivismus, verfallen sind – ihren alten Adam in die neue Zeit hinüberzuretten verstanden, wenn sie ihm auch ein andersfarbiges Mäntelchen umgehängt haben.«10

Der Nationalsozialismus wird hier gefeiert in seinem Kampf gegen den Individualismus im Jahr 1934, bei Filbinger heißt es dann im Jahr 1998 im Studienzentrum Weikersheim, einem Think-Tank, welches immer noch nicht geschlossen ist:

»Die Stichworte ›Emanzipation‹, ›Demokratisierung‹, ›Selbstverwirklichung‹, ›Verweigerung‹, ›antiautoritäre Erziehung‹ u.a. verwirrten die Köpfe der Studenten und führten zu den bekannten Exzessen.«11

Eine »Feierstunde« von 20 Seiten Umfang (von Emil Maubach, »Rheinisches Christentum«) lobt der spätere Botschafter der BRD, Rolf Fechter, 1934 und jubelt:

»Sie wären es wert, in einer echten ›Stunde der Nation‹ dem ganzen deutschen Volk zugänglich gemacht zu werden (zumal da die ganze Anlage den Anforderungen des Rundfunks ausgezeichnet entspricht). Die Feierstunde bringt es jedem Unvoreingenommenen wieder deutlich zum Bewusstsein, wie sehr germanisches mit christlichem Wesen gerade im Rheinland zu einer großartigen Synthese verschmolzen ist.«12

Auch das ist ein Hinweis darauf, dass germanische Religiosität, Katholizismus, Protestantismus und andere Facetten im Nationalsozialismus auf ihre je unterschiedliche Weise die antijüdische Volksgemeinschaft zu kreieren vermochten.

Dieser Emil Maubach hat darüber hinaus in einem weiteren Beitrag Vorschläge zur Erziehung der Jugend zu bieten, die aufhorchen lassen:

»Sicherlich ist Jazz Zeichen und Frucht einer Krisenzeit. Aber ein Mensch mit Fleisch und Blut und Herz kann seelisch nicht dauernd in Krise und Destruktion leben. Im Tanz zeigt sich das an der Hartnäckigkeit, mit der sich die alten Wienerwalzer neben dem Jazz behaupten oder an dem Erfolg der ›Dorfmusik‹ im vergangenen Winter.«

Und weiter:

»Wenn wir bei unseren geselligen Zusammenkünften nur modernen Gesellschaftstänze tanzen, so muß das auf die Dauer eine Überbetonung der Erotik und vor allem eine Verkümmerung echt tänzerischen Empfindens zur Folge haben. Es soll hier nicht einer einseitigen und engherzigen Ablehnung der Jazztänze das Wort geredet werden. Sie enthalten oft eine treffliche Art Humor und Karikatur. Hier steckt ihr offensichtlicher Wert. Wenn man aber bedenkt, dass neben diesem positiven Gehalt den modernen Tänzen große Mängel tänzerischer, seelischer und volklicher Art anhaften, so erscheinen sie als höchst ungeeignet, jungen Menschen als Mittel der oft ersten engeren Fühlungnahme mit dem anderen Geschlecht zu dienen. Die erotische Belastung der modernen Tänze läßt allzuschnell eine Atmosphäre aufkommen, die die Ehrlichkeit dieser ersten Begegnung der beiden Geschlechter gefährdet. Das Streben nach seelischem Kontakt wird allzu leicht umgebogen in den Wunsch nur noch Befriedigung oberflächlicher Reize zu suchen. Demgegenüber schaffen die Volks- und Jugendtänze durch den unbedingten Vorrang ihrer tänzerischen Werte und der darin symbolisierten Gemeinschaft und volkbildenden Werte einen Raum, in dem sich junge Menschen beiderlei Geschlechts unter Wahrung ihrer wesensgemäßen Eigenart begegnen können, was zur seelischen Reife des einzelnen Menschen von großem Wert ist.«13

Auch in diesem Zitat zeigt sich das Sendungsbewusstsein dieser katholischen Weltverbesserer und radikalen Ideologen des Bundes Neudeutschland, die sich anschickten den Alltag, Feste und Feiern ›deutsch‹ werden zu lassen, ja die ›wesensgemäße Eigenart‹ hervorzukitzeln. Wer sich anschaut, welche prominenten Positionen bekannte Vertreter dieses Bundes Neudeutschland z. B. in der Bundesrepublik einnahmen, an Universitäten, bei der Caritas, der Redaktion des Rheinischen Merkur, dem Bürgermeisteramt der Stadt Münster, der Bayerischen Akademie der Wissenschaften über das Auswärtige Amt14 bis hin zur Regierungsbank, dem wird bewusst wie stark so ein völkischer Jugendbund auch die politische Kultur im Post-Nazismus prägte.

Der spätere Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Syrien (1959-1963), Äthiopien (1969-1973) und Irland (1973-1977), Rolf Fechter, den ich schon mehrfach zitierte, sagt im typischen Duktus dieser fanatischen, katholischen Neudeutschen im Jahr 1934:

»Die nationalsozialistische Revolution hat der von uns immer bekämpften Vermanschung von Religion und Politik ein Ende bereitet, – darüber darf man sich nur freuen.«15

»Möge die innere Erneuerung, deren Ziele sich weithin mit denen des echten Nationalsozialismus decken, nicht wieder zugunsten einer falschen Frontstellung hinausgezögert werden, – die Lage ist so ernst wie schon einmal in der Geschichte der Kirche, da es zu jener unseligen Glaubensspaltung kam für die vielleicht mehrmals der offizielle Ketzer andere Menschen die Verantwortung tragen, denen die Augen zu spät aufgingen.«16

Dr. Max Müller, der Herausgeber der Werkblätter, selbstredend auch Heideggerverehrer, wiederum agitiert gegen französischen Universalismus und gegen Glück:

»Und wie das ideale Pathos der französischen ›Zivilisation‹, das Pathos der ›ewigen Menschenrechte‹ als absolut antipersonales, individualistisches ein gemeinsames Werk unmöglich macht, braucht auch nicht weiter geschildert werden. Dieses Naturrecht der französischen Revolution ist die Vollendung der liberalen Haltung. Es fordert nur für den Einzelnen, kennt weder ›Werk‹ noch Pflicht noch Bindung, nur ›Freiheit von‹ und Glück sowie eine alle Stände zerstörende Gleichheit.«17

Wer gegen ›Glück‹ und ›Zivilisation‹ hetzt ist natürlich ein Freund des und der Deutschen:

»Erst in der Staatsentwicklung und im Staatsdenken der neuesten Zeit wird der seit dem Ausgang des Mittelalters bestehende liberale Individualismus allmählich überwunden, und in einem neuen, völkisch fundierten Universalismus der echte Zusammenhang von Volk und Staat wieder echt erkannt und Staat wieder als die Erfüllung bestimmten Volkstums begriffen. Dadurch wird dem Staat seine hohe Würde zurückgegeben und er dennoch an das Wesen der Menschen, die ihn aufbauen, unlöslich normativ gebunden. (…) Im heutigen Deutschland sind verschiedenartige Ansätze zu einem neuen völkischen und ständischen Staatsdenken, wie wir es schon andeuteten, in den Werken Moeller von den Brucks, M.H. Boehms, Othmar Spanns, Rudolf Smends, Carl Schmitts, Otto Koellreuters und Reinhard Hoehns, sowie in dem Buch Adolf Hitlers ›Mein Kampf‹ vorhanden.«18

Neben späteren SS-Männern oder Mitgliedern des Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbundes ist Hitlers Mein Kampf Basislektüre für diese Neudeutschen, somit auch für den gar nicht mehr so kleinen Hans Filbinger, immerhin bald 21 Jahre alt im Jahr 1934.

1935 schreibt Hans Filbinger einen programmatischen Artikel Nationalsozialistisches Strafrecht. Kritische Würdigung des geltenden Strafgesetzbuches und Ausblick auf die kommende Strafrechtsreform in den Werkblättern, aus welchem ich nun ausführlich zitiere. Die nationalsozialistische Ideologie Filbingers wird hier klar und unmissverständlich ausgebreitet:

»Schon seit Jahrzehnten ist eine lebhafte Problematik um unser geltendes Strafgesetzbuch entstanden. Das Gesetzbuch trat im Jahre 1871 in Kraft und ist durch die Entwicklung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens längst überholt. Das Bedürfnis nach einem Strafrechtsneubau wurde immer dringender, die Reformliteratur schwoll mehr und mehr an und schließlich wurde im Jahre 1925 dem Reichsrat ein Entwurf vorgelegt. Aber es kam nicht zum Gesetz und das war gut so. Denn dem Entwurf fehlte, genau so wie dem Reichsstrafgesetzbuch, die einheitliche weltanschauliche Grundlage. Es musste Forderungen der verschiedensten Weltanschauungsgruppen berücksichtigen und dies geschah auf Kosten der Klarlinigkeit und Geschlossenheit. Erst der Nationalsozialismus schuf die geistigen Voraussetzungen für einen wirksamen Neubau des deutschen Rechts und in der Tat sind die Arbeiten schon so weit vorgeschritten, dass das deutsche Volk in Bälde sein neues Strafgesetzbuch erhalten wird.«19

»Das geltende StGB, das von liberalem Geiste geschaffen wurde, stellte in den Mittelpunkt seiner Schutzbestimmungen das Individuum. Die Existenz des freien Einzelnen, dessen größtmögliche Freiheit von staatlichen Eingriffen und seine gesicherte wirtschaftliche Betätigung war das Ziel des alten StGB. Das nationalsozialistische Strafrecht. Für das nationalsozialistische Strafrecht dagegen wird der Schutz der Volksgemeinschaft an erster Stelle stehen. Der Einzelne wird nicht mehr als Einzelner, sondern als Glied der Gesamtheit gesehen und erhält als solches nur seinen strafrechtlichen Schutz.«20

»Diese Denkweise war dem Liberalen unbekannt. (…) Das Verbrechen gegen den Staat ist darum kein Schlag gegen eine bürokratische Institution, sondern Angriff gegen den Bestand der Volksgemeinschaft, also schwerstes Verbrechen, das die Rechtsordnung überhaupt kennt. ›Die erstarkte Staatsgewalt sieht in der Wachsamkeit gegenüber Angriffen auf ihren inneren und äußeren Bestand und in der Bereitstellung einer wirksamen Abwehr ihre erste Aufgabe.‹ Daher wurden die Hoch- und Landesverratsbestimmungen noch vor Erscheinen des Reformgesetzbuches durch Novellengesetze neugefasst. Sie enthalten gegenüber früher bedeutende Verschärfungen, vor allem durch die Androhung der Todesstrafe und die Schaffung neuer Tatbestände.«21

»Schutz der Blutsgemeinschaft.

