Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Jessica Hamed

Antisemitismus im Jahr 2022: Vier Beispiele (Teil 4)

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

 

Der folgende Text ist Teil 4 eines Working Paper des Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA) zum Thema Antisemitismus im Jahr 2022: Vier Beispiele.

4. Antijudaistischer Antisemitismus im Mainstream und bei Coronapolitik-Kritikerinnen

 

Am 7. Mai 2012 wurde ein Urteil des Landgerichts Köln verkündet, das als einer der größten Angriffe auf jüdisches Leben in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland betrachtet wird. Das Urteil wendet sich gegen die Beschneidung von Jungen, am Beispiel eines 4-jährigen muslimischen Jungen. Damit hob das Landgericht Köln das anderslautende Urteil des Amtsgerichts Köln vom 21.09.2011 auf.

2012 kritisierte der Publizist und Gelehrte in Jüdischen Studien von der Universität Basel Alfred Bodenheimer den Juristen Holm Putzke und den Anti-Beschneidungsdiskurs.[25] Dabei geht er auch auf einen Beitrag Putzkes in einer Festschrift für dessen Doktorvater Rolf Dietrich Herzberg 2008 ein.

Schon in den 1840er Jahren gab es unter Rabbinern und der jüdischen Gemeinschaft Diskussionen über die Beschneidung. Darauf weist ein umfassender Band zur Beschneidungsdiskussion im Jahr 1896 hin, der gescannt online verfügbar ist.[26]

Da werden medizinische, religiöse wie gesellschaftspolitische Gründe und Diskussionen für die Beschneidung ausführlich erörtert. Alle Beiträge stellen sich hinter die Beschneidung. Medizinisch wird häufig der Vorteil der Beschneidung angeführt, was Probleme bei schlecht durchgeführten Fällen nicht ausschließt. Aber der Kern ist die ungeheuerliche Anmaßung zumal von Deutschen, Juden vorzuschreiben, wie sie ihre Religion auszuüben hätten und das auch noch, ganz im Sinne der antisemitischen Blutbeschuldigung oder Blood Libel den Juden subtil oder weniger subtil Kindesmisshandlung zu unterstellen.

Medizinisch wurde 1896 bereits detailliert auf die häufigen und vielfältigen Erkrankungen des unbeschnittenen Penis mit Vorhaut hingewiesen. Darunter fallen „der weiche Schanker“, „Herpes progenitalis sive praeputialis“, die „katarrhalische Balanoposthitis“, die „gonorrhoische Balanoposthitis“ oder der gewöhliche „Eicheltripper“. Doch diese damals diagnostizierten medizinischen Vorteile einer Beschneidung sind nicht die Begründung für die Brit Mila oder die muslimische Beschneidung. Es sind kulturelle und religiöse Praktiken und eine Demokratie muss Religionsfreiheit gewährleisten. Doch gerade das ach-so-gebildete Bürgertum in Deutschland hetzt seit Jahren gegen die Beschneidung.

Eine Anzeigenkampagne in Bussen, Bahnen und öffentlichen Orten der Giordano-Bruno-Stiftung war besonders perfide, wobei sie einen Jungen als Beispiel nimmt, also vermutlich einen muslimischen Jungen, und keinen neugeborenen jüdischen Jungen, denn im Judentum muss die Beschneidung bis zum achten Tag vollzogen sein.

Der Pädagoge Micha Brumlik hat damals die Giordano-Bruno-Stiftung mit ihrem Namensgeber kontextualisiert:

Gerade diese Übersetzung aber gibt Brunos judenfeindliche Äußerungen im Dialog „Austreibung des triumphierenden Tieres“, erschienen 1584, unmissverständlich wieder. In einer Passage, in der die allegorischen Partner eines Dialogs darüber sprechen, wie ungerecht es sei, Verfehlungen der Eltern an den Kindern zu strafen, heißt es in der neuen Übersetzung, dass sich diese Überzeugung erstmals bei den Juden gefunden habe, „da diese ein so verpestetes, aussätziges und ganz allgemein verderbenbringendes Geschlecht sind, das eher vertilgt zu werden verdiente, als geboren“.

Diese Behauptung vertrat Bruno in einer Zeit, als auf der italienischen Halbinsel, vor allem im Kirchenstaat, die Juden vertrieben wurden. Die, die blieben, wurden ghettoisiert sowie in ihrer Berufstätigkeit und Freizügigkeit massiv eingeschränkt, ihre Kinder wurden oft zwangsgetauft.

Auf jeden Fall: Nicht einmal das Übersetzerduo Blum kommt umhin festzustellen, dass Bruno – wie es pointiert schreibt – ein „rabiater Judenfresser“ war.

Viele Linke, auch aus der Pro-Israel-Szene, haben sich wie die FAZ, Putzke oder die Giordano-Bruno-Stiftung gegen die Brit Mila gestellt, so die Postille Bahamas und ihre Autoren Thomas Maul und Justus Wertmüller, die Bahamas rief sogar ihre kleine Anhängerschaft dazu auf, im August 2012 nicht auf eine Kundgebung in Berlin zu gehen, die sich für Religionsfreiheit und das Recht auf die Beschneidung aussprach. Andere allzu deutsche Agitatoren gegen die jüdische wie muslimische Knabenbeschneidung waren die Publizisten Thomas von der Osten-Sacken, Tilman Tarach sowie das extrem rechte Portal „Politically Incorrect“.

Der Politikwissenschaftler Mathias Küntzel, der auch aus der Pro-Israel-Szene stammt, positionierte sich differenzierter und hat bei der üblichen linken Agitation gegen die Brit Mila nicht mitgemacht. Er hat 2012 die Diskussion für den Perlentaucher zusammengefasst und zumal das linke Versagen, das Judentum zu verteidigen, herausgestellt und deren de facto Nähe zu Neonazis unterstrichen:

Mit ungewöhnlicher Starrsinnigkeit stellen sich die Beschneidungskritiker auch gegenüber den Alarmrufen der Repräsentanten jüdischer Körperschaften taub. Netanel Wurmser, Landesrabbiner von Baden-Württemberg: Das Urteil „weckt Erinnerungen an schlimmste Szenarien jüdischer Verfolgung.“ Pinchas Goldschmidt, Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner: „Sollte das Urteil Bestand haben, sehe ich für die Juden in Deutschland keine Zukunft.“

Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland: „Würde die Beschneidung in Deutschland verboten, würde dies ein jüdisches Leben hier unmöglich machen. Dann müssten wir gehen.“ Dass die NPD der letztgenannte Aussage freudig applaudiert und „allen Verstümmelungslobbyisten, religiös motivierten Tierquälern und anderen Fanatikern, die uns Deutschen ihre Vorstellung von Religionsfreiheit aufzwingen wollen, eine gute Heimreise“ wünscht, kann nicht weiter überraschen. Schwieriger ist die kalte Hartnäckigkeit zu erklären, mit der ein großer Teil des linksliberalen und progressiven politischen Lagers das Kölner Urteil gegen jüdische Proteste zu verteidigen sucht. Exemplarisch ist ein Beitrag der linksliberalen Wochenzeitung „Jungle World“. „Recht vor Glaube!“ fordert darin die Autorin Hannah Wettig.

