Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Kapitalismus

Diffamierung der Kritik der Coronapolitik, Angriff auf den Obersten Gerichtshof: Zwei Amerikanische Juden und die extreme Rechte in Israel

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA), Verleger, Edition Critic

 

Im September 2020 wollte der damalige Minister für Öffentliche Sicherheit im Kabinett V von Benjamin Netanyahu, Amir Ohana, sich von einem juristischen Experten Rat geben lassen, wie man die Demonstrationen gegen die antidemokratische, medizinisch irrationale und gesundheitsgefährdende Coronapolitik der israelischen Regierung eindämmen könnte. Doch der damalige Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit hatte das schon zuvor ausgeschlossen, Israel sei eine Demokratie und Demonstrationen müssten erlaubt bleiben, egal ob ein Virus herumhüpft oder nicht.

Im Dezember 2022 wurde Amir Ohana der erste offen bekennende schwule Parlamentspräsident in Israel. Doch er hat ein problematisches Verhältnis zur Meinungs- und Versammlungsfreiheit und er hat den weiblichen Körper in frauenverachtender Manier als bloßes menschliches Reagenzglas benutzt und mit seinem Partner zwei Kinder aus Leihmutterschaft herstellen lassen.

Jedenfalls hatte Ohana im September 2020 einen Experten mitgebracht, der auf dem Flur wartete, er wollte ihn an der Sitzung des „Corona“-Kabinetts teilnehmen lassen als juristischer Berater. Doch Mandelblit verweigerte das. So blieb der Experte draußen auf dem Flur stehen und ging nach Hause. Wer ist dieser Experte? Es handelt sich um den Juristen Aviad Bakshi. Darauf weist ein Text des Journalisten Nettanel Slyomovics vom 11. März 2021 in Haaretz hin.

Screenshot, https://www.haaretz.com/israel-news/2021-03-11/ty-article-magazine/.highlight/the-u-s-billionaires-secretly-funding-the-right-wing-effort-to-reshape-israel/0000017f-e90c-da9b-a1ff-ed6f5dd30000 (05.02.2023)

Bakshi erlangt seit Januar 2023 massive öffentliche Aufmerksamkeit im Zuge der Massenproteste gegen die geplante Justizreform in Israel. Dabei sind auch gestern wieder am fünften Wochenende nacheinander 60.000 Demonstrant*innen in Tel Aviv auf die Straße gegangen – in einem Land mit neun Millionen Einwohner*innen, das entspräche einer Mega-Demo in Deutschland mit 540.000 Leuten in Berlin oder Hamburg. Es waren sogar schon 100.000 Demonstrant*innen in Tel Aviv in Zuge dieser monatelangen Massenproteste auf der Straße, dazu auch in anderen Städten wie in Haifa oder Jerusalem.

Ein Kernpunkt dabei ist die geplante Klausel, die es dem Parlament erlaubt, Urteile des Obersten Gerichtshofs zu überstimmen. Das wäre das Ende der Gewaltenteilung. Es gäbe keine Instanz, die Menschen- und Grundrechte mehr schützen könnte. Israel hat keine Verfassung und nur eine Kammer, die Knesset, keinen Bundesrat oder Senat/Repräsentantenhaus und Regierung wie in den USA. Seit vielen Jahren ist der extremen Rechten der Oberste Gerichtshof ein Dorn im Auge.

Der Gesetzesentwurf wurde jedoch nicht vom Justizminister Yariv Levin verfasst, sondern von einer Nichtregierungsorganisation (NGO) mit dem Namen Kohelet Policy Forum. Aviad Bakshi ist der Verfasser dieses Plans, das Oberste Gericht seiner Unabhängigkeit zu berauben.

Das für mich auch persönlich Schockierende ist nun Folgendes: Ich habe Aviad Bakshi, mit dem ich nie Kontakt hatte, in dem Band „Der israelische Nationalstaat“, herausgegeben von Fania Oz-Salzberger und Yedidia Z. Stern, im Jahr 2017 mit einem Kollegen übersetzt und im Verlag Edition Critic publiziert. In den biographischen Angaben zu den Autor*innen erwähnte ich sogar:

Aviad Bakshi ist Direktor der Rechtsabteilung am Kohelet Politik Forum sowie Dozent am Ono Academic College und an der Bar-Ilan Universität. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Einwanderungsrecht, Sprachenrechte, kulturelle und nationale Rechte sowie Gewaltenteilung.

Vor dem Hintergrund, dass Bakshi jetzt mit dem Kohelet Politik Forum die Gewaltenteilung de facto aushebeln möchte, bekommt das einen dramatischen Drive. Ich hatte in meiner Editorischen Vorbemerkung zu dem Band meine Kritik an der Neuen Rechten betont, aber selbst vollkommen übersehen, dass mit Bakshi ein solcher neu-rechter Agitator mit dabei ist. Ich schrieb im Januar 2017:

Die vorliegende Übersetzung des von Fania Oz-Salzberger und Yedidia Z. Stern edierten Bandes Der israelische Nationalstaat ist eine vehemente, differenzierte, wissenschaftliche Grundlegung des Zionismus und des jüdischen und demokratischen Staates Israel. Die sechzehn Autorinnen und Autoren sind alle Israelis und bieten einem deutschsprachigen Publikum Originaleinblicke in derzeitige Debatten in Israel und über Israel. Im Unterschied zu vielen Pub­li­kat­ionen in deutscher Sprache zu Israel ist dieser Band wirklich an dem interessiert, was in Israel passiert, wie sich der Zionismus entwickelt hat, welche Gegenkräfte es gab und gibt, und wie die Zukunft des jüdischen Staates aussehen könnte. Namentlich der philosophische Beitrag von Shira Wolosky in Kapitel 4 über Levinas und Habermas, das philosophische Hauptstück dieses Buch­es, könnte eine breite Debatte über Universalismus und Partikularismus anstoßen. Wolosky stellt Emmanuel Levinas‘ Verteidigung des Partikularismus in den Kontext seiner frühzeitigen Kritik an Heidegger (einem sein­er Lehrer), dem deutschen Nationalsozialismus, Hitlers sowie – das ist das Frappierende – am Universalismus.

Damit spannt Levinas einen Bogen von Plato über Heidegger hin zu Habermas, die jeweils viel näher zum nazistischen Willen des Einebnens und Auslöschens von Differenz stünden, als das antifaschistische Selbsteinschätzungen – wie bei Habermas – vermuten ließen. Selbst viele sich eher als pro-israelisch betrachtenden Philosoph*innen, Forscher*innen oder Aktivist*innen haben sich hierzulande kaum mit den Schattenseiten gerade des Universalismus beschäftigt.

Das hat insofern allerdings in der Tat einen Grund, als Antikosmopolitismus und Antiuniversalismus Urständ feiern und der Rechtsextremismus und die Neue Rechte in ganz Europa und den USA eine sehr große Gefahr darstellen, was wiederum auch nicht unerhebliche Teile der „Israelsolidarität“ betrifft, die diese Gefahr nicht nur nicht sieht, sondern zuweilen ein aktiver Teil dieser rechten Szene (geworden) ist. Wahrlich dialektisch zu denken hieße wohl, den Partikularismus und dezidierten – mit Levinas argumentierenden, antifaschistischen und zionistischen – Antiuniversalismus des jüdischen Staates zu erkennen und zu verteidigen, aber gleichzeitig die anti­universalistische, anti­kosmopolitische, reaktionäre, nationalistische Rech­te und Linke wie den Mainstream in Deutschland und weiten Teilen Euro­pas, Amerikas und Russlands zu attackieren, und das massiv.

Mit einem US-Präsidenten Trump als „Freund“ – manche „Marxisten“ sehen in ihm gar Hegels „List der Vernunft“, manche Juden und gewisse Israelis (wie der israelische Innenminister Arye Dery) die Ankunft des „Messias“ und eine große amerikanisch-jüdische NGO (das Simon Wiesenthal Center, repräsentiert durch seinen Gründer und Vorsitzenden Rabbi Marvin Hier) betete für Trump auf dessen Inauguration – und der beschriebenen Gefahr der Einstaatenlösung braucht Israel seriöse, liberale, linke und demokratische Stimmen. Für die israelische Soziologin Eva Illouz, die sich an Sigmund Freuds Analyse des Unheimlichen anlehnt, indiziert die positive Reaktion auf Trump ein „Erdbeben“ in der „jüdischen Welt“.[1] Hatten Juden bislang gegen Antisemitismus und für Menschenrechte gekämpft, so stehen sie nun, so Illouz, angesichts von Trump in nicht geringen Teilen Seite an Seite mit antisemitischen Positionen und einer Unzahl weiterer auch für die Demokratie und die Menschenrechte (für alle Bewohner*innen) in Israel gefährlichen Gruppen, Personen und Tendenzen.

Das Kohelet Policy Forum wurde 2012 vom Mathematiker und Computerexperten Moshe Koppel gegründet. Koppel ist Professor für Computerwissenschaften an der Bar-Ilan Universität. Koppel stammt aus New York City und machte 1980 Aliyah und ging nach Israel.

Screenshot, https://www.haaretz.com/israel-news/2021-03-11/ty-article-magazine/.highlight/the-u-s-billionaires-secretly-funding-the-right-wing-effort-to-reshape-israel/0000017f-e90c-da9b-a1ff-ed6f5dd30000 (05.02.2023)

Zu den Hauptsponsoren des Kohelet Policy Forums gehören die beiden Multimilliardäre Jeff Yass und Arthur Dantchik. 1987 haben sie mit vier Studienfreunden vom Binghampton College in upstate New York die Firma Susquehanna International Group gegründet. Sie spielten Karten, vor allem Poker, und merken in Las Vegas, dass man damit auch an der Wall Street Geld, richtig viel Geld machen kann.

