Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Klaus von Dohnanyi

Markus Lanz, das ZDF und ein anständiger Hamburger. Der sekundäre Antisemitismus des sicherlich Nicht-Antisemiten Klaus von Dohnanyi

Von Dr. Clemens Heni, 18. April 2019

Am Dienstagabend, 5. März 2019, hatte sich der gebührenfinanzierte Dampfplauderer vom Dienst, Markus Lanz, neben Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der ZEIT, den ehemaligen Bundesminister und das SPD-Urgestein Klaus von Dohnanyi zum Plausch in die nach ihm benannte Sendung im ZDF geladen. Was der Gast dabei von sich gab – und der Moderator durchgehen ließ, ohne nachzufragen, ließ tief blicken und indiziert, wie die politische Kultur in diesem neuen Deutschland funktioniert, auch ganz ohne AfD.

Für einen ganz normalen Deutschen ist Wissenschaft unnötig. Er oder sie weiß es aus eigener Anschauung ohnehin besser. Jeder gute Deutsche hat einen „gesunden Menschenverstand“, was Kritiker als ungesund oder krank dastehen lässt. Dohnanyi machte in der Sendung den Austritt der SPD aus der Reichsregierung 1930 für den Aufstieg der NSDAP verantwortlich. Widerstand habe es massenhaft in Deutschland gegeben, nach 1933, fast jeder und jede hatte einen Juden, der versteckt oder versorgt wurde, das war der Tenor des SPDlers. So klang dieser mit vollem Kalkül vorgetragene Schrei gegen die heutige Schonzeit für Juden aus dem Munde eines SPD-Vordenkers. Es müsse Schluss sein mit der Erinnerung an die „Judenvernichtung“, die Zukunft rufe, so sprach er.

Da wird der zapplige, nie den Status des pubertierenden Strebers loswerdende Lanz, der sich quasi freut wie Oskar, der seinen ehemaligen verknöcherten autoritären Schulleiter wiedertrifft und der alleine für das Wackeln mit seinen aalglatten Schuhen einen Werbevertrag einer großen Schuhfirma erhalten sollte, ganz hellhörig. Er habe jüngst ein Interview mit dem Historiker Götz Aly gelesen, der darauf abheben würde, dass „Hitler den Sozialstaat aufgebaut habe“. Hitler und Sozialstaat, da werden Deutsche ganz wuschig, das ist spannend und irgendwie doch fast verboten. Sind eventuell gar Juden im Publikum? Oder vor den TV-Geräten? Wurden die Juden von einem ganz modernen Sozialstaat ermordet? War es gar nicht böse gemeint?

Diese modernistische Pointe Alys und Lanz‘ ist eine Position der Neuen Rechten seit Jahrzehnten, namentlich von Rainer Zitelmann und Michael Prinz, die das ach-so-moderne Element des Nationalsozialismus herauskehren. Nicht der Antisemitismus, sondern der ökonomische Surplus die Deutschen habe jene dazu gebracht habe, die Juden zu vertreiben, totzuschlagen, zu denunzieren, zu deportieren, zu vergasen und zu massakrieren, wobei natürlich bei den Neuen Rechten der Holocaust ohnehin gar nicht im Fokus steht, sondern Hitler als „Revolutionär“ umarmt wird (Zitelmann).

Im Gespräch von Lanz mit Dohnanyi und Lorenzo geht es somit um Trump und AfD, die so wenig böse seien wie Hitler und die Deutschen 1933, einfach nur die „soziale“ Frage nicht richtig beantworten würden, aber es an sich gut meinen würden.

Als dann aber Giovanni di Lorenzo von der „nationalsozialistischen Ideologie“ und „einem entsetzlichen, ungeschminkten Antisemitismus“ redet, wird Dohnanyi wütet und sagt, „aber nicht in Deutschland“, „sehr viel mehr bei der Nazipartei“, „aber die war damit nicht erfolgreich“.

Die NSDAP habe also erstens keinen Kontakt zu den Deutschen gehabt und zweitens habe sie zwar irgendwie Antisemitismus in sich gehabt, aber sei damit nicht erfolgreich gewesen. Diese Exkulpation Deutschlands vom Antisemitismus ist die typische Lüge der Deutschen seit jeher. Dann fragt Lanz wie der kleine Schuljunge, immer noch der Streber, der alles wissen möchte und insgeheim schon weiß, Dohnanyi, „wieviel hat denn die Bevölkerung gewusst?“ – natürlich so gut wie gar nichts, nur das Militär wusste manches, so der SPDler. Und weil sie ja nichts wissen konnten, sind sie auch nicht schuldig.

Und dann wendet sich der ganz normale Deutsche aus Hamburg an di Lorenzo und sagt „Ich bin anderer Meinung als Sie und meine nicht, dass das ständig wiederholt werden muss“ – die Sache mit dem Antisemitismus. Er möchte nicht mehr hören, „was hinterher dann passiert ist“ – damit ist Auschwitz gemeint, das interessiert den Erinnerungsverweigerer nicht, und da klatscht das Publikum, nicht AfD frenetisch mit Getrampel oder bayerisch mit Klatschen auf die Lederhosen, sondern gediegener, ZDF-mäßiger, Hamburgerischer, auch wenn die Sendung aus Mainz kommt.

Und sofort kommt der Erste Bürgermeister a.D. und Rot=Braun-Ideologe und Shoahverharmloser auf die DDR, auch die Eltern von Merkel hätten nicht „gewusst, was alles geschah“ – also wieviel KZs es gab und wieviele Millionen Menschen in Bautzen vergast wurden etc. pp. Dieser Wahnsinn flutscht nicht nur beim ZDF und bei Lanz hinunter wie Honig.

Bereits 1995 unterstrich der nationalpolitische Vordenker Klaus von Dohnanyi, was für ein guter Deutscher er ist, als er im Stern schrieb:

Seit das deutsche Kaiserreich 1871 entstand, wuchs in Europa die Unruhe über dessen Stärke und in Deutschland mit dieser Stärke der Übermut. Aus diesem Gemisch entstand der Sprengstoff des Ersten Weltkriegs. Dieser wiederum wurde dann auf dem Hintergrund des für Deutschland unerträglichen Versailler Vertrags und einer trotzigen deutschen Unbelehrbarkeit zum Nährboden für den Nationalsozialismus. Allerdings läßt sich auch nicht bestreiten, daß Kriege in Europa nicht nur von der vereinten deutschen Nation geführt wurden, sondern zuvor über Jahrhunderte gegen die kleinen deutschen Teilstaaten, und zwar mit dem Ziel, diesen die staatliche Einheit Deutschlands unmöglich zu machen… Immer wieder war es zentrales Ziel der Politik der europäischen Großmächte, die Einheit Deutschlands notfalls auch militärisch zu blockieren… Nicht von der Wiedervereinigung, sondern von den Kommunisten wurden die Unternehmen, die ja vor 1945 genauso wettbewerbsfähig waren wie die im Westen, zerstört.“

 Das kommentierte Hermann L. Gremliza (Literatur-Konkret 1995):

 „Auch in einem großen Arschloch steckt mitunter ein exaktes Thermometer. Seit dem 3. Oktober 1990 nämlich gilt: Die deutsche Vergangenheit ist bewältigt, Erinnerungen an sie, Verbindung zwischen einst und heute sind zu unterlassen; die deutsche Geschichte hat, soweit sie nicht Vergangenheit ist, viele helle Seiten und eine dunkle; die dunkle Seite heißt DDR; deren Abschaffung war politisch, ökonomisch und vor allem sittlich geboten, die daran beteiligten Personen waren edel, hilfreich und gut.“

 Das soziale Moment ist Lanz so wichtig und da ist er ganz bei Dohnanyi. Und das trifft sich auch mit weiten Teilen der unkritischen, also typischen und Mainstream-Forschung. Die Neue Rechte, die betont, wie „modern“, also auch sozialstaatlich der NS gewesen sei, wird von sport- und fußballinteressierten Frauen wie  der Historikerin Christiane Eisenberg umworben, die in ihrer Habilitationsschrift von den ach-so-schönen Seiten der Olympiade 1936 geradezu schwärmte und das „moderne“ Element wie Liegestühle, Blumenrabatte oder ein Kino für die Sportler*innen herausstrich.

Und wieder ein SPDler, der Berliner Innen- und Sportsenator Andreas Geisel, hat nun die Idee, 2036 wieder eine Olympiade nach Berlin zu holen, hat schon damals so schön geklappt. Dieser Bezug zu Nazi-Deutschland via dem immer noch stehenden Berliner Olympiastadion ist für die ganz normalen Deutschen richtig prickelnd. Am besten kommt das, wenn keine offen als Nazis erkennbaren Personen solche Vorschläge machen, es ist viel galanter, wenn die SPD anstatt der NPD oder der AfD solche Vorschläge macht.

Dohnanyi ist viel zu alt fürs Rumzappeln wie Lanz, er promotet seinen Ehering, die Familiengeschichte und weiß sehr genau, wie man den sekundären Antisemitismus bedient und selbst generiert.

Dohnanyi verleugnet den Antisemitismus im Jahr 1928. Ja, die Deutschen hätten später, nach 1933, „sehr viel für die Juden getan, das wird völlig unterschätzt heute“. Also auch dieses Märchen, das jeder geschichtswissenschaftlichen Studie über das Leben von Juden im NS entgegensteht, ist Dohnanyi ganz wichtig. So wichtig, dass er ja bereits 1996 bei der Goldhagen-Debatte in vorderster Front gegen den jüdischen Politikwissenschaftler, der die „ganz normalen Deutschen“, „Hitlers willige Vollstrecker“ untersuchte, Front machte. Dabei wurde er auch von jüngeren Kollegen wie den Historikern Norbert Frei oder Johannes Heil tatkräftig unterstützt, wie z.B. der Historiker Martin Kött in einer Studie über „Goldhagen in der Qualitätspresse“ 1999 quellengesättigt zeigen konnte.

Man sollte vor allem nicht die Vergangenheit nach „heutigen Maßstäben“ beurteilen, so der ehemalige Hamburger Bürgermeister. Reden wir doch Tacheles: Wir „Gutmenschen“ kriegen die Vollkrise, wenn jemand Juden mit Flöhen vergleichen würde, aber 1926, als Joseph Goebbels vom „linken“ Flügel der NSDAP dies in seinem „Nazi-Sozi“ tat, da war das der Zeitgeist. Da nun mit heutigen Maßstäben zu kommen, das geht schon mal gar nicht. So denken die Dohnanyis, die für die große Masse von Deutschen sprechen.

Es ist bei all diesen Debatten typisch, dass die Deutschen Antisemitismus nicht kritisieren, sondern als „Antisemitismusvorwurf“ bezeichnen. Klaus von Dohnanyi generierte diesen Topos der armen gebeutelten Deutschen nach 1945 doch selbst – und zwar als Redner im Deutschen Bundestag zum Gedenken an die Befreiung von Auschwitz in einer Gedenkstunde am 31. Januar 1997:

Man darf aber nicht vergessen, in welch existentieller Not auch Deutschland und die Deutschen in den ersten Jahren nach Kriegsende waren.

Da ist sie, die sekundär antisemitische Redeweise, die die deutschen Täter, Mitläufer und Mittäter und Mitwisser und Wisser und Henker und Denker, Richter und Hausfrauen, BDM-Führerinnen wie Ex-Wehrmachtsgeneräle, Industriekapitäne, NSDAP-Mitglieder und Ex-Nazi-Funktionäre wie auch Antisemiten, die keine NSDAPler waren, in Schutz nimmt. Dieser Satz – „Man darf aber nicht vergessen, in welch existentieller Not auch Deutschland und die Deutschen in den ersten Jahren nach Kriegsende waren“ – kommt aus tiefstem Herzen und spricht die Wahrheit aus.

Gerade das Wort „existentielle Not“ ist verräterisch, da die Deutschen überhaupt gar nicht in existentieller Not waren, das Land war erstmal besetzt und die Alliierten verteilten später sogar Kaugummi und Schokolade und waren unterm Strich doch viel zu freundlich zu den Deutschen, namentlich die Amerikaner, die ja neue Alliierte brauchten, ab 1947/48 im Krieg, dem „kalten“, gegen den Kommunismus.

Massenhaft wurde erstmals im Januar 1979 über die TV-Serie „Holocaust“ diskutiert und da waren grade die Linken nicht sehr interessiert, wie der Politologe Andrei Markovits, der damals Fellow der Hans-Böckler-Stiftung war, schockiert bemerkte. Sogleich ging es bei den Linken darum, sich selbst als mögliches Opfer eines „Atomtodes“ zu imaginieren wie die Juden damals („atomarer Holocaust“). Der Antisemit Ernst Nolte hat dann 1985 und verschärft 1986 den Historikerstreit begonnen, indem er die Schuld bei Stalin suchte, beim Erzfeind Kommunismus und die „asiatische Tat“ als Ursache für Hitler und den Holocaust herbei fabulierte.

Damals verlor Nolte den Historikerstreit gegen Jürgen Habermas und Hans-Ulrich Wehler (erster hat das schon zuvor mit der Depotenzierung der Kritischen Theorie und Adornos, letzterer 1996 in seinen Attacken gegen Goldhagen wiedergutgemacht), aber on the long run ist er der große Sieger, noch posthum. Denn 1986 fand 1997 im „Schwarzbuch des Kommunismus“ in Frankreich und bei Joachim Gauck einen Nachfolger und mit dem Hamburger Institut für Sozialforschung und bei Ulrike Ackermann und vielen anderen ein euphorisches Publikum. Seit einigen Jahren gibt es auch ein sehr laut hörbares Echo aus den USA via der Publikation „Bloodlands“ (2010) des Historikers Timothy Snyder, preisgekrönter Schriftsteller nicht nur in Leipzig, sondern eine Ikone litauischer Geschichtspolitik.

Dann kam der 9. November 1989, als die SPD im Bundestag zu Bonn am Rhein die deutsche Hymne anstimmte und nur wenige begriffen, was passierte und aus dieser Partei austraten, wie Gremliza. Manche verrückten Kritiker wie wir Abiturienten des Frühjahrs 1989 schrieben dann Widervereinigung ohne „e“, ahnend, was sich da zusammenbraute. Seit damals wird von den braven und guten Deutschen von den „zwei Diktaturen auf deutschem Boden im 20. Jahrhundert“ gleichsam gefaselt. Rot tendiere zum Braun und vice versa, das ist die Ideologie, die jetzt von der EU aufgegriffen wird und wir bald einen gesamteuropäischen Gedenktag 23. August haben werden, der den Holocaustgedenktag ablösen wird.

Am 28. März 2018 gaben die „Platform of European Memory and Conscience“ und die Europäische Union (EU) bekannt, dass der britisch-chinesische Architekt Tszwai So den Architekturwettbewerb für ein „Gesamteuropäisches Denkmal für die Opfer des Totalitarismus“ gewonnen hat. Das wöchentliche Architects‘ Journal (AJ) aus London gab die Entscheidung freudig bekannt und machte sich somit zu einem Sprachrohr dieser in Architektur zu gießenden Ideologie des Rot = Braun. In Brüssel wird der Jean Ray Platz nach Sos Vorstellungen geplant: es sollen in Bodenplatten tausende Briefe von Opfern des „Totalitarismus“ eingelassen werden. So läuft heute Geschichtsrevisionismus und der Antisemitismus aus Erinnerungsabwehr. Das ist vollkommen Mainstream und nicht mal die paar selbst ernannten (universitären, zivilgesellschaftlichen oder NGO-mäßigen) Kritiker*innen des Antisemitismus hierzulande merken das.

Anstand ist den Dohnanyis so wichtig. Der Journalist Otto Köhler hat das festgehalten (Konkret 3/98), die Sache mit dem deutschen „Anstand“ und dem „Widerstand“, für den der Vater Dohnanyis stand. 1997 hatte Dohnanyi in der Frankfurter Paulskirche ein Loblied auf den 20. Juli singen dürfen, Köhler kommentierte:

Dohnanyi, der in seiner Ansprache mit maliziösen Bemerkungen nicht sparte –  [meinte,] Goldhagen solle doch mal erklären , ‚warum sein Manuskript von der Harvard University Press nicht zum Druck angenommen wurde‘ – fällt über den Berliner Historiker Christian Gerlach ebenso her wie über den ‚in Ton und Gemeinheit vergleichbaren Artikel‘, den der Historiker David Morley in der ‚Süddeutschen Zeitung‘ veröffentlicht hatte – im beiden Fällen handele es sich ’schlicht um perfide Diffamierungen‘ des besseren Deutschland. Gegen die er seine Argumente setzt: ‚Es ist sicher wichtig zu wissen, daß sich auch Signaturen von Treskow (sic!) auf verbrecherischen Befehlen finden; es wäre aber dann auch wichtig, darauf hinzuweisen, daß ein erfolgreicher Putsch nur aus dem aktiven Militär und nicht aus der Emigration möglich war.‘

Otto Köhler resümierte:

Aber Dohnanyi kann noch mehr: ‚Es ist auch richtig, daß jeder Offizier – auch ein Mann im Widerstand – im Krieg Schutzmaßnahmen gegen Partisanen ergreifen mußte und daß diese überall von großer Härte waren.‘ Das müsse – anstelle von ‚ehrabschneidenden Schlußfolgerungen‘ eine ‚wissenschaftliche Aufarbeitung der Fakten‘ berücksichtigen. Die Wissenschaft hat längst aufgearbeitet. Auch das Militärgeschichtliche Forschungsamt läßt keinen Zweifel daran, daß Wehrmacht und SS ihre Massenmordaktionen an jüdischen Kindern, Frauen und Männern als ‚Schutzmaßnahmen gegen Partisanen‘ tarnten. Doch mit Argumenten darf man dem Festredner nicht kommen: ‚Denn‘, so Dohnanyi, ‚die verläßlichste Quelle, auch der Solidarität des Widerstandes, war niemals irgendein theoretisches Gebäude, sondern immer menschlicher Anstand. Wenn es sein mußte, bis in den Tod. Diese Eigenschaft des menschlichen Anstandes, diesen ‚reinen Heroismus‘ ehren wir durch die Ausstellung, die wir heute eröffnen.‘ Der Herr, der da so eifrig mit dem Wort ‚Anstand‘ jonglierte, sollte, auch wenn er sonst wenig weiß, das eine Zitat doch wenigstens kennen, das zeigt, was in Deutschland aus diesem Begriff geworden ist – eine Primärtugend für Mörder. Himmler am 4. Oktober 1943 vor SS und Polizei: ‚Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen, oder wenn 1.000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Das ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.‘

Die Abwehr der Erinnerung – dazu gehört auch und vor allem das geschwätzige Reden über „damals“, startend mit Richard von Weizsäcker 1985 – ist das zentrale Thema der Deutschen nach dem 8. Mai 1945. Die Wehrmachtsausstellung 1995 hat Neonazis zu Demonstrationen und Aktionen motiviert, alte Kämpfer heulten los und viele alte „Kameraden“ zündeten ein Feuer, wie es die Deutschen seit der „Flak“ auf ihren „Flaktürmen“ nicht mehr gesehen hatten. Parallel dazu wurden Dutzende Nicht-Deutsche ermordet.

Das gab es schon lange vor 1989, Franz-Josef Degenhardt („Väterchen Franz“) sang davon schon in den 1960er Jahren bezüglich der abgestochenen Italiener, aber danach wurde es exzessiv und führte auch dank der „akzeptierenden Jugendarbeit“ zur Gründung des NSU Ende der 1990er Jahre und im Jahr 2000 zum ersten Mord an einem Migranten durch den NSU.

Im Oktober 1998 hielt der Schriftsteller Martin Walser seine Dankesrede für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Entgegen Dohnanyi, der nur ein Jahr jünger als Walser ist, zitterte er vor „Kühnheit“ und wehrte in einer antijüdischen Diktion die Erinnerung an Auschwitz ab, wie nicht einmal Nolte es vermocht hatte:

Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung.

Ein Dohnanyi lässt sich natürlich nicht einschüchtern und deshalb zitterte er auch nicht, als er in Walsers Tonlage im März 2019 bei Lanz im gleichen antisemitischen Duktus lospolterte.

Zudem bekam Walser entgegen Nolte 1986 standing ovations in der Frankfurter Paulskirche, bis auf den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, dessen Frau Ida, und Friedrich Schorlemmer. Heute ist diese Position Mainstream, das ZDF freut sich über einen Gast wie Dohnanyi, der eine Art Großvater auch für die Katrin Müller-Hohensteins ist, die gerne vom „inneren Reichsparteitag“ (2010) reden, wenn ein deutscher Fußballspieler ein Tor schießt.

Der erste Intendant des ZDF war 1962/63 Karl Holzamer, ein katholischer antihumanistischer Antisemit, der den „Rembrandtdeutschen“ (1890) Langbehn 1946 an der neu gegründeten Universität Mainz als „Mahner“ würdigte und später jungen schicken Frauen und Männern in Existentialistencafés das unchristliche Lesen, Diskutieren, Nachdenken, Rauchen, Trinken und Cool-Sein übel nahm.

Holzamer erinnerte 1985 zudem daran, wer alles in seinem Bund Neudeutschland war, so auch neben Filbinger und Barzel der Bruno Heck. Bruno Heck (1917–1989) war CDU-Bundestagsabgeordneter (1957–1976), Bundesfamilienminister, von 1967–1971 erster Generalsekretär der CDU, von 1950–52 Regierungsrat im Kultusministerium von Württemberg-Hohenzollern und von 1968–1989 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). 1983 publizierte er einen Aufsatz, in dem er in typisch sekundär antisemitischer Diktion erklärte:

Die Rebellion von 1968 hat mehr Werte zerstört als das Dritte Reich. Sie zu bewältigen, ist daher wichtiger, als ein weiteres Mal Hitler zu überwinden,

wie der Journalist Albrecht von Lucke in einer luziden Kritik an Heck festgehalten hat. Da lacht und klatscht Klaus von Dohnanyi.

2002 lud Kanzler Gerhard Schröder Walser just am 8. Mai ein und ließ ihn über Versailles fabulieren und wiederum die Deutschen als Opfer böser Mächte und der Geschichte präsentieren. 2003 heulte dann Schröder vor Rührung, wie vielleicht kein Kanzler seit 1949, als er den Film „Das Wunder von Bern“ sah, wo von Sönke Wortmann das deutsche „Wir“ gefeiert und damals die erste Strophe der Nationalhymne millionenfach gesungen wurde. Nur wenige Jahre nach Auschwitz waren „wir“ wieder „wer“. Nicht mehr die Schlächter von Sobibor oder Majdanek, nein, Fußballweltmeister, das ist ja noch besser. Außer dem Vergessen der Shoah ist den Deutschen nichts so wichtig wie die Fußballweltmeisterschaft, vor allem jene von 1954, die ersteres so begünstigte wie kein anderer Vorgang es je vermocht hätte.

Das „Sommermärchen“ von 2006 (den Dokumentarfilm dazu drehte ebenfalls Wortmann, der grüne Deutsche) schoss „dank“ Jürgen Klinsmann nicht nur die Polen ab, sondern hat geschafft, was selbst 1954 nicht konnte: schwarzrotgoldene Unterhosen und Untertassen waren nun allgegenwärtig, „der“ Deutsche kam jetzt zu sich selbst. Die jungen Leute, die weder wussten, was Abseits ist, noch, dass man nicht 7 Spieler im Laufe eine Spieles auswechseln kann oder gar das ganze Team, waren frenetisch und fanatisch („ausgelassen“, „Partypatriotismus“), sie waren stolze Deutsche, keine international interessierten Sport- und Fußballfans. Nicht die Welt war „zu Gast bei Freunden“, sondern Deutschland war Gast bei sich selbst und schrie die Erinnerung an den Holocaust so laut weg, dass man es vom Brandenburger Tor über das Holocaustmahnmal (ein Mahnmal, „zu dem man gerne gehen soll“, R. Schröder) bis zum Denkmal für Hermann den Cherusker bei Detmold hören und fühlen konnte.

Der Aufstieg der AfD (2013) und von Pegida (2014) waren die Konsequenz, wobei der Millionenbestseller von Thilo Sarrazin von 2010 (auch ein Genosse wie Schröder und Dohnanyi), „Deutschland schafft sich ab“, im Kern ein Loblied auf den „Wiederaufbau“ der 1950er Jahre und die „deutschen Tugenden“ legte und das Wort „Deutschland“ mit Genuss ausspricht.

Die Sendung von Lanz mit Dohnanyi zeigt, wie un-nötig die AfD für den Betrieb ist, sekundären Antisemitismus kann der deutsche Mainstream auch ohne die neuen Nazis im Bundestag und den Landtagen.

Der Gemeinderat von Herxheim am Berg, einer kleinen Gemeinde in Rheinland-Pfalz mit ein paar Hundert Einwohner*innen und unzähligen Weinstöcken, idyllisch gelegen, hat sich 2018 dafür ausgesprochen, eine Bronzeglocke mit der Inschrift „Alles für’s Vaterland. Adolf Hitler“, mit einem Hakenkreuz untermalt, in seiner evangelischen Kirche St. Jakob hängen zu lassen. Dieser allzu deutsche Vorgang sagt alles über die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2018 aus.

Der Auftritt von Klaus von Dohnanyi bei Markus Lanz 2019 ist das Pendant hierzu. Der Antisemitismus ist bei dumpf-deutschen Pfälzern so sehr beheimatet wie beim Hamburger sozialdemokratischen Nationalisten und Erinnerungsverweigerer und einem der beliebtesten ZDF-Vorbeter. Dohnanyi ist auch kein alter Mann, der vergessen möchte, sondern ein ganz typischer jung-deutscher unverschämter Ausdruck der Zukunft des (sekundären) Antisemitismus, der sich als dessen angebliches Gegenteil (SPD, „Widerstand“) vorstellt.

Natürlich ist Klaus von Dohnanyi ganz sicher kein Antisemit. Es gibt keine Antisemiten mehr – bis auf ein paar linke oder muslimische Spinner und „Unverbesserliche“, das wissen wir doch alle. Er treibt den sekundären Antisemitismus, den kaum jemand auch nur erkennt, geschweige denn attackiert, nur zu einem weiteren Höhepunkt und dafür lieben ihn die Deutschen, nicht nur Lanz und das Publikum im Studio.

Mit diesem Personal hat Deutschland wieder eine Zukunft – eine Zukunft für seine Vergangenheit, wie der Publizist Wolfgang Pohrt es Anfang der 1980er Jahre auf den Punkt gebracht hatte.

Wer sich hingegen mit der Wirklichkeit in Deutschland der Jahre 1928 bis 1934 beschäftigen möchte, kann zu einem kleinen Buch mit großer Wirkung und Relevanz greifen: „Antisemitismus zum Weihnachtsfest. Boykotte gegen jüdische Geschäfte 1928–1934“ von der Historikerin Hannah Ahlheim (2018). Dort wird die Bedeutung des Antisemitismus gerade schon vor 1933 exemplarisch am Beispiel jüdischer Gewerbetreibender und der Bedeutung des christlichen Weihnachtsfestes kritisch untersucht.

Davon wollen aber die normalen Deutschen nichts mehr hören. Schluss, aus, Ende, fertig. Antisemiten waren nur ganz wenige und vor allem: „nicht wir“.

Kein Antisemitismusbericht und keine „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS)“ wird diesen neuen Antisemitismus je erfassen. Er ist viel zu ubiquitär und würde jede Statistik sprengen und ad absurdum führen.

©ClemensHeni

 

Das nationale Apriori: Wie aus der BRD endgültig ‚Deutschland‘ wurde

Original auf www.hagalil.com, 07.07.2006

Das Nationale ist zum deutschen Apriori geronnen. Während die NPD und andere Nazis jahrzehntelang für das massenhafte Tragen von Deutschlandfahnen, Wimpeln, schwarzrotgold umrandete Untertassen und andere Embleme ‚der Deutschen‘ geworben haben, schweigt diese Partei heute, fast.

Zu sehen sind nun die propagierten Accessoires in Millionenausfertigung, ganz Deutschland schwelgt, klatscht, schreit, jubelt und singt „blühe deutsches Vaterland“ wie früher nur die NPD im Hinterstübchen der Deutschen Klause in Delmenhorst (bzw. zeitgleich die SED, die vom „sozialistischen Vaterland“ sprach).

Ein deutscher Stürmer, Podolski, hat die Strophen der Nationalhymne in seinen Fußballschuh, in das Leder einschreiben lassen. Jetzt ist die Fanmeile in Berlin am Brandenburger Tor (das ja jetzt geöffnet ist) zur einhellig getätschelten „patriotischen“ Liebeserklärung geworden, ohne Wenn und Aber, eine Art Bildzeitung in Riesenformat. Wenige Hundert Meter weiter liegen die neu-deutschen Frauen im schwarzrotgoldenen Bikini im Liegestuhl am Holocaust-Mahnmal – tote Juden als Aussichtspunkt des Neuen Deutschland; diese ach so friedlichen ‚Jungdeutschlandregimenter‘ setzen des Altkanzlers Schröders Wort vom Holocaust-Mahnmal als „Ort, an den man gerne geht“, lediglich in die Praxis um.

Schon seit Anfang der 1950er Jahre Adorno seine empirische Reise zu den post-nazistischen Deutschen unternommen hat – Schuld und Abwehr – ist bekannt, dass es keineswegs bei den (West)Deutschen nur um Holocaustleugnung geht. Gerade auch die Annahme der Schuld („Wir Deutschen…“ oder „Das macht uns so schnell keiner nach…“) an der Vernichtung der europäischen Juden war möglich, indem Beethoven, Kleist, Luther und Fontane, Sekundärtugenden, C.D. Friedrich und Verwandtes beschworen wurden. Später, in den 1980er Jahren, sagte der erste Vorsitzende der Republikaner, Franz Schönhuber, dass „Deutschland der Welt viel mehr geschenkt“ habe, „als Auschwitz je kaputtmachen könnte“.

Vom holocaustleugnenden Konjunktiv ganz zu schweigen spricht Schönhuber hier eine deutsche Befindlichkeit aus, welche die letzten 20 Jahre, nach der ‚Wiedervereinigung‘ und verschärft seit Rot-Grün 1998ff., immer mehr Einfluss gewinnt, ja von einem Bestandteil rechtsextremer ‚Deutungskultur‘ (Karl Rohe) zu einer gesamtgesellschaftlichen ‚Soziokultur‘ geronnen ist. Wissenschaftstheoretisch ist dabei das Paradoxon zu analysieren wie gerade eine Abkehr von Nationalgeschichte einer Verharmlosung und Universalisierung der spezifisch deutschen, präzedenzlosen Menschheitsverbrechen Vorschub leistet.

An sieben Punkten werde ich darstellen, wie sich diese Bewusstseinslage oder Befindlichkeit, die neue deutsche Ideologie äussert und was daran bemerkenswert ist.

1) Ein deutsches Graduiertenförderungswerk, 2002: ein Küchlein mit Folgen

Als Ausgangspunkt mag ein Treffen von Nachwuchswissenschaftlern, alles StipendiatInnen eines großen Graduiertenförderungswerkes, von Juli 2002 dienen. Dort hat ein kleines Küchlein, ein am Bahnhof gekaufter Muffin mit Mini-US-Fahne dazu geführt, die Fronten zu klären. Eigentlich als Zuckerl gedacht, entpuppte sich das Gebäck zu einem Objekt der Abwehr seitens typisch deutscher, linker JungakademikerInnen, die dieses US-Fahne – nach 9/11 zumal – unerträglich fanden. Zufällig wurde zu dieser Zeit im TV ein Interview Michel Friedmans mit dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon gesendet. Lediglich zwei der 17 Teilnehmenden hatten daran Interesse, die anderen pflegten ihre Ressentiments gegenüber Juden im Allgemeinen, Israelis im Besondern.

Wohlgemerkt: die Stimmung war schon so deutlich gegen Friedman, dass Möllemanns Flugblatt von September 2002 zur Bundestagswahl, auch gewisse Töne dieses Treffens vornehmlich linker, durchaus gewerkschaftsnaher Akademiker aufgreifen konnte. Dass es genau diese Stiftung bzw. ihre Doktoranden war, die wenige Monate später einen handfesten Antisemitismus-Skandal erlebte (als dessen Konsequenz immerhin eine Tagung zur Kritik des linken Antisemitismus stand), als ein migrantischer Doktorand nassforsch antiisraelische Töne durchs weltweite Netz jagte, überrascht nicht mehr. Fazit: Ressentiments gegen kleine amerikanische Fahnen, Juden und Israelis gehörten zum guten Ton dieses akademischen Nachwuchses. Das führt mich zum zweiten Beispiel.

2) Ein weiteres deutsches Graduiertenförderungswerk, Juni 2006: ich bin deutsch und was bist du?

Mitten in der nationalen Paranoia im Juni 2006, als Siege der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen schwache, schwächste oder unmotivierteste Teams die Stimmen der Moderatoren sich überschlagen und Millionen von Individuen zu einer homogenen Masse zusammenfinden lässt, eine weitere Tagung eines anderen, kleineren Graduiertenförderungswerks. Zu einem Spiel der deutschen Mannschaft wurde extra Party-Material gekauft, um einen Raum zu schmücken. Nicht etwa, um allgemein Fußball-Fan-Artikel der WM ganz allgemein zu drapieren, nein: ausschließlich schwarzrotgold war angesagt, noch nicht einmal die Farben der gegnerischen Mannschaft waren im Horizont der Vorbereitungsgruppe dieses Abends.

Erwachsene Akademiker malten sich mit Schminke die Farben des ‚deutschen Vaterlandes‘ ins Gesicht – wie sollen diese Persönchen in Zukunft noch ernst genommen werden als Wissenschaftler, Intellektuelle gar oder einfach nur interessante Individuen? So etwas war noch vor 12, 8 oder auch 4 Jahren undenkbar.

Dass keineswegs nur typische, ich-schwache und autoritär sozialisierte Personen dazu neigen sich mit einer Nation zu identifizieren, zeigen solche Beispiele wie auch die folgenden. Gleichwohl ist jede nationale Identifikation in Deutschland Zeichen eines persönlichen Defizits, das zu kompensieren aufgebrochen wird.

3) Walk of Ideas, Berlin 2006

Mitten in Berlin stehen sechs mega große Skulpturen, die zeigen sollen, dass Deutschlands „größtes Kapital“ „die Ideen der Menschen“ seien. Erfindungen werden hier nicht als Erbe der Menschheit, vielmehr als nationales Gut, als ‚volksmässig‘ akkumuliertes Kapital betrachtet. Vom Automobilismus, der Medizin, der unvermeidlichen Bemächtigung Einsteins Relativitätstheorie über den Fußballschuh, der Musik hin zum Buchdruck.

Letzterer ist ein gutes Beispiel, wie Deutschland heute funktioniert:

„Die Verbreitung des gedruckten Wortes beschleunigte Reformation und Aufklärung und unterstützte die Alphabetisierung. Dichter und Denker nutzten die neue Technik und ließen die deutsche Buchlandschaft erblühen – Zensur und Barbarei hätten sie fast zerstört: Am 10. Mai 1933 verbrannten Nationalsozialisten überall in Deutschland Werke moderner und regimekritischer Autoren. Die Bücherverbrennung setzte 500 Jahren deutscher Buchkultur ein vorläufiges Ende.“

So steht es auf einer Tafel zu dieser Skulptur am Bebelplatz in Berlin, Unter den Linden. Da stutzt man gewaltig: die Bücherverbrennung als „Ende“ „deutscher Buchkultur“? Waren die Werke Carl Schmitts, Richard Euringers, Eberhard Wolfgang Möllers, Martin Heideggers oder Erwin Guido Kolbenheyers nicht gedruckt worden in den Jahren 1933–1945? Was verbirgt sich hinter der Chiffre „moderner und regimekritischer Autoren“?

Wenn die Werke Heines aus dem 19. Jh. verbrannt wurden, wurde dann ein „NS-regimekritischer“ Autor verbrannt? Typisch ist die Auslassung des Antisemitismus, der jedoch de facto in Goebbels hetzerischer Ansprache an jenem 10. Mai 1933 auf diesem Platz deutlich zu hören war, als er vom „jüdischen Intellektualismus“ sprach, der ein Ende nehmen müsse. Dass sich gerade die Deutschen über die Jahrhunderte hinweg gerade nicht als Gesellschaft, die Büchern aufgeschlossen gegenüber steht, entwickelt hat, vielmehr Juden als Vertreter einer „Buchkultur“ oder „Gesetzesreligion“ angeprangert wurden, wird einfach derealisiert.

Wer sich die Geschichte des Antiintellektualismus anschaut, d.h. insbesondere die bis heute prägende Studie von Dietz Bering von 1978, weiß, dass der Affekt gegen das Buch in Deutschland von links bis rechts Tradition hat. Die Skulptur des Jahres 2006 suggeriert den Millionen Besuchern Berlin bzw. der Bundesrepublik: fast wäre das Buch an sich zugrunde gegangen, aber es ging noch mal gut. Dazu gesellt sich natürlich das Automobil, unter Hitler wären es die Autobahnen gewesen, welches der Welt vor dem Brandenburger Tor präsentiert wird.

Dass Audi, deren Modell nun überdimensional vor dem Brandenburger Tor steht, heute eine Tochter des Volkswagenkonzerns ist, der 1938 in der „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ gegründet wurde, wird klammheimlich bejaht, ja verbreitet Stolz im Neuen Deutschland wie annodazumal.

4) „Die Nazis wurden doch sportlich, 1936!“ Neu-deutsche Wissenschaft als Rehabilitierungsübung für den Nationalsozialismus

Auch in der Wissenschaft ist seit Jahren ein Trend bemerkbar, den Nationalsozialismus als ganz normale Gesellschaft – hier am Beispiel des Sport – darzustellen, Antisemitismus und Volkstumsideologie werden entweder offen oder subkutan affirmiert. Dazu dient als brillantes Beispiel die häufig zitierte und auch von linken Zeitschriften wie Konkret positiv angeführte Historikerin Christiane Eisenberg, die insbesondere deshalb in gewissen Kreisen einen Namen hat, weil sie Fußball-Analyse als wissenschaftliche Disziplin anerkannt habe.

Wichtig für ein Verstehen Ihres Ansatzes ist der Kulminationspunkt ihrer Habilitationsschrift aus dem Jahr 1997, eine Analyse der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin. In dieser Schrift versucht sie zu zeigen, wie Deutschland durch den Sport eine bürgerlich(er)e Gesellschaft nach dem Vorbild Englands wurde, die Studie heißt auch entsprechend „“English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939″.

Eisenberg versucht dem Sport ein Eigenleben auch und gerade unter den Bedingungen eines Herrschaftssystems wie dem Nationalsozialismus, welchem damit gleichsam ein ganz normaler Platz im Pantheon der (Sport-)Geschichte gesichert werden soll, zuzugestehen.

„Für die Atmosphäre der Spiele war es darüber hinaus von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß es reichlich Gelegenheit zur internationalen Begegnung und freien Geselligkeit außerhalb der Arenen gab. Gemeint sind hier weniger die Restaurants auf dem Reichssportfeld und auch nicht die zahllosen Empfänge und Partys der Nazigrößen. Das Urteil gründet sich vielmehr darauf, daß der Großteil der männlichen Athleten in einem Olympischen Dorf untergebracht wurde, so wie es erstmals bei den vorangegangenen Spielen in Los Angeles 1932 versucht worden war. Hatte das OK [Olympische Komitee C. H.] zunächst geplant, dafür eine bereits bestehende Kaserne zu renovieren, so ergab sich 1933 auf Vermittlung Walter v. Reichenaus die Chance, Neubauten zu bekommen. In der Nähe eines Truppenübungsplatzes in Döberitz/Brandenburg wurden in einem landschaftlich reizvollen Gelände 140 ‚kleine Wohnhäuser‘ für das Infanterie-Lehrregiment gebaut, deren Erstbezieher 3.500 Sportler wurden. Es gab Sporthallen, ein offenes und ein überdachtes Schwimmbad, Spazierwege, Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen. Zu den Gemeinschaftsräumen gehörten eine vom Norddeutschen Lloyd bewirtschaftete Speiseanstalt mit internationaler Küche und ein Kino.“

Eisenberg will einer neuen Sicht auf den Nationalsozialismus den Weg ebnen. In gezielter Negierung gesellschaftlicher Totalität isoliert sie Momentaufnahmen aus ihrem Kontext, um deren Allgemeingültigkeit, ja Universalität, kurz, das moderne Moment zu würdigen. Denn „Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen“ sind ja eine feine Errungenschaft, in Berlin 1936 wenigstens so lobenswert wie in Los Angeles 1932, will sie suggerieren.

Sie kritisiert die kritischen Reflexionen und Analysen bekannter und renommierter Sportwissenschaftler wie Hajo Bernett, Thomas Alkemeyer oder Horst Ueberhorst. Auch die Untersuchungen des Politikwissenschaftlers Peter Reichel über den Schönen Schein des Dritten Reichs qualifiziert Eisenberg ab:

„Diese Interpretation der Spiele vermag aus drei Gründen nicht zu überzeugen. Erstens ist das zugrundeliegende Argument methodisch fragwürdig, weil es nicht falsifizierbar ist. Wer immer das Gegenteil behauptet, daß Berlin 1936 ein Ereignis sui generis und der schöne Schein auch eine schöne Realität gewesen ist, riskiert es, als Propagandaopfer abqualifiziert zu werden.“

Die Olympiade in Berlin 1936 sei ein ‚Ereignis‘ ’sui generis‘ gewesen, gleichsam eine ’schöne Realität‘. Diese positivistische Abstraktion von jeglicher Gesellschaftsanalyse ist für nicht geringe Teile der Mainstream-Wissenschaft typisch. Ihre Argumentation steigert Eisenberg noch, indem sie Reichels Analyse im Reden von den vermeintlichen ontologischen Zwittern Sport und Propaganda untergehen lässt:

„Zweitens ist das Argument unergiebig, weil Sport und Propaganda wesensverwandt sind. Beide sind nach dem Prinzip der freundlichen Konkurrenz strukturiert, beide verlangen von den Akteuren eine Be-Werbung um die Gunst von Dritten (‚doux commerce‘). Daß dabei geschmeichelt, poliert, dick aufgetragen, ja gelogen und betrogen wird, überrascht niemanden, weder in der Propaganda noch im Sport. Olympische Spiele sind, so gesehen, immer Illusion und schöner Schein; eben das macht ihre Faszination aus. Daraus zu folgern, daß Berlin 1936 eine umso wirksamere Werbemaßnahme für den Nationalsozialismus gewesen sein müsse, wäre jedoch kurzschlüssig. Denkbar wäre auch, daß Nutznießer der Propaganda der Sport war. Diese Möglichkeit hat jedoch noch keiner der erwähnten Autoren geprüft.“

Eisenberg will sagen: So schlimm kann der Nationalsozialismus doch nicht gewesen sein, wenn ein so zentrales Moment für moderne, freizeit- und spaßorientierte Gesellschaften wie der Sport, gar ein ‚Nutznießer‘ dieses politischen Systems war. Diese eben zitierte Passage ist Ausdruck eines Wandels politischer Kultur in der BRD. Ungeniert lässt sie den Nationalsozialismus, am Beispiel der Olympischen Spiele von 1936, im Kontinuum bürgerlicher Gesellschaft, die eben im Sport ‚wesenhaft‘ lüge, dick auftrage und schmeichele, aufgehen.

Wie soll es nach der auf internationale Verständigungspolitik“ ausgerichteten Weimarer Republik möglich gewesen sein,

„daß die Olympiapropaganda nach 1933 plötzlich eine Nazifizierung der Athleten und des sportinteressierten Publikums bewirkte? Mußte nicht zuvor eine Versportlichung der Nazis erfolgt sein?“

Bei dieser Olympiade wurde ein ‚Weihespiel‘, die „Olympische Jugend“ von Carl Diem uraufgeführt. Es geht in diesem olympischen Weihespiel um „‚Kampf um Ehre, Vaterland'“. Die Jugend sieht ihrem Selbst-Opfer ins Gesicht: „Allen Spiels heil’ger Sinn: Vaterlands Hochgewinn. Vaterlandes höchst Gebot in der Not: Opfertod!“ Eisenberg ordnet diesen Opfertod folgendermaßen ein: das Diemsche „Festspiel“ werde

„in der sport- und tanzhistorischen Literatur als Verherrlichung des ‚Opfertodes‘ für die nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘ interpretiert – was nicht zu überzeugen vermag. Erstens gehörte die Opferrhetorik schon in der Weimarer Republik zum spezifisch deutschen Sportverständnis (…) Zweitens haben die Zeitgenossen des Jahres 1936 die Szene ohne Zweifel mit dem Ersten Weltkrieg und nicht mit dem bevorstehenden Zweiten in Verbindung gebracht.“

Auch wenn sich die Historikerin ganz sicher ist („ohne Zweifel“), bleibt zu betonen: die Erinnerung an die deutschen Toten des I. Weltkriegs war sehr wohl die Vorbereitung auf den II. Der ‚Langemarck-Topos‘ der Jugend, des Opfers und des Nationalen kommt hierbei zu olympischen Ehren. Die internationale Anerkennung der Spiele ist Zeichen des Appeasements dem nationalsozialistischen ‚Aufbruch‘ gegenüber. Wenn in einem Buch von 1933 ausgeführt wird:

„‚Daraus erhellt, daß bei Ausbruch des Krieges der Zukunft die Ausbildung künftiger Langemarckkämpfer um ein mehrfaches verlängert und die Material- und Munitionsmenge für heutige Schlachten um ein Vielfaches vermehrt werden muß'“,

so muss gerade eine solche Interpretation des Langemarck-Topos ernst genommen und nicht, wie bei Eisenberg, als quasi Weimarer Tradition, die zufällig 1936 wieder hervortritt, verharmlost werden. Dagegen ist die Kontinuität von ’33 bis ’36 zu sehen, die soeben zitierte Passage von ’33 bekommt im Festspiel von Diem eine internationale Beachtung findende Weihe, wie Eisenberg unschwer in der Forschungsliteratur hätte nachlesen können:

„So wurde im Glockenturm des Berliner Olympia-Stadions eine Gedächtnishalle für die Toten von Langemarck eingerichtet, und Carl Diems Eröffnungsspiel der Olympiade von 1936 endete mit ‚Heldenkampf und Totenklage‘; eine Division des Hitlerschen Ost-Heeres bekam den Namen ‚Langemarck'“.

Ein weiterer Kritikpunkt, ganz eng am Diemschen Spiel und seinen Protagonisten wie der Ausdruckstänzerin Mary Wigman orientiert, ist folgender: es lässt sich gut zeigen, wie Wigmans Auffassung von Opfertod Diems Weihespiel in diesem Punkt inhaltlich bzw. choreographisch bereits vor ’33 antizipiert hat, so am „Stück ‚Totenmal‘, einem Drama von Albert Talhoff, welches von Talhoff und Wigman 1930 gemeinsam inszeniert wurde, wobei Wigman die tänzerische Choreographie übernahm.

Das Werk wurde zum Gedenken an die Gefallenen des 1. Weltkriegs geschrieben. (…) [Zudem] ist dieses Werk ein Prototyp nationalsozialistischer Inszenierungen, zum einen wegen des Themas (Verehrung der gefallenen Soldaten) zum anderen wegen der Form (die Inszenierung stellt eine Kombination aus Sprechchor und Bewegungschor dar).“ Waren schon die „Tanzfestspiele 1935“ eine „Propagandaveranstaltung für den deutschen Tanz nationalistischer Prägung“, so kulminierte das im olympischen Jahr im Weihespiel von Diem, an dem Wigman aktiv beteiligt war. Ein Sportwissenschaftler, Micha Berg, weist auf die zentrale Bedeutung von Symbolik für das nationalsozialistische Deutschland hin und zitiert den völkischen Vordenker Alfred Baeumler:

„Das Symbol gehört niemals einem Einzelnen, es gehört einer Gemeinschaft, einem Wir. Dieses Wir ist nicht ein Wir des gesinnungsmäßigen Zusammenschlusses von Persönlichkeiten, ist nicht ein nachträgliches Wir, sondern ein ursprüngliches. Im Symbol sind Einzelner und Gemeinschaft eins. (…) Das Symbol ist unerschöpflich, in ihm erkennt sich sowohl der Einzelne wie die Gemeinschaft.“

Dieses ‚ursprüngliche Wir‘ kehrt heute im deutschen Feuilleton wieder, gerade am Beispiel der deutschen Hymne, wie weiter unter an einem weiteren Beispiel gezeigt werden wird. Es bleibt zu konstatieren, dass Eisenberg darauf beharrt: Diems Festspiel ende doch mit Beethovens „Schlußchor der IX. Sinfonie mit der ‚Ode an die Freude‘ von Friedrich Schiller“, was Ausdruck von ‚Kunst‘ sei. Sie schließt ihre Arbeit, indem sie nicht nur dem Sport unterm NS mehr Möglichkeiten als noch in der Weimarer Republik attestiert, sondern auch, den II. Weltkrieg als „Beeinträchtigung des Wettkampfbetriebs“ euphemisierend, dem Nationalsozialismus bescheinigt, er habe den „Sport“ zuungunsten des Turnens gewinnen lassen, was sie als „Rahmen für den Sport in der Bundesrepublik“ für gut erachtet.

Besser hätte es die Neue Rechte oder jeder Konservativismus auch nicht hinbekommen: Die Nazis wurden im NS sportlich und nicht umgekehrt. Damit werden der NS verharmlost, Juden gedemütigt und Deutschland gerettet, die Habilitations-Mission ist erfüllt.

Dieser etwas ausführlichere Ausschnitt mag verdeutlichen, wie gegenwärtige Geistes- und Sozialwissenschaft in der Bundesrepublik funktioniert (wenn sie erfolgreich sein will im affirmativen Sinne, Eisenberg bekam alsbald eine Professur an der Humboldt-Universität). Es ist gerade bei politisch angeblich unverdächtigen Personen Mode geworden, den Nationalsozialismus einzubetten in ein Kontinuum, um auf jeden Fall den Zivilisationsbruch, den Auschwitz bedeutet, zu verdecken oder zu leugnen.

Die bürgerliche Gesellschaft wird gerade in Deutschland so dargestellt, als sei die Gesellschaft im NS 1936 ganz ähnlich strukturiert gewesen wie die der USA bei den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles. Das, was das nationalsozialistische Deutschland sehr spezifisch kennzeichnete, wird gezielt weggewischt, als irreal abgetan oder schlicht und ergreifend gar nicht analysiert. Vielmehr soll gelten: Die Existenz von Liegestühlen und Blumenbeeten für Sportler wiegt den Antisemitismus und Ausschluss jüdischer SportlerInnen auf. Dieser Antisemitismus ist erst auf den zweiten Blick erkennbar, ein Blick, der allzu selten vorgenommen wird.

5) Drei weitere Beispiele ‚linker‘ Wissenschaftler und deren Verharmlosung der deutschen Verbrechen

In der Dissertation des heutigen Konstanzer Juniorprofessors Sven Reichardt wird diese Position am Beispiel eines Vergleichs deutscher und italienischer ‚faschistischer‘ Geschichte deutlich:

„Der in dieser Arbeit zugrundegelegte Faschismusbegriff stellt eine eigene praxeologische Analyse der faschistischen Bewegung vor, die nicht an die marxistische Deutung und nur selektiv an die neuesten angloamerikanischen Arbeiten und Noltes Definition anknüpft“.

Antisemitismus wird zwar als Differenz von italienischen Squadristen und deutscher SA erwähnt, aber als wenig bedeutsam klein geredet, zudem als bloßer ‚Rassismus‘ verkannt. Das ist Folge des bei Reichardt paradigmatisch für weite Teile heutiger Historiografie hervortretenden komparatistischen Zugangs, der die Präzedenzlosigkeit der deutschen Verbrechen und ihrer Vorgeschichte gezielt negiert.

Konsequent ist es, wenn u. a. Reichardt dem Altlinken Karl Heinz Roth Rat gab bei der Verabschiedung einer Analyse des Nationalsozialismus zugunsten eines ubiquitären Faschismusbegriffs, vgl. Roths Aufsatz aus dem Jahr 2004 „Faschismus oder Nationalsozialismus? Kontroversen im Spannungsfeld zwischen Geschichtspolitik, Gefühl und Wissenschaft“.

Roth exkulpiert die Deutschen in althergebrachter Diktion von ihrem Antisemitismus, wenn er schreibt:

„Weitaus gebräuchlicher ist indessen der Begriff ‚Nationalsozialismus‘: Es handelte sich zunächst ebenfalls um eine affirmative Selbstdefinition, die aber elementare Prämissen, nämlich den militanten Antisozialismus, verschleiert. Darüber hinaus ist der Begriff nicht vergleichsfähig, weil er seine faschistischen Kontexte und Varianten per definitionem ausschließt. Er schließt aber auch alle anderen Bezüge zur europäischen und Weltgeschichte aus oder unterwirft den Blick auf Europa und die Welt der affirmativen Selbstkonnotation. Auch die kritisch distanziert gemeinte Analyse des ‚Nationalsozialismus‘ vermag nicht über einen germanozentrischen Blickwinkel hinaus zu gelangen“.

Bezeichnend ist, dass Roth nicht von einer deutschen Spezifik bei der Analyse des NS spricht, vielmehr einer „transnationale[n] und komparative[n] Sichtweise auf die faschistische Epoche“ das Wort redet. Das wird von einem weiteren Juniorprofessor sekundiert, wenn Kiran Klaus Patel ohne mit einem Wort den eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen und die Präzedenzlosigkeit der Shoah analysierend, „transnational“ Phänomene wie den NS betrachten möchte und zum Schluss kommt:

„Gerade für das NS-Regime verspricht eine transnationale Perspektive neue Erkenntnisse. (…) Denn die Distanz zwischen NS-Regime und New Deal war weniger tief als häufig angenommen“.

Solche Perspektive hat durch Arbeiten der Neuen Rechten – exemplarisch sei der wichtigste Neue Rechte in der Bundesrepublik seit Anfang der 1970er Jahre bis heute, Henning Eichberg, erwähnt – über die Jahrzehnte hinweg den Boden bereitet bekommen.

6) Das Opfer bringen und singen: „Blüh im Glanze deutsches Vaterland“ – von Diem zu Klinsmann

Jürgen Klinsmann wird zu Unrecht als wenig typisch deutscher Sportler betrachtet. Zwar war er in England bei den Spurs eine Kultfigur geworden, weil er als Deutscher so nett erschien und die Fans zu sangen begannen „Juergen was a German now he is a Jew“, was auf die umgepolte Selbststilisierung zum „Judenklub“ Tottenham Hotspurs anspielt, aber analytisch ist das nicht tief gehend.

Vielmehr war es Klinsmann, der das Deutsche evozierte, aggressiv zu werden, trotz kalifornischem Wohnort und internationalem Habitus. Er war es, der die deutsche Nationalmannschaft fast einhellig dazu brachte, lauthals die Nationalhymne zu trällern, den jungen Deutschen ein positives Gefühl für ihr Deutschland zu geben. Dass es so ein Gefühl nach Auschwitz in Deutschland nie wieder geben sollte, fällt da natürlich unter den volksgemeinschaftlichen Tisch. Dass keinem es auffällt oder zu peinlich oder widerlich ist, eine Hymne zu singen, die wortwörtlich auch im Nationalsozialismus gesungen wurde, ist doch schockierend, nicht?

Weit mehr: in einem Artikel der wiederum eher links-liberal daherkommenden Frankfurter Rundschau steht am 27. Juni 2006 folgender Text, der sich anhört als wäre er 1936 geschrieben worden, lange bevor der Autor geboren wurde:

„Wir wissen, schon in zwölf Jahren wird fast keiner mehr erzählen können, wie er sich als Kriegsteilnehmer in einem Kreis von Kriegsteilnehmern gefühlt hat, als der Sieg der deutschen Nationalmannschaft in Bern durch den europäischen Äther ging. Wir wissen zugleich: Schon in ein paar Wochen wird unsere Erinnerung an die schönsten Spiele dieser Weltmeisterschaft merkwürdig transparent und ausgeblichen sein, als vertrüge unsere tägliche Gedächtnispraxis das heftige Licht des Geschehenen auf Dauer nicht. Die Gegenwart muss sich einhaken. Anders gesagt: Unsere stärksten Gefühle lassen uns für eine kurze Spanne spüren, dass wir die kommenden Toten sind. Deshalb ist es schön, sie zu zweit, und besonders rührend, sie in einer Gemeinschaft von ähnlich Gestimmten durchleben zu dürfen. Gemeinsam singend, genießen wir uns als die baldigen Toten.“

Diese Propaganda ist nichts anders als die Beschwörung einer Gemeinschaft von Deutschen, die sich in völkischer Tradition sehen wollen. Es hört sich wirklich genuin nationalsozialistisch an, ist aber ein Text eines jüngeren Autors, Georg Klein, Jahrgang 1953 und Ingeborg-Bachmann-Preisträger.

Dieser Feuilleton-Text zeigt die Ungeniertheit, die das nationale Apriori ermöglich, hervorkitzelt und zum Ausdruck bringt. Eigentlich wäre bisher bei so einer Zeile, dass die stärksten Gefühle jene seine, die mir sagen, dass ich, nein: wir die „kommenden Toten“ sein werden, ein Aufschrei durch das Land gegangen. Heute nicht. Es geht nicht um die Sterblichkeit der Menschen.

Es geht um die Konstruktion eines homogenen Ganzen, eines Volkskörpers, das jeden einzelnen nur unter dem Aspekt dieses Körpers, des Volkes sieht und nicht – gleichsam katholisch gedacht – als Kind unter „Gottes Hand“. Muss man wirklich Katholik werden um solch völkische Rede der Frankfurter Rundschau zu kontern? Gut, Klein möchte als Deutscher sterben, soll er das.

Es wird auch weiterhin Leute geben, die lieber als Menschen, als ganz spezifische Individuen mit Macken, Vorlieben, Träumen, Sehnsüchten, Hoffnungen, Enttäuschungen, Freuden und Ekel, denn als Deutsche sterben.

Dazu passt, dass der ehemalige Bundestagspräsident, Wolfgang Thierse, fordert, doch noch mehr Strophen dieser deutschen Hymne zu verfassen. Nicht etwa dass der ehemalige DDR-Bürger Thierse die Abschaffung eines nationalen Symbols forderte, wo kämen ‚wir‘ hin? Wer in Berlin in den Stadtteil Lichtenberg im Osten fährt weiß wie aktuell die Gefahr des Umkippens vorgeblich harmlosen Singens der deutschen Hymne in Hetze und Gewalt durch Nazis ist. Dort gibt es Straßen, wo die Reichskriegsflagge in Eintracht mit der schwarzrotgoldenen am Haus hängt.

Vor wenigen Wochen, vor der WM, wurde in dieser Gegend ein bekannter deutsch-türkisch-kurdischer Kommunalpolitiker schwer verletzt. Nazis haben hier die Hoheit, schwarzrotgoldene Hosenträger, Markenzeichen schon seit eh und je der dickbäuchigen Nazis, schon zu BRD-Zeiten, sind ja heute in Mode, wo alle deutsche Welt schwarzrotgold trägt, als Armkettchen, Rock, T-Shirt oder Gürtel aus biologisch abbaubarer Wolle.

All diejenigen, die jetzt das Deutsche hochleben lassen sind politisch für solche Gewalttaten von Nazis mitverantwortlich zu machen. Das ist ja auch nichts Neues: früher haben auch Liberale und Linke Konservativen bzw. Rechten die Mitschuld am immer stärker werdenden Rassismus gegeben, am deutlichsten und treffendsten vielleicht 1992/1993 bei der de facto Abschaffung des individuellen Asylrechts durch CDU/CSU/SPD und ihren Helfern in anderen Parteien, Medien und Verbänden.

Geschichtspolitisch wurde immer auf die Vordenkerfunktion der geistigen Elite hingewiesen, nicht erst zum Historikerstreit 1986ff. Bereits Ende der 1970er Jahre, Anfang der 1980er Jahre, als in der BRD das Nationale offen aufs Tableau kam – nicht zufällig schon damals übrigens von Jürgen Habermas, der 1979 zwei Bände herausgab, welche die „nationale Frage“ auf die Tagesordnung setzten und Martin Walser davon sprach, lediglich wenn „wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Fragen zuwenden“ – wurde z. B. von Wolfgang Pohrt auf diese nationale Vordenkerfunktion zumal der Linken, Alternativen und Grünen verwiesen.

Schon damals also wurde deutlich dass das Einfordern universalistischer Prinzipien von Staatsbürgerschaft und politischem Gemeinwesen, für das Habermas steht, einher gehen kann mit einer Verharmlosung der deutschen Geschichte, ja ein nationales Narrativ gleichsam als Grundlage auch eines nicht blutsmässigen Staatsdenkens zu erkennen ist.

Wer also heute im Schwenken der deutschen Fahne nichts Gefährliches sieht, weil er oder sie nicht die Nazis auf der Straße, die fast komplett ’national befreite Zone‘ Ostdeutschlands sieht, weil doch lediglich Party gemeint sei und ein ‚Patriotismus‘ nie und nimmer mit Nationalismus verwechselt werden dürfe, irrt gewaltig. Das wird im folgenden Punkt noch deutlicher.

In einer Radiosendung des SWR in Stuttgart vor wenigen Tagen ging es um diesen neuen ‚Patriotismus‘, die Fahnenmeere etc. Hermann Bausinger, emeritierter und wohl dekorierter Kulturwissenschaftler aus Tübingen legte die Pace dieser nationalen Debatte vor. Er meinte ganz freudentrunken, dass das neue nationale Pathos völlig harmlos und schön sei, gerade weil alles Militärische daran fehle. Und dieses Fehlen des Militärischen sei Konsequenz der deutschen Verweigerungshaltung im Irak-Krieg, ja die deutsche Friedenssehnsucht sei Prämisse eines neuen, zurecht stolzen Deutschland. Der Hass auf die USA, der Antizionismus, das Appeasement und die klammheimliche Freude ob des Djihad sind dieser friedlichen Hetze inhärent.

7) Keine „Reue“ zeigen: gegen „amerikanischen Messianismus“ – Matusseks nassforsche Invektiven oder Wie funktioniert sekundärer Antisemitismus?

Der Spiegel Kultur-Ressort-Leiter Matthias Matussek hat mit seinem Bestseller „Wir Deutschen – Warum uns die anderen gern haben können“ ein offen nationalistisches Buch geschrieben, das in vielerlei Hinsicht ohne Walsers Tabubruch von 1998 im Mainstream-Journalismus nicht so ohne weiteres zu denken war. Der Bezug zu Bausingers Friedensliebe der Deutschen ist ganz offenbar in einem Interview Matusseks mit Peter Sloterdijk. Matussek gibt dem TV-Philosophen eine neu-deutsche Steilvorlage, wenn er fragt:

„Sichtbar wird vielmehr ein neues deutsche Selbstbewusstsein, zumindest in der Außenpolitik, die sich sogar den Widerstand gegen den amerikanischen Messianismus erlaubt hat.“

Das Ressentiment gegen „jüdischen“ Messianismus, wie er in antisemitischen Texten überall auftaucht, bekommt hier völlig selbstverständlich, aber rhetorisch kaschiert, seine Weihen. Der alte SPD-Mann Egon Bahr nennt das in einem Büchlein dann logisch „den deutschen Weg“ – gegen den „amerikanischen“ – und der Wirtschaftswissenschaftler Werner Abelshauser stimmt als einer unter vielen in diesen nationalen Chor ein.

Matussek ergeht sich nicht nur in Allgemeinplätzen, die er oft selbst erfindet wie folgenden „Die Liebe zum Vaterland ist eine Kraft, schon seit der Antike“ – aber sein Ton ist so ungeheuerlich aggressiv, schwülstig deutsch, durchsetzt von antienglischen Invektiven, dass deutlich wird, wie stark ein stolzer Deutscher auf Feinde und Gegner eingestellt ist.

Da werden Engländer zum „unsympathischsten Volk auf Erden“ erklärt, der deutsche „Bildungsbürger“ beschworen und gegen die „englische Klassengesellschaft“ gesetzt und Klaus von Dohnanyi, ein Altpolitiker der SPD aus Hamburg, phantasiert demokratische Traditionslinien der Deutschen herbei, die angeblich älter seien als die Englands ohne zu betonen, dass es in Deutschland keine erfolgreiche und konsequente demokratische Revolution je gegeben hat. Ein Hinweis auf deutsche Verbrechen trotz „Bildung“ gereicht den beiden Gesprächspartnern Dohnanyi und Matussek dazu, Englands Sklavenhandel und Nordamerikas Sklavenhaltergesellschaft zu geißeln. Diese deutschen Schuld-Projektionsleistungen sind zwar häufig analysiert worden, aber treten heute umso reflexhafter, ungenierter hervor als je zuvor. 9/11 hat da Dämme brechen lassen.

Und so kulminiert das Gespräch der beiden Stolzdeutschen in einem Satz, der an Antisemitismus und Wiederbetätigung im Sinne des Nationalsozialismus nicht deutlicher ausfallen könnte:

„Die Juden hatten es ja sogar in Deutschland in den ersten Nazi-Jahren besser als damals die meisten Schwarzen im Süden.“

So spricht Klaus von Dohnanyi und Matthias Matussek hats gefreut! Solche Tabubrüche, den Nationalsozialismus mit seiner Braunen Revolution von 1933 als Beginn zu loben, sind heute eine Bestsellergarantie und kein Fall mehr für einen Skandal. Der Verlag der solche antijüdische Propaganda druckte heißt auch nicht Grabert-Verlag, vielmehr S. Fischer, einer der ganz großen Verlage in der Bundesrepublik.

An anderer Stelle untermauert Matussek seinen (nun sekundären) Antisemitismus, seine Erinnerungsabwehr ist Walser nach dem Munde geredet:

„Bei uns wurde der Holocaust, nach einer lähmenden, brütenden Phase der Verdrängung, in eine übereilfertige, nicht mehr versiegende, immer glattere und abgeschliffenere Beschuldigungs- und Verachtungs- und Selbstverachtungsphraseologie überführt, in der ständig nach dem politischen Vorteil geschielt wird.“

Vor 30 Jahren hätte jeder Leser sofort an einen Revisionisten gedacht bei solchen Zeilen, aber nein: Matussek ist kein Holocaustleugner, gewiss nicht. Er ist ein typischer sekundärer Antisemit, der immer, wenn es um die deutschen Verbrechen geht, jene zwar nicht leugnet aber als Bagatelle abtut, ja er spricht – wörtlich – bezüglich des Holocaust, der als Thema auf einem Empfang oder einer Party vorkam, von einem „Stimmungskrepierer.“

Diese neu-deutsche Selbstverständlichkeit gerade als Deutsche stolz zu sein, zu betonen, ja zu brüllen: die deutsche Geschichte war im Kern was sehr Schönes, etwas ganz Einzigartiges, „Hitler“ war lediglich ein „Freak-Unfall der Geschichte“ (O-Ton Matussek), ist die neue Befindlichkeit, die neue, deutsche Ideologie im 21. Jahrhundert.

„Ich bin nicht tief traumatisiert, denn ich denke nicht oft an die deutsche Schuld und an den Holocaust“ sagt Matussek, er kämpft wie Walser und Konsorten gegen die „moralische Keule“.

Das sind die Töne des nationalen Apriori.

hagalil.com 07-07-2006

 

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