Zur antisemitischen Dimension der Anti-Beschneidungsdebatte äußerte sich auch ein unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus beim Bundesministerium des Innern. Darin heißt es:

Besonders häufig sind es Karikaturen, die antisemitische bzw. rassistische Inhalte zeigen. So veröffentlichte etwa der Berliner Kurier im Juli 2012 einen Cartoon des slowakischen Karikaturisten Marian Kamensky, der antimuslimische und antisemitische Konnotationen gleichermaßen bedient. Zu sehen ist ein Beschneider mit muslimischer Kopfbedeckung, der in der einen Hand ein Messer hält, von dem Blut tropft, und in der anderen den abgeschnittenen Penis eines ihm gegenüberstehenden Jungen, der eine Kippa trägt. Der als muslimisch markierte Beschneider sagt: »Oh, oh, heute ist nicht mein Tag«, woraufhin der als Jude zu erkennende Junge erwidert: »Kopf hoch, es wird bald nicht mehr strafbar!« (…)

Zu einem Artikel von Jörg Lau zum Beschneidungsverbot, der am 5. September 2012 in der Zeit publiziert wurde, sind innerhalb von acht Tagen 1064 Kommentare gepostet worden.1021 Lau geht explizit auf antisemitische Konnotationen in der Beschneidungsdebatte ein:

»Die Entwertung der jüdischen Religion, diesmal nicht im Zeichen des rassistischen Antisemitismus, sondern im Zeichen der Aufklärung und der Menschenwürde. Endlich kann man den Juden am Zeug flicken, ohne sich dem Verdacht des Antisemitismus auszusetzen, denn es geht ja um den Kinderschutz, hier verstanden als Schutz jüdischer Kinder vor den Juden.«

Nicht zuletzt Verschwörungsmythiker*innen, Maskulinisten und ‚Männerrechtler‘ sind untern den antijüdischen Aktivisten, wie der Expertenkreis Antisemitismus betont und einen Text der Journalistin Elke Wittich, der sich gegen diese männerbündische Hetze wendet, zitiert.

Im Dezember 2012 wurde vom Deutschen Bundestag ein Gesetz verabschiedet, das die Beschneidung zulässt, sich also gegen das Urteil vom Landgericht Köln wendet, aber nur unter Vorbehalt sozusagen, wie wir weiter unten in einem Zitat von Gremliza sehen werden.

Der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, stellt völlig schockiert fest, wie der unabhängige Expertenkreis Antisemitismus zitiert:

Wenn ich den Offenen Brief der 700 Wissenschaftler an Bundesregierung und Bundestag lese, dann ist das eine einzige Anklageschrift. Eine Schmähschrift, welche die jüdische Gemeinschaft heute und alle Juden seit Jahrtausenden vor uns als notorische Kinderquäler diffamiert. Da wird von namhaften Medizinern und Juristen behauptet, wir übten ›sexuelle Gewalt‹ gegen unsere Kinder aus. Man tue Kindern nicht weh, heißt es dort, und dieser Satz wird auch noch marktschreierisch mit einem groben Ausrufezeichen versehen. Das ist eine Form von Anklage und Belehrungsdenken, die man nirgendwo auf der Welt sonst noch findet. […] Es gibt eine große überregionale Tageszeitung, die ich selbst seit Jahrzehnten lese, die seit Wochen einen regelrechten journalistischen Kreuzzug gegen die Beschneidung führt. Immer wieder wird die Brit Mila dort gleichgesetzt mit Kindesmisshandlung und -missbrauch, mit Genitalverstümmelung von Mädchen, mit der Prügelstrafe und sogar Menschenopfer.

Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V. publiziert 2017 mehrere, auch feministische Stellungnahmen gegen die Brit Mila, die auf nicht anders als antijüdische Weise mit der Genitalverstümmelung von Frauen gleichgesetzt (!) wird:

Christa Müller, 1. Vorsitzende von (I)NTACT – Internationale Aktion gegen die Beschneidung von Mädchen und Frauen e.V. , führt aus: „Vor fünf Jahren hat der Deutsche Bundestag mit einem Gesetz die männliche Genitalverstümmelung erlaubt. Damit wurde eine Menschenrechtsverletzung legalisiert. In der Realität sind hiervon vor allem muslimische und jüdische Jungen betroffen. Sind sie uns weniger wert als christliche Jungen?

Bodenheimer bettet seine Analyse des antijüdischen Anti-Beschneidungsdiskurses im Jahr 2012 politisch ein:

Das Jahr 2012 könnte als jenes in die Erinnerung der jüdischen Gemeinschaft eingehen, in dem die Grundfesten der Holocaust-Rezeption in Deutschland ins Wanken gekommen sind, befeuert durch den elektronischen Marktplatz, der eine praktisch ungebremste öffentliche Meinung freigesetzt hat. (…)

Der Kampfruf von der Unantastbarkeit des jüdischen Körpers wird zum effektivsten und erprobtesten Mittel der Antastbarkeit des Judentums in seiner überlieferten Form, nämlich dem Vorwurf einer religionsinhärenten Gewalttätigkeit und Empathieunfähigkeit. Von der Kreuzigung Jesu bis zu Shakespeares Shylock ist dies ein eingeschliffenes Muster abendländischen Kulturwissens.[27]

Vor diesem Hintergrund ist die Ankündigung einer Tagung an der Universität Mainz Anfang Mai 2022 unter dem Titel „Genitalautonomie und Kinderschutz“, wo neben anderen Referent*innen gleich zwei ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete involviert sind, Marlene Rupprecht und Lale Akgün, schockierend. Schon der Titel ist eine Unverschämtheit und insinuiert, dass Juden (wie Muslime) mit „Kinderschutz“ nichts am Hut haben können, wenn sie die Beschneidung durchführen.

Neben dem antijüdischen (und auch antiislamischen) Impetus ist folgendes auffallend: Wie reaktionär und weltweit betrachtet irrational die deutsche Debatte verlief und verläuft, zeigen die weltweiten Zahlen. So sind weltweit ca. 38 Prozent aller Männer beschnitten, in Israel und in arabischen wie muslimischen Ländern sind es 90 Prozent, aber auch in den USA sind es 80 Prozent. Davon haben die Agitator*innen in Deutschland offenkundig keine Ahnung, auch nicht davon, dass die WHO eine Beschneidung als Prävention gegen eine HIV-Infektion in Gegenden mit einer hohen Prävalenz des Virus bzw. der Krankheit sogar empfiehlt, wie es auch Forschungsstand der „evidenzbasierten Rechtswissenschaft“ ist, so Hendrik Pekárek 2013.

Die Tagung an der Uni Mainz wird von deren beiden Professoren Jörg Scheinfeld und Hauke Brettel organisiert. Scheinfeld ist seit Anfang 2022 „leitender Direktor am Institut für Weltanschauungsrecht“. Das Institut heißt wirklich so:

Die Gründung des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw) fand am 11. Februar 2017 am Stiftungssitz der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) in Oberwesel statt.

Michael Schmidt-Salomon von der Giordano-Bruno-Stiftung sitzt auch im vierköpfigen Direktorium, im Beirat sitzen unter anderen die Publizistin Seyran Ates, der Jurist Prof. Holm Putzke und die ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordnete Ingrid Matthäus-Maier.

Die Journalistin Gunda Trepp untersucht in ihrem aktuellen Buch „Gebrauchsanweisung gegen Antisemitismus“[28]:

Insgesamt habe ich sowohl bei den beteiligten Wissenschaftlern als auch den Kommentatoren in Medien und anderen Foren den Eindruck, hier werde nicht ein medizinischer Vorgang bewertet, sondern der moralische Wert einer Religionsgemeinschaft. In vielen Fällen vergriffen sich die Teilnehmer im Ton. ‚Vielfach‘ hätten Bürger in diesem Zusammen Bezeichnungen wie ‚pervers‘, ‚primitiv‘ oder ‚brutal‘ benutzt, oder Begriffe wie ‚blutige Verstümmelung‘, schreiben Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz.[29]

Trepp geht auch auf aggressive Beschneidungsgegner wie den Publizisten und Juristen Thomas Fischer ein, der die Brit Mila und die Knabenbeschneidung mit der kriminellen und lebensgefährlichen Genitalverstümmelung bei Mädchen vergleicht und sie kritisiert auch den Juristen Jochen Schneider, der offenbar in „seiner Dissertation die Beschneidung eines Säuglings mit der Eintätowierung von Nummern in Konzentrationslagern“ auf widerwärtige Weise in Beziehung setzt.[30]

Es ist nun bezeichnend, dass eine der bekanntesten Coronapolitik-Kritiker*innen, die immer so liberal und aufgeklärt tut oder getan hat und die häufig in der Presse publiziert oder interviewt wird und auch im Fernsehen zu sehen war, die Rechtsanwältin Jessica Hamed aus Mainz, auf ihrem Twitter-Account die Ankündigung dieser gegen einen zentralen Teil des Judentums vorgehende Tagung teilt.

Geradezu lustig ist es, wäre es nicht so dramatisch hetzerisch gegen das Judentum und die Juden und den Islam, wenn Hamed damit einen Tweet von Putzke retweetet, in dem es heißt:

„Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass auf dem Boden des GG ein Gesetz zustande kommt, das gestattet, schutzbedürftigen Säuglingen & Kindern ohne medizinischen Grund einen erogenen Körperteil irreversibel abzutrennen, ihnen dadurch Schmerzen zuzufügen…“ Prof. Putzke 1/3

Jessica Hamed ist so begeistert von Putzke, dass sie ihren Twitter-Followern vorschlägt, ihm auf diesem umstrittenen Medium zu folgen.

Heute schreibt sie ganz euphorisch von dieser Tagung an der Uni Mainz:

Es wäre interessant, die 80 Prozent Männer in den USA oder die 90 Prozent in Israel und arabischen Ländern zu fragen, ob denn deren Sexualleben womöglich nicht schlechter ist als das vieler Anti-Beschneidungs-Hetzer*innen, die evtl. nur neidisch sind? Denn medizinisch wäre es interessant zu erfahren, seit wann ein Schnitt durch die Vorhaut, das Entfernen eines „erogenen Körperteil“s sein soll.

Der Kern aber ist der Frontalangriff auf das Judentum – und auch auf den Islam. Dass der Islam vieles vom Judentum einfach nur imitierte, dabei aber oft grotesk und fatal übertrieb, das nur am Rande – Beschneidung nicht am achten Tag, sondern als Kleinkind oder Kind, nicht nur ein Tag fasten wie an Yom Kippur, sondern vier Wochen im Ramadan und so weiter, wie schon Abraham Geiger in seiner Dissertation 1833 an der Uni Bonn untersuchte.

Der Macher des „Verfassungsblogs“ Maximilian Steinbeis hat die Situation 2013 komprimiert und etwas arg positiv, aber durchaus treffend dargestellt, wobei ihm klar ist, dass wir es mit einer großen Diskrepanz zwischen dem Mob auf der Straße und in den Kommentarspalten wie den a-sozialen Medien auf der einen und weiten Teilen der politischen Elite auf der anderen Site zu tun haben:

Insoweit scheint mir die Situation in Deutschland noch ganz passabel. In der deutschen Politik und Medienöffentlichkeit ist das Bewusstsein darüber, was es mit dem New-School-Antisemitismus auf sich hat, ziemlich weit verbreitet. Wer das für selbstverständlich hält, sollte sich mal mit Österreichern unterhalten (von Ungarn ganz zu schweigen).

Deshalb fliegt bei uns ein CDU-Abgeordneter aus der Fraktion, wenn er von den Juden als „Tätervolk“ faselt. Deshalb stürzen wir unseren Nationalnobelpreisträger Günter Grass vom Podest, wenn er Israel den Willen zum atomaren Holocaust an den Leib dichtet. Deshalb ist sich die politischen Elite – in scharfem Kontrast zur breiten Bevölkerung – fast geschlossen einig darin, dass die Beschneidung nicht kriminalisiert werden darf.

Aber ich will hier keine Selbstzufriedenheit verbreiten. Dass dazu kein Anlass besteht, zeigt ein Blick in die Kommentarspalte unter jedem einzelnen der Artikel auf diesem Blog, die das Beschneidungsthema behandeln…

All jenen turbo aggressiven Hetzer*innen gegen die Brit Mila in Deutschland – von ganz links über die breite Mitte bis ganz rechts (AfD etc.)– könnte man entgegenschleudern „Haut ab!“, oder in einer Sprache, die solche Jurist*innen eventuell eher verstehen: „Verpisst euch!“, oder aber eleganter mit den Worten von Hermann L. Gremliza (1940-2019):

„Das Angebot der Deutschen, Beschneidung Unmündiger nicht als Körperverletzung verfolgen zu lassen, ist so faul wie jeder Kompromiß zwischen Tätern und Opfern. Was zu verlangen wäre, wird nicht verlangt: eine Erklärung, daß die Beschneidung nicht bestraft werden kann, weil die Deutschen das Recht, Juden Gebräuche ihrer Gemeinschaft zu untersagen, durch Auschwitz verwirkt haben, wenn nicht für immer, so doch auf eine ihren Verbrechen angemessene Zeit, sagen wir: auf tausend Jahre. So würde das besinnungslose Geschwätz vom ‚besonderen Verhältnis zu den Juden‘ endlich einmal wahr“.[31]

Resümee

Die vier analysierten Beispiele für Antisemitismus im Jahr 2022 zeigen wie unterschiedlich sich dieser „längste Hass“ (Robert S. Wistrich) zeigen kann. In gewissen Kreisen hat sich mittlerweile durchgesetzt, dass Antizionismus hier und heute eine Form von Antisemitismus ist, das mag bei jüdischen Antizionisten um 1900 noch etwas differenzierter zu beurteilen gewesen sein. Aber nach der Shoah und nach der Gründung des Staates Israel ist die Ablehnung des jüdischen Selbstbestimmungsrechts in einem eigenen Staat antisemitisch. Dafür unterstützen wiederum auch Pro-Israelis mitunter andere Formen des Antisemitismus, wie die Agitation gegen die Brit Mila, die gesamtgesellschaftlich vermutlich eine der häufigsten Formen von Antisemitismus darstellt, sich also gegen das selbstbestimmte jüdische Leben richtet, denn der aktuelle Aufhänger von 2012 war ja ein Urteil eines deutschen Landgerichts gegen die Beschneidung. Wieder andere trivialisieren den Holocaust, indem sie die ukrainische Propaganda vom „Vernichtungskrieg“ verwenden oder gar das Wort „Zivilisationsbruch“ in den irrationalen Panikraum werfen, ohne jede historische Kenntnis, was der Zivilisationsbruch war.

Nicht wenige Protagonist*innen aus der Coronapolitik kritischen Szene vertreten antisemitische Topoi. Das hatte ich bereits im Januar 2021 in einem Working Paper des Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA) detailliert analysiert und mit diesem Working Paper fortgeführt (Teil 1-4 werden als Working Paper auf der Seite von BICSA publiziert werden).

 

[25] Alfred Bodenheimer (2012): Haut ab! Die Juden in der Beschneidungsdebatte, Göttingen: Wallstein.

[26] https://ia802609.us.archive.org/25/items/diebeschneidung00loewgoog/diebeschneidung00loewgoog.pdf.

[27] Bodenheimer 2012, S. 53.

[28] Gunda Trepp (2022): Gebrauchsanweisung gegen Antisemitismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

[29] Ebd., S. 180f.

[30] Ebd., S. 180.

[31] Hermann L. Gremliza (2016): Haupt- und Nebensätze, Berlin: Suhrkamp, 134. Konkret 11/2018 schreibt: „Das Kleine Blaue Buch ist nicht mehr im Handel. Im Frühjahr bat Gremliza den Verlag, in dessen Edition Suhrkamp seine Haupt- und Nebensätze gerade in zweiter Auflage erschienen waren, anlässlich der Versicherung der Geschäftsführung, der Autor Uwe Tellkamp, der sich zu Pegida bekannt hatte, werde weiterhin bei Suhrkamp verlegt, um Auflösung des Vertrags. ‘Ich wusste, bevor er ein Fall zu werden sich entschloss, nicht, wer oder was ein Tellkamp ist. Nun, da ich es leider weiß, werde ich jene selbstverständliche Distanz zur sympathy for the Nazi markieren, die der Verlag vermissen lässt, und fordere dessen Geschäftsführung hiermit auf, der einvernehmlichen Lösung des Vertrags mit mir zuzustimmen.’ Der Verlag stimmte zu, die noch nicht verkauften Exemplare der zweiten Auflage gibt es ausschließlich bei konkret.“

RKI ändert seine Sprache: KEIN „beunruhigender Trend“ der epidemischen Lage mehr!!!

Von Dr. phil. Clemens Heni, 03. September 2020

Die ganzen letzten Tage und Wochen schrieb das Robert Koch-Institut (RKI) tagtäglich, so zum Beispiel am 29., 30. und 31. August 2020:

Auch wenn die Fallzahlen in einigen Bundesländern wieder abnehmen, bleibt die Entwicklung der letzten Wochen weiterhin beunruhigend.

Am 17. August 2020 hatte es gar im Lagebericht des RKI geheißen (KW 34):

In den letzten Wochen ist die kumulative COVID-19-Inzidenz der letzten 7 Tage in vielen Bundesländern stark angestiegen und der Anteil an Kreisen, die keine COVID-19-Fälle übermittelt haben, deutlich zurückgegangen. Dieser Trend ist sehr beunruhigend.

Am 02. September 2020 heißt es dann plötzlich („Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19″)„:

„Auch wenn die Fallzahlen wieder abnehmen, muss die Lage weiterhin sorgfältig beobachtet werden.“ (Herv. CH)

 

Wie wird am RKI Forschung betrieben? Wie kommt es, dann vom Montag, den 31. August bis zum Mittwoch, den 02. September 2020 die allgemein epidemiologische Situation offenkundig nicht mehr beunruhigend ist, sondern nur noch „weiterhin sorgfältig beobachtet werden“ soll?

Als Bürgerin und Bürger gehen wir doch alle ohnehin davon aus, dass das RKI die gesundheitliche bzw. epidemiologische Situation „sorgfältig beobachtet“ – muss das betont werden? Wurde bislang nicht sorgfältig beobachtet und gearbeitet?

Oder war die Terminologie vom 31. August oder dem 17. August schlichtweg wissenschaftlich falsch und rein politisch motiviert, um die seit 1945 in diesem Maße nie dagewesene Massenpanik aufrechtzuerhalten?

Der Grund scheint viel weniger eine neue Erkenntnis beim RKI zu sein, sondern womöglich Resultat eines juristischen Vorgangs:

Am 30. August 2020 reichte die Rechtsanwältin Jessica Hamed von der Kanzlei Bernhard Korn & Partner in Mainz, Bad Kreuznach und Wiesbaden einen „Antrag auf einstweilige Anordnung“ gegen das Robert Koch-Institut (RKI) beim Verwaltungsgericht Berlin ein („Eilt sehr. Bitte sofort vorlegen“):

Namens und im Auftrag der Antragstellerin wird beantragt, 1. dem Antragsgegner zu untersagen, bei sinkender bzw. gleichbleibender SARS-CoV-2-Positivenquote wörtlich oder sinngemäß zu behaupten, die Entwicklung sei (sehr) beunruhigend,

2.dem Antragsgegner zu untersagen, bei einer Positivenrate von einem derart niedrigen Wert wie rund 1%, wörtlich oder sinngemäß zu behaupten, die Entwicklung sei (sehr) beunruhigend (…).

Überraschend schnell hat das RKI reagiert – oder die zeitliche Nähe dieses Antrags beim Verwaltungsgericht und die massiv geänderte, die Panik reduzierende und evidenzbasierte Sprache sind nicht kausal verknüpft und es ist rein zufällig, dass dem RKI ein Licht aufging, wissen wir es?

Jedenfalls könnte dieser Erkenntnisgewinn an der Empirie liegen, schauen wir uns die Zahlen der vergangenen Wochen an:

 

Selbst die absoluten Zahlen sind trotz geradezu wahnsinniger Massentests bei extrem niedriger Prävalenz (kaum Kranke) in der Kalenderwoche 35 (24.08.–30.08.2020) gesunken (von 8661 bei 891.988 Tests vor zwei Wochen auf 8178 bei 1.101.299 Tests), prozentual noch viel mehr, von 0,97 Prozent in KW 33 auf 0,74 Prozent in KW 35.

Wir sehen auch, dass die Aussage des RKI vom 17. August 2020 (KW 34), dass „Dieser Trend sehr beunruhigend [ist]“ (womit insbesondere die ja auch in den Medien abolute Zahl und die promotete Positivrate der Getesteten gemeint war), obwohl in der Vorwoche vom 10. August (KW 33), die Positivrate von 1,00 Prozent in KW 32 auf 0,97% gefallen war, nicht der Wahrheit entsprach. In KW 34 fiel dann die Positivrate weiter auf 0,85%.

Deswegen war die Auskunft des RKI in den täglichen Lageberichten vom 29., 30. und 31. August so dermaßen unwissenschaftlich.

Das wurde jetzt korrigiert.

In Zukunft möchte das RKI demnach wieder „sorgfältig beobachten“.

Ist das der Anfang vom Ende des Monopols der Virologie?

Der Anfang vom Ende der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“?

Das Ende der Corona-Maßnahmen und Verordnungen?

Wie kann die Politik diese Verordnungen und Maßnahmen aufrechterhalten, wenn ihr staatseigenes Institut (RKI) nicht mehr von einer gefährlichen oder beunruhigenden Lage spricht?

Wie können Richter*innen weiterhin eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ unterstützen, wenn selbst das RKI zurückrudert und nicht mehr von einer „beunruhigenden“ oder „sehr beunruhigenden“ Lage spricht?

Dazu kommt noch viel mehr. Laut n-tv und New York Times ist eine übergroße Mehrzahl aller weltweit als positiv getesteten Menschen überhaupt nicht positiv, weder krank noch infektiös. Das liegt an dem vollkommen beliebigen Wert der Virologen, die einfach festlegen können, wie stark das von den Menschen entnommene Material quasi aufbereitet und verfielfältigt wird, damit man sagen kann, ob da eine ausreichend große „Viruslast“ herauskommt.

N-tv schreibt:

Die ‚New York Times‘ schreibt, die meisten PCR-Tests lieferten ein positives Ergebnis bereits bei einem Ct-Wert unter 40. Das entspricht einem Artikel der ‚Pharmazeutischen Zeitung‘ nach der auch in Deutschland gängigen Praxis. Aber ‚jeder Test mit einer Zyklusschwelle über 35 ist zu empfindlich‘, sagte Juliet Morrison, Virologin an der Universität von Kalifornien, der ‚New York Times‘. Ein vernünftiger Grenzwert läge zwischen 30 und 35. Ihr Kollege Michael Mina ist für den Ct-Wert, den das RKI empfiehlt.

Weiter heißt es in diesem Mainstream-Medium:

Ein gesenkter Grenzwert hätte auf die registrierte Zahl der Infektionen dramatische Auswirkungen. So seien in einem New Yorker Labor im Juli 794 Tests positiv ausgefallen, von denen bei einem auf 35 gesenkten Ct-Wert die Hälfte weggefallen wäre, schreibt die ‚New York Times‘. Bei einem Schwellenwert von 30 hätten die Tests sogar nur noch bei 30 Prozent angeschlagen. In Massachusetts wären bei diesem Wert 85 bis 90 Prozent negativ statt positiv getestet worden, sagt Mina. [Update] Auf die Statistiken würde sich dies allerdings voraussichtlich nicht auswirken, da die Wissenschaftler weiter alle positiven Ergebnisse zählen möchten.

Man muss sich das wirklich mehrfach durchlesen und vergegenwärtigen: Seit März 2020 können mit dem PCR-Test vollkommen beliebige Grenzwerte der Viruslast festgelegt werden, obwohl die beteiligten Virolog*innen, Labore und Medizinier*innen offenkundig wissen oder wissen müssen, dass bei einem niedrigeren Wert ganz andere Zahlen herauskommen würden.

Jetzt sollte das RKI auch den nächsten Schritt in Richtung Aufklärung gehen und die völlig groteske und empirisch widerlegte Zahl „Anteil der Verstorbenen“ (02.09.2020: 3,8%) korrigieren. Das fordern Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Universität Köln, ehem. Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit, Hedwig François-Kettner, Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, Berlin, Dr. med. Matthias Gruhl, Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Bremen, Prof. Dr. jur. Dieter Hart, Institut für Informations-, Gesundheits- und Medizinrecht, Universität Bremen, Franz Knieps, Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin, Prof. Dr. rer. pol. Philip Manow, Universität Bremen, SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Prof. Dr. phil. Holger Pfaff, Universität Köln, Zentrum für Versorgungsforschung, ehem. Vorsitzender des, Expertenbeirats des Innovationsfonds, Prof. Dr. med. Klaus Püschel, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Rechtsmedizin, Prof. Dr. rer.nat. Gerd Glaeske, Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit in ihrem mittlerweile vierten Thesenpapier vom 30. August 2020:

Das RKI spricht auf seiner Webseite immer noch von einer Sterblichkeit in der Größenordnung von 4,5%. Dieser Wert bezieht jedoch die Dunkelziffer asymptomatischer und nicht diagnostizierter Infektionen nicht mit ein und sollte definitiv nicht mehr verwendet werden. (S. 9)

Bekanntlich liegt die tatsächliche Sterbeziffer bei ca. 0,37 Prozent, wie Prof. Hendrik Streeck mit seinem Team von der Universität Bonn in Gangelt (NRW) empirisch erforscht hat. International betont Prof. John A. Ioannidis die Zahl von 0,27 Prozent Sterberate, die das Resultat von über 30 Studien in sog. hotspots ist. Also auch da produziert das RKI bis heute an einer Panik, die nicht der Realität entspricht. Das muss sich ändern. Die Infection Fatality Rate liegt zwischen 0,1 und 0,51 Prozent, wenn man verschiedene Bereiche (Pflege, Krankenhaus, allgemeine Bevölkerung) einbezieht, worauf Schrappe & Co. hinweisen (siehe u.a. ebd., S. 10).

Fazit

Offenkundig bzw. vermutlich Dank dem juristischen Kampf gegen eine nicht seriöse, nicht evidenzbasierte Medizin muss das RKI jetzt seine Sprache ändern und darf in Zukunft bei fallender oder gleichbleibender, extrem niedriger Positivenrate nicht mehr die Bevölkerung verängstigen und von einer „beunruhigenden“ „Entwicklung“ reden.

Das ist ein Meilenstein der politischen und juristischen Kritik an der aktuellen Coronapolitik.

Die Stimmen der rationalen Kritiker*innen werden lauter – es geht um eine Zukunft jenseits von Volksgemeinschaft und Gesundheitsdiktatur

Von Dr. phil. Clemens Heni, 31. März 2020

 

Die Stimmen der Kritiker*innen der nie dagewesenen Massenhysterie, wie sie Europa und die Welt seit 1945 nicht erlebt haben, werden lauter. Das betrifft Professor*innen, Publizist*innen, Ärztinnen und Ärzte und viele andere. Man muss ihnen nur zuhören und nicht panisch sich abkapseln von der Welt. Wer jetzt seine Stimme nicht erhebt, ist Teil des Problems und nimmt das kommende Ende der Demokratie achselzuckend hin. Ein in diesem Text zitierter anerkannter Professor sagte jüngst im ZDF, dass womöglich Schlimmeres durch die ergriffenen Maßnahmen passieren könnte, als durch Covid19 selbst.

Wir erleben derzeit eine Mischung aus Mediengeilheit an der Panik und Massenhysterie, rechtsextremer Politik und antidemokratischen Politiker*innen sowie einem volksgemeinschaftlichen Schrei nach noch krasseren Maßnahmen von Seiten der Bevölkerung.

Es zeigt sich, dass der kleine Teil, den man bislang als einigermaßen des Denkens und kritisch Reflektierens für mächtig erachtete, in die gleiche Panik verfällt und mitmacht. Das betrifft alle Gruppen der Gesellschaft, auch alte Kettenraucher kriegen plötzlich Panik ob einer möglichen Lungenkrankheit (was für eine Ironie) und diffamieren rational denkende Mitmenschen, die sich um den Schutz solcher Gefährdeten sehr wohl kümmern – aber nicht auf Kosten der übergroßen Mehrheit der Gesellschaft mit Maßnahmen, die jeder Verhältnismäßigkeit spotten.

Die bislang bereits ergriffenen Maßnahmen in Europa und Amerika können durchaus zur größten Weltwirtschaftskrise seit 1929 führen. Nach zwei Monaten „Coronavirus“ in Deutschland gibt es ca. 500 Tote – und das im Winter, in der Grippezeit. Täglich sterben laut Statistik 2500 Menschen in der Bundesrepublik, die übergroße Mehrheit logischerweise über 65 Jahre alt. Täglich 2500, im Winter etwas mehr, in den anderen Jahreszeiten weniger. Das macht ca. 900.000 Tote in der Bundesrepublik Deutschland jedes Jahr. Das ist kein Schock und kein Skandal. Genauer gesagt: jeder Tod ist ein Skandal – aber er führt nicht dazu, dass alles angehalten wird und damit viele, unzählige andere Menschen in Todesgefahr gebracht werden.

Nochmal: Bislang sind ca. 500 Menschen an diesem „Coronavirus Covid 19“ in der BRD gestorben bzw. es wurde das Virus festgestellt, ob die jeweilige Person an oder mit Covid 19 starb, bleibt eine offene Frage, solange nicht differenziert wird, ob eine Person lediglich das Virus hatte oder tatsächlich daran erkrankte und starb. 2500 Menschen sterben täglich an anderen Krankheiten, an Alter, Erschöpfung, Suizid, Folgen von Armut, an Unfällen, Krebs, sehr viele Menschen sterben jährlich allein in der Bundesrepublik Deutschland an Lungenkrebs (mehr als 57.000, Stand 2016).

Es ist traurig, dass diese 500 Menschen gestorben sind, wobei z.B. die Diskussion über unwürdige Verhältnisse in Alten- und Pflegeheimen bislang doch nur sehr wenige Menschen interessierte. Hätten wir eine Seuche, wären aber nicht nur 500 Menschen in einem Monat gestorben, sondern Tausende pro Tag und zwar wirklich aus allen Altersgruppen. Das ist ganz offenkundig nicht einmal ansatzweise der Fall. Warum werden in den Hauptnachrichtensendungen nicht Virolog*innen interviewt, die diese Zahlen in Relation setzen?

Wenn es einen demokratischen Prozess der Abwägung gegeben hätte, könnte man über all diese Ausgangs- und Kontaktsperren laut diskutieren, über wirklich faschistoide Maßnahmen wie Regeln, wer in welcher Kleidung öffentliche Gebäude oder Supermärkte betreten darf (mit Mundschutz, da lachen die Islamistinnen schallend und kommen in Burka und Niqab), wie letzte Woche im Bundestag beschlossen wurde.

Das sind Gesetze, die auch in der post-postdemokratischen Zeit gelten werden, wenn das Parlament wieder eine substantielle Rolle spielen wird. Heute wurde wie bei diesem Gesetz zwar das Parlament gefragt, aber doch eher wie in einer Diktatur pro forma, es gab keine sehr heftigen Diskussionen über so massivste Grundrechtseinschränkungen der freien Kleiderwahl.

Es wird nicht, wie in einer Demokratie zu erwarten wäre, abgewogen, es wird nicht mit Soziolog*innen und Politolog*innen, Sozialpsycholog*innen oder Gesundheitspolitiker*innen gesprochen, die Seite an Seite mit den Virologen auf Pressekonferenzen reden dürften.

Nein, es wird nicht geredet, sondern nur gehandelt. Das ist einer Demokratie unwürdig.

In der Frankfurter Rundschau schreibt der Chirurg und Publizist Bernd Hontschik:

Wer jetzt den Krieg gegen das Virus nicht mitmacht, der macht sich schuldig. Ich kann mich an dieser Diskussion aber nicht beteiligen, solange ich keine Antwort auf die zentrale Frage weiß: Was geht hier eigentlich vor? Ausgangssperren, Schließung von Universitäten, Schulen und Kindergärten, Versammlungsverbote, geschlossene Grenzen, Außerkraftsetzung von Grundrechten, bewaffnete Patrouillen der Polizei und der Armee – das waren für mich bis jetzt untrügliche Zeichen des Faschismus, der Diktatur. Haben wir jetzt also eine Gesundheitsdiktatur?

Die extreme Rechte und die Querfront sind derzeit äußerst raffiniert und okkupieren viele dissidente, kritische Meinungen von Virologen und Ärzten, von „KenFM“ über „Swiss Propaganda Research“ (die u.a. antisemitisch gegen die „Israel-Lobby“ agitieren) und „Rubikon“ hin zu „eigentümlich frei“, „Nachdenkseiten“ oder „Eva Herman“.

Das perfide Spiel nicht mitzumachen heißt, sich linken, sozialistischen Mediziner*innen zuzuwenden wie dem Kollektiv „Reiche 121“ in der Reichenberger Str. in Berlin-Kreuzberg, einer Straße, die mir als Verleger schon deshalb bekannt ist, weil ich dorthin Bücher liefere an Buchläden.

Dieses Praxiskollektiv Reiche 121 hat einen sehr bedeutsamen Text „Informationen und Hintergründe zu Covid19“ im Internet publiziert, worin es u.a. heißt:

Eine abweichende Meinung zur prognostizierten Gefahr vertritt auch der SPD-Gesundheitspolitiker und ehemalige Amtsarzt Wolfgang Wodarg*, Auf seiner Homepage bemüht er sich, epidemiologische Zusammenhänge zu erklären und einzuordnen.

* Wolfgang Wodarg wird derzeit in einigen sozialen Medien als Verschwörungstheoretiker diffamiert und verleumdet. Der Vorwurf lautet, er habe auch Medien, die Verschwörungstheorien verbreiten bzw. Kontakte zu Rechten haben, Interviews gegeben, bzw. werde von diesen zitiert. Wir kennen Wolfgang Wodarg als progressiven Sozialdemokraten, der als Humanist und Arzt frei von wirtschaftlichen Interessenkonflikten mit nüchternen Analysen und Untersuchungen versucht, ethisch und aufklärerisch die Interessen von Patient*ìnnen zu vertreten. Seine Entscheidung, auch umstrittenen Medien Interviews zu geben, kann kritisiert werden, ihm deshalb eine Nähe zu rechten Verschwörungstheoretikern zu unterstellen ist abwegig.

Derzeit läuft eine Kampagne unter Beteiligung von Leitmedien wie Tagesspiegel, Welt und Spiegel, die versucht, mit allen Mitteln Wodarg zu diskreditieren. Sämtliche ‚Faktenchecks‘ dieser Medien bestätigen die grundsätzliche Richtigkeit seiner Feststellungen, unterstellen ihm dann aber zusätzlich andere Aussagen und führen dagegen durchweg lediglich Annahmen an, die zur Diskussion vielleicht taugen, zur Widerlegung wahrlich nicht. Der Konjunktiv, also die Möglichkeitsform, ist bei der Gegenargumentation in der Regel der durchgehende Modus.

Nie mehr wird dieses Land eine Demokratie sein, wie wir sie bis Anfang 2020 noch kannten. Es wird offiziell weiter eine Demokratie sich nennen, aber alle wissen für alle Zeiten, dass zu jedem beliebigen Tag X in wenigen Stunden alle unsere Grundrechte (Bewegungsfreiheit, Gewerbefreiheit, Religionsfreiheit, Recht auf Bildung und Forschung etc. pp.) entzogen werden können, je nach Gusto eines autoritären Gesundheitsministers, einer den Fanatismus teilenden Bundeskanzlerin oder der jeweiligen Landesregierungen.

Die Bundeswehr wird Polizeiaufgaben übernehmen, alle Handydaten werden von der Polizei gespeichert werden, die Gesundheitsämter werden alle zwingen sich nur noch mit Masken ins Freie oder in öffentliche Gebäuden zu bewegen. Es könnte auch die ganz große Zeit der Raubüberfälle oder autonomen Spaßguerilla-Aktionen mit Sturmhaube werden – aber für Witze ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, auch wenn ein kleines Späßle jeden Tag bissle versüßt.

Früher hatten wir Antifas Angst, dass die Nazis oder die AfD die Macht übernehmen könnten. Dass es jedoch so unfassbar schnell geht mit dem Aussetzen von Grundrechten und unter anderem Vorzeichen, ahnte niemand von uns. Auch viele „Linke“ wie Autorinnen der linken Version der Jungen Freiheit (Jungle World) outen sich jetzt als Deutsche.

Es muss jetzt um Besonnenheit, Verhältnismäßigkeit und vor allem um demokratische Kontrolle, demokratische Diskussionen und demokratische Prozesse gehen.

Das Praxiskollektiv Reiche 121 aus Berlin fasst zusammen:

Wir kritisieren die Kriegsrhetorik, die Überflutung von Laien mit epidemiologischen Zahlen, die ohne Vergleichszahlen mit dem ‚Normalen‘ dann eben oft geradezu apokalyptische Visionen entstehen lassen und vor allem eines tun: Angst und Panik verbreiten.

Ein juristisches Blog schreibt bezüglich der Klage gegen das Kontaktverbot eines Bürgers Folgendes:

Wichtigste Fragen müssen danach vom demokratisch legitimierten Parlament geregelt werden, nicht von der Landesregierung als Exekutive. Das nennt man Gewaltenteilung, und eigentlich ist so was schon Thema im Sozialkundeunterricht an jeder Schule.

Viele haben ganz vergessen, was eine Demokratie ausmacht. Entscheidend ist, dass es nicht nur eine Meinung gibt in einer Demokratie, leider haben wir aber eine große Koalition wie 1968 – im Gegensatz zu 1968 aber eine vollkommen affirmative Bevölkerung, die sogar noch aggressiver ist als die Politik und nur von der hetzerischen Berichterstattung der Medien übertroffen wird.

Das Lawblog schreibt:

Gut möglich also, dass die Praxis, alles mit Verordnungen / Allgemeinverfügungen zu regeln, den Verantwortlichen noch ganz schwer auf die Füße fällt. In seiner Pressemitteilung spricht das Oberverwaltungsgericht Münster selbst davon, es sei zu prüfen, ob es für die Anordnung eine Rechtsgrundlage gibt. Problembewusstsein ist also vorhanden. Kein gutes Zeichen.

In einem Gespräch mit der Journalistin Katja Thorwarth von der Frankfurter Rundschau erläutert die Rechtsanwältin Jessica Hamed:

Die Coronakrise hat die Bewegungsfreiheit der Bürger*innen massiv eingeschränkt. Wie ordnen Sie das rechtlich ein?

Eingegriffen wurde in nahezu alle Freiheitsgrundrechte. Die körperliche Bewegungsfreiheit ist, je nach Bundesland/Gemeinde/Landkreis, zwar unterschiedlich intensiv betroffen. Allerdings wurde generell die Freizügigkeit und die allgemeine Handlungsfreiheit massiv eingeschränkt.

Vielen Menschen wird durch die Schließung von Geschäften die Ausübung ihres Berufs untersagt, sodass dort in den Kernbereich der Berufsfreiheit und gegebenenfalls in die Eigentumsfreiheit eingegriffen wurde. Die Versammlungsfreiheit – eines der wichtigsten Grundrechte in einem Rechtsstaat – ist faktisch aufgehoben. Die Glaubensfreiheit ist durch die Schließung religiöser Begegnungsstätten massiv eingeschränkt. Auch in die Unverletzlichkeit der Wohnung wird eingegriffen, wenn der Staat, wie angekündigt, Kontaktverstöße in Wohnungen verfolgen will. Mit anderen Worten, es ist kaum ein Grundrecht nicht massiv in seinem Kernbereich betroffen.

Hamed stellt fest:

So etwas gab es noch nie in der bundesdeutschen Geschichte. Es wirft die Frage auf, ob es gerechtfertigt sein kann, Millionen Menschen, denen wohl kein schwerer Krankheitsverlauf droht, von anderen Menschen, bei denen ebenfalls nicht mit einem solchen zu rechnen ist, fernzuhalten.

Professor Gérard Krause, Abteilungsleiter Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, hat nun im ZDF in der Sendung „Heute Journal“ am 29. März 2020 Folgendes gesagt:

Diese schwerwiegenden gesamtgesellschaftlichen Maßnahmen müssen wir so kurz und so niedrig intensiv wie möglich halten, denn sie könnten möglicherweise mehr Krankheits- und Todesfälle erzeugen als das Coronavirus selbst. Obwohl mein Schwerpunkt Infektionskrankheiten sind, bin ich der Auffassung, dass wir die Auswirkungen auf andere Bereiche der Gesundheit und der Gesellschaft unbedingt beachten müssen. Wir dürfen uns als Gesellschaft nicht allein auf die Opfer durch das Coronavirus fokussieren.

Diese gesamtgesellschaftliche und gesamtgesundheitspolitische Perspektive ist alles entscheidend. Krause betont, worum es geht: den Schutz des Pflegepersonals und den Schutz der besonders gefährdeten Personen. Es wird niemals zu verhindern sein, dass Menschen an Viren wie an Covid19 sterben, auch einzelne junge oder jüngere Menschen, das betont Krause und zeigt sich als reflektierter und kritischer Mediziner und Wissenschaftler mit gesellschaftlichem Weitblick.

Es geht um die gesamte Gesellschaft, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in Europa und natürlich weltweit. Das ausschließliche Bereitstellen von Intensivbetten für Coronakranke wird unweigerlich andere Menschen töten, die als Kollateralschäden der extremen Coronapanik verbucht werden.

Professor Krause resümiert:

Ich möchte mir nicht anmaßen, das bessere Augenmaß zu haben als andere. Ich möchte nur betonen, dass es wichtig ist, die negativen Auswirkungen immer im Blick zu haben und deswegen auch frühzeitig diese Maßnahmen wieder zu lockern. Man muss aufpassen, dass man aus Ohnmacht vor dieser Situation nicht überschießende Handlungen vornimmt, die möglicherweise mehr Schaden anrichten können als die Infektion selbst.

Denn die Auswirkungen sind möglicherweise sehr viel weitreichender als wir im Moment diskutieren und sie finden auch verzögert statt und betreffen andere sehr wichtige Werte und Güter, nicht allein die Gesundheit.

 

 

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