Screenshot, https://www.haaretz.com/israel-news/2021-03-11/ty-article-magazine/.highlight/the-u-s-billionaires-secretly-funding-the-right-wing-effort-to-reshape-israel/0000017f-e90c-da9b-a1ff-ed6f5dd30000 (05.02.2023)

Das Vermögen Susquehanna International Group wird von Forbes auf ca. 80 Milliarden US-$ geschätzt wird, die Anlagen, die sie verwalten, hatten 2018 einen Wert von 1,5 Billionen US-$. Der Börsencrash vom Oktober 1987 war wundervoll für die Firma, sie prosperierten und hatten 1988 bereits ein Vermögen von 30 Millionen US-Dollar. Entgegen Trump haben Yass und Dantchik keine Profilsucht, sie agieren im Hintergrund. Yass wird am 5. Februar 2023 auf Platz 38 der reichsten Menschen geführt, mit einem Vermögen von 38 Milliarden US-Dollar.

Zuletzt kamen Yass und Dantchik in die Schlagzeilen, unter anderem wegen ihrer Unterstützung von rechtslibertären Politikern in den USA, wie Haaretz berichtet:

Susquehanna International Group was based in Bala Cynwyd, an affluent suburb of Philadelphia. The choice to locate far from Wall Street exemplified their powerful desire for secrecy. “Stealthy and mysterious” is how Philadelphia magazine described the firm. Indeed, very little has been written about the pair of partners, who make a point of avoiding the limelight. As it happens, however, during the past two months, they found themselves in the headlines. Twice. In one case it was in a flattering business connection, relating to the immense profit they made from a small investment a decade earlier. The millions they gave a Chinese entrepreneur to invent the TikTok app are now worth $15 billion.

Neither Yass nor Dantchik are household names in Israel, or in the U.S., for that matter – and not by chance. The two billionaires are strictly low-profile, even though they are among the biggest donors to the Republican Party, notably its Trumpian wing.

The second occasion was less favorable. It occurred in the wake of the attempted coup at the Capitol on January 6. The riots sparked criticism of Donald Trump’s loyalists in Congress, particularly Senators Ted Cruz and Josh Hawley. Afterward, the criticism was extended to Trumpist donors, especially Yass, who is ranked sixth on the list compiled by Opensecrets.org of the major donors to all Republican candidates in 2020. Four years earlier he was the biggest donor to the libertarian candidate for president of the United States, Gary Johnson – Trump wasn’t enough of a libertarian for him.

Diese amerikanisch-jüdischen und israelischen Kreise sind politisch extrem rechts. Sie haben wie das Kohelet Policy Forum das umstrittene Nationalstaatsgesetz in Israel von 2018 mit formuliert, sind verbunden mit dem Tikvah Fund aus den USA, der wiederum im rechten und antisemitischen ungarischen Präsidenten Victor Orbán einen großen Anhänger hat, wie ein Treffen mit dem Vertreter des Tikvah Funds aus Israel mit Orbán zeigt, worauf Dr. Debra Shushan auf JStreet hinweist:

Screenshot, https://twitter.com/PM_ViktorOrban/status/1616091547371438080 (05.022023)

Shushan geht auf die Pro-Siedlungs Politik des Kohelet Forums und seiner Verbündeten wie dem Shilot Forum ein, das entgegen dem ursprünglichen Zionismus von 1948 und dem Völkerrecht beweisen möchte, dass Siedlungen auf palästinensischem Gebiet wie dem Westjordanland legal und legitim seien.

Screenshot, https://jstreet.org/shushan-street-meet-the-israeli-organization-behind-the-legislation-to-subvert-israeli-democracy-and-the-american-billionaires-that-fund-it/ (05.02.2023)

Darüber hinaus basiert das Kohelet Forum auf der Extremform des neoliberalen Kapitalismus. Staatliche Eingriffe, abgesehen von Behinderungen von Demonstrationen zum Beispiel!, sind Tabu, selbst systemimmanente Zuckerstückchen wie wohlfahrtsstaatliche Regulierungen werden abgelehnt. Der „freie“ Mark soll bestimmen, also survival of the fittest. Friss den Kapitalismus oder stirb.

Da werden sich die Gründerinnen und Gründer des jüdischen und demokratischen Staates von 1948, die häufig Sozialisten waren, im Grabe umdrehen.

Ein Text in Haaretz von Anshel Pfeffer vom 3. Februar 2023 sieht die dramatische Bedeutung von Yass und Dantchik und meint, dass die beiden als einflussreichste Juden Amerikas in die Geschichte eingehen könnten, wenn diese Reform des Justizsystems, das einer Zerstörung der Gewaltenteilung gleichkommt, durchgeht.

Screenshot, https://www.haaretz.com/israel-news/2023-02-03/ty-article/.premium/can-u-s-liberal-jews-change-israeli-politics-right-wing-jews-know-the-answer/00000186-124b-d559-adee-527b79000000 (05.02.2023)

Dabei hat Pfeffer die lange Vorarbeit der Neuen Rechten im Blick:

The plans of the Netanyahu government to drastically weaken the Supreme Court and effectively obliterate judicial oversight were authored by the Kohelet Policy Forum. This conservative think tank was founded by the American-born Moshe Koppel and heavily funded by American-Jewish libertarian billionaires Jeff Yass and Arthur Dantchik.

Kohelet didn’t invent the campaign against the Israeli legal system. Right-wing and religious politicians have been railing against the courts for decades. But it was Kohelet’s ruthlessly effective lobbying, the detailed blueprints for the court’s evisceration that they prepared and the placing of their people in strategic locations in Israel’s political structure that laid the groundwork for the lightning assault on Israeli democracy we have been seeing since the new government came to power five weeks ago.

Die immer noch konservative Jerusalem Post hat sich gegen die Kritik am Kohelet Forum verwahrt und dem Senior Fellow beim Kohelet Policy Forum David Weinberg Platz für seine Apologie gegeben, ohne einen einzigen Kritikpunkt an der extrem rechten und turbokapitalistischen, den Zionismus beschädigenden Pro-Siedler, Anti-Gewaltenteilung-Ideologie von Kohelet zu entkräften.

In einem Video zeigt Kohelet sein Unverständnis einer unabhängigen Gerichtsbarkeit. Beispielhaft regen sich die Macher*innen darüber auf, dass der Oberste Gerichtshof gegen Off-Shore Anlagen zur Gasgewinnung, gegen Ausnahmeregelungen der ultraorthodoxen Gemeinschaft vom Militärdienst, zuungunsten des freien Marktes oder allgemeiner gegen religiösen Extremismus geurteilt habe.

Schließlich habe ich in dem Buch „Der israelische Nationalstaat“ auch einen Beitrag von Gadi Taub publiziert, Taub ist ebenso (mittlerweile) ein extrem rechter Akteur.

Screenshot, https://www.972mag.com/new-right-jerusalem-conservative-conference/ (05.02.2023)

Das Magazin 972 berichtet:

I wrote several stories for Haaretz Magazine back when Golden was its editor; he was always kind to me, as was Taub when we ran into each other at a cafe after I wrote a piece attacking him. Nowadays, their paranoid style makes me uneasy. The two belong to a small yet influential group of high-profile “former leftists,” which includes Haaretz’s literary editor, Benny Ziffer, who has become an avid Netanyahu supporter, author Irit Linur, who hosts a popular talk radio show on IDF Radio (and is also a speaker at the conference), and the libertarian attorney Ari Shamay. (…)

Taken together, they introduce a certain sense of hipness, something strictly Tel Avivian, which separates the new right and the old one. And like their American counterparts, the use of irony and the shattering of liberal taboos are their main rhetorical tools. When Taub hosted Linur on his podcast, she opened by telling their audience she is speaking from her kitchen, “because this is where women belong,” a half-serious slight at the way so-called “woke” Israeli liberals see Linur. Taub, for his part, described how much he enjoyed the backlash to one of his tweets, which stated “You can’t solve the Palestinian problem because the Palestinians are the problem.”

But now, speaking before hundreds at the conference, Taub casts aside the irony and speaks directly: “The struggle now is not over the future of Judea and Samaria [the Israeli term for the occupied West Bank], but rather between nationalism and a global, post-national liberal elite that wants us governed by international treaties,” Taub tells the audience. “Being a conservative is being nationalist.”

In der rechten, kostenlosen, aber am meisten gelesenen Boulevard-Tageszeitung Israel Hayom wird eindeutig zum Ausdruck gebracht, was die Neue Rechte so extrem nervt – die Gleichheit der Menschen und damit Minderheitenrechte:

The defenders of the court ignore this 800-pound gorilla in the room: In the name of a passionate defense of minority rights, the court has abrogated its responsibility to the will of the majority.

Das liest sich wie ein Pamphlet der AfD oder von Trump.

Das ist der Hintergrund, vor dem die ach-so-pro-israelische Szene in Deutschland und den USA beleuchtet werden muss.

Es ist mir persönlich äußerst unangenehm, Leute wie Bakshi und Taub vor gerade mal sechs Jahren in diesem Sammelband von Oz-Salzberger und Stern übersetzt und publiziert zu haben, auch wenn ich mich schon 2017 klar und scharf gegen alle Rechten in Israel, den USA und gegen Netanyahu gewandt habe.

Screenshot, https://www.jpost.com/opinion/an-army-of-nine-million-644213 (05.02.2023)

Wer sich hinter die Konservativen, Neuen Rechten, Religiösen und Rechtsextremen stellt, stellt sich gegen den Zionismus, der ein vielfältiges und demokratisches Israel meinte, von Anbeginn. Wer das nicht will, ist kein Zionist, sondern ein ethnischer Rassist und Nationalist.

Seit 1948 galt es, gleiche Rechte für alle Menschen im Staat Israel zu gewährleisten. So hatte ich auch den Duktus von Fania Oz-Salzberger und Yedidia Z. Stern interpretiert. Stern jedoch hatte während der Coronapandemie sein autoritäres Gesicht gezeigt und die Israelis dazu aufgefordert, Bürger*innen, die sich nicht an die Maßnahmen halten würden, öffentlich an den Pranger zu stellen und zu beschämen. In einem publizistischen Tobsuchtsanfall lallte Stern in der Jerusalem Post – anders kann man das nicht bezeichnen – von einer „Armee von neun Millionen, um Corona zu bekämpfen“. Ich habe das in der Times of Israel (Blogs) scharf kritisiert.