Die Bestimmungen über Hoch- und Landesverrat schützen den Staat als rechtlich organisierte Volksgemeinschaft. Darüber hinaus muß diese aber auch in ihrem natürlichen Bestande und ihrem religiösen und sittlichen Anschauungsleben gesichert werden. Die Volksgemeinschaft ist nach nationalsozialistischer Auffassung in erster Linie Blutsgemeinschaft (d.h. das Blutselement gilt als fundierender als das geschichtliche, völkisch oder sprachlich-kulturelle Element). Diese Blutsgemeinschaft muß rein erhalten und die rassisch wertvollen Bestandteile des deutschen Volkes planvoll vorwärtsentwickelt werden. Die Denkschrift des preußischen Justizministers fordert daher Schutzbestimmungen für die Rasse, für Volksbestand und Volksgesundheit, darüber hinaus aber auch für die geistigeren Element des Volksseins: für Religion und Sitte, schließlich für Volksehre und Volksfrieden. Im Zusammenhang damit erhält auch die Familie im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Volksgemeinschaft einen umfassenden strafrechtlichen Schutz. Höhnische Herabsetzung der Ehe in Wort, Bild oder Schrift läuft dem Sittlichkeitsempfinden des Volkes ebenso zuwider, wie willkürliche Eingriffe in die Zeugungskraft oder das keimende Leben und wird daher unter Strafe gestellt werden.«22

»Der liberale Eigentumsbegriff, der eine unumschränkte Verwendungsfreiheit zum Inhalt hat, wird eine starke Einschränkung erfahren.«23

»Schädlinge am Volksganzen jedoch, deren offenkundiger verbrecherischer Hang immer wieder strafbare Handlungen hervorrufen wird, werden unschädlich gemacht werden. Das bisher geltende Strafrecht hat gegenüber solchen Schädlingen offenkundig versagt. Man vertiefte sich in das Seelenleben des Verbrechers, fand dieses durch Erbanlagen, Erziehung und Umwelt ungünstig beeinflusst und war mehr auf Besserung des – meist unverbesserlichen – Täters, als auf eine eindrucksvolle und scharfe Strafe sowie wirksamen Schutz der Gesamtheit bedacht.«24

Im Schlussabsatz dieses Artikels des späteren Marinerichters und noch-späteren langjährigen Ministerpräsidenten in der Bundesrepublik Deutschland heißt es:

»Über all dem Einzelnen der Strafrechtsreform darf aber nicht vergessen werden, dass ein Gesetz nur dann Eingang beim Volke findet, wenn es durch lebendige Richterpersönlichkeiten gesprochen und verkörpert wird. Das Richterideal der Aufklärungszeit vom ›Subsumptionsautomat, der bei Einwurf der Sachlage das Urteil abgibt, oder dem Manne, der nur Mund des Gesetzes ist‹ [Zitat von Heinrich Henkel: Strafrichter u. Gesetz im neuen Staat, S. 18] – besteht für uns nicht mehr. Das neue Recht verlangt den neuen Juristen, der aus Kenntnis und Verbundenheit mit dem Volke des Volkes Recht spricht. Mannheim. Hanns Filbinger.«25

Hans Filbinger ist wenige Jahre später dieser ›neue Jurist‹. Er kämpfte für ein ›rassereines‹ Deutschland, autoritär, völkisch und unerbittlich aggressiv. Sein ethnopluralistisches bzw. ›rassebasiertes‹ Verständnis von Recht sticht stark hervor und sekundiert natürlich Carl Schmitt. Aus so einem Filbinger, welcher den ›Schutz der Blutsgemeinschaft‹ einforderte, einen Widerstandskämpfer gegen den NS-Staat herbei zu fabulieren, wie es der immer noch amtierende Ministerpräsident von Baden-Württemberg getan hat – denn es gibt nichts Lächerlicheres als eine Rede oder einzelne Worte daraus zurück zu nehmen – ist an Absurdität, Lüge, Infamie, Bevölkerungsverdummung und Geschichtsklitterung nicht zu überbieten.

Wer weiterhin behaupten möchte, und sei es z. B. als Berliner Antisemitismusforscher der Technischen Universität, die Bundesrepublik sei peu à peu weniger antisemitisch geworden die letzten Jahrzehnte, mag das weiterhin behaupten. Ernst nehmen muss man solche Forscher in Zukunft nicht mehr. Denn nur eine politische Kultur der Erinnerungsverweigerung lässt einen Oettinger vor 700 geladenen Gästen inclusive dem Bundesinnenminister das sagen, was er gesagt hat in Freiburg im Breisgau.

Im Heft Oktober 1937/Januar 1938 ist auf der Rückseite der Werkblätter wiederum Werbung für das Winterhilfswerk abgedruckt, diesmal mit Reichsadler und Hakenkreuz und dem Spruch »Der Sammler und Helfer des WHW steht freiwillig im Dienste des Volkes. Achte ihn durch dein Opfer!« oder aber: »Ein Volk hilft sich selbst« Winterhilfswerk 1938/39, wie es wenig später treffend heißt…

Ein Volk hilft sich selbst – das ist doch ein toller Wahlspruch auch für das post-NS-Deutschland. Kurt Georg Kiesinger, Nazi und Bundeskanzler der BRD, machte den Weg frei für den begeisterten Nazi und katholischen Bündler Filbinger als so called Landesvater im Ländle, dem wiederum von Günther Oettinger, definitiv kein NSDAP-Mitglied jemals, wie die jüngere Forschung erwiesen hat, durch dessen Totenrede geholfen wurde, die ›Eigenart‹ zu wahren und alles ›Volksfremde‹ abzuwehren, im Dom zu Freiburg. Die späteren salamitaktischen Rückzieher Oettingers konnte Filbinger nicht mehr hören. Er genoss die warmen, ihn und das Neudeutschland incl.

Weikersheim von jedem Fanatismus, Antisemitismus, Nazismus und Nationalismus exkulpierenden Worte seine Nach-Nach-Nachfolgers Oettinger. Wer exkulpiert alsbald Oettinger, der nicht nur die erste Strophe des Deutschlandliedes gerne singt, vielmehr 1998 gegen die kritische Wehrmachtsausstellung hetzte? Wer mag das bewerkstelligen in diesen schwierigen Zeiten, wo es für alle Zufriedenen und Affirmativen gilt die Erinnerung an die präzedenzlosen Verbrechen der Deutschen ein für alle Mal wegzuwischen, das Unvergleichbare zu vergleichen, zu bagatellisieren, nicht nur aber auch um Teheran seine Rechtfertigung für den kommenden Judenmord zu geben?

Wer also mag diese große Aufgabe in Angriff nehmen? Das schaffen nur die Baden-Württemberger. Bestimmt. Die können wirklich alles.

1 Rolf Fechter (1933): Volk als Begriff und Aufgabe, in: Werkblätter von Neudeutschland Älterenbund, Heft 7/8, 6. Jahrgang, Okt./Nov. 1933, S. 160-169, hier S. 160.
2 Ebd.: 161.
3 Ebd.: 167.
4 Ebd.: 169.
5 Hanns Filbinger (1933): Aus einem ›Jüngerenkreis‹, in: Werkblätter von Neudeutschland Älterenbund, Heft 7/8, 6. Jahrgang, Okt./Nov. 1933, S. 204-205, hier S. 204.
6 Ebd.: 205.
7 Max Müller (1933): Zum Geleit, Werkblätter 9/10, 6. Jg., Dez 33/Jan 34, S. 209–214, hier S. 211.
8 Rolf Fechter (1933a): Das Deutsche Volk im Deutschen Raum, in: Hans Puhl (Hg.) (1933): Bund Beruf Reich. Die Vorträge des Bundestags von Neudeutschland im Limburg a.d. Lahn 1932, herausgegeben im Auftrage der Bundesleitung, Godesberg: Neudeutschland-Älterenbund, S. 135–141, hier S. 135.
9 Karl Gies (1932): Nationale Haltung, in: Werkblätter, Heft 3, 5. Jg., Juni 1932, S. 55–63, hier S. 61.
10 Rolf Fechter (1934): Besprechung von Otto Miller…, in: Werkblätter, 1. Heft, 7. Jg, Mai 1934, S. 21-24, hier S. 21.
11 http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/clemens_heni/
12 Rolf Fechter (1934a): Besprechung von Emil Maubach, »Rheinisches Christentum«, in Werkblätter, 1. Heft, 7. Jg, Mai 1934, S. 32.
13 Emil Maubach (1934): Kritisches über das Tanzen, in: Werkblätter, Mai 1934, S. 36-41.hier S. 40.
14 Vgl. die Angaben am Ende des Bandes Rolf Eilers (Hg.) (1985): Löscht den Geist nicht aus. Der Bund Neudeutschland im Dritten Reich, Mainz (Matthias-Grünewald-Verlag).
15 Rolf Fechter (1934b): Kulturkampf oder innere Erneuerung?, in: Werkblätter, H. 2, Juli 1934, S. 55-58, hier S. 55.
16 Ebd.: 58.
17 Max Müller (1934): Bemerkungen über Liberalismus und Antiliberalismus, in: ebd., 3. Heft, Oktober 1934, S. 111-127, hier S. 127.
18 Max Müller (1934a):Staat, in: ebd.: 129-141, hier S. 140f.
19 Hanns Filbinger (1935): Nationalsozialistisches Strafrecht. Kritische Würdigung des geltenden Strafgesetzbuches und Ausblick auf die kommende Strafrechtsreform, in: Werkblätter, 7. Jg., H. 5–6, März/April 1935, S. 265–269, hier S. 265.
20 Ebd.: 266.
21 Ebd.: 267.
22 Ebd.
23 Ebd.: 268.
24 Ebd.
25 Ebd.: 269.

 

 

Die wirklich unwahrste Unwahrheit über die Nazis

Original auf LizasWelt am 12. Januar 2007

Es gibt viele Möglichkeiten, das unvorstellbare Grauen, das die Deutschen im Nationalsozialismus veranstaltet haben, zu bagatellisieren. Zu den beliebtesten gehören der Antizionismus – der Hass auf Israel als jüdischen Staat –, der Antirassismus – nach dem Motto: „Die Juden von heute sind die Türken“ oder, avancierter: „die Moslems“ – und der Antiimperialismus – das Ressentiment gegen vermeintlich finstere Mächte, zumal gegen die USA.

Daneben finden sich noch weitere Formen dieses Relativierungsspiels, etwa die Totalitarismustheorie, nach der die DDR ein genauso verbrecherisches System gewesen sei wie der Nationalsozialismus. Und auch die Strategie, Anschlussstellen in der deutschen Geschichte zu suchen, die nicht durch die „Sichtblende Auschwitz“ verstellt seien, ist Ausdruck der unheimlichen Sehnsucht nach der Nation.

Diese „Sichtblende Auschwitz“ ist dabei nicht nur im links-deutschen, antirassistischen Antizionismus zu Hause – wo der habilitierte Soziologe und Leiter des evangelischen Studienwerks Villigst, Klaus Holz, mit Freunden über sie spricht –, diese „Sichtblende Auschwitz“ war es vielmehr auch, die den ostdeutschen Theologen Richard Schröder so erzürnte, dass er dafür gleich die Theodor-Heuss-Gedächtnisrede halten durfte:

„Namentlich im Westen ist die Meinung weit verbreitet, in der deutschen Geschichte ließe sich nichts Erfreuliches finden. Erfreulicherweise kann man feststellen, dass diese Haltung unter unseren Studenten nicht mehr dominiert.“ (1)

Mit der Schamlosigkeit eines ganz normalen Deutschen von heute brachte Schröder exemplarisch auf den Punkt, was stattdessen angesagt ist (2):

„Mitte der neunziger Jahre bin ich nach Washington eingeladen worden zu einer kleinen Gesprächsrunde von Deutschen mit Amerikanern, die an amerikanischen Hochschulen den Holocaust lehren. Eine von ihnen trug Folgendes vor. Auch unter den amerikanischen Juden wirke sich die Säkularisation aus. Viele verstehen sich nicht mehr von Gottes Erwählung her, sondern sehen ihre Identität im Holocaust begründet: die Juden, das Volk der unsäglichen Opfer. Diese Identität sei aber, einer Waage gleich, nur stabil, wenn die Deutschen den Holocaust in ihre Identität aufnehmen und sich als das Volk der Täter verstehen. Ich habe geantwortet, das sei unmöglich. Das würde ja heißen, dass wir uns als das verworfene Volk definieren. Jedes Volk sei frei in der Definition seiner Identität. Mit der Selbstdefinition über andere aber hätten wir Deutschen sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Eisiges Schweigen…“

„Mein Führer“: Die Shoa als Folge frühkindlicher Misshandlungen

Konjunktur haben seit einiger Zeit auch Hitler-Filme – niemand soll schließlich sagen, das könnten nur die Amis. Nach dem Untergang am Familientisch im Führerbunker kommt jetzt mit Mein Führer – die Wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler eine angebliche Komödie in die Kinos. Deren Regisseur Dani Levy ist dabei kein Unbekannter; bereits sein Film Alles auf Zucker zeigte, wie das vermeintlich heitere Spiel mit antijüdischen Klischees in sein Gegenteil umschlagen und dennoch – oder gerade deshalb – zum Kinohit werden kann.

Aber Levy hat noch ganz andere Ideen in petto, antipädagogische nämlich. Denn in seinem neuen Film erzählt er eine alte und erbärmliche, aber offenbar wohl gelittene und daher unverwüstliche These neu: Die Erziehungsmethoden im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts seien so brutal gewesen, dass Hitler und seine Generation die körperlichen Qualen nur hätten überwinden können, indem sie die europäischen Juden ermordeten. Folgt man dieser Sichtweise, dann richtete sich die Shoa gar nicht willentlich und absichtsvoll gegen Juden; nein, sie war einfach ein tragischer, trostloser Reflex un- oder falsch verarbeiteter Internalisierungen von Herrschaft, besonders der des Vaters.

Hitler erscheint so als Opfer der Geschichte, als bloße Folge herrschaftlicher Praktiken um die Jahrhundertwende, böser Pädagogik also. Was die Deutschen wiederum – ganz so, wie der Verfassungsrichter und Professor an der Humboldt-Universität, Richard Schröder, es wollte – des Vorwurfs enthebt, ein Tätervolk zu sein, wenn selbst Hitler als Kind Opfer von Misshandlungen wurde, also letztlich nichts für seine Taten konnte.

Und es geht noch weiter: Der zweite Protagonist des Films, ein Jude namens Adolf (!) Grünbaum (gespielt von Ulrich Mühe, im Foto rechts), hat mit Hitler schließlich sogar Mitleid. Er soll ihn mit einem Goldbarren erschlagen, doch er lässt es schließlich. Darüber können vor allem Antisemiten lachen: Ein Jude, direkt aus dem KZ entkommen, der sich anschickt, mit einem Goldbarren Hitler in die ewigen Jagdgründe zu befördern – ein weiterer gründlich misslungener Versuch, antijüdische Klischees ins Komische zu ziehen.

Nicht besser ist jedoch die nachfolgende Wendung im Film: Grünbaum sieht Hitler schließlich als jemanden, der selbst verfolgt wurde, als einen der Kindheit nie entkommenen kleinen Hampelmann und Badewannenplanscher mit unverdauten Gefühlen und Demütigungen. Antisemitismus? Spielte keine Rolle: Juden traf es nur so, zufällig, en passant, weil sie eben da waren. Und wäre die Erziehung früher nicht so heftig gewesen, wäre alles anders gekommen. Beeindruckend simpel, das Ganze.

Aber vermutlich ziemlich erfolgreich, nicht zuletzt weil der Film durch seinen Regisseur Dani Levy eine Art Koscher-Stempel aufgedrückt bekommt. Theodor W. Adorno hatte schon Anfang der 1950er Jahre in einer empirischen Untersuchung festgestellt, wie gerne sich die Deutschen jüdischer Kronzeugen bedienen, wenn es ihnen passt. Der Hauptdarsteller des neuen Hitler-Films, Helge Schneider, bestätigt diese Erkenntnis, wenn er betont, dass Levy schließlich ein jüdischer Regisseur sei und er, Schneider, deshalb selbst bei einem Hitler-Film gerne und ungeniert mitwirke. Mittlerweile bereut Schneider seine Zustimmung – und das als Hauptdarsteller. Levy hingegen zeigt sich in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung unbeeindruckt:

„Für mich hat Hitler nichts Überdimensioniertes. Aber mich interessiert nicht so sehr seine Persönlichkeit, sondern die Idee, dass er als von seinem Vater gequältes Kind einen Zeitgeist repräsentiert. Die Behauptung, die ich im Film – mit Psychoanalytikern wie Alice Miller – aufstelle, ist, dass die sogenannte ‚schwarze Pädagogik’ mitprägend, mitursächlich für den Nationalsozialismus war. Zu Hitlers Zeit war es gängig, dass die Kinder auf ziemlich brutale, ungerechte und willkürliche Weise gezüchtigt wurden. Ich betrachte diese Misshandlung der Kinder damals als ein ‚systemisches Feld’, das den Boden für die spätere Gleichgültigkeit im NS- Staat, für dessen ausgeprägte Nicht-Empathie, geschaffen hat. Wie viele andere habe ich mich immer gefragt, wie es möglich war, dass vor den Augen eines ganzen Volkes ethnische Säuberungen stattfinden konnten, Schikanen und letztlich auch Deportationen. Diese alltägliche Gewalt musste bei den Menschen doch auf eine spezifische Befindlichkeit gestoßen sein, die das für richtig befunden hat – und das erschreckt mich angesichts des Nationalsozialismus am allermeisten.“

Die Internalisierung von Herrschaft

Levy – der den nationalsozialistischen Terror auf „ethnische Säuberungen“, „Schikanen“ und „letztlich (!) auch (!) Deportationen“ herunterbricht, ihm also jegliche Spezifik nimmt – verpasst den Kern einer Dialektik der Aufklärung haarscharf und dennoch ums Ganze. Seine möglicherweise beabsichtigte Kritik an Herrschaft als Bedingung für Gewalt schlägt in die Affirmation des Geredes von „der Moderne“ oder „der schwarzen Pädagogik“ um, die zum Nationalsozialismus geführt habe – ganz unspezifisch, so, als ob Deutschland ein Land wie jedes andere, in dem Kinder geschlagen wurden, gewesen wäre.

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hatten 1947 dagegen wesentlich treffender analysiert, wie sich die Internalisierung von Herrschaft auf die Konstituierung des bürgerlichen Subjekts auswirkt (3): Sie untersuchten männliche Identität dort als mathematische, alles beherrschende, und sie kritisierten nicht zuletzt Hegels Dialektik als Wunsch nach dem Vorrang des Allgemeinen vor jeder Besonderheit. Persönliche Individualität, Devianz, Abweichung per se, würden in der bürgerlichen Gesellschaft verfemt. Psychoanalytisch geschult untersuchen die beiden Philosophen der Kritischen Theorie sodann die existenzielle Bedeutung der pathischen Projektion, zumal sexueller Wünsche oder Bedürfnisse, vom Hass auf die Zirkulationssphäre bei gleichzeitiger Vergötterung der Produktion nicht zu schweigen: All dies sind Aspekte des modernen, des eliminatorischen Antisemitismus. Sie haben den Nationalsozialismus entscheidend geprägt, nicht die „schwarze Pädagogik“.

„Die Ruderer, die nicht zueinander sprechen können, sind einer wie der andere im gleichen Takte eingespannt, wie der moderne Arbeiter in der Fabrik, im Kino und im Kollektiv“,

schrieben Horkheimer und Adorno weiter. Das freie (Aus-) Leben stranguliert sich selbst in Person des Odysseus: Dieser lässt sich an den Mast fesseln und versagt es sich so, zu den gefährlich becircend singenden Sirenen zu rudern. Die Arbeiter-Ruderer werden später noch besser beherrscht: Ihnen verstopft Wachs die Ohren. Diese Abtötung sinnlicher Erfahrung, sinnlicher Wünsche und Sehnsüchte ist (nicht nur) für die beiden Philosophen das Urbild bürgerlicher Selbstherrschaft. Und genau in diesem Kontext steht nun auch Levy (Foto) mit seiner Schuldzuweisung an die aggressive Pädagogik:

„Nun, in den meisten europäischen Ländern ist es erst seit Mitte der neunziger Jahre strafbar, ein Kind zu malträtieren. Das zeigt doch, wie lange es gedauert hat, bis Gewalt als Erziehungsmaßnahme verboten wurde. Unser Erziehungsstil ist politisch wie alles Private überhaupt, und wir haben da eine große Verantwortung.“

Das ist nicht etwa ein Zitat eines Allerweltspädagogen der Universität Tübingen, nein: es ist die Reaktion des Regisseurs Dani Levy auf die Frage „Was haben Sie herausgefunden? Es geht dabei ja auch um die Einzigartigkeit der Nazi-Verbrechen.“ Was für eine Antwort!

Wie Unkraut im Schrebergarten

Nach Daniel Gottlob Moritz Schreber heißen bis heute die entsprechenden Gärten. Schreber war im 19. Jahrhundert ein „Volkserzieher“ und Naturdomestizierer ersten Ranges; seine Bücher erreichten ungewöhnlich hohe Auflagen. Schrebers Philosophie war eine (pädagogische) Vorwegnahme der Freund-Feind-Dichotomie eines Carl Schmitt und also sehr deutsch, etwa, wenn er schrieb:

„Die edlen Keime der menschlichen Natur sprießen in ihrer Reinheit fast von selbst hervor, wenn die unedlen (das Unkraut) rechtzeitig verfolgt und ausgerottet werden.“

Bereits hier deutet sich an, was im eliminatorischen Antisemitismus schließlich Praxis wurde – wobei es gerade kein Zufall war, dass Verfolgung und Massenmord – bei Schreber „ausrotten“ genannt – in Deutschland Juden trafen: Sie waren es, die mit Ungeziefer und Unkraut identifiziert wurden, wie es sich schon in Schrebers Vernichtungs- und Ausmerzungspädagogik anbahnte.

Die ganze Dimension dieser Naturbeherrschung, wie sie in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno analysiert wird, hatte in Schreber einen nicht unbedeutenden Apologeten und Protagonisten, der wahrlich wusste, wovon er schrieb. Denn die Menschenversuche an seinen eigenen Kindern – Ans-Bett-Binden oder eine kalte Dusche bei nächtlichen Erektionen, zwangsweises aufrechtes Sitzen inklusive der Herstellung eigens dafür entwickelter Geräte etc. (4) – führten bei einem Sohn zum Selbstmord und trieben den anderen in den Wahnsinn. Letzterer ging als Daniel Paul Schreber in die Geschichte der Psychoanalyse ein, unter anderem bei Freud.

Entscheidend ist jedoch eine Analyse, die in diesem Zusammenhang auf die deutsche Spezifik und vor allem auf die Spezifik des Antisemitismus abstellt:

„Dabei wurde ‚jüdisch‘ zu einem Synonym für ‚intellektuell‘, dementsprechend wurden das ‚Blut‘ und die ‚Rasse‘ des Juden auch mit genau den Vokabeln umschrieben, die zugleich zur Diffamierung des ‚Intellektuellen‘ dienten: ‚fremd‘ oder ‚zersetzend‘ zum Beispiel“,

so die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun (5). Nicht die brutalen Erziehungsmethoden per se sind also das Problem. Doch das sieht Dani Levy nicht, der unbedingt einen Film über Hitler machen wollte. Und deshalb begeht er einen entscheidenden Fehler: Für ihn sind Juden nicht die Feinde der Deutschen, nicht die Jahrtausende alte Projektionsfläche für Christen, Heiden, Polytheisten und deutsche Nationalisten, nicht die Gruppe von Menschen, die im Nationalsozialismus Opfer der pathischen Projektion der Deutschen geworden sind und für das Antivolk gehalten wurden.

Nein: Juden erscheinen als zufällige, beliebige, austauschbare Opfer – und an diesem Punkt träfe sich Levy sogar mit einer unreflektierten Lektüre der Dialektik der Aufklärung, denn auch Horkheimer und Adorno sind in dieser Hinsicht stellenweise sehr unkritisch.

Die Empathie für das Böse

Wieso aber wurden gerade in Deutschland, und nicht nur während des Nationalsozialismus, Juden beschuldigt, Geld zu raffen und um ein goldenes Kalb zu tanzen? Wieso wurden ausgerechnet Juden von den Deutschen bereits im 19. Jahrhundert und sogar noch früher der „Intellektualität“ geziehen? Wieso wurden Juden von Carl Schmitt, dem Rechtswissenschaftler des NS-Staates, als undeutsch denunziert?

Wurde etwa auch Carl Schmitt als kleines Kind geschlagen, so wie Hitler? Noch einmal Levy:

„Man wird als Zuschauer dazu gebracht, sich in Hitler einzufühlen – genau so, wie sich auch der Jude Adolf Grünbaum in den Mörder seines Volkes einfühlt und ihn am Ende deshalb nicht mehr töten kann, weil er in ihm ein zerrüttetes, armes Kind sieht.“

Die Deutschen sind neidisch darauf, sich nicht in einen ihrer bekanntesten Männer, Hitler, einfühlen zu dürfen. Deshalb gab es bereits den Untergang, der diese Empathie für das Böse ermöglichte. Dabei geht es darum, das Tabu zu brechen, das darin liegt und liegen muss, Hitler als ganz normalen Menschen zu sehen. Er war wie jeder Deutsche, Österreicher und andere willige Vollstrecker im Nationalsozialismus verantwortlich für seine Taten.

Keine soziologische oder pädagogische Theorie kann diese Verantwortlichkeit leugnen oder aus dem Weg räumen. Und genau das ist auch der Grund etwa für den Hass auf Daniel J. Goldhagen. Um es in den Worten des leider viel zu wenig bekannten Wissenschaftlers Fred Kautz zu sagen, der in einer Studie zur Debatte um Goldhagens Buch schrieb (6), die ganz normalen Deutschen wollten nicht hören

„von Soldaten, die exerzierten und ihre Spinde in Ordnung brachten, und die – während sie das Feuer auf bestimmte Menschengruppen eröffneten, dachten ‚was geht’s mich an, was ich will’, insofern ihr Denken dabei überhaupt eine Rolle spielte; von Bürgermeistern, Landräten und Regierungspräsidenten, die für die Verwaltung zuständig waren, wobei sie mehr als 1.000 Ausnahmegesetze, Anordnungen und Durchführungsbestimmungen herausgaben, die Juden betrafen, sich aber keine weiteren Gedanken darüber machten; von Eisenbahnern, die für den Transport von Juden nach Auschwitz zuständig waren und ihrem Geschäft gedankenlos nachgingen usw. Sie alle fallen als Individuen nicht ins Gewicht, denn es ist, als hätte Hans Mommsen sich seiner Lehre vom ‚Funktionalismus’ das scholastische Motto individuum est ineffabile, vom Individuum kann man nicht sprechen, zu eigen gemacht. Das konnte für Deutsche den vorteilhaften Anschein erwecken, das Individuum sei undurchschaubaren Mächten ausgesetzt und der Aufklärung entzogen. Alle waren in Prozesse verwickelt, in denen sie mehr Getriebene als Vorantreiber waren, denn als solche stolperten sie von einer Zwangslage in die andere. Getrieben, geschubst und gezerrt wurden sie von einem böswilligen Deus ex machina namens ‚Eigendynamik’, der ihnen eine Option nach der anderen verbaute, bis ihnen nichts weiter übrig blieb, als den Holocaust zu ‚implementieren’“.

Dani Levy vermittelt einen Eindruck davon, wie auch vermeintlich kritische Geister darauf kommen können, von einer „Sichtblende Auschwitz“ zu reden. Denn die Botschaft des Interviews der Neuen Zürcher Zeitung mit Levy lautet: Auschwitz verdunkelt viel zu sehr, dass Hitler auch mal ein Kind war. Und so treffen sich Klaus Holz, der evangelische Soziologe mit bestem, linkem Gewissen, Richard Schröder, der evangelische Theologe mit deutschen Gefühlen, und Dani Levy, der Schweizer Jude und Regisseur – hinter dieser „Sichtblende“.

Update 14. Januar 2007: Fiktiv sollen sie sein, der Name und die Person des „Adolf Grünbaum“. Warum Levy hier noch einmal kräftig daneben gegriffen hat, steht in dem Beitrag Wahrheit ohne Mühe.

Anmerkungen
(1) Richard Schröder (2003): „Deutschlands Geschichte muss uns nicht um den Schlaf bringen.“ Plädoyer für eine demokratische deutsche Erinnerungskultur, Stuttgart (Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus), S. 11.
(2) Ebd.: S. 14
(3) Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1947/1989): Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main
(4) Schreber, Daniel Gottlob Moritz (1858): Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit durch naturgetreue und gleichmäßige Förderung normaler Körperbildung, lebenstüchtiger Gesundheit und geistiger Veredelung und insbesondere durch möglichste Benutzung specieller Erziehungsmittel, Leipzig
(5) Braun, Christina von (1994): Der Mythos der „Unversehrtheit“ in der Moderne: Zur Geschichte des Begriffs „Die Intellektuellen“, in: Amstutz, Nathalie/Kuoni, Martina (Hg.): Theorie – Geschlecht – Fiktion, Basel/Frankfurt/Main, S. 25-45
(6) Kautz, Fred (1998): Gold-Hagen und die „Hürnen Sewfriedte“. Die Holocaust-Forschung im Sperrfeuer der Flakhelfer, Berlin/Hamburg

 

Das nationale Apriori: Wie aus der BRD endgültig ‚Deutschland‘ wurde

Original auf www.hagalil.com, 07.07.2006

Das Nationale ist zum deutschen Apriori geronnen. Während die NPD und andere Nazis jahrzehntelang für das massenhafte Tragen von Deutschlandfahnen, Wimpeln, schwarzrotgold umrandete Untertassen und andere Embleme ‚der Deutschen‘ geworben haben, schweigt diese Partei heute, fast.

Zu sehen sind nun die propagierten Accessoires in Millionenausfertigung, ganz Deutschland schwelgt, klatscht, schreit, jubelt und singt „blühe deutsches Vaterland“ wie früher nur die NPD im Hinterstübchen der Deutschen Klause in Delmenhorst (bzw. zeitgleich die SED, die vom „sozialistischen Vaterland“ sprach).

Ein deutscher Stürmer, Podolski, hat die Strophen der Nationalhymne in seinen Fußballschuh, in das Leder einschreiben lassen. Jetzt ist die Fanmeile in Berlin am Brandenburger Tor (das ja jetzt geöffnet ist) zur einhellig getätschelten „patriotischen“ Liebeserklärung geworden, ohne Wenn und Aber, eine Art Bildzeitung in Riesenformat. Wenige Hundert Meter weiter liegen die neu-deutschen Frauen im schwarzrotgoldenen Bikini im Liegestuhl am Holocaust-Mahnmal – tote Juden als Aussichtspunkt des Neuen Deutschland; diese ach so friedlichen ‚Jungdeutschlandregimenter‘ setzen des Altkanzlers Schröders Wort vom Holocaust-Mahnmal als „Ort, an den man gerne geht“, lediglich in die Praxis um.

Schon seit Anfang der 1950er Jahre Adorno seine empirische Reise zu den post-nazistischen Deutschen unternommen hat – Schuld und Abwehr – ist bekannt, dass es keineswegs bei den (West)Deutschen nur um Holocaustleugnung geht. Gerade auch die Annahme der Schuld („Wir Deutschen…“ oder „Das macht uns so schnell keiner nach…“) an der Vernichtung der europäischen Juden war möglich, indem Beethoven, Kleist, Luther und Fontane, Sekundärtugenden, C.D. Friedrich und Verwandtes beschworen wurden. Später, in den 1980er Jahren, sagte der erste Vorsitzende der Republikaner, Franz Schönhuber, dass „Deutschland der Welt viel mehr geschenkt“ habe, „als Auschwitz je kaputtmachen könnte“.

Vom holocaustleugnenden Konjunktiv ganz zu schweigen spricht Schönhuber hier eine deutsche Befindlichkeit aus, welche die letzten 20 Jahre, nach der ‚Wiedervereinigung‘ und verschärft seit Rot-Grün 1998ff., immer mehr Einfluss gewinnt, ja von einem Bestandteil rechtsextremer ‚Deutungskultur‘ (Karl Rohe) zu einer gesamtgesellschaftlichen ‚Soziokultur‘ geronnen ist. Wissenschaftstheoretisch ist dabei das Paradoxon zu analysieren wie gerade eine Abkehr von Nationalgeschichte einer Verharmlosung und Universalisierung der spezifisch deutschen, präzedenzlosen Menschheitsverbrechen Vorschub leistet.

An sieben Punkten werde ich darstellen, wie sich diese Bewusstseinslage oder Befindlichkeit, die neue deutsche Ideologie äussert und was daran bemerkenswert ist.

1) Ein deutsches Graduiertenförderungswerk, 2002: ein Küchlein mit Folgen

Als Ausgangspunkt mag ein Treffen von Nachwuchswissenschaftlern, alles StipendiatInnen eines großen Graduiertenförderungswerkes, von Juli 2002 dienen. Dort hat ein kleines Küchlein, ein am Bahnhof gekaufter Muffin mit Mini-US-Fahne dazu geführt, die Fronten zu klären. Eigentlich als Zuckerl gedacht, entpuppte sich das Gebäck zu einem Objekt der Abwehr seitens typisch deutscher, linker JungakademikerInnen, die dieses US-Fahne – nach 9/11 zumal – unerträglich fanden. Zufällig wurde zu dieser Zeit im TV ein Interview Michel Friedmans mit dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon gesendet. Lediglich zwei der 17 Teilnehmenden hatten daran Interesse, die anderen pflegten ihre Ressentiments gegenüber Juden im Allgemeinen, Israelis im Besondern.

Wohlgemerkt: die Stimmung war schon so deutlich gegen Friedman, dass Möllemanns Flugblatt von September 2002 zur Bundestagswahl, auch gewisse Töne dieses Treffens vornehmlich linker, durchaus gewerkschaftsnaher Akademiker aufgreifen konnte. Dass es genau diese Stiftung bzw. ihre Doktoranden war, die wenige Monate später einen handfesten Antisemitismus-Skandal erlebte (als dessen Konsequenz immerhin eine Tagung zur Kritik des linken Antisemitismus stand), als ein migrantischer Doktorand nassforsch antiisraelische Töne durchs weltweite Netz jagte, überrascht nicht mehr. Fazit: Ressentiments gegen kleine amerikanische Fahnen, Juden und Israelis gehörten zum guten Ton dieses akademischen Nachwuchses. Das führt mich zum zweiten Beispiel.

2) Ein weiteres deutsches Graduiertenförderungswerk, Juni 2006: ich bin deutsch und was bist du?

Mitten in der nationalen Paranoia im Juni 2006, als Siege der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen schwache, schwächste oder unmotivierteste Teams die Stimmen der Moderatoren sich überschlagen und Millionen von Individuen zu einer homogenen Masse zusammenfinden lässt, eine weitere Tagung eines anderen, kleineren Graduiertenförderungswerks. Zu einem Spiel der deutschen Mannschaft wurde extra Party-Material gekauft, um einen Raum zu schmücken. Nicht etwa, um allgemein Fußball-Fan-Artikel der WM ganz allgemein zu drapieren, nein: ausschließlich schwarzrotgold war angesagt, noch nicht einmal die Farben der gegnerischen Mannschaft waren im Horizont der Vorbereitungsgruppe dieses Abends.

Erwachsene Akademiker malten sich mit Schminke die Farben des ‚deutschen Vaterlandes‘ ins Gesicht – wie sollen diese Persönchen in Zukunft noch ernst genommen werden als Wissenschaftler, Intellektuelle gar oder einfach nur interessante Individuen? So etwas war noch vor 12, 8 oder auch 4 Jahren undenkbar.

Dass keineswegs nur typische, ich-schwache und autoritär sozialisierte Personen dazu neigen sich mit einer Nation zu identifizieren, zeigen solche Beispiele wie auch die folgenden. Gleichwohl ist jede nationale Identifikation in Deutschland Zeichen eines persönlichen Defizits, das zu kompensieren aufgebrochen wird.

3) Walk of Ideas, Berlin 2006

Mitten in Berlin stehen sechs mega große Skulpturen, die zeigen sollen, dass Deutschlands „größtes Kapital“ „die Ideen der Menschen“ seien. Erfindungen werden hier nicht als Erbe der Menschheit, vielmehr als nationales Gut, als ‚volksmässig‘ akkumuliertes Kapital betrachtet. Vom Automobilismus, der Medizin, der unvermeidlichen Bemächtigung Einsteins Relativitätstheorie über den Fußballschuh, der Musik hin zum Buchdruck.

Letzterer ist ein gutes Beispiel, wie Deutschland heute funktioniert:

„Die Verbreitung des gedruckten Wortes beschleunigte Reformation und Aufklärung und unterstützte die Alphabetisierung. Dichter und Denker nutzten die neue Technik und ließen die deutsche Buchlandschaft erblühen – Zensur und Barbarei hätten sie fast zerstört: Am 10. Mai 1933 verbrannten Nationalsozialisten überall in Deutschland Werke moderner und regimekritischer Autoren. Die Bücherverbrennung setzte 500 Jahren deutscher Buchkultur ein vorläufiges Ende.“

So steht es auf einer Tafel zu dieser Skulptur am Bebelplatz in Berlin, Unter den Linden. Da stutzt man gewaltig: die Bücherverbrennung als „Ende“ „deutscher Buchkultur“? Waren die Werke Carl Schmitts, Richard Euringers, Eberhard Wolfgang Möllers, Martin Heideggers oder Erwin Guido Kolbenheyers nicht gedruckt worden in den Jahren 1933–1945? Was verbirgt sich hinter der Chiffre „moderner und regimekritischer Autoren“?

Wenn die Werke Heines aus dem 19. Jh. verbrannt wurden, wurde dann ein „NS-regimekritischer“ Autor verbrannt? Typisch ist die Auslassung des Antisemitismus, der jedoch de facto in Goebbels hetzerischer Ansprache an jenem 10. Mai 1933 auf diesem Platz deutlich zu hören war, als er vom „jüdischen Intellektualismus“ sprach, der ein Ende nehmen müsse. Dass sich gerade die Deutschen über die Jahrhunderte hinweg gerade nicht als Gesellschaft, die Büchern aufgeschlossen gegenüber steht, entwickelt hat, vielmehr Juden als Vertreter einer „Buchkultur“ oder „Gesetzesreligion“ angeprangert wurden, wird einfach derealisiert.

Wer sich die Geschichte des Antiintellektualismus anschaut, d.h. insbesondere die bis heute prägende Studie von Dietz Bering von 1978, weiß, dass der Affekt gegen das Buch in Deutschland von links bis rechts Tradition hat. Die Skulptur des Jahres 2006 suggeriert den Millionen Besuchern Berlin bzw. der Bundesrepublik: fast wäre das Buch an sich zugrunde gegangen, aber es ging noch mal gut. Dazu gesellt sich natürlich das Automobil, unter Hitler wären es die Autobahnen gewesen, welches der Welt vor dem Brandenburger Tor präsentiert wird.

Dass Audi, deren Modell nun überdimensional vor dem Brandenburger Tor steht, heute eine Tochter des Volkswagenkonzerns ist, der 1938 in der „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ gegründet wurde, wird klammheimlich bejaht, ja verbreitet Stolz im Neuen Deutschland wie annodazumal.

4) „Die Nazis wurden doch sportlich, 1936!“ Neu-deutsche Wissenschaft als Rehabilitierungsübung für den Nationalsozialismus

Auch in der Wissenschaft ist seit Jahren ein Trend bemerkbar, den Nationalsozialismus als ganz normale Gesellschaft – hier am Beispiel des Sport – darzustellen, Antisemitismus und Volkstumsideologie werden entweder offen oder subkutan affirmiert. Dazu dient als brillantes Beispiel die häufig zitierte und auch von linken Zeitschriften wie Konkret positiv angeführte Historikerin Christiane Eisenberg, die insbesondere deshalb in gewissen Kreisen einen Namen hat, weil sie Fußball-Analyse als wissenschaftliche Disziplin anerkannt habe.

Wichtig für ein Verstehen Ihres Ansatzes ist der Kulminationspunkt ihrer Habilitationsschrift aus dem Jahr 1997, eine Analyse der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin. In dieser Schrift versucht sie zu zeigen, wie Deutschland durch den Sport eine bürgerlich(er)e Gesellschaft nach dem Vorbild Englands wurde, die Studie heißt auch entsprechend „“English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939″.

Eisenberg versucht dem Sport ein Eigenleben auch und gerade unter den Bedingungen eines Herrschaftssystems wie dem Nationalsozialismus, welchem damit gleichsam ein ganz normaler Platz im Pantheon der (Sport-)Geschichte gesichert werden soll, zuzugestehen.

„Für die Atmosphäre der Spiele war es darüber hinaus von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß es reichlich Gelegenheit zur internationalen Begegnung und freien Geselligkeit außerhalb der Arenen gab. Gemeint sind hier weniger die Restaurants auf dem Reichssportfeld und auch nicht die zahllosen Empfänge und Partys der Nazigrößen. Das Urteil gründet sich vielmehr darauf, daß der Großteil der männlichen Athleten in einem Olympischen Dorf untergebracht wurde, so wie es erstmals bei den vorangegangenen Spielen in Los Angeles 1932 versucht worden war. Hatte das OK [Olympische Komitee C. H.] zunächst geplant, dafür eine bereits bestehende Kaserne zu renovieren, so ergab sich 1933 auf Vermittlung Walter v. Reichenaus die Chance, Neubauten zu bekommen. In der Nähe eines Truppenübungsplatzes in Döberitz/Brandenburg wurden in einem landschaftlich reizvollen Gelände 140 ‚kleine Wohnhäuser‘ für das Infanterie-Lehrregiment gebaut, deren Erstbezieher 3.500 Sportler wurden. Es gab Sporthallen, ein offenes und ein überdachtes Schwimmbad, Spazierwege, Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen. Zu den Gemeinschaftsräumen gehörten eine vom Norddeutschen Lloyd bewirtschaftete Speiseanstalt mit internationaler Küche und ein Kino.“

Eisenberg will einer neuen Sicht auf den Nationalsozialismus den Weg ebnen. In gezielter Negierung gesellschaftlicher Totalität isoliert sie Momentaufnahmen aus ihrem Kontext, um deren Allgemeingültigkeit, ja Universalität, kurz, das moderne Moment zu würdigen. Denn „Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen“ sind ja eine feine Errungenschaft, in Berlin 1936 wenigstens so lobenswert wie in Los Angeles 1932, will sie suggerieren.

Sie kritisiert die kritischen Reflexionen und Analysen bekannter und renommierter Sportwissenschaftler wie Hajo Bernett, Thomas Alkemeyer oder Horst Ueberhorst. Auch die Untersuchungen des Politikwissenschaftlers Peter Reichel über den Schönen Schein des Dritten Reichs qualifiziert Eisenberg ab:

„Diese Interpretation der Spiele vermag aus drei Gründen nicht zu überzeugen. Erstens ist das zugrundeliegende Argument methodisch fragwürdig, weil es nicht falsifizierbar ist. Wer immer das Gegenteil behauptet, daß Berlin 1936 ein Ereignis sui generis und der schöne Schein auch eine schöne Realität gewesen ist, riskiert es, als Propagandaopfer abqualifiziert zu werden.“

Die Olympiade in Berlin 1936 sei ein ‚Ereignis‘ ’sui generis‘ gewesen, gleichsam eine ’schöne Realität‘. Diese positivistische Abstraktion von jeglicher Gesellschaftsanalyse ist für nicht geringe Teile der Mainstream-Wissenschaft typisch. Ihre Argumentation steigert Eisenberg noch, indem sie Reichels Analyse im Reden von den vermeintlichen ontologischen Zwittern Sport und Propaganda untergehen lässt:

„Zweitens ist das Argument unergiebig, weil Sport und Propaganda wesensverwandt sind. Beide sind nach dem Prinzip der freundlichen Konkurrenz strukturiert, beide verlangen von den Akteuren eine Be-Werbung um die Gunst von Dritten (‚doux commerce‘). Daß dabei geschmeichelt, poliert, dick aufgetragen, ja gelogen und betrogen wird, überrascht niemanden, weder in der Propaganda noch im Sport. Olympische Spiele sind, so gesehen, immer Illusion und schöner Schein; eben das macht ihre Faszination aus. Daraus zu folgern, daß Berlin 1936 eine umso wirksamere Werbemaßnahme für den Nationalsozialismus gewesen sein müsse, wäre jedoch kurzschlüssig. Denkbar wäre auch, daß Nutznießer der Propaganda der Sport war. Diese Möglichkeit hat jedoch noch keiner der erwähnten Autoren geprüft.“

Eisenberg will sagen: So schlimm kann der Nationalsozialismus doch nicht gewesen sein, wenn ein so zentrales Moment für moderne, freizeit- und spaßorientierte Gesellschaften wie der Sport, gar ein ‚Nutznießer‘ dieses politischen Systems war. Diese eben zitierte Passage ist Ausdruck eines Wandels politischer Kultur in der BRD. Ungeniert lässt sie den Nationalsozialismus, am Beispiel der Olympischen Spiele von 1936, im Kontinuum bürgerlicher Gesellschaft, die eben im Sport ‚wesenhaft‘ lüge, dick auftrage und schmeichele, aufgehen.

Wie soll es nach der auf internationale Verständigungspolitik“ ausgerichteten Weimarer Republik möglich gewesen sein,

„daß die Olympiapropaganda nach 1933 plötzlich eine Nazifizierung der Athleten und des sportinteressierten Publikums bewirkte? Mußte nicht zuvor eine Versportlichung der Nazis erfolgt sein?“

Bei dieser Olympiade wurde ein ‚Weihespiel‘, die „Olympische Jugend“ von Carl Diem uraufgeführt. Es geht in diesem olympischen Weihespiel um „‚Kampf um Ehre, Vaterland'“. Die Jugend sieht ihrem Selbst-Opfer ins Gesicht: „Allen Spiels heil’ger Sinn: Vaterlands Hochgewinn. Vaterlandes höchst Gebot in der Not: Opfertod!“ Eisenberg ordnet diesen Opfertod folgendermaßen ein: das Diemsche „Festspiel“ werde

„in der sport- und tanzhistorischen Literatur als Verherrlichung des ‚Opfertodes‘ für die nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘ interpretiert – was nicht zu überzeugen vermag. Erstens gehörte die Opferrhetorik schon in der Weimarer Republik zum spezifisch deutschen Sportverständnis (…) Zweitens haben die Zeitgenossen des Jahres 1936 die Szene ohne Zweifel mit dem Ersten Weltkrieg und nicht mit dem bevorstehenden Zweiten in Verbindung gebracht.“

Auch wenn sich die Historikerin ganz sicher ist („ohne Zweifel“), bleibt zu betonen: die Erinnerung an die deutschen Toten des I. Weltkriegs war sehr wohl die Vorbereitung auf den II. Der ‚Langemarck-Topos‘ der Jugend, des Opfers und des Nationalen kommt hierbei zu olympischen Ehren. Die internationale Anerkennung der Spiele ist Zeichen des Appeasements dem nationalsozialistischen ‚Aufbruch‘ gegenüber. Wenn in einem Buch von 1933 ausgeführt wird:

„‚Daraus erhellt, daß bei Ausbruch des Krieges der Zukunft die Ausbildung künftiger Langemarckkämpfer um ein mehrfaches verlängert und die Material- und Munitionsmenge für heutige Schlachten um ein Vielfaches vermehrt werden muß'“,

so muss gerade eine solche Interpretation des Langemarck-Topos ernst genommen und nicht, wie bei Eisenberg, als quasi Weimarer Tradition, die zufällig 1936 wieder hervortritt, verharmlost werden. Dagegen ist die Kontinuität von ’33 bis ’36 zu sehen, die soeben zitierte Passage von ’33 bekommt im Festspiel von Diem eine internationale Beachtung findende Weihe, wie Eisenberg unschwer in der Forschungsliteratur hätte nachlesen können:

„So wurde im Glockenturm des Berliner Olympia-Stadions eine Gedächtnishalle für die Toten von Langemarck eingerichtet, und Carl Diems Eröffnungsspiel der Olympiade von 1936 endete mit ‚Heldenkampf und Totenklage‘; eine Division des Hitlerschen Ost-Heeres bekam den Namen ‚Langemarck'“.

Ein weiterer Kritikpunkt, ganz eng am Diemschen Spiel und seinen Protagonisten wie der Ausdruckstänzerin Mary Wigman orientiert, ist folgender: es lässt sich gut zeigen, wie Wigmans Auffassung von Opfertod Diems Weihespiel in diesem Punkt inhaltlich bzw. choreographisch bereits vor ’33 antizipiert hat, so am „Stück ‚Totenmal‘, einem Drama von Albert Talhoff, welches von Talhoff und Wigman 1930 gemeinsam inszeniert wurde, wobei Wigman die tänzerische Choreographie übernahm.

Das Werk wurde zum Gedenken an die Gefallenen des 1. Weltkriegs geschrieben. (…) [Zudem] ist dieses Werk ein Prototyp nationalsozialistischer Inszenierungen, zum einen wegen des Themas (Verehrung der gefallenen Soldaten) zum anderen wegen der Form (die Inszenierung stellt eine Kombination aus Sprechchor und Bewegungschor dar).“ Waren schon die „Tanzfestspiele 1935“ eine „Propagandaveranstaltung für den deutschen Tanz nationalistischer Prägung“, so kulminierte das im olympischen Jahr im Weihespiel von Diem, an dem Wigman aktiv beteiligt war. Ein Sportwissenschaftler, Micha Berg, weist auf die zentrale Bedeutung von Symbolik für das nationalsozialistische Deutschland hin und zitiert den völkischen Vordenker Alfred Baeumler:

„Das Symbol gehört niemals einem Einzelnen, es gehört einer Gemeinschaft, einem Wir. Dieses Wir ist nicht ein Wir des gesinnungsmäßigen Zusammenschlusses von Persönlichkeiten, ist nicht ein nachträgliches Wir, sondern ein ursprüngliches. Im Symbol sind Einzelner und Gemeinschaft eins. (…) Das Symbol ist unerschöpflich, in ihm erkennt sich sowohl der Einzelne wie die Gemeinschaft.“

Dieses ‚ursprüngliche Wir‘ kehrt heute im deutschen Feuilleton wieder, gerade am Beispiel der deutschen Hymne, wie weiter unter an einem weiteren Beispiel gezeigt werden wird. Es bleibt zu konstatieren, dass Eisenberg darauf beharrt: Diems Festspiel ende doch mit Beethovens „Schlußchor der IX. Sinfonie mit der ‚Ode an die Freude‘ von Friedrich Schiller“, was Ausdruck von ‚Kunst‘ sei. Sie schließt ihre Arbeit, indem sie nicht nur dem Sport unterm NS mehr Möglichkeiten als noch in der Weimarer Republik attestiert, sondern auch, den II. Weltkrieg als „Beeinträchtigung des Wettkampfbetriebs“ euphemisierend, dem Nationalsozialismus bescheinigt, er habe den „Sport“ zuungunsten des Turnens gewinnen lassen, was sie als „Rahmen für den Sport in der Bundesrepublik“ für gut erachtet.

Besser hätte es die Neue Rechte oder jeder Konservativismus auch nicht hinbekommen: Die Nazis wurden im NS sportlich und nicht umgekehrt. Damit werden der NS verharmlost, Juden gedemütigt und Deutschland gerettet, die Habilitations-Mission ist erfüllt.

Dieser etwas ausführlichere Ausschnitt mag verdeutlichen, wie gegenwärtige Geistes- und Sozialwissenschaft in der Bundesrepublik funktioniert (wenn sie erfolgreich sein will im affirmativen Sinne, Eisenberg bekam alsbald eine Professur an der Humboldt-Universität). Es ist gerade bei politisch angeblich unverdächtigen Personen Mode geworden, den Nationalsozialismus einzubetten in ein Kontinuum, um auf jeden Fall den Zivilisationsbruch, den Auschwitz bedeutet, zu verdecken oder zu leugnen.

Die bürgerliche Gesellschaft wird gerade in Deutschland so dargestellt, als sei die Gesellschaft im NS 1936 ganz ähnlich strukturiert gewesen wie die der USA bei den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles. Das, was das nationalsozialistische Deutschland sehr spezifisch kennzeichnete, wird gezielt weggewischt, als irreal abgetan oder schlicht und ergreifend gar nicht analysiert. Vielmehr soll gelten: Die Existenz von Liegestühlen und Blumenbeeten für Sportler wiegt den Antisemitismus und Ausschluss jüdischer SportlerInnen auf. Dieser Antisemitismus ist erst auf den zweiten Blick erkennbar, ein Blick, der allzu selten vorgenommen wird.

5) Drei weitere Beispiele ‚linker‘ Wissenschaftler und deren Verharmlosung der deutschen Verbrechen

In der Dissertation des heutigen Konstanzer Juniorprofessors Sven Reichardt wird diese Position am Beispiel eines Vergleichs deutscher und italienischer ‚faschistischer‘ Geschichte deutlich:

„Der in dieser Arbeit zugrundegelegte Faschismusbegriff stellt eine eigene praxeologische Analyse der faschistischen Bewegung vor, die nicht an die marxistische Deutung und nur selektiv an die neuesten angloamerikanischen Arbeiten und Noltes Definition anknüpft“.

Antisemitismus wird zwar als Differenz von italienischen Squadristen und deutscher SA erwähnt, aber als wenig bedeutsam klein geredet, zudem als bloßer ‚Rassismus‘ verkannt. Das ist Folge des bei Reichardt paradigmatisch für weite Teile heutiger Historiografie hervortretenden komparatistischen Zugangs, der die Präzedenzlosigkeit der deutschen Verbrechen und ihrer Vorgeschichte gezielt negiert.

Konsequent ist es, wenn u. a. Reichardt dem Altlinken Karl Heinz Roth Rat gab bei der Verabschiedung einer Analyse des Nationalsozialismus zugunsten eines ubiquitären Faschismusbegriffs, vgl. Roths Aufsatz aus dem Jahr 2004 „Faschismus oder Nationalsozialismus? Kontroversen im Spannungsfeld zwischen Geschichtspolitik, Gefühl und Wissenschaft“.

Roth exkulpiert die Deutschen in althergebrachter Diktion von ihrem Antisemitismus, wenn er schreibt:

„Weitaus gebräuchlicher ist indessen der Begriff ‚Nationalsozialismus‘: Es handelte sich zunächst ebenfalls um eine affirmative Selbstdefinition, die aber elementare Prämissen, nämlich den militanten Antisozialismus, verschleiert. Darüber hinaus ist der Begriff nicht vergleichsfähig, weil er seine faschistischen Kontexte und Varianten per definitionem ausschließt. Er schließt aber auch alle anderen Bezüge zur europäischen und Weltgeschichte aus oder unterwirft den Blick auf Europa und die Welt der affirmativen Selbstkonnotation. Auch die kritisch distanziert gemeinte Analyse des ‚Nationalsozialismus‘ vermag nicht über einen germanozentrischen Blickwinkel hinaus zu gelangen“.

Bezeichnend ist, dass Roth nicht von einer deutschen Spezifik bei der Analyse des NS spricht, vielmehr einer „transnationale[n] und komparative[n] Sichtweise auf die faschistische Epoche“ das Wort redet. Das wird von einem weiteren Juniorprofessor sekundiert, wenn Kiran Klaus Patel ohne mit einem Wort den eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen und die Präzedenzlosigkeit der Shoah analysierend, „transnational“ Phänomene wie den NS betrachten möchte und zum Schluss kommt:

„Gerade für das NS-Regime verspricht eine transnationale Perspektive neue Erkenntnisse. (…) Denn die Distanz zwischen NS-Regime und New Deal war weniger tief als häufig angenommen“.

Solche Perspektive hat durch Arbeiten der Neuen Rechten – exemplarisch sei der wichtigste Neue Rechte in der Bundesrepublik seit Anfang der 1970er Jahre bis heute, Henning Eichberg, erwähnt – über die Jahrzehnte hinweg den Boden bereitet bekommen.

6) Das Opfer bringen und singen: „Blüh im Glanze deutsches Vaterland“ – von Diem zu Klinsmann

Jürgen Klinsmann wird zu Unrecht als wenig typisch deutscher Sportler betrachtet. Zwar war er in England bei den Spurs eine Kultfigur geworden, weil er als Deutscher so nett erschien und die Fans zu sangen begannen „Juergen was a German now he is a Jew“, was auf die umgepolte Selbststilisierung zum „Judenklub“ Tottenham Hotspurs anspielt, aber analytisch ist das nicht tief gehend.

Vielmehr war es Klinsmann, der das Deutsche evozierte, aggressiv zu werden, trotz kalifornischem Wohnort und internationalem Habitus. Er war es, der die deutsche Nationalmannschaft fast einhellig dazu brachte, lauthals die Nationalhymne zu trällern, den jungen Deutschen ein positives Gefühl für ihr Deutschland zu geben. Dass es so ein Gefühl nach Auschwitz in Deutschland nie wieder geben sollte, fällt da natürlich unter den volksgemeinschaftlichen Tisch. Dass keinem es auffällt oder zu peinlich oder widerlich ist, eine Hymne zu singen, die wortwörtlich auch im Nationalsozialismus gesungen wurde, ist doch schockierend, nicht?

Weit mehr: in einem Artikel der wiederum eher links-liberal daherkommenden Frankfurter Rundschau steht am 27. Juni 2006 folgender Text, der sich anhört als wäre er 1936 geschrieben worden, lange bevor der Autor geboren wurde:

„Wir wissen, schon in zwölf Jahren wird fast keiner mehr erzählen können, wie er sich als Kriegsteilnehmer in einem Kreis von Kriegsteilnehmern gefühlt hat, als der Sieg der deutschen Nationalmannschaft in Bern durch den europäischen Äther ging. Wir wissen zugleich: Schon in ein paar Wochen wird unsere Erinnerung an die schönsten Spiele dieser Weltmeisterschaft merkwürdig transparent und ausgeblichen sein, als vertrüge unsere tägliche Gedächtnispraxis das heftige Licht des Geschehenen auf Dauer nicht. Die Gegenwart muss sich einhaken. Anders gesagt: Unsere stärksten Gefühle lassen uns für eine kurze Spanne spüren, dass wir die kommenden Toten sind. Deshalb ist es schön, sie zu zweit, und besonders rührend, sie in einer Gemeinschaft von ähnlich Gestimmten durchleben zu dürfen. Gemeinsam singend, genießen wir uns als die baldigen Toten.“

Diese Propaganda ist nichts anders als die Beschwörung einer Gemeinschaft von Deutschen, die sich in völkischer Tradition sehen wollen. Es hört sich wirklich genuin nationalsozialistisch an, ist aber ein Text eines jüngeren Autors, Georg Klein, Jahrgang 1953 und Ingeborg-Bachmann-Preisträger.

Dieser Feuilleton-Text zeigt die Ungeniertheit, die das nationale Apriori ermöglich, hervorkitzelt und zum Ausdruck bringt. Eigentlich wäre bisher bei so einer Zeile, dass die stärksten Gefühle jene seine, die mir sagen, dass ich, nein: wir die „kommenden Toten“ sein werden, ein Aufschrei durch das Land gegangen. Heute nicht. Es geht nicht um die Sterblichkeit der Menschen.

Es geht um die Konstruktion eines homogenen Ganzen, eines Volkskörpers, das jeden einzelnen nur unter dem Aspekt dieses Körpers, des Volkes sieht und nicht – gleichsam katholisch gedacht – als Kind unter „Gottes Hand“. Muss man wirklich Katholik werden um solch völkische Rede der Frankfurter Rundschau zu kontern? Gut, Klein möchte als Deutscher sterben, soll er das.

Es wird auch weiterhin Leute geben, die lieber als Menschen, als ganz spezifische Individuen mit Macken, Vorlieben, Träumen, Sehnsüchten, Hoffnungen, Enttäuschungen, Freuden und Ekel, denn als Deutsche sterben.

Dazu passt, dass der ehemalige Bundestagspräsident, Wolfgang Thierse, fordert, doch noch mehr Strophen dieser deutschen Hymne zu verfassen. Nicht etwa dass der ehemalige DDR-Bürger Thierse die Abschaffung eines nationalen Symbols forderte, wo kämen ‚wir‘ hin? Wer in Berlin in den Stadtteil Lichtenberg im Osten fährt weiß wie aktuell die Gefahr des Umkippens vorgeblich harmlosen Singens der deutschen Hymne in Hetze und Gewalt durch Nazis ist. Dort gibt es Straßen, wo die Reichskriegsflagge in Eintracht mit der schwarzrotgoldenen am Haus hängt.

Vor wenigen Wochen, vor der WM, wurde in dieser Gegend ein bekannter deutsch-türkisch-kurdischer Kommunalpolitiker schwer verletzt. Nazis haben hier die Hoheit, schwarzrotgoldene Hosenträger, Markenzeichen schon seit eh und je der dickbäuchigen Nazis, schon zu BRD-Zeiten, sind ja heute in Mode, wo alle deutsche Welt schwarzrotgold trägt, als Armkettchen, Rock, T-Shirt oder Gürtel aus biologisch abbaubarer Wolle.

All diejenigen, die jetzt das Deutsche hochleben lassen sind politisch für solche Gewalttaten von Nazis mitverantwortlich zu machen. Das ist ja auch nichts Neues: früher haben auch Liberale und Linke Konservativen bzw. Rechten die Mitschuld am immer stärker werdenden Rassismus gegeben, am deutlichsten und treffendsten vielleicht 1992/1993 bei der de facto Abschaffung des individuellen Asylrechts durch CDU/CSU/SPD und ihren Helfern in anderen Parteien, Medien und Verbänden.

Geschichtspolitisch wurde immer auf die Vordenkerfunktion der geistigen Elite hingewiesen, nicht erst zum Historikerstreit 1986ff. Bereits Ende der 1970er Jahre, Anfang der 1980er Jahre, als in der BRD das Nationale offen aufs Tableau kam – nicht zufällig schon damals übrigens von Jürgen Habermas, der 1979 zwei Bände herausgab, welche die „nationale Frage“ auf die Tagesordnung setzten und Martin Walser davon sprach, lediglich wenn „wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Fragen zuwenden“ – wurde z. B. von Wolfgang Pohrt auf diese nationale Vordenkerfunktion zumal der Linken, Alternativen und Grünen verwiesen.

Schon damals also wurde deutlich dass das Einfordern universalistischer Prinzipien von Staatsbürgerschaft und politischem Gemeinwesen, für das Habermas steht, einher gehen kann mit einer Verharmlosung der deutschen Geschichte, ja ein nationales Narrativ gleichsam als Grundlage auch eines nicht blutsmässigen Staatsdenkens zu erkennen ist.

Wer also heute im Schwenken der deutschen Fahne nichts Gefährliches sieht, weil er oder sie nicht die Nazis auf der Straße, die fast komplett ’national befreite Zone‘ Ostdeutschlands sieht, weil doch lediglich Party gemeint sei und ein ‚Patriotismus‘ nie und nimmer mit Nationalismus verwechselt werden dürfe, irrt gewaltig. Das wird im folgenden Punkt noch deutlicher.

In einer Radiosendung des SWR in Stuttgart vor wenigen Tagen ging es um diesen neuen ‚Patriotismus‘, die Fahnenmeere etc. Hermann Bausinger, emeritierter und wohl dekorierter Kulturwissenschaftler aus Tübingen legte die Pace dieser nationalen Debatte vor. Er meinte ganz freudentrunken, dass das neue nationale Pathos völlig harmlos und schön sei, gerade weil alles Militärische daran fehle. Und dieses Fehlen des Militärischen sei Konsequenz der deutschen Verweigerungshaltung im Irak-Krieg, ja die deutsche Friedenssehnsucht sei Prämisse eines neuen, zurecht stolzen Deutschland. Der Hass auf die USA, der Antizionismus, das Appeasement und die klammheimliche Freude ob des Djihad sind dieser friedlichen Hetze inhärent.

7) Keine „Reue“ zeigen: gegen „amerikanischen Messianismus“ – Matusseks nassforsche Invektiven oder Wie funktioniert sekundärer Antisemitismus?

Der Spiegel Kultur-Ressort-Leiter Matthias Matussek hat mit seinem Bestseller „Wir Deutschen – Warum uns die anderen gern haben können“ ein offen nationalistisches Buch geschrieben, das in vielerlei Hinsicht ohne Walsers Tabubruch von 1998 im Mainstream-Journalismus nicht so ohne weiteres zu denken war. Der Bezug zu Bausingers Friedensliebe der Deutschen ist ganz offenbar in einem Interview Matusseks mit Peter Sloterdijk. Matussek gibt dem TV-Philosophen eine neu-deutsche Steilvorlage, wenn er fragt:

„Sichtbar wird vielmehr ein neues deutsche Selbstbewusstsein, zumindest in der Außenpolitik, die sich sogar den Widerstand gegen den amerikanischen Messianismus erlaubt hat.“

Das Ressentiment gegen „jüdischen“ Messianismus, wie er in antisemitischen Texten überall auftaucht, bekommt hier völlig selbstverständlich, aber rhetorisch kaschiert, seine Weihen. Der alte SPD-Mann Egon Bahr nennt das in einem Büchlein dann logisch „den deutschen Weg“ – gegen den „amerikanischen“ – und der Wirtschaftswissenschaftler Werner Abelshauser stimmt als einer unter vielen in diesen nationalen Chor ein.

Matussek ergeht sich nicht nur in Allgemeinplätzen, die er oft selbst erfindet wie folgenden „Die Liebe zum Vaterland ist eine Kraft, schon seit der Antike“ – aber sein Ton ist so ungeheuerlich aggressiv, schwülstig deutsch, durchsetzt von antienglischen Invektiven, dass deutlich wird, wie stark ein stolzer Deutscher auf Feinde und Gegner eingestellt ist.

Da werden Engländer zum „unsympathischsten Volk auf Erden“ erklärt, der deutsche „Bildungsbürger“ beschworen und gegen die „englische Klassengesellschaft“ gesetzt und Klaus von Dohnanyi, ein Altpolitiker der SPD aus Hamburg, phantasiert demokratische Traditionslinien der Deutschen herbei, die angeblich älter seien als die Englands ohne zu betonen, dass es in Deutschland keine erfolgreiche und konsequente demokratische Revolution je gegeben hat. Ein Hinweis auf deutsche Verbrechen trotz „Bildung“ gereicht den beiden Gesprächspartnern Dohnanyi und Matussek dazu, Englands Sklavenhandel und Nordamerikas Sklavenhaltergesellschaft zu geißeln. Diese deutschen Schuld-Projektionsleistungen sind zwar häufig analysiert worden, aber treten heute umso reflexhafter, ungenierter hervor als je zuvor. 9/11 hat da Dämme brechen lassen.

Und so kulminiert das Gespräch der beiden Stolzdeutschen in einem Satz, der an Antisemitismus und Wiederbetätigung im Sinne des Nationalsozialismus nicht deutlicher ausfallen könnte:

„Die Juden hatten es ja sogar in Deutschland in den ersten Nazi-Jahren besser als damals die meisten Schwarzen im Süden.“

So spricht Klaus von Dohnanyi und Matthias Matussek hats gefreut! Solche Tabubrüche, den Nationalsozialismus mit seiner Braunen Revolution von 1933 als Beginn zu loben, sind heute eine Bestsellergarantie und kein Fall mehr für einen Skandal. Der Verlag der solche antijüdische Propaganda druckte heißt auch nicht Grabert-Verlag, vielmehr S. Fischer, einer der ganz großen Verlage in der Bundesrepublik.

An anderer Stelle untermauert Matussek seinen (nun sekundären) Antisemitismus, seine Erinnerungsabwehr ist Walser nach dem Munde geredet:

„Bei uns wurde der Holocaust, nach einer lähmenden, brütenden Phase der Verdrängung, in eine übereilfertige, nicht mehr versiegende, immer glattere und abgeschliffenere Beschuldigungs- und Verachtungs- und Selbstverachtungsphraseologie überführt, in der ständig nach dem politischen Vorteil geschielt wird.“

Vor 30 Jahren hätte jeder Leser sofort an einen Revisionisten gedacht bei solchen Zeilen, aber nein: Matussek ist kein Holocaustleugner, gewiss nicht. Er ist ein typischer sekundärer Antisemit, der immer, wenn es um die deutschen Verbrechen geht, jene zwar nicht leugnet aber als Bagatelle abtut, ja er spricht – wörtlich – bezüglich des Holocaust, der als Thema auf einem Empfang oder einer Party vorkam, von einem „Stimmungskrepierer.“

Diese neu-deutsche Selbstverständlichkeit gerade als Deutsche stolz zu sein, zu betonen, ja zu brüllen: die deutsche Geschichte war im Kern was sehr Schönes, etwas ganz Einzigartiges, „Hitler“ war lediglich ein „Freak-Unfall der Geschichte“ (O-Ton Matussek), ist die neue Befindlichkeit, die neue, deutsche Ideologie im 21. Jahrhundert.

„Ich bin nicht tief traumatisiert, denn ich denke nicht oft an die deutsche Schuld und an den Holocaust“ sagt Matussek, er kämpft wie Walser und Konsorten gegen die „moralische Keule“.

Das sind die Töne des nationalen Apriori.

hagalil.com 07-07-2006

 

Joachim Fests Kampf: Über Historismus und Antisemitismus

Hagalil, 04.05.2005

Das deutsche Feuilleton bzw. das, was sich dafür hält, hyperventiliert. Da haben die Deutschen einen Film wie den Untergang zu einem weltweiten Schlager gemacht, gleichsam der BRD-Hitler-Welle der 70er Jahre eine noch größere folgen lassen – beides Mal war Joachim Fest der praeceptor germaniae -, da wird ein deutscher Katholik erster Stellvertreter in Rom und kluge englische Journalisten bringen alles durcheinander. Auch in Ratzingers frühem Wohnort Traunstein hat es Nazi-Verbrechen gegeben – wer hätte das gedacht?

Nun, in England ist das eine Erwähnung wert, eine Analyse vor Ort. Es wird schnell klar, es gab ein KZ-Außenlager in der Nähe, 1938 die Reichspogromnacht, polnische Sklavenarbeiter machten die Traunsteiner Bauern froh, ein Todesmarsch führte 1945 durch den Ort. Für ganz normale Deutsche keine Frage der Recherche sondern des Ressentiments: Engländer haben kein Recht uns immer mit der Geschichte zu kommen.

Joachim Fest sticht nicht nur als BILD-Ankläger gegen die englische Presse hervor. Auch an unbekannteren Texten von Fest kann sein deutsches Weltbild, das die Ich-schwache Persönlichkeit so gerne und obsessiv ins Gemeinschaftliche, Existentielle zu transzendieren vermag, extrahiert werden. 1986 in „Der tanzende Tod“ versucht Fest sein eigenes gegenaufklärerisches Weltbild als der Aufklärung verwandt zu deklarieren, indem er nicht nur der rationalistischen Aufklärung als movens das ‚Herrsein über den Tod‘ nachsagt, sondern insbesondere den „Tode fürs Vaterland“ predigt, da nur dieser als „Sterben für das Allgemeine die Summe unseres Vergnügens“ sei, wie Fest sich an die Worte Thomas Abbts von 1761 mimetisch anschmiegt. Das „Vorlaufen zum Tode“, das die menschenverachtende Existentialontologie Martin Heideggers so prägnant kennzeichnet, läßt grüßen. Fest kreiert zudem ein antiamerikanisches Ressentiment, wenn er „die übermächtige Neigung“, den Tod „zu vertreiben und gleichsam zum ‚Tod in Hollywood‘ umzubilden“ geißelt. Schuld daran sei eine „Weltkultur“, die „neben anderen Eigenarten auch jene ‚Sympathie mit dem Tode‘“ einzuschmelzen beginne. Dieser Haß auf den melting pot hatte bereits Henning Eichberg, der godfather der Neuen Rechten in der BRD seit den frühen 1970er Jahren, angetrieben, kulturrelativstische und antiuniversalistische Ideologeme zu basteln.

Vom „Untergang“ redete schon Fests Freund, Verleger und HJ-Kollege Wolf Jobst Siedler, der 1986 zu Fests 60. Geburtstag gratulierte und damit die „barocken Städte“ meinte, das „leistungsstarke Bürgertum“ in Deutschland im 19. Jh. mithin, das durch Hitler „in den Strudel gezogen wurde“.

Fest trauert Hitler nach: „Zum Einzigartigen, das mit dem Namen Hitlers verbunden ist, gehört seine unverminderte Gegenwärtigkeit. Selbst fünfzig Jahre nach seinem Ende behauptet er eine Zeitgenossenschaft (…) Sie äußert sich in Exorzismen“. Hitler habe versäumt, so heißt es lamentierend, „dem Feldzug gegen die Sowjetunion europäischen Zuschnitt zu geben“. In einer Art Hassliebe ist Fest in seinen Hitler vernarrt, denn es zeigten sich anthropologische Gewißheiten in dessen Person, die ohne ihn nicht ans Tageslicht gekommen wären, wie Fest betont. Auschwitz gereicht Fest somit zum Beweis des Bösen, das in allen Menschen stecke. Von den 1042 Seiten seiner Hitler-Biographie behandeln läppische 6 die Vernichtung der europäischen Juden, unter dem Titel „Endlösung“, die vor der deutschen Bevölkerung, die als reines Objekt Hitlers vorgestellt wird, geheimgehalten worden sei. Deshalb hat Fest nicht nur eine Hitler- sondern auch eine Albert Speer-Biographie verfasst und vor wenigen Wochen nachgelegt mit einem Band über Speer, in dem es um ‚die letzten Fragen geht‘, deren Antworten auch ein Massenmörder wie Albert Speer, der die letzten gut 15 Jahre seines Lebens gar in Freiheit verbringen durfte und mit Fest die ganze Zeit plauderte, nicht kenne. Fests Agnostizismus ist historistisches Einverständnis mit dem Nationalsozialismus.

In diesen Tagen gab er in einer RTL Dokumentation, für die er neben Peter Kloeppel verantwortlich zeichnet, bekannt, dass die Deutschen Hitler eben gewählt hätten, weil er 1933 derjenige war, der ein Eisernes Kreuz aus dem I. WK vorzuweisen gehabt hätte. Mit solchen Phantasmen lenkt Fest von der deutschen Sehnsucht nach einem nationalen Sozialismus und völkischer Homogenität ab, deren Kern, der eliminatorische Antisemitismus, allerdings auch von Hans Mommsen oder Götz Aly verleugnet wird. In Kontrast zu diesen Sozialhistorikern jedoch beschuldigt Fest nicht seinen von ihm verehrten Vorgänger als Feuilleton-Chef der FAZ, Karl Korn, den Nationalsozialismus bestärkt zu haben und die antisemitische Volksgemeinschaft der Deutschen tagtäglich als Journalist mit seinem Dienst am REICH (so hieß die Zeitung, für die Korn arbeitete, bis 1945) perpetuiert zu haben; Nein: die ’68er seien die wahren Nazis von heute, wenn sie am Begriff der „Gesellschaft“ festhielten und nicht anthropologisch und historistisch, den Blick auf die großen Männer gerichtet – nichts „interessiere den Menschen so sehr wie der Mensch“, so Fest in Unterprimaner-Diktion 1982 – dächten: „Denn vielleicht sind es die Söhne Adolf Eichmanns, die hier ihren Fluchtbedürfnissen nach gehen. Dieser hatte ja, wieder und wieder, behauptet, an der moralischen Katastrophe seines Lebens sei niemand anderes als die Gesellschaft schuld; er sei nur immer deren Reflex gewesen. So, wörtlich, sagt das der Linke Schicksalsglaube von heute auch,“ so Fest 1981 in seinem Band „Aufgehobene Vergangenheit.“ Da lacht die Deutsche Stimme.

Schließlich erschien in der Berliner Zeitung am 09. April 2005 ein Interview mit Fest, das die Deutschen in die Ecke getrieben sieht. „Die Deutschen sind ein wunderbarer Sündenbock, und sie spielen diese Rolle auch sehr gut.“ Er kramt die in rechtsextremen Kreisen, aber durchaus auch im deutschen mainstream beliebte Figur des jüdischen Kronzeugen hervor: Hannah Arendt, mit der Fest meint befreundet gewesen zu sein, habe auch etwas gegen „Reue-Deutsche“ gehabt. Er will nicht glauben, dass „die Französin Simone Veiel [!] in Auschwitz sagte, sie müsse jeden Tag beim Gedenken an die Opfer weinen“.

Simone Veil, Präsidentin der französischen Stiftung Fondation pour la Mémoire de la Shoah, hatte in einer Gedenkansprache am 27. Januar 2005 im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz gesagt, dass sie immer, wenn sie an die in Auschwitz und an anderen Orten ermordeten Millionen Kinder, Frauen und Männer denkt, weine und sich frage: was wäre aus diesen Menschen geworden? Welche Hoffnungen wurden da zerstört? Sie selbst wurde im April 1945 von der Britischen Armee in Bergen-Belsen befreit. Bald wurde ihr bewußt, dass die Deutschen nichts wissen wollten von ihren unsagbaren Leiden, von ihrer ermordeten Familie, von den ermordeten Juden Europas. So wie der Sozialphilosoph Hermann Lübbe 1983 sagte, dass das Beschweigen der deutschen Verbrechen notwendig gewesen sei für die Deutschen um stabile Demokraten zu werden, um so mehr wollen sie jetzt reden, die alten deutschen Männer und Frauen, die ihre Ich-Schwäche allzu extrovertiert nach außen kehren im Schwelgen ob des Reitens, Schwimmens, Wanderns und Singens bei den gemeinschaftsorientierten Massenorganisationen des NS wie der HJ oder dem BDM. Darüber hinaus ist, wie Esther Dischereit einmal schrieb, schon das Bildchen auf der Wohnzimmerkommode des im II. Weltkrieg gefallenen Sohnes, wo auf der Uniform noch das kleine Hakenkreuz oder die SS-Rune zu sehen sind, ein allzu beredter Ausdruck der nachtrauernden Liebe zum NS. Die (Erinnerungs)Todesanzeigen in der FAZ bestätigen das auf ihre Weise tagtäglich.

Auf alle Fälle wollen die Deutschen 60 Jahre nach Auschwitz ohne antifaschistische oder gar englisch-antideutsche Kommentare ihren Untergang, ihren Hitler, ihre HJ-Generation abfeiern. Fest bemängelt im Interview, Jugendliche wüßten zu wenig über den Nationalsozialismus, weil sie zuviel davon erführen: „Am Tage des 60. Jahrestages der Auschwitz-Befreiung hat ein Bekannter von mir im Fernsehen alleine 32 Beiträge gezählt, die sich mit dem Dritten Reich beschäftigt haben.“ Denn: „Auschwitz wird als eine jüdische Ikone präsentiert.“ Eine Ikone ist ein Bild der Verehrung in der christlichen Malerei, dessen Hintergründe meist in Gold gehalten werden. Man kann in Fests ungeheuerlicher Aussage den antimammonistischen Topos der um das goldene Kalb tanzenden Juden unschwer herauslesen. Auch hier gereicht Juden die Verehrung einer Ikone zu Ruhm und Macht. Heute tanzen sie um Auschwitz herum, möchte der antisemitische Deutsche insinuieren, und kriegen dafür prompt an einem Tag 32 TV-Sendungen über ‚ihre Ikone‘.

Da helfen nur englische Fußball-Fans, die in London beim Spiel Chelsea gegen München die Arme zu Flügeln ausbreiteten und – Deutschland vor Augen – in historischer Reminiszenz Flugzeug-Fliegen spielten. Wenigstens etwas.

hagalil.com 04-05-2005

 

 

Seite 2 von 2

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner