Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Militarismus

Nie, nie, nie wieder Wehrpflicht!

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Wer in der undogmatischen, autonomen und linxradikalen politischen Linken in diesem Land seit November 1989 groß wurde, assoziiert mit „nie, nie, nie wieder“ selbstredend „nie, nie, nie wieder Deutschland“. Wir, die wir Widervereinigung ohne „e“ schrieben, ahnten, was nach dem „Mauerfall“ kommen würde:

Rassismus, Anschläge von Neonazis, Nationalismus, Abwehr der Erinnerung an den Holocaust und die Verbrechen der Wehrmacht, Antisemitismus und Kriegstreiberei. Und wir haben das geradezu prophetisch vorhergesehen. Denn exakt so kam es. Seit den 1990er Jahren gab es ca. 250 Morde und Brandanschläge von Rechtsextremen und Neonazis an als nicht-deutsch Kategorisierten, vor allem an Migrant*innen, Mölln, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen stehen dafür exemplarisch.

Wir undogmatischen Linken versuchten unmittelbar nach November 1989 für eine DDR ohne SED zu kämpfen, einen echten demokratischen Aufbruch mitzumachen, mit Treffen in Ost-Berlin. Pustekuchen.

Dann wurde Doitschland 1990 Fußball-Weltmeister der Männer und am 24. August 1992 kam das Kleidungsstück der Deutschen schlechthin zum Einsatz, die Jogginghose, bis heute nicht nur in Berlin allseits beliebt, wie Klaus Bitterman festgehalten hat:

Der Jogginghose zu ihrem Durchbruch verholfen hat Harald Ewert. Er hat es mit ihr zum Coverboy auf viele nationale und internationale Blätter geschafft. Diese Jogginghose feiert nun 20-jähriges Jubiläum. In das Deutsche Museum Kohls hat es die wohl berühmteste Jogginghose Deutschlands (echt nur mit dem gelben Fleck vorne drauf) aus unerfindlichen Gründen nicht geschafft.

Damals vor 20 Jahren jedenfalls stand Harald Ewert mit Hitlergruß vor dem Ausländerwohnheim in Rostock-Lichtenhagen und unterstützte die Menge moralisch in ihrem Tun, zu dem er selber aus alkoholbedingten Gründen nicht mehr in der Lage war, nämlich das Wohnheim in Flammen aufgehen zu lassen und die Bewohner gleich mit.

Die massive Einschränkung des individuellen Rechts auf Asyl im Mai 1993 durch eine große Koalition aus CDU, CSU, FDP und SPD, Grüne und Linke stimmten dagegen wie auch einzelne aus SPD und FDP, war ebenso ein Resultat von 1989:

Die Abstimmung über den so genannten „Asylkompromiss“ im Bundestag am 26. Mai 1993 wurde von Protesten begleitet. Rund 10.000 Demonstranten legten das Bonner Regierungsviertel lahm. Am Ende stimmten 521 Bundestagsabgeordnete für die Gesetzesänderung, 132 dagegen. Die zur Grundgesetzänderung nötige Zweidrittelmehrheit war zustande gekommen. Nur drei Tage später, am 29. Mai 1993, starben fünf Menschen türkischer Abstammung bei einem rechtsradikalen Brandanschlag in Solingen. Es waren keine Asylbewerber.

Man könnte hier natürlich noch ergänzen, dass es auch nicht richtig gewesen wäre, wenn diese Neonazis Asylbewerber in Solingen ermordet hätten.

Das war unser einziger Erfolg an diesem 26. Mai 1993: dass 130 Bundestagsabgeordnete nur mit Hubschraubern zum Parlament in Bonn am Rhein geflogen werden konnten, weil wir die Zufahrtswege wenigstens teilweise blockiert hatten.

Die Paulskirchenrede des Schriftstellers Martin Walser im Oktober 1998 war ein Zeichen des erinnerungsabwehrenden Antisemitismus, die ebenfalls Resultat von Nov. 1989 ist – zumal der stehende Applaus der gesamten politischen und kulturellen Elite damals in der Paulskirche zeigte, dass Walser diesen Leuten aus der Seele sprach, als er sagte:

… wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen.

Keiner hat wie Walser die Verbindung von Nationalismus, antisemitischer Erinnerungsabwehr und die Liebe zu Deutschland und das Hoffen auf die „Wiedervereinigung“ verkörpert und auf den Punkt gebracht. Walser sagte in seiner Paulskirchenrede im Oktober 1998:

Im Jahr 1977 habe ich nicht weit von hier, in Bergen-Enkheim, eine Rede halten müssen und habe die Gelegenheit damals dazu benutzt, folgendes Geständnis zu machen: „Ich halte es für unerträglich, die deutsche Geschichte – so schlimm sie zuletzt verlief – in einem Katastrophenprodukt enden zu lassen.“

Und: „Wir dürften, sage ich vor Kühnheit zitternd, die BRD so wenig anerkennen wie die DDR. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offenhalten.“ Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht, dafür Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung.

1999 kam es dann zum ersten Kampfeinsatz deutscher Soldaten nach dem SS-Staat – natürlich wiederum gegen alte Feinde, hier: Jugoslawien bzw. Serbien. Jetzt waren auch die Grünen – federführend Außenminister Joschka Fischer – mit dabei.

Gestern verabschiedete im Deutschen Bundestag die Koalition aus CDU/CSU und SPD ein neues Wehrpflichtgesetz („Wehrdienst-Modernisierungsgesetz – WDModG“).

Vor diesem Hintergrund und der expliziten Äußerung von 18-jährigen Schüler*innen, dass sie „nicht für dieses Land sterben wollen“ und „kein Kanonenfutter werden wollen“, ist der gestrige Wehrpflicht-Streik herausragend.

Bundesweit gingen ca. 40.000 Schülerinnen und Schüler in 80 Städten gegen die Wehrpflicht und somit gegen die Regierungspolitik auf die Straßen.

Ich hörte sie hier in Heidelberg rufen „Nie, nie, nie wieder Wehrpflicht“. Ein sehr guter und enorm wichtiger Demospruch. Diese Jugend gibt Hoffnung. Sie ist geistig viel weiter als die große Volksgemeinschaft im Deutschen Bundestag, wobei die AfD nur aus taktischen Gründen dagegen stimmte, aber im Kern natürlich die Bundeswehr nicht weniger bewundert wie SPD oder CDU.

Auch beim Unterstützen der kapitalistischen Grundstruktur unserer Gesellschaft sind sich diese Parteien vollkommen einig. Da lacht der Brandschutzmauer-Meister.

Nach Fridays for Future (FFF) jetzt Fridays gegen Wehrpflicht, was auch inhaltlich passt, da das Militär mit zu den allergrößten Naturzerstörern umd Luftverschmutzern gehört.

Während wie gezeigt, die alte Generation lieber direkt Geld an die Ukrainische Armee spendet, statt Blumen am Grab abzulegen, ist die junge Generation viel weiter und kritischer.

Also: Unterstützen wir die Anti-Wehrpflicht Jugend! Nie, nie, nie wieder Wehrpflicht ist ein Kernpunkt von nie, nie, nie wieder Deutschland. Es braucht diplomatische Lösungen für Konflikte wie in der Ukraine. Stopp aller Waffenlieferungen an die Ukraine, Rückbau der Bundeswehr, Abrüstung weltweit, schärfste Sanktionen für Rüstungskonzerne weltweit und massive diplomatische Bemühungen um ein Ende des Krieges.

Alla hopp, wie die Kurpfälzer*innen sagen.

 

Was, wenn auch zionistische Journalistinnen, Tausende israelische Akademikerinnen oder Pro-Israel Politiker für ein sofortiges Ende des Krieges in Gaza sind?

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

 

Der Krieg in Gaza muss beendet werden. Sofort. HEUTE.

Alle Geiseln müssen freikommen.

Ausschließlich die Hamas ist verantwortlich für den Ausbruch dieses Krieges.

Die unschilderbaren Massaker durch Palästinenser, nicht nur durch die Hamas und den Islamischen Dschihad, im Süden Israels am 7. Oktober 2023 mit 1200 Ermordeten, lebendig Verbrannten, vergewaltigten, zerhackten, gefolterten, erschossenen Jüdinnen und Juden und anderen waren das schrecklichste Ereignis jüdischer Geschichte seit dem Holocaust.

Die wenigen noch lebenden Geiseln, vielleicht 23 oder auch nur 10 oder gar keine –  wir wissen es nicht – haben offenkundig nach 19 Monaten Krieg nur und wirklich nur eine Chance, wenn Israel ankündigt, dass der Krieg zu Ende ist – nicht nur für 60 oder 90 Tage, sondern komplett beendet wird.

Warum? Weil nur Irrationalisten und Fanatiker meinen, eine Terrororganisation, die eng mit der Bevölkerung verwoben ist wie die Hamas, auslöschen zu können. Offenbar gibt es in Israel zu viele Militaristen, die weder von der Niederlage der USA in Vietnam je gehört haben – das war 1975 – noch von jener der Sowjetunion in Afghanistan, das war 1989. Die Feinde waren jeweils viel größer und stärker als die Hamas – aber strukturell ähnlich, Guerilla- und Terrortruppen, die eng mit der Bevölkerung verwoben waren. Der Vietcong hat sich 1977 aufgelöst. Der Islamismus und Jihadismus wie die Taliban bekamen gerade nach 1989 noch mehr Auftrieb, was auch zum 11. September 2001 führte.

Viele moderatere arabische Staaten wollen keineswegs eine Weiterführung der Herrschaft der Hamas. Vielmehr sind diese arabischen Staaten, wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Marokko, aber auch und zunehmend Saudi-Arabien, Jordanien und Ägypten (deren Friedensverträge ja nur auf dem Papier existieren) oder Katar, ja sogar muslimische Staaten am Ende der Welt – von Nahost aus betrachtet – wie Indonesien bereit, Frieden zu schließen mit Israel – Frieden und diplomatische Beziehungen! -, wenn der Krieg aufhört UND ein Staat Palästina entsteht. Indonesien hat das diese Woche angekündigt: Anerkennung Palästinas heißt dann für das mit Abstand größte muslimische Land der Erde, Anerkennung Israels!

Ich war nach dem 7. Oktober gegen eine Anerkennung „Palästinas“, wie viele andere auch. Das wäre ja wie ein Entgegenkommen gewesen, ein Preis für die schrecklichsten Massaker an Juden seit der Shoah.

Doch die Situation hat sich geändert. Der Krieg hat kein Ziel mehr, anfangs war es das Zerstören der Raketen in Gaza, auch wenn bis heute immer wieder mal Raketen nach Israel abgefeuert werden – es sind nur noch sehr wenige, verglichen mit dem Raketenterror die vielen Jahre bis zum 7. Oktober 2023 und noch die Wochen danach.

Das veränderte Klima und die veränderte Situation zeigen sich auch an den Aktionen und Reaktionen in den letzten Tagen. So schreibt eine Feuilleton-Redakteurin der FAZ, Tania Martini, am 30. Mai über eine Resolution von israelischen Akademiker*innen mit dem Titel „An Urgent Call to the Heads of Academia in Israel“, die sich für ein sofortiges Ende des Krieges in Gaza aussprechen, weil sie nicht länger mitschuldig sein wollen. Ihr Schweigen bedrückt diese mittlerweile über 1400 Unterzeichnenden massiv. Sie betonen, dass sie es für unerträglich halten, dass gerade jene – eher links-liberalen oder linken – Wissenschaftler*innen, die zumal 2023 und bis heute gegen die geplante Justizreform demonstrierten, jetzt schweigen oder abwiegeln würden.

Martini hat auch ein Buch zum 7. Oktober mit herausgegeben – Klaus Bittermann/Tania Martini (Hg.) (2024): Nach dem 7. Oktober. Essays über das genozidale Massaker und seine Folgen, Berlin: Edition Tiamat -, sie weiß ob des linken, islamistischen wie postkolonialen oder des Mainstream-Antisemitismus.

Aber sie schreibt jetzt, im Mai 2025, gegen den Krieg, der Israel nämlich selbst beschädigen würde:

Im Aufruf „An Urgent Call to the Heads of Academia in Israel“ bezeichneten sie die Tötung von 53.000 Menschen, darunter 15.000 Kinder und mindestens 41 israelische Geiseln, die Verwandlung des Gazastreifens in ein unbewohnbares Gebiet sowie die Ideen zur Vertreibung der Palästinenser als „Kriegsverbrechen und sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.

(…)

Der israelische Soziologe Natan Sznaider stellte kürzlich in einem Artikel eine entscheidende Frage: „Wie viel Leid von anderen kann man rechtfertigen, um selbst nicht mehr zu leiden?“ Eine Frage, die freilich für beide Seiten gelte. Dass jedoch oft nur eine gesehen wird, ist tatsächlich auch ein moralischer Zusammenbruch.

Ganz ähnlich argumentiert eine Volontärin der ZEIT, Anastasia Tikhomirova. Sie hat viele Texte über den 7. Oktober und den grassierenden Antisemitismus in Deutschland und anderswo publiziert. Doch sie sieht eine zunehmende Fanatisierung nun beider Seiten: Der ohnehin schon fanatischen Pro-Palästina-Szene, die sich fast nie als Pro-Palästina UND Pro-Israel positioniert, sondern fast immer antisemitisch ist und Israel zerstören sowie Juden töten möchte, und der Pro-Israel-Szene, die das Leid in Gaza entweder nicht sehen möchte, oder aber es herunterspielt nach dem Motto: „Selbst schuld, nur die Hamas ist Schuld“.

Sie möchte raus aus diesem Freund-Feind-Denken und zitiert in ihrem Text „Raus aus dem Freund-Feind-Schema“ vom 31. Mai 2025 moderate palästinensische Stimmen wie Hamza Howidy oder Ahmed Fouad Alkhatib, der „Realign for Palestine“ mitgründete. Ich habe beide, Howidy wie Alkhatib, im März 2025 auch schon als sehr bedeutende Stimmen für eine moderate und pro-israelische wie tatsächlich pro-palästinensische Position zitiert.

Tikhomirova schreibt:

Ein neues Sprechen lernen

Zwischen den Fronten finden sich Menschen, die für ein Ende des Krieges und der Besatzung einstehen, für eine Rückkehr der israelischen Geiseln und den Kampf gegen islamistischen Terrorismus. Die vor der teils genozidalen Rhetorik der israelischen Regierung erschrecken (wenn beispielsweise der Polizeiminister wörtlich von „auslöschen“ spricht), aber auch vor den Vernichtungsfantasien der Hamas. Die Druck auf die israelische Regierung ausüben wollen, ohne Israel als Ganzes zu dämonisieren. Die auch die große Mitverantwortung der Islamischen Republik Iran sehen, die die Hamas mit Waffen versorgt. Sowie der Türkei, die der Hamas Geld gibt und ihre Anführer mit türkischen Pässen ausstattet. Auch zu diesen Ländern unterhält Deutschland wirtschaftliche und politische Beziehungen.

Solche differenzierten, zionistischen und Anti-Kriegs-, Pro-Palästina-Positionen sind aber weiterhin die Ausnahme, doch sie gewinnen an Kraft.

In der typischen Pro-Israel-Szene dominiert eher die Position der Jüdischen Allgemeinen wie von Michael Thaidigsmann, der am 30. Mai 2025 festhält:

Es wirkt wie ein Paradoxon: 600 Tage nach den Massakern der Hamas scheint Europa sich doch noch auf eine gemeinsame Haltung verständigen zu können. Und die lautet: Israel ist zu weit gegangen und muss gestoppt werden. Zur Not auch mit Sanktionen.

Dabei gibt es viele ganz normalen Deutschen, welche sich in der Tat von Juden und Israel abwenden und hinausbrüllen, dass jetzt endlich, na klar, Hitler überwunden sei. So im Focus der Journalist Gabor Steingart:

Deutschland war Gefangener der Hitlerzeit – mit Merz hat diese Haltung ein Ende.

Auf Gabor Steingart hat die Jüdische Allgemeine mit Ralf Balke die treffende Antwort:

Da ist von der ‚Unterwerfung‘ die Rede, die jetzt vorbei sei, weshalb Deutschland ‚Selbstbewusstsein‘ demonstriere. So wird die Kritik von Merz an Israel zu einer Art Zeitenwende hochgejazzt, die man sehnsüchtig erwartet habe, um aus dem ‚langen Schatten der Geschichte‘ heraustreten zu können. Auch das ist eigentlich wenig originell – schließlich forderten das viele Deutsche schon seit dem 9. Mai 1945. Schluss sei nun jedenfalls mit der ‚Leisetreterei‘, ‚Israel erfährt eine Behandlung ohne Samthandschuhe‘. Oder anders formuliert: Endlich zeigt jemand den Juden, was eine Harke ist.

Die Pointe ist darüber hinaus: die neu-deutsche Frechheit und Unverschämtheit setzte exakt am 9. November 1989 ein, als sie alle im Deutschen Bundestag in BONN die deutsche Nationalhymne sangen, auch und gerade die SPD.

Das war der Tag, als Hermann L. Gremliza, den nicht nur ich hier und heute vermisse, aus der SPD ausgetreten ist.

 

Danach kam die von den Steingarts so geliebten anschwellenden Bocksgesänge des neuen Deutschland, die „selbstbewusste Nation“, wie die Neuen Rechten es hinausposaunten.

Es kamen die Neonazis und die Brandanschläge in Solingen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen und so weiter. Später kam dann – unter Rot-Grün – der erste Bundeswehr-Kriegseinsatz, der erste Einsatz deutscher Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg, gegen – na klar, ein Opfer des Zweiten Weltkriegs – Jugoslawien. Damals sahen Deutschlandnormalisierer ein „Auschwitz“ in Kosovo, wo es doch eine brutale nationalistische Politik war – aber nie im Leben auch nur im Ansatz mit Auschwitz in einem Atemzug zu nennen. Aber spätestens seit 1999 kämpft Deutschland wieder – diesmal gegen ein imaginiertes Auschwitz.

Dazu kommt die militaristische „Zeitenwende“, die – so der Professor für Erwachsenenbildung Klaus Ahlheim (1942-2020) – seit Herbst 2012 im Schloss Bellevue, von der damaligen Bundesregierung und Thinktanks geplant wurde. Mehr Militär, mehr Militarismus, ja, sich „der Welt zuwenden“, darum geht es seit dem Kosovo-Krieg 1999, aber noch expliziter, als außenpolitische Strategie, seit 2012/2014, so Ahlheim:

Auch unser Bundespräsident und Prediger der Nation Joachim Gauck mischte eifrig mit im Konzert der Kriegsbefürworter, aber, gelernt ist gelernt, er sagte es auf gehobene, getragene Weise. Ende Januar 2014 verkündete er bei der Münchener Sicherheitskonferenz ohne das Wort ‚Krieg‘ zu benutzen, Deutschland müsse sich ‚früher, entschiedener und substantieller einbringen‘ und forderte die Deutschen auf, ’sich der Welt zuzuwenden‘.
(Klaus Ahlheim (2014): Ver-störende Vergangenheit. Wider die Renovierung der Erinnerungskultur. Ein Essay, Hannover: Offizin, S. 60).

Also schon nach 1989, nach 1999 und seit 2012/14 war Deutschland wieder gut gemacht.

Schon in den 1990er Jahren schrieb der Publizist Eike Geisel, den nicht nur ich hier und heute ebenso vermisse:

Die Deutschen wollen aus dem Exil, aus der Kälte der Gesellschaft in die Wärme, in die Gemeinschaft, sie wollen zu sich kommen. So ist aus der Asche der Ermordeten der Stoff geworden, mit dem sich der neue Nationalismus das gute Gewissen macht, jetzt können die Landsleute statt Menschen Deutsche sein.
(Eike Geisel (1998): Triumph des guten Willens. Gute Nazis und selbsternannte Opfer. Die Nationalisierung der Erinnerung, Berlin: Edition Tiamat, S. 60)
***

Neu sind im Frühsommer 2025 die schon zuvor pro-israelischen, aber jetzt auch Anti-Kriegs-Stimmen wie Martini oder Tikhomirova sowie der massive Aufschrei israelischer Akademiker*innen, darunter sind sicher auch antizionistische Stimmen, aber vor allem zionistische und einflussreiche Stimmen wie von der Soziologin Eva Illouz oder der Historikerin Fania Oz-Salzberger.

Der Aufruf der israelischen Akademiker*innen ist sprachlich gleichwohl problematisch, da er zwar nicht von „Genozid“ spricht, der in Gaza passiere, aber das Wort von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verwendet, was ja bekanntlich „Verbrechen gegen die Menschheit“ heißt und sich historisch auf den Holocaust bezieht.

Es passiert nichts ansatzweise Vergleichbares zum Holocaust in Gaza. Das sind keine „Verbrechen gegen die Menschheit“ – es sind befürchtete oder tatsächliche Kriegsverbrechen. Punkt. Das ist schrecklich genug!

Dazu zählen das gezielte Aushungern, was nicht dadurch relativiert wird, dass die Jihadisten immer wieder die nun wieder aufgenommenen Hilfslieferungen stehlen und zu horrenden Preisen weiterverkaufen – das zeigt nur die abgrundtiefe Verachtung der Palästinenser*innen – durch die Hamas. Aber es gab und gibt diese Hungersnot.

Es geht aber exakt so wie es Anastasia Tikhomirova schreibt, um die moderaten Stimmen für Israel und für Palästina. Meine Rede. Nur wird es hier niemals Israelfahnen auf angeblichen Pro-Palästina-Demos geben. Dafür müsste nahezu das gesamte Personal dieser Szene ausgetauscht werden, worunter ja häufig Terroranhänger*innen der Hamas sich befinden.

Doch das gilt eben auf ganz andere Weise auch für die Pro-Israel-Szene, die sehr häufig, nicht immer!, keinen Blick hat für die Situation in Gaza oder im Westjordanland.

Kaum jemand erkennt in diesen Kreisen, dass Netanyahu ein mittlerweile ganz gewöhnlicher neu-rechter Politiker geworden ist, der mit Faschisten und religiösen Fanatikern kooperiert UND deren Ziele in zentralen Teilen wie der Kriegsführung in Gaza oder der Besiedelung und Annektierung (!) des Westjordanlandes teilt.

Und dann gibt es noch etwas Wichtiges. In einem Gespräch des Journalisten Henryk M. Broder und seinem Freund, dem Publizisten Hamed Abdel-Samad mit der Jüdischen Allgemeinen vom 27. Mai 2025 zeigt sich, wie Dialog gehen kann. Die beiden sind seit 15 Jahren befreundet und trafen sich erstmals in Kopenhagen, ausgerechnet in der Kommune Christiania, wo Leute offen Drogen verkaufen und fotografieren verboten ist. Als Broder trotzdem Bilder machte, trotziger Junge bleibt trotziger Junge, obwohl Hamed das für keine wirklich gute Idee hielt, wurde ihm von sechs oder sieben kräftigen jungen Männern doch die Kamera schließlich abgenommen und in eine brennende Tonne geworfen, wo sie Broder herausholen wollte, die Geschichte erzählt Abdel-Samad ganz lustig.

Denn die beiden sind Freunde und Broder betont, dass er diese Freundschaft wegen Abdel-Samads Rede vom „Genozid“, der in Gaza passiere, nicht aufs Spiel setzen werde.

Entgegen Leuten wie Jakob Augstein, Günter Grass oder Martin Walser sei Abdel-Samad ein Kritiker, keiner, der Ressentiments habe oder gegen die Existenz Israels anschreibe:

Ja, Hameds Kritik war nie fundamental, immer nur punktuell, bezogen auf das, was Israel tut oder unterlässt. Ganz anders als bei Leuten wie Martin Walser, Jakob Augstein oder Günter Grass.

Später sagt er:

Es hat eine andere Wertigkeit, wenn Studenten ‚From the River to  the Sea‘ schreien oder ‚Free Gaza from German Guilt‘. Das hat Hamed nie getan. Er hat bei mir ein Guthaben – und das ist nicht aufgebraucht.

Eine solche Offenheit und das Ertragen von in Teilen unterschiedlichen Positionen sieht man in der heutigen Zeit, speziell seit – ja – Corona UND der Ukraine, sehr selten.

Ich kenne viele Ex-Freund*innen oder Ex-Bekannten, die nicht in der Lage sind, ihren eigenen Irrationalismus zu überdenken und die selbst auf Diskurs-Angebote nicht eingehen, weil sie auf ihrer irrationalen, antidemokratischen, medizinisch absurden oder bezüglich der Ukraine antidiplomatischen (seit März 2022! und schon zuvor) Position beharren.

Während ich diese Positionen kritisiere, aber trotzdem einige solcher Menschen kontaktierte oder auch weiter in Kontakt bin, wo ich weiß, dass sie mitunter irrational oder unwissenschaftlich sind, ist es die Gegenseite speziell bei Corona oder der Ukraine sehr häufig nicht.

Bei Israel wiederum ist es anders: Wer am 7. Oktober kicherte oder schwieg, ist kein Freund oder Bekannter mehr. Punkt.

Doch Abdel-Samad hat nicht geschwiegen, er war nach dem 7. Oktober so pro-israelisch wie zuvor. Aber er sieht die aktuelle Situation in Gaza und die ist unerträglich und mörderisch und schadet auch den Tätern.

Das gesteht auch Broder zu:

Und ich glaube, dass du leider recht hast mit der belasteten jüdischen Seele. Die Frage wäre nur, was nach dem 7. Oktober eine adäquate Reaktion gewesen wäre. Also sicher nicht die Bitte, das Musikfestival jetzt gemeinsam fortzusetzen. Was wäre adäquat gewesen?

Abdel-Samad wiederum führt – ganz ähnlich wie Eva Illouz – die Ermordung von Rabin durch einen israelischen Rechtsextremen an, der zur Ausweglosigkeit führte:

Ich bin kein großer Fan von Joe Biden gewesen. Ich hielt ihn für einen unfähigen Präsidenten. Aber er hat Netanjahu nach dem 7. Oktober eingeladen, nach Amerika, und hat gesagt: Macht nicht den Fehler, den wir im Irak gemacht haben. Wir waren nach dem 11. September so schockiert, dass wir um uns geschlagen haben, und das hat die Sache nur noch schlimmer gemacht. Sowohl in Afghanistan als auch im Irak. Und ich fürchte, es wiederholt sich genau das.

Sodann:

Es gab viele verpasste Chancen, von beiden Seiten. Die größte Chance war damals, als Rabin dieses Angebot gemacht hatte. Und die Palästinenser waren bereit. Und du weißt ja, was danach kam. Rabin wurde ermordet, und keine andere israelische Regierung hat sich erneut getraut.

Dass es natürlich auch später noch Angebote gab, ist bekannt, aber die Ermordung des Friedensnobelpreisträgers Rabin war für die politische Kultur Israels schon prägend. Danach kam Netanyahu – bis heute mit wenigen Unterbrechungen …

Das Gespräch von Broder mit Abdel-Samad ist ein gutes Zeichen, dass man miteinander reden kann, wenn die Basis klar ist: Gegen Jihad und Islamismus, für Israel und für einen Staat Palästina (für den jedenfalls Abdel-Samad plädiert). Es ist aber bitter, wenn die jüdische Gemeinde Düsseldorf Abdel-Samad nun ausgeladen hat und er von anderer Seite gar als „Antisemit“ diffamiert wird, so falsch das Wort vom Genozid auch ist.

Man kann nicht sehen, dass die IDF gezielt ein ganzes Volk ermorden möchte, was Genozid wäre, auch wenn das Aushungern, wäre es weitergegangen, sicher in die Kategorie Genozid fallen würde, da es gezielt gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen gerichtet war (oder wieder sein wird). Aber so weit kam es nicht und darf es niemals kommen. Auch eine Trump’sche Vertreibung aller Palästinenser*innen darf es niemals geben – auch das wäre kein Genozid, aber eine ethnische Säuberung, wobei auch dieser Begriff unsauber ist, da damit meist Massenmord und Massaker assoziiert werden, was eine Abschiebung oder Vertreibung ja nicht ist.

Diese Beispiele zeigen: Es braucht neuen Mut zu Diskussionen, die über die ausgetrampelten Pfade der bisherigen Pro-Israel wie der ach-so-pro-palästinensischen (de facto fast immer: antisemitischen) Gruppen hinausreichen. Letztere wollen die Zerstörung Israels und nur wenige tatsächlich ein Palästina Seite an Seite mit dem einzigen Judenstaat (also noch ein arabischer Staat, aber so ist es halt).

Natürlich kann man die Hamas klein halten, kein Geld mehr aus Katar und sonst wo her, kein Waffenschmuggel mehr, was eine ganz enge Kooperation mit Ägypten voraussetzte. Das wäre möglich, weil zum Beispiel Saudi-Arabien, trotz seiner völlig grotesken und mörderischen Ideologie und Praxis, ja bereit wäre, Frieden mit dem einzigen Judenstaat zu schließen, weil sie merken, dass internationale Anerkennung on the long run nur geht, wenn sie keinen Terror mehr finanzieren und sich von der Hamas distanzieren. Der tatsächliche Feind sitzt in Teheran – das war vor dem 7. Oktober auch den arabischen Ländern klar, sowie Israel war das klar – aber diese Klarheit hat eine völlig fanatische Politik von Benjamin Netanyahu vernebelt und Israel wie seit Monaten beschrieben, so stark isoliert, wie das kein Regierungschef seit 1948 geschafft hat.

Wenn selbst zionistische Akademikerinnen, Politiker oder Journalistinnen, die nicht ansatzweise im Verdacht stehen, den Jihad oder den 7. Oktober klein zu reden, sondern alle als Kritiker des Antisemitismus einen Namen haben, ein sofortiges Ende des Krieges in Gaza fordern, dann braucht es ein Ende des Krieges in Gaza sofort.

Im Sinne Israels und des Judentums – und im Sinne der Palästinenser.

Wenn die FAZ in dem zitierten Text erkennt, dass

Die unsäglichen Taten in Gaza zerstörten die israelische Gesellschaft von innen heraus

und sich dabei auf Stimmen aus Israel bezieht, sollte man das wahr und ernst nehmen und endlich über die Fehler der Regierung Netanyahu diskutieren. Seine rechtsextreme Koalition muss zerbrochen werden, sonst hat Israel kaum noch eine diplomatische Zukunft und viele Israelis werden abwandern, da ja nicht alle rechtsextrem sind.

Zionismus heißt nicht nur sich pro-israelisch zu positionieren.

Zionismus heißt nicht nur Kritik am Antisemitismus und Antizionismus.

Zionismus heißt auch Kritik an der israelischen Politik zu üben, wenn sie Kritik verdient hat.

 

 

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