Screenshot, https://blogs.timesofisrael.com/hope-is-in-the-air-the-israeli-common-sense-model-for-corona-in-context/ (05.02.2023)

Ironischerweise kann er sich da mit Aviad Bakshi ideologisch treffen, der ja wie eingangs zitiert, auch Wege suchte, um demokratischen Protest gegen die irrationale und wissenschaftsfreie Coronapolitik von Netanyahu im Herbst 2020 zu unterbinden. Jetzt spricht sich Stern vorsichtig gegen die Justizreform aus, aber sein Wutausbruch 2020 gegen die demokratische Kritik an der Coronapolitik mag viel eher eine Nähe zu Bakshi indizieren, als ihm lieb ist. Stern ist mittlerweile Präsident des Jewish People Policy Institute, heute, am Sonntag, den 5. Februar 2023 startet das Jewish People’s Institute eine Kampagne für einen Kompriss, für Dialog und gegen einen – tatsächlich sehen sie diese Gefahr! – „Bürgerkrieg“ („The Jewish People Policy Institute (JPPI) will launch a large campaign on Sunday calling for Israel’s leaders to reach a compromise on the government’s planned judicial reform under the slogan „No to coercion and violence, yes to dialogue,“ the Jerusalem Post learned on Thursday“).

Screenshot, https://www.jpost.com/israel-news/article-730429 (05.02.2023)

Eine zionistische Politik unterstützt die evidenzbasierte Medizin, wendet sich gegen die aggressive und antidemokratische Coronapolitik der Jahre 2020 und 2021, gegen das Verkaufen der Gesundheitsdaten der ganzen geimpften Bevölkerung an Pfizer/BioNTech und gegen die geplante Zerstörung der Gewaltenteilung in Israel.

Doch die Neue Rechte hat mit dem Kohelet Policy Forum ein enorm einflussreiches Instrument, um die Politik in Israel mitzubestimmen. Finanziert von extrem rechten Amerikanern, die de facto somit dem Zionismus schaden wie wenige amerikanische Juden in den letzten Jahrzehnten.

Ben-Gvir war jahrzehntelang ein Anhänger des jüdischen Rechtsterroristen und Rassisten Meir Kahane. Ben-Gvir ist wie Smotrich oder Moaz religiös-reaktionär, homophob und aggressiv.

Screemsjpt. https://www.bbc.com/news/world-middle-east-63780509 (05.02.2023)

Ben-Gvir möchte mit Besuchen auf dem Tempelberg provozieren, egal wie absurd es ist, dass Muslime durchdrehen, wenn dort ein Nicht-Muslim betet. Religion macht Menschen sehr schnell fanatisch, nicht nur Muslime, auch wenn suicide bombing eine besonders krasse und mörderische islamistische Spezialität ist.

Smotrich hat gar kein Problem damit, als Faschist bezeichnet zu werden, da es seinen rechtsextremen Wählern egal sei, sie teilen seine Position.

Screenshot, https://www.timesofisrael.com/smotrich-my-voters-dont-care-im-a-homophobic-fascist-but-my-word-is-my-word/ (05.02.2023)

Wie Meirav Arlosoroff in Haaretz zeigt, ist ein Papier des Kohelet Forums absurd, das beweisen möchte, dass Israel eine völlige Ausnahme ist im Kreise der entwickelten kapitalistischen OECD-Länder, was die Auswahl der höchsten Richter betrifft. Doch de facto, so Arlosoroff, werden in 24 von 36 untersuchten Ländern die höchsten Richterposten sehr wohl von der Judikative selbst vorgeschlagen, auch wenn im Entscheidungsprozess in 31 von 36 Ländern die Parlamente beteiligt sind, nur in Israel nicht. Wobei man sich darüber klar sein muss, dass gerade das Involviertsein der Parlamente eine extreme Abhängigkeit der Richter*innen bedeuten kann. Wer würde ernsthaft die völlige Unabhängigkeit von Merkel und der CDU von Seiten des aktuellen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe und ehemaligen Buddies von Merkel in der CDU-Bundestagsfraktion angesichts der katastrophalen Rechtsprechung zur Coronapolitik behaupten?

Screenshot, https://www.haaretz.com/israel-news/2023-01-22/ty-article/.premium/israels-most-influential-right-wing-think-tank-puts-agenda-over-data/00000185-d8d1-d3a8-a3cf-dff15c3f0000 (05.02.2023)

Ein sehr wichtiger Aspekt ist, dass Israel keine Verfassung hat – auch wenn sie, wie angedeutet, in Deutschland („Grundgesetz“) in Zeiten der größten Verfassungskrise seit 1949 auch nicht wirklich was bedeutete. Doch in der Argumentation gegen das Kohelet Papier von Vertretern des Israel Democracy Institutes, das früher wegweisend war, bis Kohelet die rechte politische Kultur in Israel pushte und heute maßgeblich die Politik beeinflusst, wenn nicht mitentscheidet, heißt es, so Arlosoroff:

Prof. Amichai Cohen, Dr. Guy Luria and Dr. Nadiv Mordechai from the Israeli Democracy Institute devoted an entire analysis of the Kohelet Forum’s study. They ask how it is possible to conduct an international comparison of the judicial selection process, and focus only on the question of whether the public’s elected representatives do the selecting, while ignoring the contexts surrounding the comparison. Thus, for example, the fact that the absolute majority of OECD countries have a constitution and a declaration of human rights which the elected officials have almost no ability to harm.

Letztlich fordern die Publizisten Yossi Klein Halevi, Matti Friedman und Daniel Goris in einem offenen Brief die Freundinnen und Freunde Israels in der jüdischen Community in den USA auf, sich lautstark gegen die geplante Justizreform in Israel zu wenden. Sie betonen, dass sie auch weiterhin mit aller Kraft Israel gegen Verleumdungen und Hetze in Schutz nehmen werden, womit sie sicherlich unter anderem die BDS-Bewegung meinen. Doch hier und heute sind sie vor allem in großer Sorge um Israel:

Screenshot, https://www.timesofisrael.com/an-open-letter-to-israels-friends-in-north-america/ (05.02.2023)

Today, though, protecting Israel also means defending it from a political leadership that is undermining our society’s cohesion and its democratic ethos, the foundations of the Israeli success story.

Man sieht allerdings auch hier einen offenbar in Israel inflationär einsetzbaren Begriff von Krieg, dabei ist Israel ja an tatsächlichen militärischen Kriegen nicht gerade arm. Doch es ist klar, was sie meinen:

We and our families, along with many tens of thousands of other Israelis, are in the streets every week demanding the government end its war against our democratic values and institutions. We need your voice to help us preserve Israel as a state both Jewish and democratic.

Wer also Israel verteidigen will, muss die aktuelle Regierung mit aller Kraft bekämpfen. Wer schweigt, stimmt zu.

Dabei ist Israel nur ein Puzzleteil im weltweiten neu-rechten Angriff auf Vielfalt, Kapitalismuskritik, Nationalismuskritik, Antifaschismus, auf Demokratie, Feminismus, soziale Gerechtigkeit, Gesellschaftskritik allgemein, LGBTQ+ und vieles mehr. Die Mischung aus neoliberalem Hedgefonds-Kapitalismus, Biopolitik wie zu Coronazeiten und in Zukunft im digitalen Überwachungskapitalismus, Autoritarismus und die Liebe zu autokratischem Herrschen, der Kampf gegen Gewaltenteilung ist weltweit ein riesiges Problem, Israel ist dabei nicht alleine.

Wer den Zionismus und Israel liebt, kämpft gegen die Besatzung des Westjordanlandes und gegen die Rassisten in der aktuellen israelischen Regierung wie ihre Wählerschaft. Das tun die Hunderttausenden, die seit Wochen auf die Straße gehen. Viele linke Zionistinnen und Zionisten, aber auch konservative sind darunter.

Wer den Zionismus und Israel liebt, kämpft gegen Netanyahu und seine rechtsextreme Regierung, die größte Gefahr, der sich Israel von innen heraus seit 1948 gegenübersieht.

 

 

[1] Eva Illouz, „An Earthquake in the Jewish World“, Haaretz, 01. Januar 2017.

Prä-Faschismus, Hysterie, Panik, Seuche – Wie Virologen, rechte Politiker und die Medien einfach mal die Demokratie abschaffen wollen oder Was heißt Aufklärung im Zeitalter des Coronavirus?

 Von Dr. phil. Clemens Heni, 12. März 2020

Siehe auch zwei sehr bedeutende kritische Texte des Journalisten Peter Nowak:

Im Griff des Sicherheitsstaats?, Peter Nowak

Es geht geht um die Rettung der Zivilität. Corona-Hysterie Was wir gegenwärtig in der Corona-Krise erleben, ist ein Angriff auf unsere Grundrechte. Wann beginnen sich die Menschen dagegen zu wehren?, Peter Nowak | Community , 13. März 2020

 

Zum ersten Mal seit dem Ende des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs gibt es in Europa wieder den staatlich verordneten Ausnahmezustand, demokratische Grundrechte wie Versammlungs- und Bewegungsfreiheit werden außer Kraft gesetzt, Geschäfte per Verordnung geschlossen und zwar alle Geschäfte außer Apotheken und Supermärkte, so geschieht es jetzt in Italien.

Es gibt in der europäischen Geschichte kein Thema, das die Massen so elektrisiert und sodann paralysiert wie die panische Angst vor Seuchen.

Von den paar Tausend Toten in China sind keine Kinder bis neun Jahren dabei. Von Jugendlichen bis 19 Jahren gab es einen Todesfall. Jede Schließung von Schulen und Kitas ist also empirisch völliger Schwachsinn und extreme Panikmache. Wenn manche Großeltern über 60 massive Vorerkrankungen der Lunge haben, sollten sie sich ggf. von anderen so gut es geht fernhalten. Das sind aber relativ sehr wenige Menschen.

Als „Experten“ geadelte „Virologen“ leisten sich derzeit täglich Übersprunghandlungen und schüren eine Panik, die weit über die fanatische Hetze gegen Sympathisant*innen der RAF im Herbst 1977 hinausgehen. Heutzutage werden mit Federstrichen alle Theaterhäuser geschlossen, Veranstaltungen völlig beliebig verboten, wenn sie mehr als 1000 Teilnehmende haben, Fußballspiele werden vor leeren Rängen durchgeführt, manche Ligen hören einfach vorzeitig auf (Eishockey z.B.).

Die Leute haben aber doch nur Brot und Spiele. Wenn die Spiele wegfallen ist ein explosives Zerfallen von Gesellschaften eine Frage der Zeit. Dabei wäre ein Überwinden des „Schweinesystems“ so sinnvoll wie schon immer, aber das ist mega unrealistisch. Die Revolte wird keine Revolution je werden, Sündenböcke werden gesucht und gefunden, wir kennen das aus der Geschichte. Die Aktien der Lufthansa fallen ins Nirwana, was so schlecht nicht ist aus ökologischer Perspektive. Jene der Computerspiele hingegen schießen im wörtlichen Sinne durch jede Decke.

Was diese extremste Krise, die Europa seit 1945 erlebt, zeigt, ist Folgendes: es geht nicht um die Rettung des Kapitalismus. Es geht um den Staat, der hat die Zügel vollkommen in der Hand.

Der Kern des Ganzen, den nur wenige sehen und noch weniger Leute ansprechen, ist also der Staat. Es geht dem Bundesgesundheitsminister, der Kanzlerin, den Virologen und den Medien nicht um die Gesundheit der Menschen und den Schutz der Bevölkerung. Es geht um die Panik, dass der Staat zusammenbrechen könnte, weil die Polizei zu viele Infizierte hat – mit einer Krankheit, die für fast alle überhaupt nicht dramatisch verläuft und äußerst wenige gesunde Menschen überhaupt daran sterben können. Aber die Panik wirkt, es geht um den befürchteten Staatsnotstand in Krankenhäusern und auf Polizeiwachen. Es geht nicht um den Schutz der Bevölkerung, die nämlich in ihrer Masse überhaupt nicht bedroht ist.

Was jedoch uns alle bedroht und die nächsten Jahre bedrohen wird wie sonst nichts (außer Nazis und Islamisten, eh klar) ist die Klimakatastrophe. Die Erderwärmung wird den Meeresspiegel steigen lassen, Hunger- und Dürrekatastrophen produzieren, in den Industrieländern in Häusern und Mietwohnungen, die noch keine Klimaanlagen haben, wird es nicht paar Tausend, sondern Zehntausende und Hunderttausende Tote geben alleine wegen der Hitze und der Tatsache, dass das Herz von Menschen über 80 oder auch von Jüngeren, die Probleme mit der Pumpe haben, bei 4 Wochen 40 Grad ohne Klimaanlage und 70 Prozent Luftfeuchtigkeit aussetzen wird. Das jedoch wird zu nichts führen, kein Ausnahmezustand, kein Aussetzen von Grundrechten, keine Präventiv-Quarantäne für ganze Länder, kein Autobahnfahren-Stopp für fünf Wochen oder ein Flugverbot für ein ganzes Jahr und kein Konsumstopp qua Schließen der meisten Läden, nicht mal ein Schließen aller Kohlekraftwerke („Es gibt kein Recht auf Kohlebaggerfahrer“) wäre drin.

Es ist absolut schockierend, wie selbst gleichgeschaltet die Leute hier und heute reagieren. Es ist nicht mal so, dass die ARD eine andere Meinung hätte als das ZDF oder RTL und n-tv, nein: alle basteln am Carl Schmittschen Ausnahmezustand und läuten den Präfaschismus ein, der ganz wenige Führer, Gesundheitsämter und -minister, Virologen und andere Schwätzer als alleinige Entscheider präsentiert.

Der Spiegel-Kolumnist und Professor für „Digitale Kommunikation“ Christian Stöcker hat das so auf den kritischen Punkt gebracht:

Und dann ist da diese andere potenzielle Katastrophe, ebenso global. Und wenn wir nicht bald zu handeln beginnen, ist sie noch weit gefährlicher als Covid-19 es je sein könnte. Glauben Sie nicht mir, glauben Sie den Ökonomen einer Bank, die bis heute ständig Großprojekte zur Ausbeutung fossiler Brennstoffe finanziert: ‚Wir können katastrophale Entwicklungen nicht ausschließen, die das menschliche Leben an sich, wie wir es kennen, bedrohen.‘ Das steht in einem geleakten internen Bericht der Bank JP Morgan.

Zur Illustration ein paar aktuelle Nachrichten zum Thema Klima:

Sprich: die Vertreter des kapitalistischen „Schweinesystems“, wie das Känguru sagen würde, wissen ob der katastrophalen Zukunft auf der Erde. JP Morgan weiß, dass diese Welt zugrunde gehen wird mit uns allen, allen Tieren und Pflanzen, wenn es so weiter geht mit den fossilen Brennstoffen, dem kapitalistischen Wachstum etc. pp. All die Mercedes-, Audi-, Lidl, RWE- oder VW-Arbeiter*innen wissen irgendwie ob des katastrophalen Zustands (von den AfD-Wähler*innen mal abgesehen), der vom Kapitalismus induziert wird, und trotzdem sind die Kinos (mittlerweile wohl eher: waren) voll und das Känguru wird zum kulturindustriellen Supersymbol der Heuchelei, Frühschicht bei VW und spätnachmittags mit den Lüttjen ins Kino. Dennoch ist es lustig.

Das Wissen ob des katastrophalen Zustands und der Klimakrise führt also zu keinerlei konsequenter Reaktion. Das Durchdrehen halb Europas jetzt wegen eines x-beliebigen (!) Virus, ist politisch extrem gefährlich. Es zeigt, dass die ganz große Masse einfach einem einzigen Führer – einem Virologen – Glauben schenkt, egal wie inkonsistent oder ins Blaue hinein dieser vor sich hinredet. Wie alle wissen, ist dieses Virus nicht besonders tödlich, ob es besonders ansteckend ist, weiß kein „Experte“. 80.000 Infizierte (3100 Tote) in einem Land wie China mit weit über einer Milliarde Einwohner*innen ist eine sehr geringe Zahl.

Viel sinnvoller ist hingegen ein Einwurf des „Eppendorfer. Zeitung für Psychiatrie und Soziales“:

Der Göttinger Angstforscher und Psychiater Borwin Bandelow (68) rät zu einem ‚gesunden Fatalismus‘ im Umgang mit der Ausbreitung des Corona-Virus in Deutschland. ‚Wir hatten ähnliche Fälle mit der Vogelgrippe oder dem viel gefährlicheren Sars-Virus‘, sagte Bandelow dem Evangelischen Pressedienst (epd). Immer wenn eine neue Gefahr auftauche, erwüchsen für einen gewissen Zeitraum Ängste. Menschen gewöhnten sich aber an neue Situationen. Ein Problem sehe er momentan eher in überzogenen Gegenmaßnahmen. Die Angst vor der Ausbreitung und Ansteckung sei nicht ganz unberechtigt oder irrational, sagte der Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Göttingen. Menschen seien bereits daran gestorben, und Corona scheine gefährlicher als ein Grippevirus zu sein. Auf der anderen Seite seien bei der großen Grippewelle 2017 und 2018 rund 25.000 Menschen gestorben. ‚Und das stecken wir weg, weil wir gelernt haben, dass das zum Leben dazu gehört.‘ (…) Dazu passt: Der Leserbrief des Tages in der taz: ‚Das Coronavirus ist ein Wis­sen­schafts­pro­blem‘, schr[ei]bt dort Gerd Büntzly aus Herford: ‚Wir wissen zu viel darüber. In der Geschichte hat es viele Virussorten gegeben, die nacheinander die Menschheit heimsuchten, aber da man nichts über sie wusste, wurden sie als Schicksal hingenommen.‘ Für gesunde Betrof­fene gehe eine Infektion entweder ohne Symp­tome oder nur mit Schnupfen und Husten einher. ‚Wir erleben ein Missverhältnis zwischen der erwarteten gesundheitlichen Gefährdung und den drastischen Maßnahmen gegen die Ansteckung. Welch ein Schaden würde entstehen, wenn sich das Virus unbegrenzt verbreitete? Sterben würden alte und geschwächte Personen, denen es eigentlich egal sein könnte, welches Virus sie aufschnappen. Aber weil wir genau wissen, an welchem Virus sie sterben werden, gilt es als unethisch, dessen Verbreitung zuzulassen.

Jetzt wäre die Zeit für Michel Foucault. Nie waren Überwachen und Strafen, Gesundheit und Wahn so eng beieinander wie heute. Es gibt ja schon Maßnahmen wie das Überwachen von Handys oder Computern, damit der Staat genau weiß (bzw. noch vor ihm die Telefongesellschaften, Facebook, WhatsApp, Instagram, Google, Apple, Amazon, Microsoft etc.) wer sich wo aufgehalten hat, mit wem wann wie lange wo Kontakt hatte und somit via Handy (oder alsbald oder schon jetzt Tablet, Laptop, Computer, E-Book-Reader etc.) alles orten kann. Da kann man wie die alten Maschinenstürmer diese Geräte ausschalten oder nicht mit sich führen, wenn man auf eine Party geht, aber wer macht das?

Jedenfalls ist die Diskrepanz zwischen dem Nicht-Handeln bezüglich der Klimakatastrophe und dem völlig irrationalen, panischen Soforthandeln bei diesem Virus eklatant. Jetzt, wo wir in Deutschland drei Tote wegen dem Virus zu beklagen haben, völlig durchzudrehen, indiziert, dass ein Ende überhaupt nicht absehbar ist. Wie soll denn die Begründung Mitte April lauten, jetzt wieder alle Theater, Fußballspiele, Universitäten etc. zu öffnen, wenn bis dahin sicher noch ein paar mehr Menschen sich infiziert haben werden, wenn schon wirklich wenige Tote zu solchen extrem krassen Maßnahmen führen?

Die selbst ernannten Experten werden sagen, man müsse das präventiv machen, sonst wäre es zu spät. Zu spät bei einem Virus, der noch kaum erforscht ist und bei sehr wenigen und fast immer ohnehin bereits kranken Menschen tödlich verläuft?

Der irrationale Wahnsinn sieht so aus, dass viele Menschen Panik haben oder sie sich täglich etwas mehr einreden lassen, da alle großen Medien seit Tagen kein anderes Thema mehr kennen als diesen Virus, infiziert zu sein – ohne jedes Symptom, weil dieser Virus bei vielen völlig ohne Symptome auskommt, man aber andere anstecken könnte. Könnte. Und das bei nur gut Tausend Infizierten in zehn Wochen in Deutschland, seit das Virus Ende Dezember 2019 in China entdeckt wurde.

Wie reibungslos alle mitmachen und sich selbst in Quarantäne begeben, wie zutiefst rassistisch Deutsche und andere mit asiatischem Aussehen jetzt gemobbt werden, das zeigt, dass die Demokratie hier nie ankam und auch andernorts äußerst fragil ist. Es ist genauso wahrscheinlich, dass ein chinesisch aussehender Mensch kürzlich in China war wie eine Freundin, die bei Lidl für den Einkauf von Waren aus China zuständig ist. Lediglich nach äußerlichen, rein rassistischen Kriterien Menschen zu sortieren oder asiatische und italienische Restaurants zu meiden, zeigt wie schnell die Politik einen massenhaften Rassismus schüren oder ihm Vorschub leisten kann.

Manche loben gar diese autoritären Maßnahmen und Freiheitsbeschneidungen und wollen diese dann auch auf sinnvolle Bereiche wie den Kampf gegen Nazis, gegen die Klimakrise und für Flüchtlinge einsetzen. Doch antidemokratische Maßnahmen waren noch nie mit radikalem Antifaschismus vereinbar. Sonst sind wir auch ganz schnell beim Querfrontler Bodo Ramelow, der mit der rechtsextremen AfD in Thüringen sogar entgegen der Mehrheitsposition seiner eigenen Fraktion und Regierung kooperierte und einem AfDler seine Stimme zur Wahl als Landtagsvizepräsident gab und darauf auch noch stolz ist.

Es wäre die große Zeit für Michel Foucault. Aber dieses Land hat keine selbst denkenden Menschen mehr (hatte es sie jemals in größerem Maße?), nur noch fleischliche und vegane Hanswürstchen, die gerne auf Kommando apportieren und jede Freiheitsberaubung und Panikmache als vorgeblich dem Wohle der Menschen dienlich goutieren oder bejubeln.

Dabei geht es Spahn und den Virologen nicht um die Menschen, es geht ihnen um den Staat, der muss funktionieren. Und dafür werden wirklich alle Register gezogen. Dagegen war der Herbst 1977 ein Kinderspiel. Jetzt ist Zeit für die ganz großen autoritären Maßnahmen und das Aussetzen der Demokratie für alle. Aus der Kommunistenjagd wird die Virusjagd und Infiziertensuche. Traumhafte Voraussetzungen für den Faschismus. Nicht zuletzt für den kommenden Technik- und Überwachungsfaschismus.

Angst zu schüren, um das als Legitimation des Abbaus von Menschen- und Freiheitsrechten zu benutzen, war schon immer ein Hauptingredienz von Faschismus.

Aufklärung heißt, skeptisch zu sein. Es steht nicht weniger als die Demokratie auf dem Spiel und die individuelle Freiheit, die einige PolitikerInnen und Virologen in wenigen Tagen leichtfertig aufs Spiel setzen, manche naiv und unbedacht, andere hingegen sehr strategisch und geplant.

Kinderfrei statt Kinderlos – der staats- und kapitalismuskritische Feminismus hat ein neues Manifest (Rezension des Buches „Kinderfrei statt Kinderlos“ von Verena Brunschweiger, März 2019)

Von Dr. Clemens Heni, 18. März 2019

Das Buch „Kinderfrei statt Kinderlos. Ein Manifest“ der 1980 geborenen Mediävistin Verena Brunschweiger ist eines der wichtigsten aktuellen gesellschaftskritischen Bücher. Es ist ein Genuss, es zu lesen. Es bringt den radikalen Feminismus wieder auf ein Niveau der 1970er Jahre und zeigt, wer eigentlich das größte Interesse an einer „pronatalistischen Bevölkerungspolitik“ hat: der Staat und der Kapitalismus.

Dr. Verena Brunschweiger (copyright: büchner-verlag.de)

Das locker geschriebene Manifest, das sich häufig auf Beispiele aus den USA, Kanada oder auch Großbritannien und Frankreich bezieht, zeigt die Weltgewandtheit der Autorin sowie ihre radikal feministische, Frauen stärkende und das Patriarchat kritisierende Haltung.

Brunschweiger setzt mit alltäglichen Phänomenen ein wie dem Geburtstag einer 40jährigen Frau. Es ging bei diesem Feschtle offenbar gar nicht um jene ersten 40 Jahre einer Frau, um ihr Leben, ihre Erkenntnisse, Träume, Enttäuschungen, Hoffnungen, politischen oder sonstigen Kämpfe, nein, es ging ausschließlich um Kinder, um „Kinderturnen“, „Kinderschuhe“ oder „Kinderschwimmen“.

Es geht in dem Buch gerade nicht um Frauen, die kinderlos sind, sondern um selbstbestimmte Frauen, die aus freien Stücken keine Kinder haben, also kinderfrei sind. Die Autorin lehnt sich an die britische Autorin Tracy Kind an und schreibt:

Sie findet, dass der neuere Ausdruck die volle Sprengkraft transportiert, die in diesem Modell enthalten ist: Kinderfrei leben heißt, gegen soziale Erwartungen zu rebellieren und die Normen der Gesellschaft herauszufordern. (11)

Es geht um die Kritik am „neokonservative[n] Kult ums Kind“, der „für kinderfreie Frauen nur nachteilig sein könne“, wie sie sich an die Zeit-Autorin Tanja Dückers anlehnt. Die heutigen Frauen würden die lockeren 70er und 80er Jahre, als es noch Feministinnen gab, die selbstverständlich ohne Kinder lebten, gegen die miefigen 50er Jahre eintauschen. (17)

Ein „Großteil des Feminismus“ würde die „kinderfreien Frauen“ verraten (22), was Brunschweiger sehr eloquent und mit vielen internationalen Beispielen von Kritikerinnen des Kinderkriegen-Fetischismus unterstreicht. Für schwarze Frauen sei es besonders schwer, sich vom Kinderkriegen loszusagen, wie sie am Beispiel der Ivorerin Nina Steele zeigt, deren Mutter ihr immer wieder „magische Tränke“ schicke, damit die „Fruchtbarkeit“ von Nina und ihrem Mann steige. (25)

Dann kommt die Autorin zu einem Kernaspekt ihrer Kritik:

Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Vorschlag von Gesundheitsminister Jens Spahn, Kinderfreie und Eltern bei den Sozialbeiträgen unterschiedlich stark zu belasten. Allein auf die Idee zu kommen, eine Minderheit zu zwingen, einen erheblichen Teil der Kosten für ein Projekt aufzubringen, das nicht ihres ist bzw. sogar völlig gegen deren innerste Überzeugungen geht, ist ausgesprochen bedenklich. (34)

Und dann attackiert Verena Brunschweiger die zentrale Ideologie und Großlüge aller Kinderanbeter*innen:

Angeblich bräuchten die sozialen Sicherungssysteme Kinder. Nein. Der Kapitalismus und das momentane Wirtschaftssystem brauchen Kinder. (34)

Sie bezieht das auf die ökologische Dimension, was völlig richtig ist, aber natürlich noch viel weiter geht. Denn ihr Satz ist noch viel wahrer, als sie vielleicht ahnt. Ohne die Pro-Kinder-Ideologie würde jede Bausparkasse, jede Fernsehwerbung mit Kindern zur besten Sendezeit und jede Haushaltsplanung für die nächsten Jahrzehnte den Staat in seinen Grundfesten erschüttern. Alleine ein Moratorium des Kinderkriegens von 5 oder 10 Jahren würde das System des Staates und des Kapitalismus, wie wir es kennen, womöglich an den Rand des Zusammenbruchs bringen können.

Sehr interessant sind auch die eher kulturphilosophischen oder anthropologischen Aspekte des Manifests. Was unterscheidet den Mensch von Tier? Dass Menschen frei entscheiden können. (35) Doch in puncto Fortpflanzung verhalten sich doch fast alle Menschen wie Tiere und das wird auch noch beglückwünscht, wenn eine Frau mit dem typischen Schwangeren-Grinsen, das sonst nur Alexander Dobrindt oder evangelikale Christen drauf haben, verkündet: „Ich bin schwanger“. Da würde jede Kuh sagen: „Was für eine Leistung, das kann ich auch.“ Entscheidet sich eine Frau aber aus freien Stücken gegen ein Kind, dann ist auch eine Kuh oder eine Amsel sprachlos, das kennen sie nicht (und die schwulen, nachwuchslosen Pinguine in der Antarktis sind wirklich eine Ausnahme und bestätigen die Regel).

Was Brunschweiger gar nicht erwähnt, passt gleichwohl zu ihrem Ansatz, der sich einen „Gebärstreik“ (134) wünscht: Schon Ende des 19. Jahrhunderts und dann 1913 und während des Ersten Weltkriegs gab es Debatten in der sozialistischen Bewegung über einen Gebärstreik. Damit sollte die Zahl der ausbeutbaren Arbeiter*innen gesenkt werden (die Löhne erhöht) bzw. keine potentiellen Soldaten gezeugt werden. Bekanntlich war die Mehrheit auch der sozialistischen wie kommunistischen Bewegung gegen einen Gebärstreik, da sie wie an einem Fetisch an der Masse der Arbeiterklasse festhielt. Es ging bei der Debatte um Gebärstreik auch um Abtreibung und Geburtenregelung, sprich: Verhütungsmethoden. Das war nicht nur dem Kaiserreich, sondern auch den meisten Führer*innen der Arbeiterklasse suspekt.

Heutige, emanzipatorische feministische freche Sprüche wie „Save the earth, don’t give birth“ führen zu spontanen Wutausbrüchen von Normalo-Frauen/Eltern. (36) Verena Brunschweiger geht auf diesen sehr alten patriarchalen Topos ein: Mutter oder Hure. Das gilt in Zeiten der internalisierten Imperative der Pornoindustrie wie der Gebärmaschinen nicht weniger. Frau kann gar nicht mehr wählen zwischen „Beinhaarentfernung“ (39) ja oder nein, so wenig wie Kind – ja oder nein. Die Rasur wie die Fortpflanzung sind so aggressiv im Mainstream durchgesetzt in den letzten Jahren und Jahrzehnten, dass einem schwindlig wird. Im Zeitalter der Hipster könnte man hinzufügen: je bärtiger die Männer, je mädchenhafter, vollrasierter werden die Frauen …

Aber nicht alle Frauen stehen auf den neuen Mann:

Dieselbe Suche nach Applaus glänzt in den Augen der daddiots, wenn sie in den Bioladen rollen und nonchalant die anwesenden jüngeren Frauen mustern, vor allem natürlich die ohne Kinder. Sie scheinen zu glauben, sie kämen bei allen supergut an, bloß weil sie einen Kinderwagen schieben. Hilfe… Aber hier sind Neuigkeiten. Es gibt Frauen, die nicht hingerissen sind beim Anblick eines Vaters und seines Babys. Und es gibt Frauen, die Solidarität mit den gerade abwesenden Müttern empfinden, wenn der daddiot seine Flirtversuche startet. (89)

Da zeigt sich der feministische Drive von Brunschweiger, die im Zweifelsfall solche daddiots noch deutlich übler findet als die mombies, die ja das Kind bekommen haben.

Ellen Peck hat viele dieser Mythen offenbar schon 1971 analysiert, wie Brunschweiger zeigt und auf hohem Niveau sozialpsychologisch wie kulturtheoretisch das Private politisch werden lässt:

Peck war es auch, die bereits in den 1970er Jahren feststellte, dass ein weiterer kritikwürdiger, aber oftmals geleugneter Fortpflanzungsgrund das narzisstische Bedürfnis ist, eine kleine Version von sich selbst herzustellen. Mini-Me-Alarm also. Oder besonders rührend: ‚Die schönen Augen von Andreas/Stefan/etc., stell dir mal vor, wenn das Kind die dann auch hat!‘ Dennoch: die Freude am Original scheint letztlich nicht auszureichen, weswegen die Vervielfältigung des präferierten Körperteils ins Werk gesetzt werden muss. (40)

Das in drei Teile plus dem Manifest gegliederte 150 Seiten dünne Buch hat enorme Sprengkraft und zeugt von einer gehörigen Portion Mut, zumal als Gymnasiallehrerin, die permanent mit Müttern, Vätern und Eltern – und Kindern zu tun hat. Hass auf Kinder scheidet also als Motivlage schon mal aus, sonst hätte Brunschweiger kaum diesen Beruf gewählt. Der Lärm einer Schule tut sein Übriges – kann aber auch ein Grund sein, warum sie völlig zu Recht und mit Vehemenz Wohnmodelle aus Kanada oder USA anführt, die Mietkomplexe nur für Erwachsene bauen.

Damit sind gerade keine Altensiedlungen gemeint, sondern alle Erwachsenen ab 18 oder 21. Es gibt ja auch „Adults-only-Hotels“ (98) und die sind begehrt. Der von vielen als süß oder herzig verniedlichte Lärm von Babies, Kleinkindern und Kindern bis zum Teenageralter in Mietshäusern ist in der Tat eine enorme Plage. Solchen Familien wenn, dann nur Erdgeschosswohnungen zu geben, wäre das eine. Etwas anderes eben solche Wohnhäuser, wo gar keine Kinder und Familien wohnen dürfen. Die Autorin erwähnt auch, dass Lärmklagen bei der Polizei in diesen Fällen fast immer zwecklos sind, Kinderlärm wird kategorial anders gewertet als der Lärm von Erwachsenen. Dabei ist letzterer ja in der Tat auch ein massives Problem, wer je in Berlin gelebt hat in einem ganz typischen Mietshaus mit den ganz typischen Mitte 20jährigen Egomanen, wo anstelle des Großhirns ein Matsch aus Alkohol, noch härteren Drogen und Techno-Stampf sich befindet, kennt das Phänomen, und zwar 24/7 – wobei die Kids, selbst die krassen und lärmenden, doch zumindest 8–12 Stunden am Tag ruhig sind.

Es gibt wirklich Leute, Akademiker*innen oder Publizist*innen mithin, die einem im Zweifelsfall, angenommen es geht um einen besonders üblen Job, den sie oder er doch angenommen hat, ernsthaft sagen „Du, ich hab ja jetzt eine kleine Familien, da muss ich das Geld ranschaffen“. Das war wohlgemerkt die Begründung dafür, einen Job oder ein Fellowship anzunehmen bei einer Einrichtung, was die Person früher nicht getan hätte und auch gar nicht ersichtlich ist, ob das für das Überleben (!) not-wendig ist. Selbst mit Hartz 4 stirbt man ja nicht, by the way, ohne dieses unerträgliche kapitalistische Folterinstrument mit einer Silbe gutzuheißen. Aber diese Betonung, einen Job wegen den Kindern machen zu müssen, der hält sowohl den Staat wie den Kapitalismus am Laufen, das ist gewünscht. Da können die gleichen Leute in ihrer Freizeit so dissident schreiben wie sie wollen, im Kern stabilisieren sie das System.

Sehr gut sind auch die Ausführungen von Verena Brunschweiger bezüglich des Alltags von Freiflächen oder Brunnen, die von Müttern (seltener: Vätern) als Eigentum der Kinder betrachtet werden. Kinder dürfen überall lärmen, im Bus schreien und die Autorin bringt Beispiele, die alles andere als herbeigezogen klingen, dass es Mütter gibt, die absichtlich in volle Busse mit ihrem überdimensionierten Kinderwagen gehen, zur Rush-Hour, damit die 99 anderen Fahrgäste auch mal was von einem 7 Minuten tobsuchtsartig schreienden Baby haben, das durchaus Panik kriegen kann bei einem völlig überfüllten Rush-Hour Bus.

Es ist traurig, so Brunschweiger, wie „aus der einst coolen Studentenstadt“ Regensburg, „Mamitown“ (66) geworden ist. Es gibt in Italien Hinweisschilder, dass „ein Zierbrunnen kein Schwimmbad“ ist (67).

Dieser Wandel hat den Charakter öffentlicher Plätze stark verändert – ein Phänomen, das Elisabeth Badinter auch für Paris festgestellt hat. Familien mit Kindern besetzen immer mehr Orte, vor allem in räumlicher, aber auch in akustischer und olfaktorischer Hinsicht – wenn der Nachwuchs beispielsweise direkt auf dem Nachbartisch im Café gewindelt wird. Man mag das als nörgelnde Klage einer Kinderfreien verstehen, die diesen geteilten öffentlichen Raum gelegentlich einfach mal dafür nutzen möchte, in Ruhe ein Buch zu lesen. Aber die Veränderung durch den zunehmenden Fokus auf die Befindlichkeiten von Familien und ihren Nachwuchs ist real. Die Umnutzung des historischen Brunnens in ein Massenplanschbecken mag für viel Freude bei den Planschenden sorgen, aber sie steht auch dafür, dass in der Verwandlung der Öffentlichkeit in einen einzigen Kinderspielplatz etwas auf der Strecke bleibt. (66 f.)

Man könnte hinzufügen: „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas) mal ganz anders betrachtet.

Eine besonders provokante, aber massiv unterfütterte These von Verena Brunschweiger ist folgende:

Es ist eine Zumutung, von kinderfreien Frauen ständig Erklärungen für ihre Entscheidung zu fordern. Es bedarf einer neuen sozialen Norm, die umgekehrt von Eltern eine Erklärung dafür erwartet, warum sie glauben, gerade sie hätten das Recht, unser aller Leben auf diesem Planeten noch weiter zu gefährden. (50)

Ein Kind verbraucht ca. 60 Tonnen Kohlenstoffdioxid (CO2) – pro Jahr. (122) Das ist ungefähr das 30-fache, was ein Kind aus Afrika südlich der Sahara braucht bzw. verbrauchen wird und kann (112). Ebenso logisch und durchdacht ist Brunschweigers Hinweis darauf, dass es doch fast allen Frauen nicht um das Kind an sich geht, sonst könnten sie in Waisenhäuser gehen oder Kinder adoptieren – es gibt unendlich viele Kinder, die keine Eltern haben oder völlig perspektivlos sind, weil sie zu viele Geschwister haben. (123)

Aber es geht um das EIGENE Kind, das eigene Blut, die eigenen Gene. Es geht um den Narzissmus, das eigene Blut muss es sein – was ja sehr viele (man denke nur an die Schreibtische von Angestellten in ihren besser als Vorhölle zu bezeichnenden Büros) durch das obsessive Zeigen von Bildern der Kinder oder der Familie dokumentieren. Viele haben im eigenen Haus oder der Wohnung primär Bilder von sich selbst hängen oder von den Kindern und Enkelkindern sowie natürlich – in Deutschland besonders elendig – von Vater, Großvater und Mutter und Großmutter, gerade auch aus der Nazi-Zeit.

In diese Kontinuität stellen sich alle nur zu gerne. Manche, wie der Milliardär und Mäzen des Fußball-Vereins TSG Hoffenheim aus Baden-Württemberg (dem „Kraichgau“), Dietmar Hopp, finden es wiederum aufgrund der Kinder völlig nachvollziehbar, dass sein Nazivater 1938 die örtliche Synagoge zerstört hat, hätte er es nicht getan, wäre die Zukunft der Familie auf dem Spiel gestanden, wie Michael Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen schreibt:

Dietmar Hopp kennt natürlich diesen Teil der väterlichen Biografie. Und selbstverständlich distanziert er sich davon. ‚Was er getan hat, ist zu verurteilen‘, erklärte der Unternehmer der FAS. Hätte er es nur bei diesem einen Satz belassen. Stattdessen schob er sofort eine Art Relativierung nach: ‚Auch wenn niemand dabei gestorben ist.‘ War also nicht so schlimm. Ein Fall von minder schwerer Schuld, sozusagen.

Und weil Dietmar Hopp gerade schon dabei war, folgten gleich noch die mildernden Umstände. ‚Mein Vater war Lehrer. Als er 1938 den Auftrag bekam, die Synagoge in Hoffenheim zu zerstören, hatte er schon drei Kinder, meine älteren Geschwister. Hätte er es nicht gemacht, wäre er entlassen worden, und seine Familie wäre einer hoffnungslosen Zeit entgegengegangen.‘

In einer solchen Nazi-Kontinuität steht so gut wie jede ganz normale deutsche Familie. Den Antisemitismus seiner Aussage wird Hopp weit von sich weisen und doch ist er unverkennbar und so widerlich wie der von allen anderen ganz normalen Deutschen, die sich den Holocaust und ihre eigene Familiengeschichte schön reden. Wegen der Kinder tun Deutsche wirklich alles – auch Synagogen zerstören, ist ja für einen guten Zweck! Das ist nicht 1951, das ist 2019.

Eine soziologische Kategorie bei Brunschweiger ist die der Freundschaft. Auch hier sind die Bemerkungen der Autorin treffend und kritisch: Die Ideologie der sich um die Eltern kümmernden Kinder zerstiebt, sobald es um Gespräche auf Augenhöhe von Gleichaltrigen auch im Alter geht. Da haben womöglich kinderfreie Frauen und Männer, die ihr Leben lang Freundschaften nicht aus Pragmatismus und Mittel-Zweck-Berechnung pflegten, sondern aufgrund ähnlicher kultureller, philosophischer oder politischer Interessen, mehr sozialen Kontakt.

Ein paar Wermutstropfen: die Autorin geht en passant immer wieder sehr unkritisch auf die vegetarische und vegane Bewegung ein, verpasst mitunter den kategorialen Unterschied von Mensch und Tier und nimmt gar den menschenverachtenden Utilitaristen Peter Singer in ihr Literaturverzeichnis auf. Das geht gar nicht. In einer Ankündigung für eine Veranstaltung mit dem linken Publizisten Peter Bierl in Bremen am 22. März 2019 heißt es treffenderweise:

Wenn Peter Singer auftritt, protestieren Behinderten-Initiativen und Antifaschist_innen, denn für den Philosophen sind Behinderte, Demente und Neugeborene Menschen zweiter Klasse. Er verharmlost Euthanasie als Erlösung und empfiehlt sie als Methode, um Geld zu sparen. Diese Haltung durchzieht sein Gesamtwerk und ist exemplarisch für eine rohe Bürgerlichkeit, die sich breit macht. Sie zeigt sich am Erfolg von Thilo Sarrazin. Dessen Buch Deutschland schafft sich ab war 2010 der Bestseller in der Kategorie Sachbücher. Muslimische Einwanderer_innen sowie Empfänger_innen von Hartz IV denunziert er als minderwertigen Erbguts. Der Staat sollte besser bio-deutschen Frauen aus der akademischen Mittelschicht mehr Geld geben, damit sie neben Studium und Karriere Kinder kriegen. Die AfD hat die Vorschläge übernommen. Dabei stehen weder Singer noch Sarrazin politisch rechts. Der Sozialdemokrat Sarrazin trieb als Finanzsenator in Berlin in einer Koalition aus SPD und PDS den Sozialabbau voran, Singer war für die australischen Grünen aktiv, ist prominenter Vordenker von Tierrechtsbewegung und Veganismus und plädierte für eine neue darwinistische Linke. Beide sind Wiedergänger einer Rassenhygiene, die in der Linken schon einmal Anklang fand.

Einige Bezugspunkte von Verena Brunschweiger sind also schon bedenklich. David Benatar scheint so ein Fall zu sein, der offenbar die Idee hatte, Verhütungsmittel über das Trinkwasser zu verbreiten (!). Das schmeckt doch sehr nach Ökofaschismus. (128 f.) Völlig grotesk, ja regelrecht skandalös und das ganze Unterfangen völlig unnötig in eine Schieflage bringend, ist auch Brunschweigers Bezug auf eine Gruppe wie „Church of Euthanasia“, die ernsthaft so heißt, 1992 in den USA gegründet wurde, und auch in Deutschland aktiv ist.

Diese Gruppe ist gegen Samenbanken (was noch verständlich ist), aber auch grundsätzlich gegen Fortpflanzung und für Suizid. Warum sie sich dann nicht gleich alle umgebracht haben und uns nicht mit diesem Pro-Nazi-Gruppennamen – wer sich für Euthanasie ausspricht, ist ein Nazi oder Pro-Nazi – belästigen würden, ist eine offene Frage. Da hätte das Lektorat des Büchner-Verlags aus Marburg doch genauer hinschauen sollen. Brunschweiger schreibt, diese „Church of Euthanasia“ würde „coole Performances“ machen (119) wie das „symbolische Vergießen von Sperma“. Mit diesem Gruppennamen hat sich jede Aktion ins Abseits manövriert. Euthanasie bedeutete das Ermorden von Zehntausenden Menschen im Nationalsozialismus, die nicht der „Norm“ entsprachen. Damit kann man keine Spielchen treiben und sich diesen Namen geben, wie ironisch oder sarkastisch das immer angeblich gemeint sein mag – es kann auch wörtlich gemeint sein.

Auch die mehrfache Verwendung des Adjektivs „abartig“, das in Deutschland sehr weit verbreitet ist, kann nicht unkommentiert bleiben, da dies ins „Wörterbuch der Menschenfeinde“ gehört und ein Nazi-Unwort ist, das eine „Art“ meint (die völkische, deutsche), und Abweichungen davon als „Abart“ oder „abartig“. Der Historiker und Aktivist gegen Rechtsextremismus Jan Buschbom schrieb schon 2012 zu diesem und anderen problematischen Wörtern:

Kaum eine Familienfeier im humanistischen Milieu, kein Abend unter liberal gesinnten Zeitgenossen, keine bildungsbürgerliche Veranstaltung, auf der nicht irgendjemand – unwissend, ignorant oder testweise – Begriffe verwendet oder Thesen in die Welt setzt, die zu einer anderen Zeit in Deutschland verwendet und geprägt worden sind, um einer zutiefst unmenschlichen Ideologie den Boden zu bereiten. Einer Ideologie, die ganz ohne Witz und ohne dass jemand noch etwas sagen durfte, auf die Vernichtung von Menschen ausgerichtet war, die den Maßstäben der selbsternannten „Herrenrasse“ nicht entsprachen. Im „Wörterbuch der Menschenfeinde“ weisen wir den Ursprung dieser Begriffe nach, aber auch den menschenverachtenden Zweck und das tödliche System, dem sie dienten. Damit niemand mehr behaupten kann, ‚davon habe ich nichts gewusst.‘

Buschbom führt dann im Detail aus, warum das Adjektiv „abartig“ ein Nazi-Wort ist. Also: Weg mit diesem widerlichen Adjektiv „abartig“!

Das Manifest von Verena Brunschweiger ist in unserer heutigen Zeit, wo Kinder sowohl von Rechtsextremen und Neuen Rechten wie von Muslimen und Islamisten gleichermaßen als absolut zentrales reaktionäres Element der Gesellschaft herbeigevögelt werden, von enormer Bedeutung.

Love, Sex und Rock’n’Roll haben die Frauen befreit. Frauen sind namentlich seit 1968 nicht mehr als Gebärmaschinen degradierbar, ohne auf Widerstand zu stoßen. Dieser Widerstand war jedoch jahrzehntelang eingeschlafen. Die Autorin erweckt ihn und haucht im neuen Mut ein.

Für Jens Spahn, Frauke Petry, die evangelische wie katholische Kirche, muslimische Verbände wie jihadistische Kämpfer gibt es nichts Wichtigeres als Frauen nur dann als Frauen und als (natürlich dennoch niemals „vollwertige“) Mitglieder ihrer Gesellschaften zu akzeptieren, solange sie sich und somit die bestehenden Strukturen reproduzieren.

In Zeiten, wo Professor*innen völlig ungeniert mit ihren Kindern in Editorials für Fachzeitschriften werben, wo Kolleg*innen in ihren Lebensläufen (CV) ernsthaft aufführen, wieviele Kinder sie haben, wie sie heißen und wann sie geboren sind (und welche Früh- oder Fehlgeburt wann starb, kein Sarkasmus hier, nur Deskription) – als ob das irgendwas mit der wissenschaftlichen Qualifikation zu tun hätte –, oder in Zeiten, wo sich gebildete Leute per Katalog Partner*innen aussuchen, die genauso den Reproduktionswunsch haben und dazu die richtige Größe, Haarfarbe und Statur oder Haut- und Augenfarbe, ist die Kritik von Brunschweiger von ganz großer Bedeutung.

Denn diese Leute wissen ganz genau, dass der Staat und der Kapitalismus das honorieren, von den nicht weniger frauenverachtenden Fragen von CEOs und Abteilungsleiter*innen nicht zu schweigen, die eine 37jährige Frau mit der einen oder anderen Frage aushorchen, ob sie noch vor hat, in Elternzeit zu gehen. Andere wiederum sind so dreist, dass sie befristete Jobs (sagen wir auf 2 Jahre) annehmen, um nach 5 Monaten plötzlich Elternzeit zu beantragen und das mit dem Gehalt dieses super ausgestatteten Jobs, der politisch einige Relevanz hat, um dieses Beispiel zu nehmen. Also Menschen mit Kindern werden allerorten bevorzugt und vor allem denken die Eltern, Mütter vorneweg, etwas Sinnvolles für die Gesellschaft geleistet zu haben mit der Geburt. Und das ist die große Frage, die Verena Brunschweiger völlig zu Recht und mit einer teils „lustvollen Rotzigkeit“ (135) in den Raum wirft.

Warum gibt es einen „Welt-Toiletten-Tag“ oder einen „Jogginghosen-Tag“ – aber in der hiesigen Presse keinen Hinweis darauf, dass der 1. August der „International Childfree Day“ ist? (100) Warum infantilisieren sich so viele Frauen, sobald sie Kinder haben und setzen sich für ihre Profilbilder bei WhatsApp oder Facebook läppische, eben infantile Clownsnasen auf, warum antworten solche Frauen auf die Frage „Wie geht’s“ stets mit „Sophie hat Durchfall und David war letzte Woche krank“? Sie rechnen gar nicht damit, dass gemeint sein könnte, wie es ihr als Frau oder Mensch geht – und nicht als Mutter. Das ganze Leben dreht sich nur um die Kinder – und wir reden hier nicht von Leuten, die ohnehin kein Interesse an nichts haben und wirklich dumm wie Stroh sind (und vom Fernsehen, Dieter Bohlen, Florian Silbereisen, „Bares für Rares“, Helene Fischer und den Zeitungen etc., gezielt kulturindustriell so gehalten werden), nein: Wir reden hier über die gehobene Mittel- und die Oberschicht, die Gebildeten, die Studierten und früher häufig sogar politisch aktiven Leute.

Die Kulturindustrie ist obsessiv auf Kinder-Trip:

Betritt man eine beliebige Buchhandlung, so sieht man sich erst mal einer Unmenge an Stofftieren, Spielsachen, buntem Krimskrams aller Art gegenüber,

was sich in öffentlichen Bibliotheken fortsetzt:

„Wenn man keine Ohrstöpsel oder Kopfhörer hat, ist dieser öffentliche Raum für die eigene Nutzung tendenziell verloren (96 f.).

Es gibt auch Lesben, die sich vom gleichen, nach klaren Kriterien wie aus dem Katalog (oder dem Kiez) ausgesuchten schwulen, gleichsam Zuchtbullen schwängern lassen, damit alle Kinder den gleichen Vater, aber zwei verschiedene Mütter haben. Was haben diese sich offen und links dünkenden Frauen gegen das islamistische Prinzip der Vielehe? Oder nehmen wir jenes schwule Paar (dieses Beispiel, das durch die Presse ging, ist aus Israel, wo Kinderkriegen in der Tat eine extreme Obsession ist, wer beruflich wie privat regelmäßig mit Israelis zu tun hat, weiß das), das 100.000 Dollar bezahlte für eine Leihmutter in den USA und kurz nach der Geburt das Baby „heimholte“ und nicht den Hauch von Gewissensbissen hat, eine Frau so brutal als Warenbehälter zu benutzen und das Kind noch dazu um die Mama betrügt. Welche Frau würde einen so schmerzhaften Vorgang wie eine Schwangerschaft und vor allem die Geburt (Brunschweiger erwähnt viele Beispiele, dass noch heute einige Dutzend Frauen pro Jahr hierzulande an der Geburt sterben) auf sich nehmen und dann das Kind abgeben, ja verkaufen? Wie aussichtslos muss die Perspektive einer solchen Frau zuvor gewesen sein? Wie stark wird sie das den Rest ihres Lebens bereuen? Das führt uns im umgekehrten Fall zum „regretting motherhood“, jener israelischen Studie von Frauen, die es wirklich bereuen, Kinder bekommen zu haben und das auch zugeben.

Um auf den gewöhnlichen Alltag zurückzukommen: Nehmen wir das wirklich zunehmende Problem in Restaurants und Cafés. Kindern wird zunehmend von den Eltern alles erlaubt, und mitunter kann frau oder mann das Gefühl nicht loswerden, dass es eine gezielte a-soziale Tat ist, wie Brunschweiger an Hand einer Story eines Bloggers und cleveren, witzigen wie super genervten Obers zeigt:

Als das pausenlose Gerenne und Gekreische eines anderen Kindes die Gäste und ihn massiv störte, schüttete er, der Kellner, eiskalt ein wenig Wodka in den Saft. Als das Kind dann ein wenig ruhiger wurde, gingen die Eltern. Damit bestätigt der Kellner, was schon oft beobachtet worden ist: Die Eltern waren in dem Moment zufrieden, als das Kind die Nerven aller anderen Leute ruiniert hatte und konnten zufrieden, nach ‚getaner Arbeit‘ quasi, heimgehen. (93)

Um es überspitzt auf den Punkt zu bringen: Kinderkriegen ist auch heute noch und gerade heute die absolut zentrale Ideologie der Neo-Nazis und der Neuen Rechten, das sollten alle Nicht-Nazis wissen.

Die Quintessenz der Totalverweigerung muss sein, dass wir unsere Körper nicht hergeben für einen Geburtenkrieg, den moderne Nazis im Schafspelz der Vaterfigur gegen muslimische Einwanderer führen wollen. Lasst Frauke Petry und Konsorten ihren perversen Kampf alleine oder mit ihresgleichen austragen. Denn jedes phallische Gesetz, selbst wenn es sich als legitimes gebärdet, stellt ‚eine obszöne Beschneidung weiblicher Subjektivität [dar]. Denn es reduziert die Frau erbarmungslos auf ein Pfand im Spiel der Männerbündnisse.‘ Und genau das tut die Mutterrolle. (136)

Das muss natürlich genauso und explizit für muslimische und islamistische, aber auch anderen Communities gelten. Wenn z.B. ein Paar in Berlin heiratet (ein Paar, beide hier geboren, das eigentlich deutsch ist oder wäre, wenn es das wollte), passiert es nicht selten, dass es das aggressiv als geradezu nationalen Erfolg feiert und zwar im Autokorso mit Türkeifahne. Was hat eine solche Fahne mit einem privaten Ereignis wie einer Hochzeit zu tun? Dazu passt, dass einer der bekanntesten Deutschen sich jetzt abermals als Riesenfan des brutalen türkischen Präsidenten Erdogan zeigt: Mesut Özil, der offenbar den führenden türkischen Islamisten als Trauzeugen einladen möchte! Özil ist für Hunderttausende Deutsch-Türken, die offenbar keine Deutschen sein wollen, ein Idol. Özil spielte für Deutschland Fußball und zeigt sich doch seit Jahren, schon bevor er das DFB-Team verließ, als Islamist, auf und neben dem Platz, besonders abstoßend war sein Einsatz für Erdogan im Wahlkampf, wie wir alle wissen. Und da Erdogan berüchtigt ist für seine Aggressivität und patriarchal-islamische Gewalt wie der Aussage von 2017:

Macht fünf Kinder, nicht drei, denn ihr seid Europas Zukunft‘, sagte Erdoğan bei einem Wahlkampfauftritt im westtürkischen Eskişehir. Dies sei die ‚beste Antwort‘ auf die ‚Unhöflichkeit‘ und ‚Feindschaft‘, die ihnen entgegengebracht werde,

muss das ins Visier des Feminismus und der Patriarchatskritik geraten. Das unerträgliche „Feiern“ einer Hochzeit mit der Nationalfahne ist hierzulande stark von Türken oder auch Kroaten bestimmt, die Katholiken stehen in puncto Nationalismus den Islamisten hier in nichts nach, auch wenn natürlich Kroatien ein Mini-Land ist verglichen mit der imperialistischen Türkei und dem dortigen Islamismus. Beide indizieren den engen Zusammenhang von Kinderkriegen, staatlicher Macht und patriarchaler Herrschaft.

Der Massenmörder von Christchurch in Neuseeland ergeht sich ausführlich in der Darstellung der ach-so-niedrigen Geburtenraten in westlichen Ländern. Er ist neidisch auf die höheren Raten der Muslime, die er gar nicht schlimm findet – solange die Muslime nicht im Westen leben, sondern „in deren Ländern“. Natalistischer Ethnopluralismus.

Das Buch „Kinderfrei statt Kinderlos“ beinhaltet wundervollen Sprengstoff und kann staatliche wie kapitalistische (und christliche wie islamische) Strukturen ganz grundsätzlich herausfordern.

Wenn in weiteren Auflagen des Buches die genannten Schwachstellen korrigiert werden sollten – Verena Brunschweiger ist eine so brillante, scharfe, lustige, lebensfrohe Autorin, sie hat diese wirklich widerlichen, politisch wie ethisch oder moralphilosophisch sehr problematischen erwähnten Bezüge gar nicht nötig –, wäre dieses Manifest noch geeigneter, diesen Sprengstoff sehr weit zu verbreiten.

Wie gesagt, viele Frauen werden als Mama plötzlich zum „mombie“ und Männer zu „daddiots“ (93 ff.) – also Zombies und Idioten (man soll keine Witze erklären!). Es ist jedoch weniger relevant, ob Schwangeren tatsächlich das Gehirn schrumpft (!) (85), ob Kinderfreie schönere, weniger ausgesaugte und nicht breitgeknetete Brüste haben und „weniger schnell altern und weniger Falten bekommen“ (141) – das sind arg bürgerliche Schönheits- und Nützlichkeitskategorien, die für eine linke Gesellschaftskritikern und Feministin eher ungewöhnlich klingen.

Was jedoch sehr relevant und der Kern des neuen Feminismus wie dieses Buches ist, das ist der letzte Satz des Buches, ein Zitat von Gloria Steinem:

When the pill came along, we were able to give birth – to ourselves. (142)

Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau – und sie wird es nicht als Teil der „Spermatokratie“ und als „‘Ware zum Zweck der Züchtung‘“. (62)

Zum fröhlichen Schluss:

Grandiose Liebespaare haben für gewöhnlich keine Kinder (75).

Verena Brunschweiger: Kinderfrei statt Kinderlos. Ein Manifest, Marburg: Büchner-Verlag, März 2019, ISBN 978-3-96317-148-2, 150 Seiten, 12,5 x 19,3 cm, Klappenbroschur, 16€

©ClemensHeni

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner