Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Homophobie

Hoffnung vom „State of Tel Aviv“: Die Zukunft Israels zwischen Mansour Abbas, Ze’ev Jabotinsky, zionistischen „Militaristen“ und „Vegetariern“ (1923-2022 ff.)…

Von Dr. phil. Clemens Heni, 19. Juni 2022 [Update 20.06]

Der Antisemitismus in Amerika, Deutschland, Österreich und Europa wird seit Jahren bedrohlicher und offener. Gleichzeitig ist Israel als jüdischer Staat im Nahen Osten und weltweit so akzeptiert wie noch nie in seiner Geschichte seit 1948. Der Abraham-Vertrag vom 13. August 2020 mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und in dessen Folge diplomatische Annäherungen und Verträge mit Marokko, Bahrain wie auch dem Sudan sind historisch und zeigen: die arabische Welt beginnt, Israel als jüdischen Staat und Teil des Nahen Ostens zu akzeptieren.

Doch paradoxerweise ist womöglich gerade deshalb eine Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts derzeit so weit weg wie lange nicht mehr. Das liegt am Antizionismus der Palästinensischen Autonomiebehörde und am Islamismus von Hamas und anderen Gruppen. Das liegt aber auch an extrem rechten Tendenzen in Israel, der Drohung der Annexion von Teilen oder der ganzen Westbank. Symbolisch dafür mag das Projekt „E1“ unweit von Ma’ale Adumin stehen.

Ein Text der israelischen Politologin und ehemaligen Knesset-Abgeordneten Einat Wilf im neuen Portal „The State of Tel Aviv“ vom 17. Juni 2022 versprüht hingegen Hoffnung. Und diese Hoffnung kommt – nächste Paradoxie – von einem Islamisten und religiösen Konservativen der Ra’am Partei, Mansour Abbas.

Mansour Abbas ist der erste arabisch-israelische Politiker, der in eine Regierung in Israel eintrat. Das war im Sommer 2021. Auch wenn aktuell die Acht-Parteien-Koalition von rechts bis links am Zerbröseln ist: dieser Regierungseintritt von Mansour Abbas ist historisch. Er zeigt die Akzeptanz Israels durch arabische Israelis. Das hatte es seit 1948 noch nicht gegeben. Wie die Ultraorthodoxen, die den Zionismus ablehnen, hatten sich bislang die Araber in Israel jeglicher Regierungsbeteiligung enthalten und wurden auch von den anderen israelischen Parteien geschnitten.

Doch dann kam Mansour Abbas. Die Publizistin Einat Wilf schreibt in „The State of Tel Aviv“:

Abbas represents a radical break with decades of Israeli-Arab refusal to join an Israeli government coalition. Yet, his party is also loyal to the Muslim Brotherhood, which is the parent movement of Hamas and other sworn enemies of Israel.

Das hört sich auf den ersten Blick absurd an. Ein Unterstützer der Muslimbruderschaft, die seit ihrer Gründung im Jahr 1928 durch Hassan al-Banna Juden und den Zionismus bekämpft und mit den Nazis kooperierte – wie al-Banna -, unterstützt explizit den jüdischen Staat Israel. Im Dezember 2021 sagte Mansour Abbas, dass er Israel als „jüdischen Staat“ akzeptiere. Doch für Einat Wilf ist Mansour Abbas exakt das, was dem Zionismus vorschwebte! Juden und Araber in einem Staat, aber – und das ist absolut entscheidend – mit einer jüdischen Mehrheit, kein binationaler Staat und keine Einstaatenlösung mit einer palästinensischen Bevölkerungsmehrheit.

Wilf schreibt:

Abbas was bold enough to raise the ante yet again when he stated clearly in December 2021 that: ‚Israel was born as a Jewish state. It was born that way and that’s how it will remain… the question is how we integrate Arab society into it.‘

Such unqualified acceptance of Israel by an Arab political leader is unprecedented.

Der religiöse Muslim Abbas ist hier fortschrittlicher und aufgeklärter als weite Teile der deutschen und internationalen links-liberalen intellektuellen Szene in jüdischen Studien oder im Bereich der etablierten (zumal deutschen) Antisemitismusforschung, wo BDS und postkolonialer Antisemitismus der letzte Schrei sind.

Einat Wilf geht so weit und analysiert, dass Mansour Abbas den Kern des Zionismus in Bezug auf die arabische Situation auf den Punkt bringe. Gleiche Rechte für alle israelischen Bürgerinnen und Bürger – Juden und Araber, Atheisten, Christen und Muslime und alle anderen. Dazu geht die Tel Aviver Politologin, die ich vor einigen Jahren in Tel Aviv besuchte (wir sind zufällig beide Jahrgang 1970), auf den großen konservativen zionistischen Denker Ze’ev Jabotinsky ein. Jabotinsky, wurde 1880 im russischen Odessa geboren und starb 1940 im US-Bundesstaat New York. Er ist in Israel wohl neben Theodor Herzl und David Ben-Gurion die bekannteste und verehrteste, aber eine umstrittene zionistische Persönlichkeit. Wilf geht auf einen legendären Text von Jabotinsky aus dem Jahr 1923 ein: „The Iron Wall“. Eine „Eiserne Wand“ solle die Juden vor den Arabern beschützen, damit sie ihren Staat aufbauen können. Diese „Eiserne Wand“ waren die Briten. 1918 kämpfte Jabotinsky mit der jüdischen Legion gegen Truppen des Osmanischen Reiches im Jordantal unweit von Jerusalem.

Interessant ist nun, dass eine eher linke Publizistin wie Einat Wilf den sehr konservativen und anti-sozialistischen Ze’ev Jabotinsky als Vordenker einer jüdisch-arabischen Gemeinsamkeit israelischer Staatsbürger*innen wieder liest. Das Leben ist voller Widersprüche, die sich mitunter doch auflösen oder etwas Neues entwickeln – oder aber man muss sie eben aushalten, wie es in einer Demokratie Heterogenität geben muss, wenn sie eine Demokratie sein möchte. Jabotinsky forderte in seinem knappen Pamphlet von 1923 „Iron Wall“ nichts weniger als Gewalt und Stärke, da ein freiwilliges Abkommen mit den Arabern unrealistisch, ja naiv sei.

Jabotinsky beschwört die zionistische Einheit, obwohl ihm klar ist, wie heftig umstritten sein militanter Vorschlag im Jahr 1923 war:

In this matter there is no difference between our ‚militarists‘ and our ‚vegetarians‘. Except that the first prefer that the iron wall should consist of Jewish soldiers, and the others are content that they should be British.

Jabotinsky und sein „revsionistischer Zionismus“ sind die Vorläufer des heutigen Likud und von Benjamin Netanyahu. Doch ganz im Gegensatz zu Netanyahu kokettiert Wilf gerade nicht mit einer Annexion der Westbank, sondern will nur vier Prozent der Westbank, auf der ein Großteil der jüdischen Siedlungen stehen, Israel zuschlagen und alle anderen Siedler sollen keinerlei Unterstützung mehr vom Staat Israel bekommen oder eben Bürger eines zukünftigen Staates Palästina werden, so wie es ja auch 20 Prozent Araber in Israel gibt.

Wie lange muss Israel noch eine harte Politik fortführen?, fragt Wilf:

Israel is closer today than it has ever been in its history to realizing the goal of full acceptance in a predominantly Arab and Islamic region. The Abraham Accords present a compelling alternative Arab-Muslim narrative, one that embraces the Jewish state as an integral part of the region rather than a foreign implant.

Similarly, Mansour Abbas has given political voice to the Arab citizens of Israel who seek true integration into the Jewish state. Those are the Arab citizens who are volunteering in increasing numbers to serve in Israel’s Defense Forces. Those are the Arab citizens who defend Israel in diplomatic forums and on social media against its detractors.

These developments reflect very real achievements of Jabotinsky’s Iron Wall. Many Arab Israelis do not seek the country’s destruction. They support and participate in its success.

But these achievements remain fragile. Abbas’ political rival among Israel’s Arab political leaders, Ayman Odeh, leader of the Joint List (an alignment of Arab parties), recently told young Israeli-Arabs not to join the ‚occupation forces.‘ Odeh described Abbas’ conduct as being ‚insulting and humiliating‘ and called on those who already serve in the security forces to ‚throw the weapons in their (the Israelis’) face and tell them that our place is not with you.‘

Odeh represents a substantial number of Israel’s Arab citizens, if not its majority. This complex situation is best summed up by Abbas himself who, criticizing his colleagues, called on them ‚to not look at the half-empty cup but at what we have achieved so far.‘

Sprich: Abschreckung und militärische Stärke wirken. Die Frage ist nur: Was hat das mit den Palästinensern, zu denen Israel ja am härtesten ist, zu tun? Ist die Kooperation mit arabischen Staaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten nur auf der gemeinsamen Feindschaft gegenüber dem Iran gegründet? Oder ist es zudem die Erkenntnis, dass Israel militärisch und ökonomisch zu stark ist, um ignoriert zu werden, ja dass es für viele arabische Staaten ein westlicher Kooperationspartner ist?

Es gibt nun entgegen dem Abraham-Vertrag innerhalb der großen arabischen Minderheit in Israel zwar weiterhin starke Kräfte, die gegen Israel als jüdischen Staat sind, aber durch Mansour Abbas tritt jetzt erstmals ein Politiker aus deren Kreisen lautstark in der Politik für eine Anerkennung Israels als jüdischer Staat ein.

Und doch ist die Sache noch komplizierter, denn gerade die Abraham Verträge von 2020 zeigen zudem eine starke Abkehr der arabischen Welt von den Palästinensern. Darauf hatte „State of Tel Aviv“ vor wenigen Wochen hingewiesen:

Israel bekommt erstmals offizielle Anerkennung von gleich mehreren arabischen Staaten, von denen so etwas in den letzten Jahrzehnten nicht zu erwarten war. Das ist ein riesiger außenpolitischer Erfolg. Aber zu welchem Preis? Die Palästinenser sind einfach kein Thema mehr, auch nicht für die Araber, wie der Journalist der größten israelischen Nachrichtenseite Ynet News Attila Somfalvi festhält:

Israel’s diplomatic successes have not had any effect on the unresolved issues between Israel and the Palestinians, nor on the sense of neglect that many Israeli Arabs may feel.

Prof. Youssef Masharawi, chairman of the steering committee to integrate Arab students at Tel Aviv University, challenges what he sees as an Israeli approach that deliberately ignores the Palestinian issue, and warns about the fire that is smoldering beneath the surface.

‚In the Arab community there’s a sense of ‘trust-but-verify’ vis-à-vis the Abraham Accords,‘ he says. ‚They’re always trying to put the real story, the harsh, human story of the occupation, to the side. And it blows up every year before Ramadan. It’s been a whole year of suffering and hopelessness, of people getting shot to death in the street. Why do they think they can sweep it under the rug and hide it?‘

Kobi Michael, an expert on the Palestinians and a senior research fellow at the Institute for National Security Studies at Tel Aviv University, has studied the deterioration of the diplomatic status of the Palestinians in recent years.

Palestinian leadership, he notes, has adhered rigidly to its refusal to acknowledge any normalization of relations between Israel and the Arab world, and sees such developments as a threat to Palestinian national and strategic interests.

Arab leaders, however, had made their own calculation: They see Israel as a critically important ally. And the obstructionist Palestinian approach has worn out everyone.

Ohne ein Abkommen mit den Palästinensern, ohne einen zivilen, entmilitarisierten Staat Palästina wird Israel keinen Frieden bekommen. Dass es seit Jahren einen Stillstand im palästinensisch-israelischen Konflikt gibt, mit regelmäßigen Terrorwellen, das liegt eben nicht nur an den Palästinensern, die zwischen Korruption und Jihad hin und her schwanken, wie Somfalvi festhält. Nein, das liegt auch an der israelischen Politik, die sich dem Siedler-Nationalismus und dem religiös-nationalistischen Diskurs anschmiegt und ihn mitbestimmt, anstatt ihn zu bekämpfen.

Überspitzt ausgedrückt: neben der iranischen Gefahr ist Israel aktuell vor allem durch interne Konflikte bedroht, die BDS-Bewegung ist hingegen für Juden in der Diaspora eine sehr große Gefahr. Eine große Hoffnung für Israel liegt in Mansour Abbas, während der (Noch-)Oppositionspolitiker Benjamin Netanyahu und sein ganzes rechtes Umfeld – weite Teile der jüdisch-israelischen Gesellschaft – nach Einschätzung von Kritiker*innen in Israel eine sehr große Gefahr für Israel als demokratischer und jüdischer Staat darstellen.

Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach gestern auf der Eröffnung der Documenta in Kassel, er erzählte von seinen Eindrücken einer kürzlichen Reise nach Indonesien, dem unendlich vielen Müll, den der deutsche, europäische und westliche Kapitalismus dorthin verschifft, über die Klimakastrophe, die Hitze, die Armut und den Erfindungsreichtumg der Slumbewohner*innen, und sagte aber vor allem bezüglich der von der neunköpfigen indonesischen Gruppe Ruangrupa, welche die 15. Documenta kuratieren, zu verantwortenden antiisraelischen Stimmung:

Ich will offen sein: Ich war mir in den vergangenen Wochen nicht sicher, ob ich heute hier bei Ihnen sein würde. (…)

Ich habe die Diskussion im Vorfeld der jetzigen documenta sehr genau verfolgt, über das was wir an Kunst zu erwarten haben, aber auch über manchen gedankenlosen, leichtfertigen Umgang mit dem Staat Israel. Denn so nachvollziehbar manche Kritik an der israelischen Politik, etwa dem Siedlungsbau, ist: Die Anerkennung der israelischen Staatlichkeit ist die Anerkennung der Würde und Sicherheit der modernen jüdischen Gemeinschaft. Die Anerkennung ihrer Existenzgewissheit. Als deutscher Bundespräsident halte ich für mein Land fest: Die Anerkennung Israels ist bei uns Grundlage und Voraussetzung der Debatte!

(…) Ein Boykott Israels kommt einer Existenzverweigerung gleich. Wenn unabhängige Köpfe aus Israel unter ein Kontaktverbot gestellt werden; wenn sie verbannt werden aus der Begegnung und dem Diskurs einer kulturellen Weltgemeinschaft, die sich ansonsten Offenheit und Vorurteilsfreiheit zugutehält; dann ist das mehr als bloße Ignoranz. Wo das systematisch geschieht, ist es eine Strategie der Ausgrenzung und Stigmatisierung, die dann auch von Judenfeindschaft nicht zu trennen ist.

Der Kampf gegen Antisemitismus muss sich also mit dem postkolonialen Antizionismus der Documenta in Kassel oder dem unverhohlenen Antisemitismus, der Erinnerungsabwehr an das Präzedenzlose von Auschwitz auf einer Konferenz im Haus der Kulturen der Welt in Berlin widmen, an der unter anderem das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin (ZfA) beteiligt war, was aufgrund der langen Geschichte der Verharmlosung des Antisemitismus an diesem Institut seit der Zeit von Wolfgang Benz, nicht verwundert. Ich habe zum Beispiel auf einem Vortrag in Jerusalem beim World Jewish Congress, als ich mein Buch „Antisemitism: A Specific Phenomenon“ im Mai 2013 vorstellte, unter anderem Benz und das ZfA kritisiert.

Der Beifall für antisemitische Invektiven auf dieser Konferenz vor wenigen Tagen in Berlin im Haus der Kulturen der Welt ist schockierend, wie der polnisch-kanadisch-jüdische Holocausthistoriker Jan Grabowski in einem Interview mit der Welt am 15. Juni 2022 berichtet:

Grabowski: Ich befinde mich in der privilegierten Situation, die kanadische Staatsbürgerschaft zu besitzen. Doch: Wenn ich mir an einem sonnigen Samstagnachmittag in Berlin anhören muss, wie der Holocaust zum ‚jüdischen Psychodrama‘ heruntergespielt wird, während Deutsche dem zujubeln, dann muss ich sagen: Für mich ist das tödlicher Ernst. Der Antisemitismus ist auf dem Vormarsch, und er kann gleichermaßen befeuert und beschworen werden durch die rechtspopulistischen Regierungen in Osteuropa wie durch den Nahostkonflikt.

Und weil das alles noch nicht komplex genug zu sein scheint, ist im kleinen Beraterkreis von „State of Tel Aviv“ ausgerechnet der rechtszionistische Publizist Yoram Hazony vertreten, der kürzlich auf einer skandalösen, homophoben Veranstaltung des Tikvah Funds und der Jewish Leaderhip Conference in New York City mit dem Hauptredner und Gouverneur von Forida, Ron DeSantis, auftrat. Auch die bekannte Wissenschaftlerin und Publizistin Ruth Wisse trat dort auf, wie auch der viel jüngere Liel Leibowitz vom Tablet Magazine, der 2014 bei einem Vortrag von mir über „Critical Theory and Zionism“ als Zuhörer in Manhattan dabei war, aber meiner Betonung, dass Adorno, Horkheimer, Löwenthal und Marcuse, also die Hauptvertreter der Kritischen Theorie, unterm Strich (und im Gegensatz zu Erich Fromm) sehr wohl pro-israelisch und zionistisch waren, nicht recht folgen mochte. Linke und Marxisten für Israel? Das kann nur ein böses Gerücht sein…

Dr. Clemens Heni- “Critical Theory and Zionism”

Die New York Jewish Week hat den homophoben, antifeministischen und extrem rechten Auftritt des Trump-Anhängers Ron DeSantis scharf kritisiert:

Outside the venue, several dozen demonstrators from progressive groups, including members of Jews for Economic & Racial Justice, protested his appearance. Chelsea Piers also faced backlash from politicians and activists who denounced the venue for allowing DeSantis to speak there.

Rich Ferraro, a spokesman for LGBTQ advocacy group GLAAD, told the New York Times that the organization would ‚refrain from future events‚ at the venue. The Ali Forney Center, which works with homeless LGBTQ youth in New York, also canceled a program at the venue next month.

In a statement released on Friday, the venue said that it ‚could not disagree more strongly with many of Ron DeSantis’ actions in office.‘

‚Pier Sixty will direct every dollar it receives from Tikvah to groups that protect LGBTQ+ communities and foster and amplify productive debates about LGBTQ+ issues,‘ the statement said.

Protesters noted that DeSantis was speaking in New York during Pride Month and on the six-year anniversary of the shooting at Pulse, a gay club in Orlando, in which 49 people were murdered.

Joseph Kleinplatz, a protester who referred to the Florida governor as ‚DeSatan,‘ told the New York Jewish Week that it’s ‚wrong‘ to have him in the city. ‚The Jewish religion is not about hate,‘ he said.

 

Kehren wir zurück zum „State of Tel Aviv“. Das Projekt „State of Tel Aviv“ wurde im Mai 2022 von der ehemaligen kanadischen Botschafterin in Israel Vivian Bercovici ins Leben gerufen. Bercovici ist die Tochter von Holocaustüberlebenden, das Grab ihrer Oma, die 1969 starb, befindet sich nördlich von Afula und sie schreibt, wie stolz ihre Großmutter wäre, wüsste sie, dass jetzt Vivian in Israel lebt, forscht und schreibt und der zionistische Traum weitergeht.

Bercovici beschreibt ihre Zeit als Botschafterin sehr persönlich. Sie ist im Gegensatz zu den meisten anderen Diplomat*innen keine Karriere-Botschafterin gewesen. Sie wurde aus politischen Gründen vom damaligen kanadischen Premierminister Stephen Harper ernannt. Auf einem ganz typischen Dinner-Empfang in Israel erlebte sie den krassen und so typischen Antisemitismus der sonstigen nicht-jüdischen Botschafter, die ihr zum Beispiel unloyales Verhalten gegenüber Kanada vorwerfen und so weiter und so fort.

Ich wurde einfach so von „The State of Tel Aviv“ im Mai 2022 in deren Mailingliste aufgenommen, das ist womöglich der Vorteil, wenn man ein auch englischsprachiges Forschungsinstitut hat – The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA) –

und dazu seit 2013 einen Blog bei einer der größten pro-israelischen bzw. jüdischen Blogger-Communities, der Times of Israel (TOI), betreibt. Jedenfalls ist „State of Tel Aviv“ ein ganz herausragendes Projekt, dem man viel Erfolg wünschen kann. Eine vielfältige Debatte über die Zukunft des jüdischen und demokratischen Staates Israel ist exakt das, was wir heute brauchen. Ergänzt wird das durch den fortdauernden Kampf gegen den Antisemitismus, gegen BDS, gegen das palästinensische „Rückkehrrecht“, das keine „Rückkehr“ ist, sondern die Drohung Israel zu zerstören, und ein Kampf gegen Holocaustverharmlosung, gegen den Antijudaismus wie die Ablehung der Brit Mila auch in pro-israelischen, nicht-jüdischen Kreisen, der sehr wichtige wissenschaftliche und publizistische Einsatz gegen antisemitische Verschwörungsymthen und vieles mehr.

Das dialektische Moment der aktuellen Situation für Israel und die Juden besteht darin, die riesigen Erfolge wie die Anerkennung durch substantielle Teile der arabischen Welt, und die gleichzeitige extrem rechte Politik von weiten Teilen der Israelsolidarität – wie von Typen vom Schlage DeSantis‘ – in eine geradezu synthetische Gemeinsamkeit von zionistischer Politik und dem Kampf gegen Antisemitismus zu bringen. Man kann aber nicht gegen Antisemitismus sein und Homophobie säen, wie es DeSantis tut. Das ist ein  Widerspruch in sich. Man kann nicht gegen Abtreibung sein wie DeSantis und zugleich so tun, als ob man gegen Antisemitismus sich einsetzen würde. Das ist pure Heuchelei. Jetzt hat eine Synagogen-Gemeinde in Florida die Regierung in Tallahassee verklagt, weil DeSantis Abtreibung nach der 15. Woche für strafbar erklären will.

Doch in Israel geht es nicht weniger widerspruchsvoll zu. Pointiert gesagt: Mit Mansour Abbas und einem sehr konservativen religiösen Muslim und zuglich mit dem zionistischen Juden Ze’ev Jabotinks gegen Netanyahu und die rechten Israelfreunde in der Diaspora. Denn Netanyahu lässt keinen Tag verstreichen, wo er Mansour Abbas nicht diffamiert und Unwahrheiten über ihn verbreitet.

Die aktuelle Acht-Parteien-Regierung mit Mansour Abbas als historischem Beispiel der arabischen Anerkennung Israels als jüdischer Staat, ist in starker Bedrängnis und kurz vor dem Kollaps. Der Publizist Yossi Klein-Halevi, ein Senior Fellow beim Shalom Hartman Institute, wo er zusammen mit Imam Abdullah Antepli der Duke University und Maital Friedman die „Muslim Leadership Initiative (MLI)“ betreibt, ein so eloquenter und scharfer Redner wie Yossi Klein-Halevi, der im akademischen Jahr 2008/09 bei unserer Yale Initiative for Interdisciplinary Study of Antisemitism (YIISA) der Yale Univeristy sprach, hat am 12. Juni 2022 ein düsteres Bild der aktuellen Situation gemalt. Und dennoch gibt es Hoffnung, die für ihn wie für Einat Wilf, Vivian Bercovici und „State of Tel Aviv“ in der Person Mansour Abbas, mit all den konservativen, religiösen Implikationen, inkarniert ist:

For years we Jews have rightly insisted that the core of the Palestinian-Israeli conflict is the refusal of Palestinian leaders (including Palestinian citizens of Israel) to come to terms with our indigenousness in this land. Abbas delivered; yet many Israeli Jews, especially on the right, have dismissed his outreach or ignored it altogether.

Abbas, whose Islamist Ra’am party has roots in the Islamic Brotherhood and was once close to Hamas, is the least likely candidate for the role of national healer. But this government has proven that when Jews truly own Israel’s democratic identity and treat Arabs as equal players, an opening is created for Arab acceptance of Israel’s Jewish identity. That dynamic will be a long and slow process; much of Abbas’s party has followed him only reluctantly. But Abbas, who is denounced by Hamas as a traitor and is the target of death threats, has taken a step from which there is no turning back.

Klein-Halevi resümiert:

Netanyahu once promised to bring to Israel the ‚can-do‘ spirit of American efficiency and creativity. Now, though, he has brought us the dysfunctional America of fake news and political hatred.

Israel is divided by two visions. But that divide, it turns out, doesn’t run between religious and secular, left and right, or even Arab and Jew. Instead, the divide is between the camp that is committed to the hard and frustrating work of strengthening our common identity, and the camp that relentlessly pries open our schisms and wounds, the multiple ethnic and ideological fault lines that threaten our fragile cohesiveness. One is a coalition of healing; the other, a coalition of hurban, national ruin.

Given the alternative that awaits us if Netanyahu returns to power, it is frankly unbearable to watch the government’s unraveling, the ease with which renegade MKs defect to the opposition or attempt to hold the coalition for ransom. But however this government ends, its vision of an Israel striving for its highest aspirations will remain as an option. For that too, this government deserves our blessing of dayenu.

 

Update 20.06.2022:

Im Spiegel gibt es einen treffenden Kommentar von Ulrike Knöfel zur Rede Steinmeiers in Kassel, sein Nicht-Attackieren von BDS und sein Bezug zu Beuys mögen dabei hervorstechen. Der Spiegel schreibt:

Steinmeier erwähnt also den Streit und landet dann ausgerechnet beim früheren Documenta-Star Joseph Beuys, der sagen würde, alles sei Kunst. Und auch wenn Steinmeier klarmacht, dass die Kunstfreiheit seiner Meinung nach sehr wohl Grenzen hat. Allein die bloße Nennung dieses Künstlers in diesem Zusammenhang lässt einen aufschrecken.

Warum das so ist? Beuys ist längst kein Synonym mehr für einen besonders freiheitsliebenden, weltoffenen und integren Künstler. Vielmehr steht er für eine rechte Schlagseite der Kunst. Schließlich war er ein Mann, der sich mit etlichen Alt-Nazis umgab, sie als seine Entourage auch mit zur Documenta brachte. Dem ehemaligen Nazifunktionär Werner Georg Haverbeck – seine Witwe ist die verurteilte Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck – verschaffte er sogar einen eigenen Redeauftritt auf der Documenta 1977, der Mann sprach da zur »Neuorientierung der Entwicklung unserer Zivilisation«.

Zweites Update:

Wie ich gestern befürchtete, ist es heute passiert: die vielfältige Acht-Parteien-Koaliton in Israel ist am Ende. Es wird Neuwahlen geben. Bis dahin wird Lapid Interimsministerpräsident.

Wer von Qatar nicht reden möchte, soll von Ungarn schweigen

Von Dr. phil. Clemens Heni, 23. Juni 2021

Ursula von der Leyen und viele deutsche Offizielle tun so, als seien sie gegen Homophobie, gegen Ausgrenzung und Diskriminierung. Daher sollte als Kritik an der ungarischen Politik das Münchner Stadion heute Abend in Regenbogenfarben beleuchtet werden. Das hat die UEFA verboten. Die Pointe aber ist: Im Stadion selbst wird, wie zu jedem Spiel, Werbung geschalten von Qatar Airways bzw. von Qatar, das damit wirbt, dass man sich nächstes Jahr in Qatar zur Fußball-WM sehen würde. Qatar ist ein offizieller Werbepartner der UEFA.

Nun ist Qatar ein islamistisches Regime. Weiterhin ist Antisemitismus ein zentraler Bestandteil von Schulbüchern und der staatlichen Ideologie, so die Anti Defamation League (ADL). Das zeigte 2020 ein umfassender Bericht über Schulbücher vom „The Institute for Monitoring Peace and Cultural Tolerance in School Education (IMPACT-se)“ aus Israel.

In der Zusammenfassung heißt es:

Womöglich fühlt sich Ursula von der Leyen davon geschmeichelt, dass in Qatar „Women are encouraged to be brave, serve their homeland and families, and have many children.“ Dabei jedoch passen die reaktionären 7 Kinder der EU-Chefin nicht nur zur Ideologie in Qatar, sondern vielmehr auch zur mittelalterlichen Corona-Lockdown-und-Quarantäne-Politik Europas.

Ein Schulbuch in Qatar für die 11. Stufe agitiert gegen den Zionismus und verbreitet die alte antisemitische Lüge, dass Juden nach der Weltherrschaft strebten, wie das Journal Newsweek im September 2020 schockiert festhält:

Likewise, an eleventh-grade Qatari textbook on Islamic Education for the same semester teaches that „Zionism is a radical racist political movement, which aims at establishing a state for the Jews in Palestine, in an effort to take over and rule the world.“

Nicht nur Schwule und Lesben fordern, dass die Fußball-WM in Qatar 2022 abgesagt und verlegt wird.

Doch die UEFA mag Qatar und lässt sich die EM 2020 (2021) auch durch Werbung aus Qatar finanzieren.

Und Qatar ist noch viel homophober und antisemitischer als Ungarn. Und das will was heißen. Aber Qatar ist ein ganz enger Freund der UEFA oder von Bayern München.

Bayern München ist ein besonders eklatanter Fall von Heuchelei. Denn die Bayern mit Manuel Neuer, der so tut, als sei er weltoffen mit seiner Regenbogen-Armbinde, gehen seit Jahren ins Trainingslager nach Qatar. Antisemitismus, Schwulenhass oder allgemein die islamistische Ideologie störten die Bayern dabei nicht, sonst wären sie ja nicht freiwillig (!) dahin gefahren. Das Geschwätz von wegen „wir müssen im Dialog bleiben, damit es sich zum Guten ändert“ gilt ja für rationale Coronapolitik-Kritiker*innen auch nicht. Aber für Islamisten! Rationale und kritische Menschen werden diffamiert, in der Corona-Zeit so stark wie nie zuvor seit 1945, aber mit echt gefährlichen islamistischen Ideologen wie aus Qatar wird verhandelt und werden große Geschäfte gemacht. Und die ARD klatscht, wie das ZDF – oder haben Sie lautstark gehört, wie ein Moderator sagte, Qatar sei ein islamistisches Schurkenland, das boykottiert gehöre?

Doch das alles passt auch zum „modernen Fußball“, der vom Kapital so bestimmt ist wie nie zuvor. Es kommen nicht mehr alle Spiele frei empfangbar, sondern wie in der Champions League etc. werden viele Spiele (oder alle) nur noch privat gezeigt, für einen kleinen Kreis von Deppen, die ein Abo bei der entsprechenden Kapitalistenfirma haben.

Es gibt Hunderte, wenn nicht – so der britische Guardian – Tausende Tote in Qatar, die im Rahmen des Baus der Stadien der WM 2022 seit 2010, als Qatar den Zuschlag erhielt,aufgrund der Arbeitsbedingungen dort starben – fast alles Wanderarbeiter aus Indien, Nepal, Sri Lanka, Pakistan und aus anderen Ländern wie den Philippinen.

Auch Bayern-Fans haben das „Blutgeld“, das Bayern aus Qatar erhält, kritisiert:

Wer also heute im deutschen Fernsehen wieder nur Orbán und seine homophobe Politik kritisiert, aber zur Qatar-Werbung im Stadion nichts sagt, ja sich von Qatar bezahlen lässt, ist ein Heuchler.

Wer aber von Qatar nicht reden möchte, soll von Ungarn schweigen.

 

Auschwitz und andere Gemeinheiten. Carolin Emcke ist gegen „Hass“ und bekommt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

 

Die Publizistin Carolin Emcke schreibt in ihrem Buch „Gegen den Hass“, das 2016 auf den kulturindustriellen Markt geworfen wurde (Frankfurt a.M.: S. Fischer):

„Das Thema des Zugangs zu Toiletten für Transpersonen ist jüngst vor allem in den USA kontrovers diskutiert worden.“ (S. 158)

Es ist ein Buch über Hass hier und dort, und für Emcke führt die Diskriminierung von „Transpersonen“ ohne Umschweife zu allen möglichen Formen von „Hass“.

Nehmen wir Auschwitz als Beispiel, denn mehr als ein Beispiel ist es kaum. Immerhin nimmt sie EinwanderInnen in die Pflicht, sich auch mit den nicht so tollen Kapiteln eines Landes zu befassen (S. 203) – aber bitte einfühlend, sie hat schließlich Michel Foucault, Judith Butler und Axel Honneth gelesen (siehe Anmerkungen, S. 220–240), die immer wieder herbeizitiert werden. Emcke postuliert:

„Für das Erinnern an Auschwitz gibt es keine Halbwertszeit“. (S. 203)

Puuh, das ging nochmal gut. Der Holocaust war offenbar doch kein chemisches Experiment. Weiter schreibt die Preisträgerin:

„Es wird deswegen nötig sein, mit modernen didaktischen Methoden diese Geschichte als etwas zu erzählen, das sich mit neugieriger Einfühlung selbst aneignen lässt. Die vielen wunderbaren Beispiele aus den Programmen von Museen und Kultureinrichtungen zeigen längst, dass es möglich ist, auch Jüngere anzustiften, sich so kreativ wie ernsthaft mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.“ (S. 203)

„Wunderbare Beispiele aus den Programmen von Museen und Kultureinrichtungen“, die es ohne deutsche Vorarbeit gar nicht geben könnte, hätte an dieser Stelle der Publizist Eike Geisel festgehalten.

Bislang war es ja so gut wie unmöglich für junge Menschen, sich mit dem SS-Staat zu befassen, aber, endlich, dank „moderner didaktischer Methoden“ klappt das jetzt. Vor allem nicht so staubtrocken und nüchtern (wie z.B. ein Buch lesen), sondern mit „neugieriger Einfühlung“. „Frau Emcke, wie fühlt sich das an, einen Tag nackt im Schnee zu stehen und nicht umzufallen, im KZ?“ „Bekamen die danach wenigstens einen heißen Kakao?“ Sowas könnte man als Rollenspiel durchspielen, aber sicherlich einfühlend, nicht grob und unsensibel.

Oder: „Anstiften, hey, das klingt obercool“, denken sich ein paar Teenager, „lasst uns mal schauen, was wir Spannendes oder Schockierendes entdecken, bei den Juden geht immer was Krasses ab, eh“.

Oder sich „einfühlen“ in Anne Frank, der Klassiker schlechthin. „Sich einfach nicht alles gefallen lassen!“ „Tagebuch schreiben!“

Dass Anne Frank in Bergen-Belsen qualvoll starb und alles nur kein „Vorbild“ ist, geschenkt. Diese „Amerikanisierung“ des Holocaust (so der Kritiker Alvin Rosenfeld in „The End of the Holocaust“) ist längst eingermanisiert.

Ideologisierte AnhängerInnen der antisemitischen BDS-Kampagne drucken Anne Franks Bild als Ikone mit einem Palästinensertuch um den Hals und kämpfen so ausgestattet gegen „den“ Juden im Namen „der“ Juden gegen Rassismus und Israel und fügen Juden, Holocaustüberlebenden und ihren Nachfahren damit absichtlich Schmerzen zu, von der Verhöhnung Anne Franks und der Opfer der Shoah nicht zu schweigen.

Doch selbst und gerade die tollen neumodischen Konzepte, die Emcke vorschweben, sind das Problem. Die „Familiarisierung“, wie es die kritische Pädagogik nennt, promotet ein Einfühlen in die Geschichte Nazideutschlands und gerade der Holocaustopfer, suggeriert, „wir“ könnten so tun, als ob wir wüssten, was Auschwitz war und wie es sich „anfühlte“[1] und tut den Opfern somit ein zweites Mal Gewalt an. Die meisten der sich gutfühlenden Erinnerer merken das gar nicht.

Aber unterm Strich, und darauf kommt es ja an, ist Emcke glücklich und fröhlich:

„Mich beglücken die verschiedenen Rituale und Feste, Praktiken und Gewohnheiten. Ob Menschen sich in Spielmannszügen oder bei den ‚Wagner-Festspielen‘ in Bayreuth, ob sie sich im Stadion von FC Union Berlin oder bei ‚Pansy Presents…‘ im ‚Südblock‘ in Kreuzberg vergnügen, ob sie an die unbefleckte Empfängnis glauben oder an die Teilung des Roten Meeres, ob sie Kippa tragen oder eine Lederhose oder Drag – die gelebte und respektierte Vielfalt der Anderen schützt nicht nur deren Individualität, sondern auch meine eigene.“ (S. 195)

„Meine eigene“ – das passt, denn das Buch wirkt wie ein narzisstisches Bekenntnis. Sie sieht sich selbst als gleich doppeltes Opfer:

„Als Homosexuelle und als Publizistin gehöre ich gleich zu zweien der in diesem Kontext besonders verhassten gesellschaftlichen Gruppierungen.“ (S. 71)

So richtig und wichtig Ihre Kritik an Pegida oder AfD, an Homophobie, Rassismus und völkischem Nationalismus, an Antiintellektualismus, an Reinheit und Einheit ist, so völlig analyselos, eklektisch, additiv ist ihre Aufzählung der „Opfer“-Gruppen, was im ganzen Buch so rüberkommt, als ob sie es nur wegen sich selbst geschrieben habe.

Im Grunde analogisiert sie permanent und obsessiv Antisemitismus mit Homophobie, Rassismus und allerlei Diskriminierungen oder auch Hass. Sie verkennt den genozidalen Charakter des Antisemitismus und hat keinen Begriff davon. Keine andere Gruppe wird in aller Welt beschuldigt, an dieser oder jener Verschwörung beteiligt zu sein.

Die „Protokolle der Weisen von Zion“ inspirierten Deutsche und Hitler dazu, den Juden zu bekämpfen. Christen agitieren bis heute in nicht wenigen Kreisen, Juden hätten Jesus auf dem Gewissen. Arabische Antisemiten wie islamistische fantasieren, Israel und die Juden würden Wasser oder Bonbons vergiften und überhaupt hätten die Juden die Medien, das Kapital und die Regierungen in der Hand.

Ressentiments und Verschwörungsmythen, die nicht wenige Araber und alle Islamisten mit vielen FanatikerInnen in Deutschland bis weit in die Mitte der Gesellschaft teilen. Man denke nur an 9/11 und die diesbezüglichen Verschwörungsmythen, eine Kopplung aus Antiamerikanismus und Antisemitismus.

Juden stünden hinter dem Kapitalismus, dem Kommunismus, den Medien, der Moderne, der großstädtischen ausschweifenden Sexualität usw. usf.: keines dieser klassischen Topoi des Antisemitismus trifft auf Frauen, Homosexuelle, Flüchtlinge, Schwarze oder neue Nachbarn zu.

Die „lethal Obsession“ (Robert S. Wistrich) des Antisemitismus oder der „longest hatred“ (Robert S. Wistrich) zeigen einen obsessiven Hass, ein irrationales Ressentiment und gerade kein x-beliebiges Vorurteil oder eine x-beliebige „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ an. Der Antisemitismus kann sich in unendlich viele Facetten kleiden, wie die Geschichte seit der Antike gezeigt hat.

Aber auch die Abwehr der Erinnerung an die Shoah ist sehr spezifisch antisemitisch konnotiert und gerade nicht Ausdruck einer x-beliebigen „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“. Für die nationale Identität in Deutschland ist ein Trivialisieren der Shoah essentiell, wie das geschieht, ist variabel. Gleichsetzende „Vergleiche“ von Nationalsozialismus und Stalinismus oder Sozialismus (Rot=Braun)  sind derzeit beliebt („Schwarzbuch des Kommunismus“, „Prager Deklaration“), postkoloniale Ideologie ist ebenfalls en vogue („Von Windhuk nach Auschwitz“) und natürlich die Pegida-Agitation mit ihren Anleihen bei Goebbels und NSDAP-Propaganda, wie sie nicht zuletzt am 3. Oktober, dem „Tag der deutschen Einheit“ zu erleben war.

Sehr beliebt sind zudem die penetranten Vergleiche von Israel und den Nazis oder der Apartheid, typische Muster der Schuldabwehr und Schuldprojektion. Sodann nicht zu vergessen die Hinweise, welche perfiden britischen oder amerikanischen Bomber diese Brücke oder jenes Haus in Dresden, Hamburg oder Wien „zerstört“ haben und welche tapferen Deutschen oder Österreicher in einem neuen Kraftakt des „wir“ sie nach dem 8. Mai 1945 wieder aufbauten (oder sie als Mahnung gegen Krieg an und für sich stehen ließen, wie in Berlin die „Gedächtniskirche“).

Oder man denke an elaboriertere Theoreme wie jenes der bösen Moderne, die ein „Lager“ und das KZ nur die vollendete bürgerliche Gesellschaft sei, das seit Jahren Teil antisemitischer Trivialisierung der Shoah ist, hier vorgetragen vom italienischen Modephilosophen Giorgio Agamben.[2] All das kommt in „Gegen den Hass“ selbstredend nicht vor, weil das Decodieren subtilen Hasses oder antisemitischer Ressentiments Emckes Geschäft nicht ist.

Das angedeutete Spezifische des Antisemitismus kommt bei der Autorin nicht vor. Für sie sind die unterschiedlichsten Gruppen gleichermaßen, ohne kategorialen Unterschied, Opfer, sie wendet sich gegen Hass auf

die Juden, die Frauen, die Ungläubigen, die Schwarzen, die Lesben, die Geflüchteten, die Muslime oder auch die USA, die Politiker, der Westen, die Polizisten, die Medien, die Intellektuellen.“

Es ist diese Aufzählung, die das genozidale Ressentiment gegen die Juden – womit sie die vernichtungsantisemitische Pointe gegen den Juden treffsicher verpasst – mit Hass gegen die Frauen gleichsetzt; als ob ein Genozid an Frauen stattgefunden habe oder in Planung sei; ganz abgesehen davon, dass natürlich auch deutsche Frauen, oder auch ungarische, österreichische, litauische Antisemitinnen waren und auf andere Weise heute wieder oder noch sind. Wer Sexismus analysieren und bekämpfen möchte, kommt mit solchen undifferenzierten Analogien nicht weiter.

Mehr noch: Wenn Emcke schon ziemlich umfassend alle ihr in den Kopf kommenden Großgruppen, denen Hass begegnet, aufzählt, fehlen, das nur am Rande, einige Gruppen, neben Behinderten, Obdachlosen, frisch Um- oder Zugezogenen vor allem auch Hartz4-Empfänger oder Arme, Opfer des Kapitalismus.

Das mit den ‚frisch Um- oder Zugezogenen‘ („Etabliertenvorrechte“) ist nicht ironisch gemeint, nein, die sind ernsthaft Teil der sogenannten „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (GMF) und meinen auch ganz normale Deutsche, die – umziehen. Deshalb hätte auch der Erfinder des Wortungetüms „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, Wilhelm Heitmeyer, den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten müssen und nicht Carolin Emcke, das wäre ehrlicher gewesen.

Denn Emcke plappert nur nach, was Heitmeyer seit über 10 Jahren schon formuliert, und ein Kapitel in ihrem Buch heißt denn auch „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“. Um Nachfragen vorzubeugen: nein, auch der Verfasser dieses Textes ist nicht für „Menschenfeindlichkeit“, „gruppenbezogene“, wobei es gerade mit Blick auf den Deutschen schwer ist, jene nicht zu verspüren.

Auschwitz und die Shoah kommen in „Gegen den Hass“ im Kontext x-beliebiger „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ vor. Ein weiteres Beispiel ist der rassistische Mob gegen Flüchtlinge in Sachsen in Clausnitz, ein anderes Rassismus in USA. Hass auf alle möglichen Gruppen, eben auch Juden. Emcke schreibt explizit, nachdem sie „Antisemitismus“ erwähnte, „[n]och immer gibt es gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (S. 69), also war die Shoah auch eine.

In ihrer publizierten Dissertation spricht Emcke wie der des Deutschen nicht mächtige gewöhnliche Feuilletonredakteur von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, wo es doch „gegen die Menschheit“ heißen muss. Gegen die Menschlichkeit verstößt auch der ganz normale Kapitalismus der Deutschen Bank, oder jeder x-beliebige Vorstand einer Aktiengesellschaft, der Menschen als Ware betrachtet, wie es der Kapitalismus, das ökonomische a priori verlangt.

Der Holocaust hat damit gar nichts zu tun und ist ein Zivilisationsbruch gewesen, der nicht nur gegen die „Menschlichkeit“ gerichtet war, sondern gegen die Juden und die Menschheit.

Geradezu obsessiv verquickt Emcke Juden und Homosexuelle (also sich selbst), sie scheint Opfer sein zu wollen wie die Juden:

– „Es gab diesen diskreten, aber eindeutigen Vorwurf, nun sei doch seitens der Juden oder der Homosexuellen oder der Frauen auch mal etwas stille Zufriedenheit angebracht, schließlich würde ihnen so viel gestattet.“ (S. 13)

Man könnte meinen, Frauen seien Opfer einer Shoah geworden und würden nun so ressentimentgeladen attackiert werden wie Juden.

Weiter geht’s in Emckes Analogieamoklauf, dem friedfertigen, unblutigen und einfühlenden:

– „… das Geraune von einer ‚schwulen Lobby‘ oder jener Sorte Israel-Kritik, die mit einem ‚man wird ja wohl mal sagen dürfen‘ anhebt“ (S. 76)

– „…humorlos zu sein (gegenüber Feministinnen oder auch lesbischen Frauen gehört das zum Standardrepertoire), von der eigenen qualvollen Geschichte ‚profitieren‘ zu wollen (gegenüber Jüdinnen und Juden)“ (S. 102)

So als ob eines der antisemitischen Topoi nach dem Holocaust, die „Holocaustindustrie“, auch nur im Ansatz damit zu vergleichen sei, dass angeblich sehr häufig Feministinnen oder Lesben als humorlos bezeichnet würden. Was für ein additives, ohne jede Struktur mit Wörter herum fuchtelndes Gerede das ist.

Dann bringt sie besonders „surreale Beispiele“:

-„ …wenn an öffentlichen Schulen nur jüdische Feiertage gelten würden, wenn nur homosexuelle Paare Kinder adoptieren dürften …“ (S. 114)

Für Emcke ist Antisemitismus, auch der sekundäre, um den es hier geht (auch wenn sie das Wort nicht kennen sollte), nicht mehr als eine „abwertende Etikette“ und „strukturelle Missachtung“ (S. 102).

Diese völlige analytische Hilflosigkeit, die weder sozialpsychologische noch politisch-kulturelle oder ideologiekritische Analysemuster kennt, kommt gut an, weil sie „uns“ alle (solange „wir“ zu einer „diskriminierten“ Gruppe gehören) zu einem „wir“ der Opfer zusammen schmiedet, das ist der Tenor hierbei, der das ganze Buch  durchzieht.

Sodann folgt eine Analogie von Morden an Transgenderpersonen mit antisemitischen und rassistischen Morden (S. 156f.), und schließlich setzt Emcke am Beispiel des sog. Islamischen Staats dessen „Hass“ gegen Frauen, Juden und Homosexuelle auf eine Stufe (S. 169).

Jede Differenz wird hier geleugnet. Niemand strebt danach einen Staat der Homosexuellen zu zerstören, niemand agitiert weltweit gegen die Protokolle der Weisen der Transgenderpersonen. Die schrecklichen Diskriminierungen und der homophobe oder transphobe Hass sind schlimm und müssen bekämpft werden. Aber nicht indem man wie Heitmeyer oder Emcke das mit dem Konzept der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ macht, indem der einzige weltweite, genozidale Hass, der Antisemitismus (und Antizionismus) völlig als solcher derealisiert wird.

Probleme über die Benutzung von Toiletten von Transgenderpersonen müssen in der Gesellschaft diskutiert und gelöst werden. Aber das auch nur in einem Atemzug mit dem genozidalen Hass auf „den ewigen“ Juden zu vergleichen ist das Ende jeder Analyse.

Es gibt widerliche Hetze gegen Schwule und Lesben oder „Transen“, nicht nur online, auch und gerade offline. Aber das homophobe Geschwätz von einer „schwulen Lobby“ ist eben lächerlich und konsequenzlos verglichen mit der auf die Auslöschung von Millionen Juden gerichteten Hetze gegen die „Israellobby“ oder die „jüdische Lobby“. Wer das nicht kapiert, hat wirklich gar nichts kapiert von der Gefahr, die vom Antisemitismus ausgeht.

Mehr noch: auch das Gendern Emckes von Jüdinnen und Juden in der Shoah ist an Absurdität und Perfidität nicht zu überbieten. Hierzu hat die Autorin Esther Dischereit schon vor über 20 Jahren geschrieben:

„Ende der achtziger Jahre schließlich – noch vor Ausbruch der Pogrom’feierlichkeiten‘ – ich meine die explosionsartig ins öffentliche Bewußtsein drängende Etablierung einer Erinnerungs’kultur‘ – war ich zu Gast bei einer kleinen radikal feministischen Gruppe, die sich vorgenommen hatte, etwas von Frauen zu erfahren, die während des Nationalsozialismus im Widerstand aktiv waren. Die Frauen wollten sich auch mit dem KZ Ravensbrück beschäftigen. Im Verlauf des Gesprächs wurde als Motiv formuliert: Die Jüdinnen seien es, mit denen sie sich befassen wollten, denn daß sie als Frauen so behandelt worden seien, sei das, was sie empörte. Ich weiß noch, daß ich wegen der feministischen Trauerbedürfnisse aufstand und wegging. Mir gelang keine Begründung, weil ich stammelte und mir die Luft wegblieb. Mit war das ganze Ansinnen der Gruppe diskreditiert. Sollte die Asche in männlich und weiblich geteilt werden? (…) Das, was mich so sprachlos machte, war wohl die Rigidität und Erbarmungslosigkeit, mit der mir der Begriff vom Mensch-Sein ersetzt schien durch Frau-Sein. Gegenüber den Lebenden in der patriarchalen Gesellschaft hätte mich solche Übertreibung nicht weiter aufgeregt, vielleicht hätte ich sie für eine Zeitlang als notwendig angesehen. Gegenüber den Toten war sie für mich von einer Grausamkeit, die ich nicht fassen konnte. (…) Der Jude war getötet worden als Jude – als non-human, als Nicht-Mensch –, es spielte vor der Geschichte keine Rolle mehr, ob er nach gender per se ein Patriarch gewesen oder nicht.“ (Esther Dischereit (1995): Übungen, jüdisch zu sein, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 168–170.)

***

Schließlich passt der Friedenspreis zu Carolin Emcke wie zu Martin Walser. Auch Emcke strebt nach einem starken „wir“ (S. 218), sie schreit danach dazugehören, ob nun als Teil einer Opfergruppe in einer Reihe mit Juden oder nicht, Hauptsache „wir“, natürlich kein fixes „wir“, ein offenes, lustiges, glückliches, nicht festgelegtes. Und wer in Buchläden geht, derzeit, sieht den Schrei nach einem „wir“ all überall, nicht nur bei Nazis und Pegidisten, grade auch bei den vorgeblich nicht so Völkischen.

Und sie gehört auch zum Kreis derjenigen um Axel Honneth und das heutige Frankfurter Institut für Sozialforschung, die Adornos Namen in den Dreck ziehen und feierte 2012 ihre alte Freundin (siehe den „Dank“ in der publizierten Fassung der Dissertation von Emcke), die antisemitisch-antiisraelische Autorin Judith Butler, die tatsächlich Adorno-Preisträgerin wurde. Emcke nahm die amerikanische Agitatorin, die nicht nur die Hamas als soziale linke Bewegung betrachtet, sondern vor allem Israel als jüdischen Staat kategorisch ablehnt, gegen Kritik in Schutz.

Emcke zitiert in „Gegen den Hass“ unkritisch die antisemitische Autorin Jacqueline Rose, die dafür berüchtigt ist, an anderer Stelle die unfassbare Lüge geschrieben und gedruckt bekommen zu haben, nach der sich womöglich Hitler und Theodor Herzl während des gleichen Konzerts mit Wagner-Musik für ihre jeweiligen Bücher „Mein Kampf“ oder „Der Judenstaat“ inspirieren hätten lassen. Das hätte bekanntermaßen spätestens im Mai 1895 stattfinden müssen, da zu diesem Zeitpunkt Herzl sein Manuskript abschloss. Hitler war da sechs Jahre alt. Und er kam erst 1940 in des Erzfeindes Land, mit der Wehrmacht.

Doch für Emcke ist das keine Erwähnung wert, für sie ist Rose zitierbar, was nicht wundert, wenn sie auch ein Fan von Butler ist oder dem antiamerikanischen und mit antisemitischen Invektiven nur so um sich werfenden Holocaustverharmloser Giorgio Agamben.

Emcke zitiert Agambens Buch „Homo Sacer“, in dem der Autor die Festsetzung illegaler Einwanderer in Italien 1991 mit der Deportation von Juden aus Vichy-Frankreich oder heutigen Warteräumen für Flüchtlinge auf internationalen Flughäfen gleichsetzt. Agamben schreibt darin auch folgenden Satz, der einer Preisträgerin für den Frieden mit dem Deutschen Buchhandel offenbar runterflutscht wie Honig:

„Jedenfalls wissen die Juden in Auschwitz, und dies wirkt wie eine grausame Selbstironie, daß sie nicht als Juden sterben werden.“

In einem seiner Bremer Vorträge von 1949 redet der deutsche Denker Martin Heidegger von der „Fabrikation von Leichen“, was Agamben im von Emcke zitierten Band ebenso unkritisch wiedergibt, ohne dieses Wort zu analysieren oder den Kontext des Zitats kenntlich zu machen. Heidegger sagt:

„Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.“

Die Gleichsetzung der präzedenzlosen Vernichtung der europäischen Juden in Gaskammern mit modernem Ackerbau ist ein Antisemitismus neuen Typs, eine Banalisierung des Unfassbaren wie eine Opferstilisierung der deutschen Täternation.

Für Carolin Emcke gibt es offenbar keinen kategorialen Unterschied zwischen Gaskammern und dem „Hass“, Transgenderpersonen die Benutzung dieser oder jener Toilette schwer zu machen. Sie meint es sicher nur gut, beide „Beispiele“ (für das eine steht Auschwitz) kommen im selben Buch offenkundig als Beispiele für „Hass“ vor.

Carolin Emcke ist eine würdige Preisträgerin, sie ist gegen das Differenzieren und das kritische Denken, für das Geplapper und die Affirmation der Kulturindustriemaschine. So mag es der Betrieb, und alle werden klatschen. Glück wird sich ausbreiten in der Paulskirche, langsam, aber immer stärker.

Für die Publizistin sind St.-Pauli-Fans so bescheuert oder gefährlich, deppert oder skurril wie Jihadisten, die sich 72 Jungfrauen erhoffen, nur böse „liberale Rassisten“ sehen das nicht, weshalb ich schon vor sechs Jahren schrieb:

„Heute spricht die junge und bislang kaum aufgefallene Autorin Carolin Emcke in der ZEIT in einem kulturrelativistischen Amoklauf, der zwischen islamistischen suicide bombern und den Fußball-Fans von St. Pauli keinen nennenswerten Unterschied sehen möchte, von einem ‚liberalen Rassismus‘ der Islamkritiker.“[3]

Die Preisträgerin ist „beglückt“ von den Wagner-Festspielen wie von den Dragqueens, ihre postmodern kapitalistische Offenheit lässt alles gelten. Carolin Emcke ist wirklich „beglückt“, weil nur das, diese vorgebliche Vielfalt, ihr erlaube als Lesbe und Publizistin so zu sein, wie sie ist. Ihr Beglücktsein wird von der Paulskirche ausgehend sich im ganzen Land verbreiten. Und das ist doch das Wichtigste.

 

[1] Zur Kritik an dieser Einfühlung und „Familiarisierung“ siehe die unpublizierte Dissertation von Marion Bremsteller: „Didaktik der Verfremdung. Bertolt Brechts Theater und seine Bedeutung für die Pädagogik, gezeigt am Stück Die Dreigroschenoper“.

[2] Siehe zu Agamben Clemens Heni (2013): Antisemitism: A Specific Phenomenon. Holocaust trivialization – Islamism – Post-colonial and Cosmopolitan anti-Zionism, Berlin: Edition Critic, 375–378.

[3] „[D]er männliche Blick, der junge Mädchen unter den Schleier zwingt, erscheint den einen ebenso sexistisch wie anderen der, der sie sich in High Heels quetschen und rundum entblößen lässt; die Vorstellung der Eucharistie ist den einen so befremdlich wie den anderen der Glaube an 72 Jungfrauen im Paradies; die Wagner-Begeisterten in Bayreuth wirken auf die einen so befremdend wie auf andere die St.-Pauli-Fans am Millerntor“ (Carolin Emcke (2010): Liberaler Rassismus. Die Gegner des Islams tun so, als würden sie Aufklärung und Moderne verteidigen. In Wahrheit predigen sie den Fremdenhass, in: Die Zeit, 25.02.2010).

Von Weimar nach Berlin – Antisemitismus vor Auschwitz und im Jahr 2012

Von Susanne Wein und Clemens Heni

 

Das Jahr 2012 ist so dicht an antisemitischen Ereignissen, dass ein vorgezogener Jahresrückblick lohnt. Das Jahr zeigt wie flexibel, vielfältig, codiert und offen sich Antisemitismus äußern kann. Drei Forschungsfelder seien hier knapp vorgestellt, um schließlich ein besonders markantes und schockierendes Beispiel von 2012 mit einem Fall aus dem Jahr 1925 zu vergleichen.

1)     Holocaustverharmlosung.

Im Januar wurde in Leipzig bekannt gegeben, dass der amerikanische Historiker Timothy Snyder den Leipziger Buchpreis 2012 erhalten wird.

Snyder hat 2010 das Buch Bloodlands publiziert, worin er leugnet, dass der Holocaust ein spezifisches Verbrechen war, ohne Vergleich in der Geschichte. Vielmehr konstruiert der „Genozid“-Forscher, der dem sog. spatial-turn folgt (eine Modeerscheinung der Kulturwissenschaft, die den Raum als zentrale Größe postuliert), einen Raum in Osteuropa zwischen dem Baltikum und der Ukraine, den er Bloodlands nennt und in dem zwischen 1932 (!) und 1945 ca. 14 Millionen Menschen starben bzw. ermordet wurden. Hitler und Stalin sind für ihn gleich schlimme historische Figuren. Snyder bemüht die veraltete Great Man Theory und hat keinen Blick für die sehr ausdifferenzierte Forschung zum Nationalsozialismus und zum Holocaust.

Vielmehr kooperiert er mit dem litauischen Staat und unterstützt eine dortige, weltweit in Misskredit geratene historische Kommission, die die Verbrechen von Hitler und Stalin wiederum gleichsetzt. Dramatisch ist, dass selbst die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und ihr wissenschaftliches Personal in Person der neuen Chefhistorikerin Dina Porat  mit dieser Kommission in Litauen kooperiert, was zu scharfen Protesten von Holocaustüberlebenden führte.

Kurz gesagt: Timothy Snyder ist ein geistiger Enkel Ernst Noltes, er möchte die Deutschen entschulden und die Präzedenzlosigkeit von Auschwitz verwischen oder leugnen. Historiker wie Omer Bartov (Brown University), Dan Michman (Yad Vashem) oder Jürgen Zarusky (Institut für Zeitgeschichte, München) haben Snyder dezidiert kritisiert. Der Jiddisch-Forscher Dovid Katz dokumentiert und analysiert seit Jahren den Antisemitismus in Osteuropa, insbesondere in Litauen, auch er hat sich intensiv mit Snyders Bloodlands befasst und zeigt, warum extrem rechte Kreise in Osteuropa Snyder feiern.

Die Wahl von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten im März 2012 verstärkt die Holocaustverharmlosung, da Gauck die „Prager Deklaration“ vom Juni 2008 unterzeichnet hat, die – ganz im Sinne von Snyder – rot und braun gleichsetzt und die Verbrechen des Holocaust trivialisiert. Die Unterzeichner wollen als gesamteuropäischen Gedenktag den 23. August (der Tag des Ribbentrop-Molotow Paktes von 1939) etablieren und schmälern damit implizit die Bedeutung des Holocaustgedenktages am 27. Januar, wenn sie diesen Gedenktag nicht sogar ganz abschaffen wollen. Gauck sprach zudem 2006 davon, dass jene, die die Einzigartigkeit des Holocaust betonen, nur einen Religionsersatz suchen würden. Auch Neonazis, Holocaustleugner, manche christliche Aktivisten, Forscher oder auch Autoren der tageszeitung (taz) frönen einer solchen Sprache und reden von der „Holocaust-Religion“ oder einer „Pilgerfahrt“, wenn es um Auschwitz geht. Ohne den Dammbruch durch Martin Walsers Paulskirchenrede von Oktober 1998 wäre das alles nicht so ohne Weiteres im Mainstream der deutschen Gesellschaft denk- und sagbar.

2)     Antizionismus.

Der zweite Aspekt des Antisemitismus ist der seit der zweiten Intifada im September 2000 und nach dem islamistisch motivierten Massenmord vom 9/11 weltweit bei den wenigen Kritikern im Zentrum der Aufmerksamkeit stehende antizionistische Antisemitismus bzw. die Israelfeindschaft.

Am 4. April 2012 publizierte der Literaturnobelpreisträger Günter Grass in der größten deutschen Tageszeitung (nach der Boulevardzeitung BILD), der Süddeutschen Zeitung aus München, ein Gedicht mit dem Titel „Was gesagt werden muss“. Darin schreibt der deutsche Denker:

„Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden?“

Nicht der Iran droht Israel mit Vernichtung, die Juden („Atommacht Israel“) seien die Gefahr. Diese Leugnung der Wirklichkeit, die Derealisierung, Schuldprojektion und die Schuldumkehr sind ein typisches Muster des neuen oder Post-Holocaust Antisemitismus. Israel gefährde den Weltfrieden und nicht der „Maulheld“ Ahmadinejad, wie er vom deutschen Dichter verniedlichend genannt wird; dabei haben die Verharmlosung der iranischen Gefahr bzw. das klammheimliche Liebäugeln mit dem vulgären, iranischen, islamistischen aber natürlich auch dem arabischen Antisemitismus Konjunktur. Die Diffamierung Israels ist auch unter deutschen Wissenschaftlern, Journalisten, Politikern, NGO-Aktivisten und der Bevölkerung gern gesehen. Die ARD jedenfalls war von Grass so begeistert, dass der Tagesthemen-Anchorman Tom Buhrow ein Exklusivinterview mit dem Schriftsteller führte und tags darauf Grass das Gedicht in der ARD vortragen durfte.

Das wird ergänzt durch die Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt am Main am 11. September 2012 an die amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Judith Butler von der University of California in Berkeley. Butler ist als antiisraelische Agitatorin weltweit berüchtigt, wenn sogar der Präsident der Harvard University im Jahr 2002, Lawrence Summers, unter anderem sie meinte als er den Hass auf Israel und die Boykottaufrufe gegen den jüdischen Staat thematisierte. Butler steht für einen Antizionismus, der sich in der Tradition von Martin Buber und Hannah Arendt verortet und die Gründung eines explizit jüdischen Staates (der zudem so tolerant ist und 20% Araber und Muslime und andere zu seiner Bevölkerung zählt) ablehnt. Mit fast vollständig homogenen islamischen Staaten wie Saudi-Arabien, Iran oder Jordanien und ihren antidemokratischen, homophoben und misogynen politischen Kulturen hat Butler selbstredend kein Problem. Die Wochenzeitung Die Zeit publizierte gar einen Text der BDS-Unterstützerin Butler und unterstützt somit den Aufruf zum Boykott Israels. Früher wäre das fast nur in der jungen Welt oder der Jungen Freiheit propagiert worden, doch längst sind solche antisemitischen Positionen Mainstream.

Eine Vertraute und Freundin von Butler, die Politikwissenschaftlerin Seyla Benhabib (Yale University) wurde 2012 in Deutschland ebenfalls geehrt. Sie erhielt am 8. Mai den Dr. Leopold Lucas-Preis der Universität Tübingen für ihren Einsatz für Hospitalität und „universelle Menschenrechte“ – auch dieser Preis ist mit 50.000€ dotiert, was ja von der schwäbischen Alma Mater freundlich ist, wenn man bedenkt, wie schlecht bekanntlich die Yale University ihre Professoren bezahlt. Benhabibs Vorbilder sind Immanuel Kant („Der Ewige Frieden“ von 1795) und Hannah Arendt. Die problematischen Aspekte dieser Art von Kosmopolitanismus oder vielmehr die anti-israelische Dimension bei Arendt,  kehren bei Benhabib verstärkt wieder. 2010 diffamierte sie Israel  indem sie es mit der südafrikanischen Apartheid und mit den „1930er Jahren in Europa“ (sie erwähnt den Slogan „Eine Nation, Ein Land, Ein Staat“ und spielt offensichtlich auf Nazi-Deutschland an) verglich – während selbstverständlich auch sie den Jihadismus z.B. der Gaza Flottille ignorierte und ihn bis heute ausblendet. Dies sind die eigentlichen Gründe für die Ehrungen und den Beifall aus Deutschland für Personen wie Butler und Benhabib. Kritik an Arendt, Kant und der europäischen Ideologie (wie sie auch Jürgen Habermas vertritt) eines Post-Nationalstaats-Zeitalter, wie sie von dem israelischen Philosophen Yoram Hazony bekannt ist, wird in Deutschland entweder gar nicht zur Kenntnis genommen oder abgewehrt.  Aufgegriffen und promotet wird sie höchstens von problematischen, nicht pro-israelischen, vielmehr deutsch-nationalen, rechten und konservativen Kreisen wie der Zeitschrift Merkur (dessen Autor Siegfried Kohlhammer den Islam mit seinen Dhimmi-Regelwerken für Nicht-Muslime schlimmer findet als den Nationalsozialismus und die Nürnberger Gesetze, und der zudem gegen Israel argumentiert).

3)     Antijudaismus.

Diese älteste Form des Antisemitismus spielt auch im nachchristlichen Zeitalter eine zunehmende Rolle. 2012 tritt ein in seiner Vehemenz seit 1945 ungeahnter und ohne Vergleich dastehender Angriff auf Juden und das Judentum auf: Hetze gegen die Beschneidung und religiöse Rituale. Alles, was Juden im Post-Holocaust Deutschland dachten, als selbstverständlich annehmen zu können, steht jetzt in Frage: Juden als Juden werden hinterfragt. Wie im Holocaust sollen männliche Juden die Hosen runter lassen, damit die arischen Deutschen nachschauen, ob er ein Jude ist oder nicht; sie durchleuchten Juden auf ihre Gesundheit, sexuellen Praktiken und Fähigkeiten und finden diese Art von Zurschau-Stellung von Juden notwendig und emanzipatorisch. Heute wird diese antijüdische Propaganda nicht unter dem Schild der SS oder der Wehrmacht durchgeführt, nein: heute geht es um „Kinderrechte“ und die angebliche Freiheit, nur als nicht-beschnittener Mann im Erwachsenenalter über die Religionszugehörigkeit entscheiden zu können.

Am 7. Mai 2012 befand das Kölner Landgericht in einem die politische Kultur in Deutschland für immer verändernden Urteil die Beschneidung von Jungen als gegen „dem Interesse des Kindes“ stehend und somit als nicht vertretbar. Die Beschneidung von jüdischen Jungen am achten Tag bzw. die Beschneidung von muslimischen Jungen im Alter zwischen 0 und 10 Jahren, sei somit nicht legal. Ein deutsches Gericht urteilt über das Judentum, das die Beschneidung vor über 4000 Jahren einführte. Der Volksgerichtshof des Nationalsozialismus hätte seine Freude gehabt an diesem 7. Mai 2012. 600 Ärzte und Juristen, angesehene normale Deutsche, agitierten sodann unter Federführung des Mediziners Matthias Franz von der Universität Düsseldorf am 21. Juli 2012 in einem Offenen Brief in der Zeitung für Deutschland (Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZ) gegen die Beschneidung und forderten politische und rechtliche Konsequenzen aus dem Kölner Urteil. Selbst pro-israelische Aktivisten zeigen nun ein ganz anderes Gesicht und machen sich über das Judentum lustig. Offenbar hatten diese Leute schon immer ein Israel ohne Judentum im Sinn. Die Zeitschrift Bahamas

aus Berlin folgte dem Ruf aus Köln, der FAZ und dem Zeitgeist und sprach sich gegen eine Kundgebung für Religionsfreiheit/für die Beschneidung aus und forderte ihre 23 oder 34 Anhänger auf, dieser ohnehin kleinen Manifestation vorwiegend deutscher Jüdinnen und Juden am 9. September 2012 in Berlin fern zu bleiben, da sie „den kulturellen und religiösen Traditionen von Kollektiven grundsätzlich misstraut“. Autoren dieses Sektenblattes wie Thomas Maul und Justus Wertmüller bezeichnen die Beschneidung als „archaisch“ und diffamieren dadurch mit Verve das Judentum. Derweil kringeln sich die Neonazis, die NPD und autonome Nationalisten, da doch der deutsche Mainstream das Geschäft des Antisemitismus (bis auf die Verwüstungen jüdischer Friedhöfe und von Gedenktafeln, bis heute eine typisch neonazistische Form des Antisemitismus) übernommen hat. Die Wochenzeitung jungle world 

mit ihrem Autor Thomas von der Osten-Sacken machte gegen die Beschneidung mobil und stellte Bezüge zur kriminellen Klitorisverstümmelung bei Mädchen, der Female genital mutilation (FGM), her. Sein Kollege Tilman Tarach war auf Facebook nicht weniger obsessiv dabei,

die Beschneidung und somit das Judentum zu schmähen. Eine Internetseite, Politically Incorrect (PI), die aus dem Umfeld von Parteien wie Die Freiheit, der Bürgerbewegung Pax Europa (BPE), der Pro-Bewegung und anderen Gruppierungen der extremen Rechten oder des Rechtspopulismus kommt, droht Juden:

„Wenn sich aber jüdische Verbände und Organisationen beispielsweise so an die uralte Vorschrift der Beschneidung klammern, zeigen sie damit, dass sie sich in diesem Punkt nicht vom Islam unterscheiden. So etwas können wir nach meiner festen Überzeugung in unserem Land nicht zulassen.“

Die Giordano Bruno Stiftung (GBS) mit ihrem Vorbeter Michael Schmidt-Salomon (übrigens sitzt Hamed Abdel-Samad im wissenschaftlichen Beirat der GBS),

die Deutsche Kinderhilfe, Evolutionäre Humanisten Berlin Brandenburg e.V., der Zentralrat der Ex-Muslime, die Freidenkervereinigung der Schweiz, der pflegeelternverband.de und einige andere Organisationen und Gruppen agitieren besonders aggressiv gegen Juden (und Muslime) und starten im Herbst 2012 die perfide Anzeigenkampagne

„Mein Körper gehört mir“. Zu sehen ist das Bild eines Jungen, der sich völlig verängstigt in den Schritt fasst und darunter steht: „Zwangsbeschneidung ist Unrecht – auch bei Jungen.“ Damit wird nicht nur die kriminelle und zumal islamistische Praxis der Klitorisverstümmelung mit der harmlosen Beschneidung von Jungen gleichgesetzt, vielmehr wird in Stürmer-Manier gesagt: vor allem das Judentum basiert auf Unrecht! Hieß es 1879 bei Heinrich von Treitschke „Die Juden sind unser Unglück“, was zu einem der Propagandasprüche des Nationalsozialismus avancierte, so wird im Jahr 2012 von Atheisten, Positivisten und anderen Aktivisten (die sich teils anmaßend Humanisten nennen) die Beschneidung als das Unglück für Kinder dargestellt oder Juden (und Muslime) gar als Kinderschänder diffamiert. Das liest sich wie eine post-christliche Version der Blutbeschuldigung, der antisemitischen Blood Libel.

Der Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel, Alfred Bodenheimer, ist zutiefst schockiert über den Anti-Beschneidungsdiskurs und hat im Sommer 2012 ein kleines Büchlein dazu verfasst: „Haut-Ab! Die Juden in der Besschneidungsdebatte“ (Göttingen: Wallstein). Darin analysiert er:

„Aus christlich-theologischer Sicht war die Kreuzigung ein sehr ähnliches Vergehen wie das Beschneiden der Kinder aus der heutigen säkularen: Denn die Taufe als unmittelbare Partizipation des einzelnen Gläubigen an der Kreuzigung Christi (und der damit verbundenen Sündenvergebung) machte letztlich jeden Getauften zum partiell von den Juden Gekreuzigten ­– und damit jenes Ereignisses, in dem gerade Paulus die Beschneidung aufgehoben hatte. Der säkulare Ausgrenzungsdiskurs folgt dem christlichen auf dem Fuße, er ist kultur- und mentalitätsgeschichtlich so leicht abrufbar, dass insbesondere den dezidierten Säkularisten die Ohren sausen dürften, wären sie sich der Sensoren gewahr, die ihren Furor geweckt haben. Der säkularistische Anspruch, Gleichheit in allen Belangen zur Ausgangslage eines frei auslebbaren Individualismus zu machen, trägt mehr vom Paulinischen Universalismus in sich (dessen Gegenbild die auf defensiver Differenz bestehenden Juden waren), als dem Gros seiner Vertreter klar ist.“ (ebd., 58f.)

Die Internetseite HaOlam mit ihrem Vertreter Jörg Fischer-Aharon, die sich jahrelang als pro-israelisch gab, hat den Anti-Beschneidungsvorkämpfer Schmidt-Salomon exklusiv interviewt und macht damit Werbung für obige Anzeigenkampagne.

Manche Organisationen, die häufig mit HaOlam bzw. deren Umfeld und vielen anderen aus der nie näher definierten „pro-Israel-Szene“ kooperierten, werden ins Grübeln kommen.

Sei es Ressentiment auf Religion oder kosmopolitisch inspirierte Universalität, jedenfalls wird mit bestem Gewissen jedwede Partikularität – wie die des jüdischen Staates Israel und des Judentums, inklusive seiner religiösen Traditionen, die auch von nicht-gläubigen Juden mit überwältigender Mehrheit praktiziert werden – abgelehnt.

Es ist unerträglich, mit welcher Arroganz, Obszönität und Dreistigkeit ausgerechnet deutsche Areligiöse,  Christen, selbsternannte Israelfreunde und „Antifas“ sich de facto zu den islamistischen und neonazistischen Judenfeinden gesellen und völlig geschichtsvergessen das Nachdenken einstellen.

Kaum jemand hat heute in Deutschland noch Beißhemmungen wenn es um Juden geht.

Dieser hier skizzenhaft aufgezeigte neu-alte Antisemitismus zeigt sich in dramatischer Form in vier antisemitischen Vorfällen in wenigen Wochen bzw. Tagen allein in Berlin:

  • Am 28. August 2012 wurde in Berlin-Friedenau am helllichten Tag der Rabbiner Daniel Alter von mehreren vermutlich arabischen Jugendlichen und Antisemiten krankenhausreif geschlagen. Er trug eine Kippa und wurde gefragt, ob er Jude sei. Das „Ja“ führte zu einem Jochbeinbruch und Todesdrohungen gegen seine 6-jährige Tochter. Die Täter sind bis heute nicht ermittelt.
  • Am 3. September wurde gegen 10 Uhr vormittags eine Gruppe von jüdischen Schülerinnen vor der Carl-Schuhmann-Sporthalle in der Schlossstraße in Berlin-Charlottenburg von vier ca. 15-16-jährigen Mädchen muslimischer Herkunft (eine der Antisemitinnen trug ein Kopftuch) diffamiert und u.a. als „Judentussen“ beleidigt.
  • Am höchsten jüdischen Feiertag, Yom Kippur, am Mittwoch, den 26. September 2012, rief Esther Dobrin aus Berlin gegen 11 Uhr ein Taxi, um mit ihrer 11-jährigen Tochter und zwei weiteren Personen zur Synagoge in die Pestalozzistraße zu fahren. Der Taxifahrer verhielt sich reflexhaft feindselig, als der genaue Bestimmungsort als „Synagoge“ benannt wurde; er warf die vier Fahrgäste sozusagen aus dem Wagen.
  • Wenig später, gegen 18 Uhr an diesem 26. September, wurden drei andere Juden in Berlin verbal attackiert. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, kam gerade mit seinen beiden Töchtern im Alter von 6 und 10 Jahren von der Synagoge, ebenfalls in Charlottenburg, unweit des Kurfürstendamms, als er offenbar wegen eines klar ersichtlichen jüdischen Gebetsbuches beleidigt wurde. Im Laufe eines aggressiven Wortgefechts hat Kramer nicht nur die Polizei zu Hilfe gerufen, vielmehr auch auf seine Waffe gezeigt, die er seit acht Jahren zum Selbstschutz und als ausgebildeter Sicherheitsbeauftragter bei sich trägt. Die Polizei hat nun zwei Anzeigen zu bearbeiten, Kramer zeigte die Beleidigungen des Antisemiten an, während derselbe Kamer wegen Bedrohung anzeigte, wozu er, nach unbestätigten Informationen,  von der Berliner Polizei durchaus ermutigt worden war.

Kramer kennt die Zusammenhänge des GraSSierenden Antisemitismus in Deutschland und weiß, dass sich die geistigen Zustände und Debatten in gewalttätigen Straßenantisemitismus entladen können – darum ist er bewaffnet. Welche zwei komplett disparaten Lebensrealitäten – eine jüdische und eine nicht-jüdische – werden von nichtjüdischen Deutschen tagtäglich stillschweigend hingenommen? Wie fühlt es sich an, ständig in den Einrichtungen der eigenen Religion/Gruppe, Kindergarten, Schule, Synagoge etc. unter Polizeischutz stehen zu müssen?

1925, einige Jahre vor NS-Deutschland, im demokratischen Rechtsstaat der Weimarer Republik passierte in Stuttgart Folgendes:

„An einem Sonntag im November 1925 las der Kaufmann Ludwig Uhlmann in der Gastwirtschaft Mögle Zeitung und trank ein Bier. In provozierender Absicht beleidigte ihn der am Nachbartisch sitzende Franz Fröhle mit spöttischen Bemerkungen und ließ mehrfach die Bezeichnung ‚Jude Uhlmann‘ fallen. Dieser reagierte nicht. Daraufhin sagte Fröhle: ‚Was will der Judenstinker hier, der Jude soll heimgehen‘, was Uhlmann sich verbat. Als die Pöbeleien anhielten, zog Uhlmann eine Pistole, mit der Bemerkung, dass Fröhle damit Bekanntschaft machen könne, falls er nicht aufhöre. Schließlich setzten der Wirt und die Polizei den Beleidiger vor die Tür. Die Staatsanwaltschaft beantragte nicht nur einen Strafbefehl gegen Fröhle wegen Beleidigung in Höhe von 50 RM Geldstrafe, sondern auch einen gegen Uhlmann wegen Bedrohung und abgelaufenen Waffenscheins. Bei der Hauptverhandlung des Amtsgerichts wurde er zwar von der Anklage der Bedrohung freigesprochen, aber wegen der Bagatelle des abgelaufenen Waffenscheins von wenigen Monaten zu einer Geldstrafe von 30 RM verurteilt.“ (Martin Ulmer (2011): Antisemitismus in Stuttgart 1871–1933. Studien zum öffentlichen Diskurs und Alltag, Berlin: Metropol, S. 350)

 

Dieses Schlaglicht zeigt die Normalität antisemitischer Beleidigungen, die in der deutschen politischen Kultur bereits damals, wie sich an unzähligen Beispielen aufzeigen lässt, tief verankert und sedimentiert war.

Heute nun, im Jahr 2012, über 67 Jahre nach dem Holocaust und Auschwitz – welch ein Unterschied ums Ganze! –, müssen sich Juden wieder bewaffnen. Sie sind fast täglich Angriffen, Beleidigungen und Hetzkampagnen ausgesetzt und es kann sich eine Szene abspielen, die der in einer Stuttgarter Kneipe von 1925 gruselig ähnelt.

 

Auf der einen Seite haben wir diese Vorfälle aus dem Jahr 2012 und insbesondere die „Beschneidungsdebatte“ mit all ihren antisemitischen Internet-Kommentaren -und Forenbeiträgen, die einen an Max Liebermanns Ausspruch zum 30. Januar 1933 denken lassen. Auf der anderen sucht man vergebens die arrivierten Antisemitismusforscherinnen und -forscher, die sich der skizzierten Forschungsfelder annehmen. Werner Bergmann schrieb 2011 in einer Festschrift für einen Kollegen:

„Im historischen Vergleich mit der Zeit vor 1945, aber auch in den letzten 60 Jahren in Deutschland […] war Antisemitismus gesamtgesellschaftlich wohl selten so sehr an den Rand gedrängt wie heute.“

Antisemitismus ist in Deutschland nicht erst, aber insbesondere im Jahr 2012 gesamtgesellschaftlich so weit verbreitet wie vielleicht noch nie seit 1945.

 

 

Susanne Wein ist Historikerin und promovierte im September 2012 an der Freien Universität Berlin  mit einer Arbeit über „Antisemitismus in der politischen Kultur der Weimarer Republik. Eine Untersuchung anhand der Debatten im Reichstag“.

Clemens Heni ist Politikwissenschaftler und promovierte im August 2006 an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck mit einer Arbeit über die „Salonfähigkeit der Neuen Rechten. ‚Nationale Identität‘, Antisemitismus und Antiamerikanismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1970 – 2005: Henning Eichberg als Exempel“.

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