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Holocaustverharmlosung und Antisemitismus straffrei? Waters (BDS) – Bhakdi – Selenskyi

Von Dr. phil. Clemens Heni, 27. Mai 2023

 

Wer die Opfer des Holocaust in eine Reihe stellt mit aktuellen Ereignissen in Israel, handelt antisemitisch. So sagt es die international anerkannte Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA):

Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.

Erstes Beispiel:

Exakt das hat der Musiker Roger Waters vor wenigen Tagen in Berlin auf einem Konzert vor 10.000 Zuschauer*innen getan. Er verkleidete sich in einer Nazi-ähnlichen Uniform mit bodenlangem Mantel und einer Art Nazi-Armbinde, schoss mit einer Spielzeug-Maschinenpistole ins Publikum, dem dies gefiel, und er ließ während seiner Show Namen von „Opfern“ in roten Großbuchstaben auf Bildschirmen einblenden, so „Anne Frank“ oder „Shireen Abu Akleh“.

Damit setzt er den Mord an sechs Millionen Juden und die Shoah mit einem tragischen militärischen Zwischenfall zwischen Israel und den Palästinensern sowie jener Journalistin, die durch einen Querschläger umkam, auf eine Stufe.

Roger Waters ist nicht dumm. Er weiß exakt, was er tut und es macht ihm Spaß. Er suhlt sich in seiner virtuellen Blutlache, die er mit seinem Maschinenpistolenfeuer in der Mercedes-Halle in Berlin anrichtete, vergleicht Israel mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust.

Es stellt sich die Frage, was für Menschen es sind, die solche Konzerte planen und durchführen und wer die Fans sind, die auf solche antisemitischen Massenveranstaltungen strömen. Jeder einzelne Besucher und jede einzelne Besucherin unterstützt diesen vulgären und perfiden Antisemitismus.

Zweites Beispiel:

Der Mikrobiologe Sucharit Bhakdi, der aufgrund seiner Kritik an der Coronapolitik und Panikmache der nicht evidenzbasierten deutschen und internationalen Politik Furore machte, sagte im April 2021 in einem Video, wie unter anderem der österreichische Standard berichtete:

„Das Volk, das geflüchtet ist aus diesem Land, aus diesem Land, wo das Erzböse war, (…), und haben ihr Land gefunden, haben ihr eigenes Land in etwas verwandelt, was noch schlimmer ist, als Deutschland war. (…) Das ist das Schlimme an den Juden: Sie lernen gut. Es gibt kein Volk, das besser lernt als sie. Aber sie haben das Böse jetzt gelernt – und umgesetzt. Deshalb ist Israel jetzt ‚living hell‘ – die lebende Hölle.“

Auch das ist antisemitisch. Er betreibt eine Täter-Opfer-Umkehr und suggeriert, die Juden wäre so wie die Nazis, ja die Juden, er meint damit Israel, hätten etwas gemacht „was noch schlimmer ist, als Deutschland war“. Nun ist Bhakdi Mikrobiologe und hat offenbar sehr wenig Geschichtskenntnisse. Doch das entbindet ihn nicht davor, die Geschichte zu kennen. Und im Nationalsozialismus, in „Deutschland“, sind die schlimmsten Verbrechen in der gesamten Geschichte der Menschheit verbrochen worden: der Holocaust. Sechs Millionen Juden wurden industriell vernichtet. Sie wurden aus keinem anderen Grund, als Juden zu sein, vernichtet. Sie wurden in Auschwitz, Treblinka, Sobibor und anderen Orten vergast und weitere Millionen wurden erschossen, erschlagen und sonst wie zu Tode gefoltert und ermordet.

Das Amtsgericht in Plön in Schleswig-Holstein hat offenbar keinerlei Ahnung von Antisemitismus und ignoriert offenbar vorsätzlich die Definition der IHRA, die auch Deutschland unterschrieben hat. Die Jüdische Allgemeine berichtet:

Der Richter sagte in seiner Begründung, bei mehrdeutigen Aussagen müssten auch andere Deutungen berücksichtigt werden. Es sei nicht vollständig auszuschließen, dass Bhakdi mit seinen Äußerungen nur die israelische Regierung und nicht das Volk meinte. Die Vertreterin der Generalstaatsanwaltschaft kündigte Rechtsmittel an.

Wer dieses unbeschreiblichen Verbrechen der Deutschen gerade mit der (Corona-)Politik Israels vergleicht, sollte vor Scham im Boden versinken für unabsehbare Zeit. Es ist eine unerträgliche antisemitische Leugnung dessen, was in Auschwitz passierte.

Gerade wenn Bhakdi damit die Politik Israels meinte, ist dieser Vergleich antisemitisch. Es ist nicht ’nur‘ antisemitisch, wenn er damit alle Juden meint.

Es bleibt zu hoffen, dass andere Richter*innen, die jetzt weiter mit dem Fall beschäftigt sein werden, wenn die Generalstaatsanwaltschaft Rechtsmittel eingelegt hat, mehr Ahnung von Antisemitismus haben und den Forschungs- und Diskussionsstand nicht völlig ignorieren.

 

Drittes Beispiel:

 

Am 20. März 2022 sprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi in einer Video-Ansprache zum israelischen Parlament, der Knesset, die auch live an anderen Orten ausgestrahlt wurde, wie auf dem Habima Theater-Platz in Tel Aviv.

Er verglich die Gründung der NSDAP am 24. Februar 1920 mit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine, der zufällig am 24. Februar 2022 begann. Selenskyi sprach auch von einer „Endlösung“, die Russland in der Ukraine plane, so wie damals die Deutschen die „Endlösung“ an den Juden planten. Schließlich sagte der jüdisch-ukrainische Präsident, dass Israel der Ukraine beistehen solle und die Ukrainer so behandeln solle, wie die Ukrainer damals die Juden behandelt haben! Daraufhin sagten israelische Politiker, dass sie das nicht tun werden, weil sie „ein Licht unter den Völkern sind“ – und damals bekanntlich viele Ukrainer den Nazis und der deutschen Wehrmacht zur Seite standen beim Judenmord, ja schon Tausende Juden massakrierten, bevor die Nazis, die SS, die Wehrmacht und so weiter aktiv wurden.

Diese Rede von Selenskyi ist eine antisemitische NS-Verharmlosung sowie antisemitische Dämonisierung Russlands.

Es ist eine typische Form des „sekundären Antisemitismus“ nach Adorno und Peter Schönbach, die seinerzeit – um 1960 – einen solchen Vergleich als antisemitisch analysierten. Damals ging es um den Vergleich des Luftkriegs der Alliierten und der Engländer gegen Dresden mit Auschwitz. Das ist eine typische Form des sekundären Antisemitismus. Heute kann man „Dresden“ durch die „Ukraine“ ersetzen, wie es Selenskyi in dieser antisemitischen Reaktionsweise tut. In beiden Fällen, weder in Dresden noch heute in der Ukraine, wird auch nur ansatzweise ein Verbrechen begangen wie der Holocaust.

Nichts auch nur annähernd mit den Verbrechen des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945, dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah Vergleichbares passiert seit dem 24. Februar 2022 durch Russland in der Ukraine. Auch Selenskyi argumentiert also antisemitisch, der israelische Knesset-Abgeordnete Yuval Steinitz sprach davon, dass die Rede Selenskyis an „Holocaustleugnung grenze“.

Resultat: wir haben es mit drei antisemitischen Äußerungen dieser drei ganz unterschiedlichen Männer zu tun.

Doch Selenskyi bekam am 14. Mai 2023 in Aachen den Karlspreis verliehen, Kanzler Olaf Scholz hielt die Laudatio und alle –

wirklich wie bei Corona nahezu alle Medien haben die exakt gleiche Meinung, kurzzeitige Meldungen über den Antisemitismus und die Holocaustverharmlosung von Selenskyi, wie der oben zitierte ZDF-Bericht, sind schnell vergessen und haben keinerlei Wirkung auf das Bild des ukrainischen Präsidenten in der deutschen Politik und der medialen und kulturellen Elite. Bei der Bevölkerung jedoch hat Selenskyi ganz bestimmt kein so gutes Standing in Deutschland, das ist ein Unterschied zur Corona-Pandemie, als die Elite wie der Mob auf der Straße gleichermaßen die exakt gleiche irrationale Meinung vertraten.

Selenskyi ist für die Elite wie in Aachen ein Held und ein ganz toller Hecht. Keine rationale Analyse seines Antisemitismus nirgends.

 

Woran liegt das? Am Antisemitismus jener, die Selenskyi lieben und feiern? An der dankbar aufgenommenen NS-Verharmlosung, für die Selenskyi eindeutig steht? Warum werden dann zumindest vom Zentralrat der Juden in Deutschland sowohl Roger Waters als auch Sucharit Bhakdi zu Recht scharf kritisiert wegen Antisemitismus – aber Selenskyi gerade nicht?

 

Warum diese Inkonsistenz? Dabei ist die weltpolitische Wirkmächtigkeit des ukrainischen Präsidenten um ein Vielfaches heftiger: Zuletzt verglich er ausgerechnet in Hiroshima den Krieg Russlands  in der Ukraine mit dem Massenmord der Amerikaner an Japanern in Hiroshima am 6. August 1945, der die gesamte Weltbevölkerung tatsächlich zur „letzten Generation“ machte, weil seit diesem Tag jederzeit die Zerstörung alles Lebens möglich ist.

Woher rührt dieser Irrsinn dieses Ukrainers? Woher sein Zynismus, in der Welt herumzureisen, während seine Bevölkerung in einem Krieg lebt, den zu beenden nicht nur Putin, sondern auch Selenskyi und vor allem der Westen mit verantwortlich sind? Bekanntlich hätte es unter Vermittlung des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett schon im März 2022 einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen geben können. Putin hatte zugesagt, sich auf die Linien vor dem 24. Februar 2022 zurückzuziehen, wenn die Ukraine definitiv erklärt, nicht NATO Mitglied zu werden. Doch der Hass auf Putin war im Westen zu groß, sie wollen diesen Krieg so lange führen wie nur möglich und jetzt jammern sie, dass der Krieg noch nicht beendet ist!

Woher Selenskyis implizite Anmaßung, dass der Krieg in der Ukraine etwas ungemein viel Schlimmeres sei als der Irak-Krieg 2003 und die Folgen oder die aktuellen, sehr blutigen Kriege in Äthiopien oder im Jemen? Seine perfide Verharmlosung des Massenmords an Japanern in Hiroshima, woher rührt diese ukrainische Arroganz und Unverschämtheit, ja historische Dummheit?

Warum also das Schweigen zum Antisemitismus und der Trivialisierung von Hiroshima von Wolodymyr Selenskyi? Warum kritisieren jüdische Organisationen, die Presse und die internationale Antisemitismusforschung die ersten beiden hier dargestellten Beispiele für gegenwärtigen Antisemitismus, aber schweigen zum dritten Beispiel, ja feiern Selenskyi auf unerträgliche Art und Weise? Wird damit nicht auch sein Antisemitismus gefeiert?

Können Sie mir die Antwort darauf geben?

 

 

 

 

Linker russischer Putinkritiker Nikolai Platoschkin wendet sich gegen den Krieg, gegen die Nazis in der Ukraine, gegen Antisemitismus und die Sanktionen gegen Russland

Von Dr. phil. Clemens Heni, 13. März 2022

Eine weitere Leserin meiner Seite wies mich vorhin auf dieses höchst aufschlussreiche Video des sehr beliebten linken russischen Diplomaten, Wissenschaftlers und Politikers Nikolai Platoschkin hin. Platoschkin wurde 2021 zu fünf Jahren auf Bewährung verurteilt, weil er den russischen Staat verunglimpft und zu Massenprotesten aufgerufen habe. Zuvor war er fast ein Jahr lang mit seinen beiden Mitbewohner*innen, seiner Frau und seiner Katze und 5000 Büchern unter Hausarrest gestellt worden. Er geht in Berufung.

Platoschkin war von Ende der 1980er Jahre bis Anfang der 2000er Jahre Diplomat, unter anderem in Deutschland. Er spricht fließend deutsch und ist Autor von 18 Büchern. Sein russischer YouTube Kanal hat 715.000 Abonnent*innen:

In seinem 20-minütigen Video in deutscher Sprache erläutert Platoschkin, dass er wie viele Russen eng mit der Ukraine verbunden ist, verwandtschaftlich, freundschaftlich, über Bekannte. Er will dass der Krieg beendet wird. Doch der Krieg im Donbas hat 14.000 Tote gefordert, seit 2014, und dieser Krieg scherte die Europäer überhaupt nicht! Es ging ja auch gegen die 90 Prozent Russen, die dort leben.

Er betont aber auch die Erinnerungsabwehr an den Holocaust und den Nazi-Terror in der Ukraine, wo jetzt Straßen nach Judenschlächtern benannt werden, und damit meint er nicht nur Stepan Bandera.

Über seine politischen Positionen gegen Putin und für eine linke, sozialistische Stimme in Russland, haben 2021 verschiedene Medien berichtet.

 

Für Amnesty International sind die Vorwürfe gegen Platoschkin „haltlos und politisch motiviert“. Auf dem Portal der Organisation erklärt Natalia Zviagina, Chefin des Moskauer Amnesty-Büros: „Das Urteil gegen Platoschkin ist ein weiterer Nagel im Sarg der Rede- und Versammlungsfreiheit in Russland.“

Staatsanwaltschaft und Gericht hätten Kritik an der Regierungspolitik mit Anstachelung zu Aufruhr und Verbrechen gleichgesetzt. Vor der Parlamentswahl im September gebe es immer härtere Repressalien gegen Andersdenkende. Das Regime sperre Kri­ti­ke­r*in­nen aus dem ganzen politischen Spektrum ein und mache sie mundtot.

Werden die Berliner Zeitung oder die taz auch jetzt von seinem Video, das explizit an ein deutsches Publikum sich richtet, von seiner Distanz zu Putin und seiner Distanz zur pro-ukrainischen Agitation, von seiner Kritik an der Erinnerungsabwehr an die Nazi-Verbrechen und den Holocaust in der Ukraine und seiner Kritik an den anti-russischen Sanktionen, die gerade Menschen wie ihn treffen, berichten?

Das wäre mal eine Stimme, die im Gegensatz zu allen deutschen Talkmastern (w/m/d) auch eine differenzierte Ahnung von den russischen Gegebenheiten hat, eine Stimme zudem, die von Mut und Kritik zeugt, zwei Eigenschaften, die man in Deutschland, dem Land der großen Volksgemeinschaft gegen Corona und jetzt gegen Russland, nicht kennt.

Also: Schaut euch dieses Video von Nikolai Platoschkin an, es lohnt sich:

https://youtu.be/O9F4I0ZbqAg

Eine Zukunft für Berlins Vergangenheit: Olympia-Fieber 2015

Über „sportliche Nazis“ 1936, Carl Diems „Olympische Jugend“, „Opfertod“ und Friedrich Schillers „Ode an die Freude“

 

Berlin möchte seiner Vergangenheit eine Zukunft geben und im gleichen Stadion, in dem schon 1936 der Nationalsozialismus Olympische Spiele abhalten durfte, wieder fröhlich feiern. Trotz der nicht einmal ansatzweise in Frage gestellten deutschen Vorherrschaft in Europa im Jahr 2015, wird man in Berlin ganz dünnhäutig, wenn Kritik, und sei es satirische, an der so typisch Berlinerischen, ungezwungen-krampfhaft-megalomanischen Olympia-Bewerbung deutlich wird.

Screenshot Deutschlandradiokultur 11022015

 

 

Im Folgenden sei eine Stelle aus meiner Dissertation „Ein Völkischer Beobachter in der BRD“ von 2006 an der Uni Innsbruck („summa cum laude“) dokumentiert, die sich mit der Olympiade 1936 und dem heutigen Forschungsstand bezüglich Sport und NS-Ideologie befasst. In der Dissertation geht es um einen führenden Ideologen der Neuen Rechten, Henning Eichberg, und dessen Beziehung zur politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland 1970–2005. Im folgenden Abschnitt geht es um eine Kritik an der Historikerin Christiane Eisenberg und ihrer Rezeption von Eichberg und der Olympiade 1936 sowie um das dort uraufgeführte Stück „Olympische Jugend“ von Carl Diem. Ohne extra Einleitung für diesen Blog geht es medias in res:

 

(…)

 

Die Historikerin Christiane Eisenberg schließlich rezipiert Eichbergs Thingspiel-Analysen[1] in ihrer Habilitationsschrift von 1997, wo dieser als Anwalt der ›guten Seiten des Nationalsozialismus‹ gezielt herangezogen wird. Sie versucht die Bedeutung des englischen Sports für die Ausbildung bzw. Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert herauszuarbeiten. Für mich ist hier nur ihr Kulminationspunkt von Interesse: die Olympiade 1936. Eisenberg versucht dem Sport ein Eigenleben auch und gerade unter den Bedingungen eines Herrschaftssystems wie dem Nationalsozialismus, welchem damit gleichsam ein ganz normaler Platz im Pantheon der (Sport-)Geschichte gesichert werden soll, zuzugestehen.

»Für die Atmosphäre der Spiele war es darüber hinaus von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß es reichlich Gelegenheit zur internationalen Begegnung und freien Geselligkeit außerhalb der Arenen gab. Gemeint sind hier weniger die Restaurants auf dem Reichssportfeld und auch nicht die zahllosen Empfänge und Partys der Nazigrößen. Das Urteil gründet sich vielmehr darauf, daß der Großteil der männlichen Athleten in einem Olympischen Dorf untergebracht wurde, so wie es erstmals bei den vorangegangenen Spielen in Los Angeles 1932 versucht worden war (Abb. 29). Hatte das OK [Olympische Komitee C. H.] zunächst geplant, dafür eine bereits bestehende Kaserne zu renovieren, so ergab sich 1933 auf Vermittlung Walter v. Reichenaus die Chance, Neubauten zu bekommen. In der Nähe eines Truppenübungsplatzes in Döberitz/Brandenburg wurden in einem landschaftlich reizvollen Gelände 140 ›kleine Wohnhäuser‹ für das Infanterie-Lehrregiment gebaut, deren Erstbezieher 3.500 Sportler wurden. Es gab Sporthallen, ein offenes und ein überdachtes Schwimmbad, Spazierwege, Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen. Zu den Gemeinschaftsräumen gehörten eine vom Norddeutschen Lloyd bewirtschaftete Speiseanstalt mit internationaler Küche und ein Kino.«[2]

 

Eisenberg will einer neuen Sicht auf den Nationalsozialismus den Weg ebnen. In gezielter Negierung gesellschaftlicher Totalität isoliert sie Momentaufnahmen aus ihrem Kontext, um deren Allgemeingültigkeit, ja Universalität, kurz, das moderne Moment zu würdigen. Denn »Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen« sind ja eine feine Errungenschaft, in Berlin 1936 wenigstens so lobenswert wie in Los Angeles 1932, will sie suggerieren.[3] In diesem Kontext zieht Eisenberg Eichbergs Thingspiel-Publikation heran, um sie als »zurückhaltend« und »vorsichtig«[4] bezüglich der Einordnung der olympischen Spiele als »spezifisch nationalsozialistische Veranstaltung« zu bezeichnen.[5]

Ihr behagt die affirmative Darstellung Eichbergs weitaus mehr als die kritischen Reflexionen und Analysen bekannter und renommierter Sportwissenschaftler wie Hajo Bernett, Thomas Alkemeyer oder Horst Ueberhorst.[6] Auch die Untersuchungen des Politikwissenschaftlers Peter Reichel über den Schönen Schein des Dritten Reichs[7] qualifiziert Eisenberg ab:

»Diese Interpretation der Spiele vermag aus drei Gründen nicht zu überzeugen. Erstens ist das zugrundeliegende Argument methodisch fragwürdig, weil es nicht falsifizierbar ist. Wer immer das Gegenteil behauptet, daß Berlin 1936 ein Ereignis sui generis und der schöne Schein auch eine schöne Realität gewesen ist, riskiert es, als Propagandaopfer abqualifiziert zu werden.«[8]

Die Olympiade in Berlin 1936 sei ein ›Ereignis‹ ›sui generis‹ gewesen, gleichsam eine ›schöne Realität‹. Diese positivistische Abstraktion von jeglicher Gesellschaftsanalyse ist für nicht geringe Teile der Mainstream-Wissenschaft typisch. Ihre Argumentation steigert Eisenberg noch, indem sie Reichels Analyse im Reden von den vermeintlichen ontologischen Zwittern Sport und Propaganda untergehen lässt:

»Zweitens ist das Argument unergiebig, weil Sport und Propaganda wesensverwandt sind. Beide sind nach dem Prinzip der freundlichen Konkurrenz strukturiert, beide verlangen von den Akteuren eine Be-Werbung um die Gunst von Dritten (›doux commerce‹). Daß dabei geschmeichelt, poliert, dick aufgetragen, ja gelogen und betrogen wird, überrascht niemanden, weder in der Propaganda noch im Sport. Olympische Spiele sind, so gesehen, immer Illusion und schöner Schein; eben das macht ihre Faszination aus. Daraus zu folgern, daß Berlin 1936 eine um so wirksamere Werbemaßnahme für den Nationalsozialismus gewesen sein müsse, wäre jedoch kurzschlüssig. Denkbar wäre auch, daß Nutznießer der Propaganda der Sport war. Diese Möglichkeit hat jedoch noch keiner der erwähnten Autoren geprüft.«[9]

Eisenberg will sagen: So schlimm kann der Nationalsozialismus doch nicht gewesen sein, wenn ein so zentrales Moment für moderne, freizeit- und spaßorientierte Gesellschaften wie der Sport, gar ein ›Nutznießer‹ dieses politischen Systems war.

Diese eben zitierte Passage von Eisenberg ist Ausdruck eines Wandels politischer Kultur in der BRD. Ungeniert lässt sie den Nationalsozialismus, am Beispiel der Olympischen Spiele von 1936, im Kontinuum bürgerlicher Gesellschaft, die eben im Sport ›wesenhaft‹ lüge, dick auftrage und schmeichele, aufgehen. Es ist nun gerade Eichberg, dem diese Darstellung entgegenkommt. Ich sehe es nicht als Zufall an, dass Eisenberg aus der Fülle von Analysen zum Thingspiel gerade seine Arbeit heranzieht.

So wie Eichberg das Thingspiel in die Geschichte des Arbeiterweihespiels, des Agitprop-Theaters, des Sprechchorgesangs etc., sprich der Arbeiterkulturbewegung einreiht, so versucht er gezielt den Bruch, den die in der Tat nationale Revolution des Nationalsozialismus bedeutet, als Kontinuität darzustellen. Für ihn ist das Thingspiel die Konsequenz vor allem Weimarer Versuche, Theater massenwirksam zu gestalten. Dass einer der Protagonisten dieser Ideen, Ernst Toller, 1933 ins Exil gehen musste, spielt in dieser auf die Konfiguration fixierten Analyse keine Rolle.

Eisenberg treibt Eichbergs Apologie des Thingspiels auf ihre Art zu einem weiteren Kulminationspunkt: Wie soll es nach der auf internationale »Verständigungspolitik« ausgerichteten Weimarer Republik[10] möglich gewesen sein,

»daß die Olympiapropaganda nach 1933 plötzlich eine Nazifizierung der Athleten und des sportinteressierten Publikums bewirkte? Mußte nicht zuvor eine Versportlichung der Nazis erfolgt sein[11]

 

Für Eichberg zeigt sich im ›olympischen Zeremoniell‹ die Kontinuität der mit »Weihe- und Feierspiele« »zusammenhängenden Verhaltensformen« über die »Veränderungen um 1937/45« hinaus.[12] Deshalb geht er gegen Ende seines Beitrages im Thingspiel-Band auf das während der Olympiade uraufgeführte ›Weihespiel‹ »Olympische Jugend« von Carl Diem ein.[13] Die verschiedenen Bilder dieses Spiels mit über 10.000 Teilnehmern werden dargestellt und einige zentrale Stellen ausführlich zitiert. Es geht in diesem olympischen Weihespiel um »›Kampf um Ehre, Vaterland‹«[14] (im ersten Bild), was ihn bei der Analyse des dritten Bildes unter Hinzuziehung einer zeitgenössischen Darstellung ausführen lässt:

»Während sich die Mädchen zum weiten Rand der Arena zurückziehen und diesen säumen, stürmen von der Ost- und Westtreppe Tausende von Knaben in das Spielfeld, lassen die Romantik aller Jugend aufklingen, indem Jugendgruppen verschiedener Nationen um Lagerfeuer geschart Volkslieder ihrer Heimat singen«.[15]

Gerade vor dem Hintergrund Eichbergs politischer Biografie, zu denken ist an sein Zeltlager 1966 in Südfrankreich (vgl. I.5), ist die Beschreibung einer weihevollen, heimatumwobenen (jugendlichen) Zeltlager-Stimmung des Jahres 1936 im nationalsozialistischen Deutschland bezeichnend. Die Jugend sieht ihrem Selbst-Opfer ins Gesicht:

»Allen Spiels heil’ger Sinn: Vaterlands Hochgewinn. Vaterlandes höchst Gebot in der Not: Opfertod!«[16]

Eisenberg ordnet diesen Opfertod folgendermaßen ein: das Diemsche »Festspiel« werde

»in der sport- und tanzhistorischen Literatur als Verherrlichung des ›Opfertodes‹ für die nationalsozialistische ›Volksgemeinschaft‹ interpretiert – was nicht zu überzeugen vermag. Erstens gehörte die Opferrhetorik schon in der Weimarer Republik zum spezifisch deutschen Sportverständnis (…) Zweitens haben die Zeitgenossen des Jahres 1936 die Szene ohne Zweifel mit dem Ersten Weltkrieg und nicht mit dem bevorstehenden Zweiten in Verbindung gebracht.«[17]

Auch wenn sich die Historikerin Eisenberg ganz sicher ist (»ohne Zweifel«), bleibt zu betonen: die Erinnerung an die deutschen Toten des I. Weltkriegs war sehr wohl die Vorbereitung auf den II. Der ›Langemarck-Topos‹ der Jugend, des Opfers und des Nationalen[18] kommt hierbei zu olympischen Ehren. Die internationale Anerkennung der Spiele ist Zeichen des Appeasements dem nationalsozialistischen ›Aufbruch‹ gegenüber.

Wenn in einem Buch von 1933 ausgeführt wird:

»›Daraus erhellt, daß bei Ausbruch des Krieges der Zukunft die Ausbildung künftiger Langemarckkämpfer um ein mehrfaches verlängert und die Material- und Munitionsmenge für heutige Schlachten um ein Vielfaches vermehrt werden muß‹«[19],

so muss gerade eine solche Interpretation des Langemarck-Topos ernst genommen und nicht, wie bei Eisenberg, als quasi Weimarer Tradition, die zufällig 1936 wieder hervortritt, verharmlost werden. Dagegen ist die Kontinuität von ‘33 bis ‘36 zu sehen, die soeben zitierte Passage von ‘33 bekommt im Festspiel von Diem eine internationale Beachtung findende Weihe:

»So wurde im Glockenturm des Berliner Olympia-Stadions eine Gedächtnishalle für die Toten von Langemarck eingerichtet, und Carl Diems Eröffnungsspiel der Olympiade von 1936 endete mit ›Heldenkampf und Totenklage‹; eine Division des Hitlerschen Ost-Heeres bekam den Namen ›Langemarck‹«.[20]

 

Ein weiterer Kritikpunkt, ganz eng am Diemschen Spiel und seinen Protagonisten wie der Ausdruckstänzerin Mary Wigman[21] orientiert, ist folgender: es lässt sich gut zeigen, wie Wigmans Auffassung von Opfertod Diems Weihespiel in diesem Punkt inhaltlich bzw. choreographisch bereits vor ‘33 antizipiert hat, so am

»Stück ›Totenmal‹, einem Drama von Albert Talhoff, welches von Talhoff und Wigman 1930 gemeinsam inszeniert wurde, wobei Wigman die tänzerische Choreographie übernahm. Das Werk wurde zum Gedenken an die Gefallenen des 1. Weltkriegs geschrieben. (…) [Zudem] ist dieses Werk ein Prototyp nationalsozialistischer Inszenierungen, zum einen wegen des Themas (Verehrung der gefallenen Soldaten) zum anderen wegen der Form (die Inszenierung stellt eine Kombination aus Sprechchor und Bewegungschor dar).«[22]

 

Waren schon die »Tanzfestspiele 1935« eine »Propagandaveranstaltung für den deutschen Tanz nationalistischer Prägung«[23], so kulminierte das im olympischen Jahr im Weihespiel von Diem, an dem Wigman aktiv beteiligt war. Micha Berg weist auf die zentrale Bedeutung von Symbolik[24] für das nationalsozialistische Deutschland hin und zitiert den völkischen Vordenker Alfred Baeumler:

»Das Symbol gehört niemals einem Einzelnen, es gehört einer Gemeinschaft, einem Wir. Dieses Wir ist nicht ein Wir des gesinnungsmäßigen Zusammenschlusses von Persönlichkeiten, ist nicht ein nachträgliches Wir, sondern ein ursprüngliches. Im Symbol sind Einzelner und Gemeinschaft eins. (…) Das Symbol ist unerschöpflich, in ihm erkennt sich sowohl der Einzelne wie die Gemeinschaft.«[25]

 

Es ist genau diese Prädominanz, die geradezu onto-theologische Setzung eines (deutschen) Wir, welches Eichbergs politische Theorie kennzeichnet. Er versucht zwei Momente des nationalsozialistischen Deutschland für seine neu-rechte Theorie der 1970er Jahre zu koppeln: einerseits, als Wink für traditionsbewusste, ›treue, alte Kameraden‹, den Bezug zu Militarismus, Sterben, Tod und Opfer-Metaphorik, wie er nicht nur bei Euringer vorkommt, andererseits im Rekurs auf die Arbeiterbewegung und -kultur einem neu-rechten Diskurs eine Bresche zu schlagen, sowie ohne Berührungsängste gewisse Facetten linker Geschichte mitsamt deren Vokabular aufzunehmen. Sein Insistieren auf der massenhaften Spontaneität der Deutschen beim Verfassen von trivialen Thingspielen ab 1933[26] ist ein Zeichen für einen ›Aufbruch‹. Während Eichberg dem Thingspiel Mitte der 1970er Jahre seine Weihe gab, ist es spätestens heute – via Stadionspiel von 1936 – mit Eisenberg im akademischen Establishment angekommen.[27]

 

Eisenberg beharrt darauf: Diems Festspiel ende doch mit Beethovens »Schlußchor der IX. Sinfonie mit der ›Ode an die Freude‹ von Friedrich Schiller«,[28] was Ausdruck von ›Kunst‹ sei. Auch Eichberg schließt seine diesbezügliche Darstellung: es habe sich am Ende ein »goldener Glanz über alles Leben und Treiben des Alltags gebreitet.«[29] Dieser ›goldene Glanz‹ kehrt heute in Eisenbergs vor Affirmation strotzender Sprache als »zivile Sportgeselligkeit« mit »Eigenweltcharakter« in der Darstellung des Sports im Nationalsozialismus wieder.[30] Sie schließt ihre Arbeit, indem sie nicht nur dem Sport unterm NS mehr Möglichkeiten als noch in der Weimarer Republik attestiert, sondern auch, den II. Weltkrieg als »Beeinträchtigung des Wettkampfbetriebs«[31] euphemisierend, dem Nationalsozialismus bescheinigt, er habe den »Sport« zuungunsten des Turnens gewinnen lassen, was sie als »Rahmen für den Sport in der Bundesrepublik« für gut erachtet.[32]

 

 

[1] Es geht hierbei nur um den Band von Eichberg 1977 [Henning Eichberg (1977) Thing-, Fest- und Weihespiele in Nationalsozialismus, Arbeiterkultur und Olympismus. Zur Geschichte des politischen Verhaltens in der Epoche des Faschismus, in: Henning Eichberg u. a. (Hg.) (1977a), Massenspiele. NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell, Stuttgart-Bad Cannstatt (frommann-holzboog; problemata 58), S. 19–180], nicht um den Aufsatz von 1976 [Henning Eichberg (1976) Das nationalsozialistische Thingspiel. Massentheater in Faschismus und Arbeiterkultur, in: Ästhetik und Kommunikation, Jg. 7. (1976), H. 26, S. 60–69; ebenfalls auf Englisch als Henning Eichberg (1977b) The Nazi Thingspiel, in: New German Critique, No. 11, pp. 133–150].

[2] Christiane Eisenberg (1999): »English sports« und Deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939, Paderborn u. a. (Ferdinand Schöningh), S. 418.

[3] Völlig selbstverständlich, ja stolz präsentiert sich das ehemalige Gelände des olympischen Dorfes von 1936 im brandenburgischen Döberitz am Tag des offenen Denkmals im Jahr 2004, Kritik ist hier a priori ausgeblendet, vgl. die affirmative Ankündigung zum Tag des offenen Denkmals im Tagesspiegel, 11.09.2004.

[4] Eisenberg 1999: 414, Anm. 112.

[5] Ebd.: 414.

[6] Vgl. ebd., Anm. 110, Anm. 112, Anm. 113.

[7] Vgl. Reichel 1991.

[8] Eisenberg 1999: 410. Eisenbergs Einspruch erweist sich einmal mehr als Ressentiment, wenn sie an eben zitierter Stelle folgende Anm. platziert: »Dies [dass also der schöne Schein eine schöne Realität war, C. H.] haben z. B. jene ehemaligen Olympiateilnehmer erfahren, die 1986, anläßlich des 50. Jahrestags der Spiele, von der Presse um ihre Erinnerungen gebeten wurden und beharrlich die Meinung vertraten, sie hätten damals ›nur Sport‹ getrieben. Diese Zeitzeugen, die im Grunde nichts anderes taten als die Diskrepanz zwischen der politikgeschichtlichen Perspektive ›von oben‹ und der für sie maßgebenden ›von unten‹ und ›von innen‹ zu benennen, mußten sich nachsagen lassen, sie seien unbelehrbar und politisch naiv, ja ›peinlich‹ [so Hajo Bernett, C. H.]« (ebd., Anm. 96). Kritisch zu Eisenberg: »Indem Eisenberg ihren gesellschaftsgeschichtlichen Ansatz aber auf die Augenzeugenperspektive verkürzt, läuft sie Gefahr, der NS-Propaganda nachträglich auf den Leim zu gehen« (Hans Joachim Teichler (2001): Besprechung von Christiane Eisenberg (1999): »English sports« und Deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939, Paderborn u. a. (Ferdinand Schöningh), in: Sportwissenschaft, 31. Jg. (2001), Nr. 3, S. 334–342, hier S. 341).

[9] Eisenberg 1999: 410.

[10] Eisenbergs Perspektive lässt Mitgefühl mit den Opfern des Nationalsozialismus vermissen: »Der ganze Bereich Sportjournalismus, in dem sich – abgesehen vom Fehlen der jüdischen Kollegen – gegenüber der Weimarer Republik nichts Grundsätzliches geändert hatte« (ebd.: 419). Lapidar wird hier vom Kern des Nationalsozialismus, der Vernichtung der europäischen Juden und deren Vorbereitung durch soziale Exklusion, Goldhagen spricht treffend von der »Verwandlung der Juden in ›sozial Tote‹«, Goldhagen 1996: 118., abstrahiert, um von »Blumenbeeten« für Sportler während der Olympiade 1936 in Berlin zu reden.

[11] Eisenberg 1999: 411, Herv. C. H.

[12] Eichberg 1977:143. Genau diese Seite führt Eisenberg abschließend an, um Eichberg Recht zu geben in seinen Analysen. Allein schon die Zeiteinteilung »1937/45«, Eichberg meint ganz offensichtlich das vermeintliche Verebben der Thingspielbewegung 1937 und mit 1945 das Ende des Nationalsozialismus, ist eine Verharmlosung nationalsozialistischer Totalität. Dieser sehr einfache Trick Eichbergs, ein vermeintlich diskontinuierliches Moment des Nationalsozialismus hervorzuheben und zu einer Periode zu stilisieren, fällt Eisenberg entweder nicht auf oder sie affirmiert diese Sichtweise.

[13] Ebd.: 143–146.

[14] Ebd.: 144.

[15] Ebd.

[16] Ebd.: 145. Helmich stellt diesen Opfertod recht positiv dar: »Für Diem liegt in dieser Szene [der vorletzten von Olympische Jugend, C. H.], die die Olympische Flamme zum Sinnbild der Seele der Jugend werden läßt, der ›geistige Höhepunkt‹ des Spiels. Dessen eigentlicher Sinn aber erschließe sich im folgenden Bild, ›Heldenkampf und Totenklage‹«; es folgt die oben zitierte »Opfertod«-Passage, die weiter erläutert wird: »Für den Rezitator Joachim Eisenschmidt werden diese Verse wenige Jahre später zur Realität werden«, um schließlich mit dem »Anspruch der Tanzkunst« eines Rudolf von Laban die praktisch werdende Frage »Wann und wie darf ich töten« zu stellen, Helmich 1989: 209 f. In der Weimarer Republik war Laban »zum großen Guru des Ausdruckstanzes« avanciert, später konnte er die Olympische Jugend mit inszenieren, vgl. Horst Koegler (1980): Vom Ausdruckstanz zum »Bewegungschor« des deutschen Volkes: Rudolf von Laban, in: Karl Corino (Hg.) (1980): Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus, Hamburg (Hoffmann und Campe), S. 165–179, hier S. 171 bzw. S. 176.

[17] Eisenberg 1999: 427.

[18] Vgl. Uwe-K. Ketelsen (1985), ›Die Jugend von Langemarck‹. Ein poetisch-politisches Motiv der Zwischenkriegszeit, in: Thomas Koebner/Rolf-Peter Janz/Frank Trommler (Hg.) (1985): ›Mit uns zieht die neue Zeit‹. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. (Suhrkamp; edition suhrkamp), S. 68–96, hier S. 75.

[19] Zitiert nach ebd.: 83.

[20] Ebd.: 95, Anm. 62. Auch Euringer spielt mit jenem Mythos: »Wir lagen an der Somme und so, vor Ypern, Verdun, ich weiß nicht wo« (Euringer 1933: 22).

[21] Eisenberg erwähnt Wigman ebenso wie Eichberg sie als »Hauptvertreterin des modernen Ausdruckstanzes« und »Schülerin von Laban« rühmt, vgl. Eichberg 1977: 143 und Eisenberg 1999: 427 f.

[22] Micha Berg (1994): Der deutsche Ausdruckstanz und seine Annäherung an den Nationalsozialismus. Eine Literaturarbeit zum Verhältnis von Sport und Politik im nationalsozialistischen Deutschland. Wissenschaftliche Hausarbeit zur Ersten Staatsprüfung für das Amt des Studienrats, Berlin, S. 63.

[23] Ebd.

[24] Vgl. hierzu auch Horst Ueberhorst (1989): Feste, Fahnen, Feiern. Die Bedeutung politischer Symbole und Rituale im Nationalsozialismus, in: Rüdiger Voigt (Hg.) (1989): Politik der Symbole. Symbole der Politik, Opladen (Leske + Budrich), S. 157–178, hier S. 168 f. Ueberhorsts Kritik an Diems Weihespiel steht allerdings neben einer Anführung von Eichbergs Thingspiel-Band von 1977, ohne dessen Apologie gerade auch Diems Weihespiel auch nur anzusprechen; umso inkonsistenter wirkt dieser Verweis als Ueberhorst in der gleichen Anmerkung die sehr bedeutsame Kritik Hajo Bernetts am Weihespiel Diems zitiert: »›Um das blutige Hinschlachten symbolisch zu verklären, intonierten 1 500 Sänger Freude, schöner Götterfunken. Zwei Flakbatterien blendeten ihre Scheinwerfer auf … Die Reizüberflutung der magischen Lichtregie ließ jedes nachdenkliche Wort auf den Lippen ersterben. Das Läuten der Olympiaglocke suggerierte das Gefühl, einer sakralen Handlung beigewohnt zu haben‹« (Hajo Bernett (1986): Symbolik und Zeremoniell der XI. Olmypischen Spiele in Berlin 1936, zitiert nach ebd.: 178, Anm. 20). Früher hat Ueberhorst Eichberg publiziert, vgl. Henning Eichberg (1980 ii): Sport im 19. Jahrhundert. Genese einer industriellen Verhaltensform, in: Horst Ueberhorst (Hg.) (1980): Geschichte der Leibesübungen Bd. 3/1, Berlin 1980, S. 350–412.

[25] Berg 1994: 63.

[26] Es handelte sich dabei »überwiegend um dilettantische Versuche« (Eichberg 1976: 61).

[27] Christiane Eisenberg ist Professorin an der Humboldt-Universität Berlin.

[28] Eisenberg 1999: 427. Vgl. auch folgende affirmative Darstellung bei Helmich: »Nach der ›Totenklage‹ [also dem letzten Bild, C. H.] folgt, wie stets bei diesem ganz auf Kontrastwirkung der einzelnen Bilder zielenden Festspiel, ein jäher Stimmungswechsel. Angenehmere und freudenvollere Töne sollen nun angestimmt werden verkündigt das Rezitativ, das den letzten Satz von Beethovens IX. Sinfonie, den eigentlichen Anlaß und Höhepunkt der ›Olympischen Jugend‹, einleitet. Das Landes-Orchester Gau Berlin und die vereinigten Hochschul-Orchester spielen unter der Leitung von Fritz Stein, alle, insgesamt mehr als 10.000 Mitwirkende strömen noch einmal in das Stadion ein. Hinter den Außenmauern strahlen 14 Flakscheinwerfer in die Höhe, treffen zusammen und vereinigen sich zu einem Gebilde, das wie eine Domkuppel aus Licht wirkt und auch der Höhepunkt folgender Stadionfestspiele Niedeckens sein wird« (Helmich 1989: 210). Hier, und nicht erst bei den Nürnberger Reichsparteitagen, wurde erstmals der ›Lichtdom‹ in Szene gesetzt und die technische Apotheose des NS zelebriert.

[29] Eichberg 1977: 146.

[30] Eisenberg 1999: 441.

[31] Ebd.

[32] Ebd.

Ein Super-GAUck. Politische Kultur im neuen Deutschland – das Buch zur Wahl des Bundespräsidenten am 18. März 2012

Am 9. März 2012 sendete das Freie Radio für Stuttgart ein kurzes Interview mit Clemens Heni über Joachim Gauck und die anstehene Wahl zum Bundespräsidenten.

 

Zur Wahl erscheint auch folgendes Buch:

 

 

Clemens Heni/Thomas Weidauer (Hg.): Ein Super-GAUck. Politische Kultur im neuen Deutschland, Berlin: Edition Critic, 2012, ISBN 978-3-9814548-2-6, 111 Seiten,  Softcover, 21cm x 14,8cm, 13€ (D)

Das Buch erscheint am 16. März 2012! Bei Interesse: Bestellen Sie schon jetzt (Lieferung über den Verlag ist versandkostenfrei): editioncritic@email.de

Das Buch ist dann auch bei Amazon.de und im gesamten Buchhandel erhältlich.

Eine nahezu Allparteienkoalition nominierte am 19. Februar den neuen Bundespräsidenten 2012, den Super-GAUck. Was steckt hinter diesem Phänomen? Ist es ein Vorgeschmack auf die Zukunft, wenn ein Ausscheren aus dem Konsens als „Schweinejournalismus“ (O-Ton Jürgen Trittin) diffamiert wird?

Annähernd unisono feiern die großen Medien Pastor Joachim Gauck als Glücksgriff und Freiheitsapostel und niemand wird skeptisch, wenn die Neue Rechte und deren publizistisches Flaggschiff, die Wochenzeitung Junge Freiheit, euphorisch titelt: „Wir sind Präsident!“

13 Texte von 12 Autoren aus Deutschland, England, Litauen und Israel bieten Analysen zur politischen Kultur, der „Prager Deklaration“ und vielem mehr.

„Wer hätte gedacht, dass jetzt, in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts, das wiedervereinigte Deutschland, das wirtschaftliche Zugpferd der Europäischen Union, als erneut eine der bedeutendsten Nationen des Planeten einen gleichsam staatlichen Speer in die Herzen von Holocaust-Überlebenden mit ihren Familien und Nachkommen sowie der Geschichtsschreibung über den Holocaust stoßen würde? Wie konnte es soweit kommen? Indem es einem Mann die Möglichkeit gibt zum Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt zu werden, der 2008 zu den Erstunterzeichnern der Prager Deklaration zählte.“
(Dovid Katz, Vilnius, Litauen)

 

Robert S. Wistrich – Muslimischer Antisemitismus. Eine aktuelle Gefahr

Sehr geehrte Damen und Herren,

das neue Buch von Robert S. Wistrich ist jetzt lieferbar:

Robert S. Wistrich.  Muslimischer Antisemitismus. Eine aktuelle Gefahr

ISBN 978-3-9814548-1-9, 161 Seiten, Softcover, 21 cm x 12,8 cm,

28 Abbildungen, 14, 90 € (D)

„Die Political Correctness spielt ihre ganz eigene, den Westen lähmende Rolle, sobald ein Wissenschaftler oder Journalist versucht sich mit einem beliebigen Aspekt des Islam zu befassen. Selbst die fürchterlichsten Taten derer, die ohne zu zögern unschuldige Zivilisten im Namen des Jihad gegen die „Feinde des Islam“ opferten, führten zu zweideutigen und zögerlichen westlichen Reaktionen, wenn es darum ging, die involvierten Doktrinen des Islam zu kritisieren. Der Krieg gegen Al-Qaida wurde von den Präsidenten Bush und Obama sinnentleert als ein „Krieg gegen den Terror“ bezeichnet, um eine Beleidigung des Islam als Religion zu vermeiden – dabei wurde doch der Islam aus politischen Gründen bereits von den Jihadisten gekapert.“

Prof. Dr. Robert S. Wistrich (Jg. 1945) ist Professor für moderne europäische Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Er ist Autor von 17 Büchern und einer der weltweit bekanntesten Antisemitismusforscher. Seine preisgekrönten Bücher sind in 18 Sprachen übersetzt, 2010 veröffentlichte er die derzeit umfangreichste und umfassendste Geschichte des Antisemitismus, “A Lethal Obsession“.

Das Buch enthält eine Einführung in das Werk des Historikers Robert S. Wistrich sowie erstmals eine Bibliografie seiner Schriften seit 1973.

Bestellbar (versandkostenfrei!) direkt beim Verlag – editioncritic@email.de -, bei Amazon oder in jedem Buchladen.

Mit freundlichen Grüßen,
Edition Critic

 

Robert S. Wistrich: Muslimischer Antisemitismus

Robert S. Wistrich.  Muslimischer Antisemitismus. Eine aktuelle Gefahr

ISBN 978-3-9814548-1-9, 161 Seiten, Softcover, 21 cm x 12,8 cm,

28 Abbildungen, 14, 90 € (D)

„Heil Hitler und Alaaf“

Der Tagesspiegel, 25.01.2008

Karneval und Antisemitismus haben eine lange Tradition – Erinnerung an die Schoah und Erinnerungsabwehr stehen in einem engen Verhältnis.

Am Sonntag, den 27. Januar 2008 findet in München der diesjährige Karnevalsumzug statt. Somit am internationalen Gedenktag zur Erinnerung an die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Erinnerung an die Schoah und Erinnerungsabwehr stehen in einem engen Verhältnis.

Dabei spielte Judenhass, auch der später codierte, im Karneval eine wichtige Rolle, nicht nur in der NS-Zeit. 1935 gab es bei der Fastnacht in Kaiserslautern antijüdische Masken. Dabei wurden im Sinne der Rassenideologie herbeifantasierte physiognomische Kennzeichen von Juden zur Belustigung verwendet. Ein Jahr später hieß ein Umzugswagen beim Fastnachtsumzug in Marburg „Auf nach Palästina“, mit als Juden verkleideten Narren auf dem Wagen. Nicht nur in Köln hieß es seit 1933 „Heil Hitler und Alaaf“.

Nach 1945 wurde der präzedenzlose Mord, der Holocaust, verdrängt, abgewehrt oder auf andere Weise derealisiert, entwirklicht. Insofern steht der Münchner Karnevalsumzug 2008 in einer bestimmten Tradition, wie bewusst, unbewusst, ignorant achselzuckend oder verschmitzt kichernd auch immer. Mehr noch: Karneval und Erinnerungsabwehr haben eine lange Tradition. 1949 ging es los.

Von 1940 bis 1948 gab es keinen Karneval in Köln, der Karnevalshauptstadt in Deutschland. 1949 war dort das Motto der „erweiterten Kappenfahrt“, was noch keinen Rosenmontagszug darstellte: „Meer sin widder do un dun war meer künne“. Der Schriftsteller Dieter Wellershoff, selbst Teilnehmer am Zweiten Weltkrieg, hat 1979 in einem von Jürgen Habermas herausgegebenen Band über „Stichworte zur geistigen Situation der Zeit“ festgehalten:

„In einem Karnevalslied meiner Studentenjahre sangen wir noch ›Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien‹, was heißen sollte: ein kolonisiertes Völkchen, das in heiterer Verantwortungslosigkeit dahinlebt. Dann wurden wir Bundesbürger, und das bedeutete eine zunächst äußerliche, dann aber doch tiefgreifende Verwandlung.“ Der hemdsärmelige Foxtrott „Trizonesien“ war einer der größten Schlagererfolge der Nachkriegszeit. Um was ging es? Ein Kölner Sänger und Karnevalist, der schon zu NS-Zeiten fröhliche Unterhaltung gemacht hatte, Karl Berbuer, dichtete und vertonte den Song:

Vers 1

„Mein lieber Freund, mein lieber Freund, die alten Zeiten sind vorbei, ob man da lacht, ob man da weint, die Welt geht weiter, eins, zwei, drei. Ein kleines Häuflein Diplomaten macht heut die große Politik, sie schaffen Zonen, ändern Staaten (…)

Vers 3

Doch fremder Mann, damit du’s weißt, ein Trizonesier hat Humor, er hat Kultur, er hat auch Geist, darin macht keiner ihm was vor. Selbst Goethe stammt aus Trizonesien, Beethovens Wiege ist bekannt. Nein, sowas gibt’s nicht in Chinesien, darum sind wir auch stolz auf unser Land.

Refrain: Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien, Hei-di-tschimmela- tschimmela-tschimela-tschimmela-bumm!

Wir haben Mägdelein mit feurig wildem Wesien, Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela- tschimmela-bumm!

Wir sind zwar keine Menschenfresser, doch wir küssen um so besser. Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien, Hei-di-tschimmela- tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm!“

Dieser Song wurde 1948/49 mitunter als Nationalhymne gespielt, etwa bei Sportveranstaltungen, und war der Hit des Karneval 1949 in Köln. Der Songtexter Berbuer war hier eine bekannte Person, ihm wurde vor einigen Jahren ein Denkmal aus Bronze gewidmet.

Der Musikwissenschaftler Fred Ritzel hat in der Zeitschrift Popular Music den Song seziert und stellt die Frage, ob es zu gewagt sei, in der „obskuren Fremdheit“ „Chinesiens“ eine Referenz auf die Juden sehen zu wollen. In der Tat: Der Antisemitismus scheint im Reden von „Chinesien“, das im Gegensatz zu „Trizonesien“ keine „Kultur“ und keinen „Geist“ kenne, unschwer wider.

In dem Trizonesien-Song, der natürlich auf die drei großen Besatzungszonen damals anspielt, wird auch lamentiert, dass „Diplomaten“ einfach Staaten änderten und „Zonen“ schufen. Die Deutschen nicht als konkrete Täter, von denen noch Hunderttausende munter lebten, 1949, vielmehr als Opfer und Gegängelte solcher Diplomaten zu sehen, ist zentral.

So dichteten sich die Deutschen wenige Jahre nach dem Ende des NS-Staates ein Karnevalslied, welches nichts als Schuldprojektion, Schuldabwehr und aufgewärmten Nationalstolz verkündet. Auf den Straßen Kölns tanzten die Narren wie imaginierte „Eingeborene“ zu diesem Song, dazu hatten sie sich die Haut schwarz bemalt. Sie wollten sich selbst „exotisieren“, zumal gegenüber den Besatzungsmächten, um den imaginierten Opferstatus der „ganz normalen Deutschen“ zu untermalen. Die Alliierten haben demnach keine Befreiung vom Nationalsozialismus gebracht, vielmehr die armen Deutschen „kolonisiert“.

Diese Selbsteinschätzung ist bezeichnend. Das abstoßende Wort von den Deutschen, die keine „Menschenfresser“ seien, dafür umso besser „küssten“, kann nicht anders denn psychoanalytisch interpretiert werden: Die Schuld an der Vernichtung der Juden wird derealisiert, um sich nicht nur als Mörder reinzuwaschen, sondern auch um gleich wieder Gutes, spezifisch Deutsches hervorzuheben: Goethe, Beethoven und das Küssen.

Die Deutschen tun also was sie können, um Auschwitz zu vergessen, zu banalisieren, zu überlagern. Sei es mit Karnevalsumzügen am 27. Januar 2008, dem Auschwitzgedenktag, oder mit schuldabwehrenden Songs wie dem Trizonesien-Schlager von 1949. Wie hieß es in Köln als Motto, damals, passend dazu: „Meer sin widder do un dun war meer künne“. Na dann.

Der Autor ist Politikwissenschaftler und Publizist aus Berlin.

 

Eine deutsche Liebe: Über die braunen Wurzeln der Grünen und die Lücken der Naturschutzforschung (mit Peter Bierl)

Eine deutsche Liebe: Über die braunen Wurzeln der Grünen und die Lücken der Naturschutzforschung (mit Peter Bierl), Konkret, 1/2008

Die Achse der Frommen

Achgut, 25.04.2007

Gestern starb der Gründer des ZDF, Karl Holzamer, im Alter von 100 Jahren. Ein echter Deutscher, ja ein „Neudeutscher“ war er, was jedoch gern verschwiegen wird, ist doch der katholische Bund Neudeutschland eher Signum fanatischer Religiosität, dem auch Nazis wie Hans Filbinger die Treue schworen. Vielmehr wird so an Holzamer erinnert: »Während des Zweiten Weltkrieges kam er als Bordschütze der Luftwaffe und Hörfunk-Korrespondent in viele Länder. Das habe seinen Horizont sehr erweitert, sagte er selbst, aber auch: ›Nur mit meiner absolut christlichen Haltung konnte ich Front machen gegen die schrecklichen Erlebnisse im Krieg‹«, wie die Augsburger Allgemeine stolz verkündet. Was ist von einem Menschen zu halten, der den Zweiten Weltkrieg als ›Bereicherung seines Horizonts‹ grotesk überhöht und affirmiert?

Durch ein Zeltlager in Oranienstein 1931 wurde der

»Zusammenhalt der Neudeutschen bestimmt und die Mitträger der Politik der Bundesrepublik direkt oder indirekt beeinflußt (Rainer Barzel, Bernhard Vogel, Hans Filbinger, Josef Jansen, Hans Puhl, Josef Stingl, Peter Nellen, Bruno Heck – wieder nur einige aus dem eigenen Erfahrungsbereich vor und nach dem Kriege). An anderer Stelle habe ich in diesem Zusammenhang von einem Erlebnis berichtet, das ich während des Krieges als Luftwaffenangehöriger in Sizilien hatte (1942). Bei einer Meldung bei einem Gruppenkommandeur auf einem mir noch nicht bekannten Flugplatz sprach mich ein Fähnrich, der mit anderen Offizieren dabeistand, an: ›Ich kenne Sie, Herr Leutnant, vom Leuchtturm‹ [einer Zeitschrift dieses Bundes Neudeutschland]. Eine eindeutige Erkennung zwischen uns, ein Geheimcode für die anderen.«

»Die nachwirkenden Erfahrungen des Kaiserreichs, zumal bei den Eltern vieler Neudeutscher, die Ungerechtigkeiten des Diktatfriedens von Versailles und das Drängen der Jugendbewegung nach freier natürlicher Entfaltung schufen ein z. T. gebrochenes Verhältnis zur Weimarer Republik – auch innerhalb des Bundes (…)«.

Dieses gebrochene Verhältnis, an welches der nun 100jährig verstorbene Karl Holzamer, erster und langjähriger Intendant des ZDF, 1985 erinnerte, hat die von ihm bewunderten Leute wie Hans Filbinger zu echten Nazis gemacht. Klar, dass auch der Neudeutsche Katholik Karl Holzamer nur Gutes über sich hören wird beim Abschied in der Kirche. Was seinen katholischen Bund Neudeutschland ideologisch kennzeichnete wird in dem folgenden Beitrag deutlich.

»Schutz der Volksgemeinschaft« vor »Glück«, der »Denkweise des Liberalen« und »gutem Essen an beliebigem Ort« oder:

Hans Filbinger war ein Nazi

Wenig bekannte Quellen des katholischen Bundes Neudeutschland

Von Dr. Clemens Heni

»›Der Nationalsozialismus hat weder im Individualismus noch in der Menschheit den Ausgangspunkt seiner Betrachtungen, seiner Stellungnahme und seiner Entschlüsse. Er rückt bewusst in den Mittelpunkt seines ganzen Denkens das Volk.‹ (Adolf Hitler beim Erntedankfest auf dem Bückeberg, 1. Okt. 1933)«.

So heißt es in einem Vorspann zu dem Artikel »Volk als Begriff und Aufgabe« von Rolf Fechter (Jg. 1912) in den Werkblättern von Neudeutschland Älterenbund.1 In der gleichen Ausgabe schreibt auch Hans Filbinger seine ersten persönliche Betrachtungen über diese Neudeutschen, vgl. unten. Fechter betont, dass Hitler oder Goebbels dem Begriff Volk wieder einen gleichsam ›deutschen‹ Sinn gegeben haben:

»›Volk‹ meint in dem Sinn, in dem heute das Wort wieder erwacht ist, nicht mehr ›Untertanen‹, nicht mehr ist ›Volk‹ politisches Gegenstück zur Obrigkeit, auch nicht mehr soziales Gegenstück zu den ›oberen Zehntausend‹, — es ist weder Untertanenschaft, noch verfassungspolitische Gruppe, noch Klasse.«2

Prima, endlich erhält das Wort Volk seine positive Bestimmung wieder, jubilieren nicht nur deutsche Katholiken. Ein längerer Abschnitt befasst sich daran anschließend mit der »Judenfrage«, na klar. Ist wirklich jeder Deutscher ein Deutscher, fragt man sich nicht nur aber vor allem im Jahr 1933:

»Katholizismus ist Religion, nie Volkstum – Judentum aber ist Volkstum (Judentum ist das als Nation ›auserwählte Volk‹!). Ist nun dieses Volkstum Bereicherung oder Schaden, Sprengkörper für die Nationen?«

Das ist doch mal eine freundliche Offenheit, nicht wahr? Ganz diskursiv wird hier katholischerseits im Filbinger-Blättle Werkblätter des Bundes Neudeutschland gefragt ob Juden harmlos, deutsch oder vielleicht Sprengkörper seien. Weiter geht’s im Text:

»Zweifellos zeigt die Praxis, dass es viele Juden gibt, die echt deutsch sind und fühlen, die für das Deutschtum, für deutsche Wirtschaft und Wissenschaft viel getan und die auch ihr Blut geopfert haben – man würde bitteres Unrecht tun, wolle man dies leugnen, – aber wer objektiv ist, sieht auch, dass gerade bei den Mächten, die Sitte, Volksgesundheit und Volkstum unterhöhlen und vernichten (wie etwa bei einer gewissen Presse, beim internationalen Kapital us.), das jüdische Element in ganz hervorragendem und in ganz auffällig starkem Maße beteiligt ist. Das sind Dinge, die zu denken geben«

und denken, ja nachdenklich werden ist doch was Gutes, oder nicht? Diese Katholiken liegen ihrem „Denken“ 1933 jedenfalls voll im Trend. Der Zeitgeist hat einen Namen: »Bund Neudeutschland«, ob explizit unter diesem Banner fahrend wie anno 1933 – oder etwas verbrämter, verdruckster, evangelischer oder antiimperialistischer ausgedrückt: »Für eine Welt ohne G8«….

Doch bleiben wir jetzt einmal bei den ›völkischen Aufgaben‹ im Jahr 1933: Diese zitierten antisemitischen Fragen stellt ein guter Kollege, ›Kamerad‹ oder ›Bruder‹ Hans Filbingers ganz zu Beginn des Nationalsozialismus. Heute wollen der Öffentlichkeit nun die CDU und ihre Freunde weismachen, Filbinger sei tief im Herzen – trotz späterer NSDAP-Mitgliedschaft – kein Nationalsozialist gewesen, wie der Leiter des Studienzentrums Weikersheim, ein Prof. Bernhard Friedmann, im Fernsehen am 19. April 2007 faselte. Denn was anderes als faseln ist es? Es ist ganz etymologisch »Wirrwarr« oder auch »dummes Zeug« oder auch »Herumgeblasenes« was dieser Leiter von Weikersheim da aus seinem Mund hat kommen lassen auf Phönix.

Die glühenden Herzen Filbingers oder Fechters oder anderer im Bund Neudeutschland sollten jedoch wahr- und ernstgenommen werden in ihrem die ›Deutsche Revolution‹ unterstützenden Einsatz für Deutschland und gegen die Juden, ›Wehrkraftzersetzer‹, Kommunisten, Sozialdemokraten, Anarchisten, Liberalen, Areligiösen, Unternehmer und andere, die nicht ›arteigen‹ drauf waren. Wer ernst genommen werden möchte (also nicht Oettinger, Schönbohm, Pflüger, Kauder, Mappus, Schavan oder gar Brunnhuber heißt) bei der Beurteilung der politischen Stimmung im neuen Deutschland seit dem 30. Januar 1933 muss sich diese Quellen anschauen.

Die Neudeutschen denken rassebiologisch:

»Aufgaben nach innen. Die Träger des Volkstums sind Menschen, gesunde körperliche Grundlage ist Vorbedingung gesunden Volkstums. Hier liegt die ›völkische Aufgabe‹ der Ärzte. Das von der Reichsregierung jüngst erlassene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses darf vom Standpunkt der Volksgesundheit aus nur begrüßt werden.«3

»Wer an den Volksgedanken glaubt, der glaubt an die Aufteilung der Welt in Völkern, von denen jedes seine Aufgabe hat, von denen jedes wieder Glied eines großen Ganzen ist. Der Reichsgedanke wird nur dann leben können und nicht in Utopie oder Imperialismus ausarten, wenn er den Volksgedanken bejaht und in sich schließt«.4

Jetzt aber möchte ich zum ersten Mal Han[n]s Filbinger selbst zu Wort kommen lassen, als Teenager:

»Aus einem ›Jüngerenkreis‹ (…) Du fragst nach dem tatsächlich Stattgehabten in unserm Kreis? Zuviel darfst Du da nicht erwarten: Was wir getan haben, war ein Anfangen, wesentliche Menschen zu werden. Darum suchten wir Beziehung zu finden zu Ganzheitswerten wie Kunst, Gemeinschaft, Natur, Religion. Alles war bescheidenes Beginnen«.5

»Es ist schon sehr spät, da zieht die gleiche Gruppe – manche stecken schon im Schlafanzug mit Mantel drüber – auf den Schloßberg. Unterwegs wirds immer stiller, keiner spricht mehr. Es ist eine sternenhelle Nacht. Unten in Freiburg brennen nur noch wenige Lichter, der Münsterturm steht wie ein ragender Schatten. Wirklich andächtig singen wir vom Gipfel aus unsere schönsten Lieder. – Romantik und Ausgelassenheit, – auch das ist zuweilen notwendig und schön. Zum Abschluß unseres Einführungskreises sitzen wir im Hof unseres Heims in der Laube. Alles klingt noch einmal zusammen, was der Kreis gewollt hatte in seiner Mittlerrolle zu Gruppe und Bund und echtem Menschsein. Mannheim/Freiburg i. B. Dein Hanns Filbinger.«6

Filbinger auf dem Weg zu ›echtem Menschsein‹ auf dem Freiburger Schlossberg. Der ›Max‹, an den Filbinger, oder das kleine Hänslein diese Eindrücke adressierte, ist Dr. Max Müller, Neudeutscher wie Hans, der spätere Marinerichter.

In der nächsten Nummer der Werkblätter, im Herbst 1933, schreibt Müller:

„Echtes Soldatentum aber hebt nicht die Freiheit personaler Entscheidung für uns auf, sondern setzt sie voraus. Der Neudeutsche Hochschüler ist nicht nur SA-Mann, er ist SA-Student: d.h. mit der soldatischen Unterordnung unter den Führer und seinen Befehl verbindet er das Wissen um den geistigen Auftrag, den er nicht aufgeben kann, ohne sich aufzugeben. Nationalsozialistische Staatsform: das bedeutet nicht ›autoritärer Staat‹, ›Absolutismus‹ und ›Diktatur‹, sondern das bedeutet in erster Linie ›Völkisch-Sozialistischer Staat‹. In ihm ist die politische Autorität und Verantwortung wohl in einem unerhörten Maße beim Führer, der sie sich in 14-jährigem Kampfe erkämpft hat.“7

In der heutigen Diskussion über Filbinger, seinen Enkel Oettinger wird überhaupt nicht erkannt, welch völkische Weltanschauung dieser katholische Bund Neudeutschland propagiert hat in der Zeit des Nationalsozialismus bzw. schon davor. Es wird meist von der ideologischen Vordenkerfunktion dieses Bundes abgesehen.

Zudem: Gerd Langguth z.B. meinte auf Phönix am 19.04.2007, dass nach »unseren heutigen moralischen Maßstäben« Todesurteile für Deserteure »nicht tragbar seien«. ›Nach unseren heutigen moralischen Maßstäben‹, na dann. Bettina Gaus hätte auch gerne, dass Filbinger »in Ruhe« im Grabe liegen möge, Oettinger hätte einfach den Nazismus Filbingers auf sich beruhen lassen sollen und nicht irgendetwas zu dieser Zeit sagen. Dann wäre alles gut, auch für die jedweder Hetze gegen Israel und die Juden von heute so aufgeschlossene taz.

Eine Etymologie des Deutschen harrt immer noch ihrer ideologiekritischen Ausarbeitung. So wäre zu überdenken, ob nicht das Wort ›eigenartig‹ eine völkische Kampfvokabel ist und nichts anderes, abgeleitet von seinem Nomen:

»Ohne Gemeinschaft mit dem Volk, ohne ein Wissen um die Eigenart des Volksgeistes und der ihm eigentümlichen Kräfte kann der Aufbau einer neuen Kultur und eines neuen Reiches nicht erfolgen. Deshalb sagten bei einer Feier ›Das deutsche Volk im deutschen Raum‹ die Vertreter der wichtigsten deutschen Stämme und Landschaften, was diese an wertvoller Eigenart aufweisen und heute zu geben haben.«8

Ein Karl Giess sagt bereits gegen Ende der Weimarer Republik im Jahr 1932, offenbar den NS-Staat gedanklich vor Augen, in einer völkischen Hetze gegen gutes Essen:

»In der Sache z.B. stärkere Berücksichtigung von Heimatboden und Volksgemeinschaft; denn meine Beziehung zum Vaterland geht über den Mutterboden, auf dem ich zu Hause bin und meine Beziehung zum Gesamt-Volk über meine engere und weitere Nachbarschaft. Die Hinkehr des Volkes zum Nationalismus ist zugleich eine Abkehr vom Sozialismus-Bolschewismus, der den Menschen zu einem internationalen (außerhalb der Nation stehenden) aus Boden und Familie entwurzelten Allerweltsbürger macht, dessen Grundsatz lautet: ›Wo ich gut zu essen bekomme, fühle ich mich zu Hause‹ (Ubi bene, ibi patria).«9

Dieser gleichsam auch orale Kosmopolitismus (welcher wortwörtlich nicht unbedingt ›Essen‹ heißen muss), der aus dem Spruch Ubi bene, ibi patria Ciceros zu hören ist und auch von dem Humanisten Erasmus von Rotterdam (1466-1536) positiv übernommen wurde, wird hier bereits zu demokratischen, Weimarer Zeiten, rabiat abgewehrt und ein Nationalismus auch beim Essen eingefordert. Eine Hetze gegen ›entwurzelte Allerweltsbürger‹ kennzeichnet also diesen Bund Neudeutschland schon vor 1933! Ein Nationalismus der Alltäglichkeiten, wie er Hans Filbinger gefallen hat. Singen, Jauchzen, Essen, alles nur auf katholischer, ›reiner‹ deutscher Erde, so soll es offenbar sein.

Im ersten Heft des 7. Jg., im Mai 1934 heißt es dann in den Werkblättern:

»Es stärkt uns dabei das Wissen, dass die echte Form des Nationalsozialismus, wie ihn der Führer vertritt, ›auf dem Boden positiven Christentums steht‹ (so auch Reichsminister Dr. Goebbels wörtlich in einer Rede in Düsseldorf am 25. April 1934).«

In einer längeren Buchbesprechung des Werkes »Der Individualismus als Schicksal« von Otto Miller, 1933 erschienen, schreibt Rolf Fechter:

»Das Zeitalter des Individualismus, dessen Anfänge man mit dem spätmittelalterlichen Nominalismus einsetzen lassen kann, ist in seine vielleicht entscheidende Krisis gekommen. Einsichtigen, vor allem Katholiken, war es von Anfang an nicht ungewiß, dass diese Krisis kommen musste, ob auch solche Gewissheit bis vor kurzem von vielen, die heute am lautesten davon reden, weidlich verspottet und hochmütig belächelt wurde. Mit dem Durchbruch des Nationalsozialismus ist ein entscheidender Schlag geführt worden. Aber man darf nicht glauben, dass der Geist des Individualismus schon ausgetrieben sei: zu viele sind es, die – falls sie nicht dem andern Extrem, dem aus gleicher Wurzel kommenden Kollektivismus, verfallen sind – ihren alten Adam in die neue Zeit hinüberzuretten verstanden, wenn sie ihm auch ein andersfarbiges Mäntelchen umgehängt haben.«10

Der Nationalsozialismus wird hier gefeiert in seinem Kampf gegen den Individualismus im Jahr 1934, bei Filbinger heißt es dann im Jahr 1998 im Studienzentrum Weikersheim, einem Think-Tank, welches immer noch nicht geschlossen ist:

»Die Stichworte ›Emanzipation‹, ›Demokratisierung‹, ›Selbstverwirklichung‹, ›Verweigerung‹, ›antiautoritäre Erziehung‹ u.a. verwirrten die Köpfe der Studenten und führten zu den bekannten Exzessen.«11

Eine »Feierstunde« von 20 Seiten Umfang (von Emil Maubach, »Rheinisches Christentum«) lobt der spätere Botschafter der BRD, Rolf Fechter, 1934 und jubelt:

»Sie wären es wert, in einer echten ›Stunde der Nation‹ dem ganzen deutschen Volk zugänglich gemacht zu werden (zumal da die ganze Anlage den Anforderungen des Rundfunks ausgezeichnet entspricht). Die Feierstunde bringt es jedem Unvoreingenommenen wieder deutlich zum Bewusstsein, wie sehr germanisches mit christlichem Wesen gerade im Rheinland zu einer großartigen Synthese verschmolzen ist.«12

Auch das ist ein Hinweis darauf, dass germanische Religiosität, Katholizismus, Protestantismus und andere Facetten im Nationalsozialismus auf ihre je unterschiedliche Weise die antijüdische Volksgemeinschaft zu kreieren vermochten.

Dieser Emil Maubach hat darüber hinaus in einem weiteren Beitrag Vorschläge zur Erziehung der Jugend zu bieten, die aufhorchen lassen:

»Sicherlich ist Jazz Zeichen und Frucht einer Krisenzeit. Aber ein Mensch mit Fleisch und Blut und Herz kann seelisch nicht dauernd in Krise und Destruktion leben. Im Tanz zeigt sich das an der Hartnäckigkeit, mit der sich die alten Wienerwalzer neben dem Jazz behaupten oder an dem Erfolg der ›Dorfmusik‹ im vergangenen Winter.«

Und weiter:

»Wenn wir bei unseren geselligen Zusammenkünften nur modernen Gesellschaftstänze tanzen, so muß das auf die Dauer eine Überbetonung der Erotik und vor allem eine Verkümmerung echt tänzerischen Empfindens zur Folge haben. Es soll hier nicht einer einseitigen und engherzigen Ablehnung der Jazztänze das Wort geredet werden. Sie enthalten oft eine treffliche Art Humor und Karikatur. Hier steckt ihr offensichtlicher Wert. Wenn man aber bedenkt, dass neben diesem positiven Gehalt den modernen Tänzen große Mängel tänzerischer, seelischer und volklicher Art anhaften, so erscheinen sie als höchst ungeeignet, jungen Menschen als Mittel der oft ersten engeren Fühlungnahme mit dem anderen Geschlecht zu dienen. Die erotische Belastung der modernen Tänze läßt allzuschnell eine Atmosphäre aufkommen, die die Ehrlichkeit dieser ersten Begegnung der beiden Geschlechter gefährdet. Das Streben nach seelischem Kontakt wird allzu leicht umgebogen in den Wunsch nur noch Befriedigung oberflächlicher Reize zu suchen. Demgegenüber schaffen die Volks- und Jugendtänze durch den unbedingten Vorrang ihrer tänzerischen Werte und der darin symbolisierten Gemeinschaft und volkbildenden Werte einen Raum, in dem sich junge Menschen beiderlei Geschlechts unter Wahrung ihrer wesensgemäßen Eigenart begegnen können, was zur seelischen Reife des einzelnen Menschen von großem Wert ist.«13

Auch in diesem Zitat zeigt sich das Sendungsbewusstsein dieser katholischen Weltverbesserer und radikalen Ideologen des Bundes Neudeutschland, die sich anschickten den Alltag, Feste und Feiern ›deutsch‹ werden zu lassen, ja die ›wesensgemäße Eigenart‹ hervorzukitzeln. Wer sich anschaut, welche prominenten Positionen bekannte Vertreter dieses Bundes Neudeutschland z. B. in der Bundesrepublik einnahmen, an Universitäten, bei der Caritas, der Redaktion des Rheinischen Merkur, dem Bürgermeisteramt der Stadt Münster, der Bayerischen Akademie der Wissenschaften über das Auswärtige Amt14 bis hin zur Regierungsbank, dem wird bewusst wie stark so ein völkischer Jugendbund auch die politische Kultur im Post-Nazismus prägte.

Der spätere Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Syrien (1959-1963), Äthiopien (1969-1973) und Irland (1973-1977), Rolf Fechter, den ich schon mehrfach zitierte, sagt im typischen Duktus dieser fanatischen, katholischen Neudeutschen im Jahr 1934:

»Die nationalsozialistische Revolution hat der von uns immer bekämpften Vermanschung von Religion und Politik ein Ende bereitet, – darüber darf man sich nur freuen.«15

»Möge die innere Erneuerung, deren Ziele sich weithin mit denen des echten Nationalsozialismus decken, nicht wieder zugunsten einer falschen Frontstellung hinausgezögert werden, – die Lage ist so ernst wie schon einmal in der Geschichte der Kirche, da es zu jener unseligen Glaubensspaltung kam für die vielleicht mehrmals der offizielle Ketzer andere Menschen die Verantwortung tragen, denen die Augen zu spät aufgingen.«16

Dr. Max Müller, der Herausgeber der Werkblätter, selbstredend auch Heideggerverehrer, wiederum agitiert gegen französischen Universalismus und gegen Glück:

»Und wie das ideale Pathos der französischen ›Zivilisation‹, das Pathos der ›ewigen Menschenrechte‹ als absolut antipersonales, individualistisches ein gemeinsames Werk unmöglich macht, braucht auch nicht weiter geschildert werden. Dieses Naturrecht der französischen Revolution ist die Vollendung der liberalen Haltung. Es fordert nur für den Einzelnen, kennt weder ›Werk‹ noch Pflicht noch Bindung, nur ›Freiheit von‹ und Glück sowie eine alle Stände zerstörende Gleichheit.«17

Wer gegen ›Glück‹ und ›Zivilisation‹ hetzt ist natürlich ein Freund des und der Deutschen:

»Erst in der Staatsentwicklung und im Staatsdenken der neuesten Zeit wird der seit dem Ausgang des Mittelalters bestehende liberale Individualismus allmählich überwunden, und in einem neuen, völkisch fundierten Universalismus der echte Zusammenhang von Volk und Staat wieder echt erkannt und Staat wieder als die Erfüllung bestimmten Volkstums begriffen. Dadurch wird dem Staat seine hohe Würde zurückgegeben und er dennoch an das Wesen der Menschen, die ihn aufbauen, unlöslich normativ gebunden. (…) Im heutigen Deutschland sind verschiedenartige Ansätze zu einem neuen völkischen und ständischen Staatsdenken, wie wir es schon andeuteten, in den Werken Moeller von den Brucks, M.H. Boehms, Othmar Spanns, Rudolf Smends, Carl Schmitts, Otto Koellreuters und Reinhard Hoehns, sowie in dem Buch Adolf Hitlers ›Mein Kampf‹ vorhanden.«18

Neben späteren SS-Männern oder Mitgliedern des Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbundes ist Hitlers Mein Kampf Basislektüre für diese Neudeutschen, somit auch für den gar nicht mehr so kleinen Hans Filbinger, immerhin bald 21 Jahre alt im Jahr 1934.

1935 schreibt Hans Filbinger einen programmatischen Artikel Nationalsozialistisches Strafrecht. Kritische Würdigung des geltenden Strafgesetzbuches und Ausblick auf die kommende Strafrechtsreform in den Werkblättern, aus welchem ich nun ausführlich zitiere. Die nationalsozialistische Ideologie Filbingers wird hier klar und unmissverständlich ausgebreitet:

»Schon seit Jahrzehnten ist eine lebhafte Problematik um unser geltendes Strafgesetzbuch entstanden. Das Gesetzbuch trat im Jahre 1871 in Kraft und ist durch die Entwicklung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens längst überholt. Das Bedürfnis nach einem Strafrechtsneubau wurde immer dringender, die Reformliteratur schwoll mehr und mehr an und schließlich wurde im Jahre 1925 dem Reichsrat ein Entwurf vorgelegt. Aber es kam nicht zum Gesetz und das war gut so. Denn dem Entwurf fehlte, genau so wie dem Reichsstrafgesetzbuch, die einheitliche weltanschauliche Grundlage. Es musste Forderungen der verschiedensten Weltanschauungsgruppen berücksichtigen und dies geschah auf Kosten der Klarlinigkeit und Geschlossenheit. Erst der Nationalsozialismus schuf die geistigen Voraussetzungen für einen wirksamen Neubau des deutschen Rechts und in der Tat sind die Arbeiten schon so weit vorgeschritten, dass das deutsche Volk in Bälde sein neues Strafgesetzbuch erhalten wird.«19

»Das geltende StGB, das von liberalem Geiste geschaffen wurde, stellte in den Mittelpunkt seiner Schutzbestimmungen das Individuum. Die Existenz des freien Einzelnen, dessen größtmögliche Freiheit von staatlichen Eingriffen und seine gesicherte wirtschaftliche Betätigung war das Ziel des alten StGB. Das nationalsozialistische Strafrecht. Für das nationalsozialistische Strafrecht dagegen wird der Schutz der Volksgemeinschaft an erster Stelle stehen. Der Einzelne wird nicht mehr als Einzelner, sondern als Glied der Gesamtheit gesehen und erhält als solches nur seinen strafrechtlichen Schutz.«20

»Diese Denkweise war dem Liberalen unbekannt. (…) Das Verbrechen gegen den Staat ist darum kein Schlag gegen eine bürokratische Institution, sondern Angriff gegen den Bestand der Volksgemeinschaft, also schwerstes Verbrechen, das die Rechtsordnung überhaupt kennt. ›Die erstarkte Staatsgewalt sieht in der Wachsamkeit gegenüber Angriffen auf ihren inneren und äußeren Bestand und in der Bereitstellung einer wirksamen Abwehr ihre erste Aufgabe.‹ Daher wurden die Hoch- und Landesverratsbestimmungen noch vor Erscheinen des Reformgesetzbuches durch Novellengesetze neugefasst. Sie enthalten gegenüber früher bedeutende Verschärfungen, vor allem durch die Androhung der Todesstrafe und die Schaffung neuer Tatbestände.«21

»Schutz der Blutsgemeinschaft.

Die Bestimmungen über Hoch- und Landesverrat schützen den Staat als rechtlich organisierte Volksgemeinschaft. Darüber hinaus muß diese aber auch in ihrem natürlichen Bestande und ihrem religiösen und sittlichen Anschauungsleben gesichert werden. Die Volksgemeinschaft ist nach nationalsozialistischer Auffassung in erster Linie Blutsgemeinschaft (d.h. das Blutselement gilt als fundierender als das geschichtliche, völkisch oder sprachlich-kulturelle Element). Diese Blutsgemeinschaft muß rein erhalten und die rassisch wertvollen Bestandteile des deutschen Volkes planvoll vorwärtsentwickelt werden. Die Denkschrift des preußischen Justizministers fordert daher Schutzbestimmungen für die Rasse, für Volksbestand und Volksgesundheit, darüber hinaus aber auch für die geistigeren Element des Volksseins: für Religion und Sitte, schließlich für Volksehre und Volksfrieden. Im Zusammenhang damit erhält auch die Familie im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Volksgemeinschaft einen umfassenden strafrechtlichen Schutz. Höhnische Herabsetzung der Ehe in Wort, Bild oder Schrift läuft dem Sittlichkeitsempfinden des Volkes ebenso zuwider, wie willkürliche Eingriffe in die Zeugungskraft oder das keimende Leben und wird daher unter Strafe gestellt werden.«22

»Der liberale Eigentumsbegriff, der eine unumschränkte Verwendungsfreiheit zum Inhalt hat, wird eine starke Einschränkung erfahren.«23

»Schädlinge am Volksganzen jedoch, deren offenkundiger verbrecherischer Hang immer wieder strafbare Handlungen hervorrufen wird, werden unschädlich gemacht werden. Das bisher geltende Strafrecht hat gegenüber solchen Schädlingen offenkundig versagt. Man vertiefte sich in das Seelenleben des Verbrechers, fand dieses durch Erbanlagen, Erziehung und Umwelt ungünstig beeinflusst und war mehr auf Besserung des – meist unverbesserlichen – Täters, als auf eine eindrucksvolle und scharfe Strafe sowie wirksamen Schutz der Gesamtheit bedacht.«24

Im Schlussabsatz dieses Artikels des späteren Marinerichters und noch-späteren langjährigen Ministerpräsidenten in der Bundesrepublik Deutschland heißt es:

»Über all dem Einzelnen der Strafrechtsreform darf aber nicht vergessen werden, dass ein Gesetz nur dann Eingang beim Volke findet, wenn es durch lebendige Richterpersönlichkeiten gesprochen und verkörpert wird. Das Richterideal der Aufklärungszeit vom ›Subsumptionsautomat, der bei Einwurf der Sachlage das Urteil abgibt, oder dem Manne, der nur Mund des Gesetzes ist‹ [Zitat von Heinrich Henkel: Strafrichter u. Gesetz im neuen Staat, S. 18] – besteht für uns nicht mehr. Das neue Recht verlangt den neuen Juristen, der aus Kenntnis und Verbundenheit mit dem Volke des Volkes Recht spricht. Mannheim. Hanns Filbinger.«25

Hans Filbinger ist wenige Jahre später dieser ›neue Jurist‹. Er kämpfte für ein ›rassereines‹ Deutschland, autoritär, völkisch und unerbittlich aggressiv. Sein ethnopluralistisches bzw. ›rassebasiertes‹ Verständnis von Recht sticht stark hervor und sekundiert natürlich Carl Schmitt. Aus so einem Filbinger, welcher den ›Schutz der Blutsgemeinschaft‹ einforderte, einen Widerstandskämpfer gegen den NS-Staat herbei zu fabulieren, wie es der immer noch amtierende Ministerpräsident von Baden-Württemberg getan hat – denn es gibt nichts Lächerlicheres als eine Rede oder einzelne Worte daraus zurück zu nehmen – ist an Absurdität, Lüge, Infamie, Bevölkerungsverdummung und Geschichtsklitterung nicht zu überbieten.

Wer weiterhin behaupten möchte, und sei es z. B. als Berliner Antisemitismusforscher der Technischen Universität, die Bundesrepublik sei peu à peu weniger antisemitisch geworden die letzten Jahrzehnte, mag das weiterhin behaupten. Ernst nehmen muss man solche Forscher in Zukunft nicht mehr. Denn nur eine politische Kultur der Erinnerungsverweigerung lässt einen Oettinger vor 700 geladenen Gästen inclusive dem Bundesinnenminister das sagen, was er gesagt hat in Freiburg im Breisgau.

Im Heft Oktober 1937/Januar 1938 ist auf der Rückseite der Werkblätter wiederum Werbung für das Winterhilfswerk abgedruckt, diesmal mit Reichsadler und Hakenkreuz und dem Spruch »Der Sammler und Helfer des WHW steht freiwillig im Dienste des Volkes. Achte ihn durch dein Opfer!« oder aber: »Ein Volk hilft sich selbst« Winterhilfswerk 1938/39, wie es wenig später treffend heißt…

Ein Volk hilft sich selbst – das ist doch ein toller Wahlspruch auch für das post-NS-Deutschland. Kurt Georg Kiesinger, Nazi und Bundeskanzler der BRD, machte den Weg frei für den begeisterten Nazi und katholischen Bündler Filbinger als so called Landesvater im Ländle, dem wiederum von Günther Oettinger, definitiv kein NSDAP-Mitglied jemals, wie die jüngere Forschung erwiesen hat, durch dessen Totenrede geholfen wurde, die ›Eigenart‹ zu wahren und alles ›Volksfremde‹ abzuwehren, im Dom zu Freiburg. Die späteren salamitaktischen Rückzieher Oettingers konnte Filbinger nicht mehr hören. Er genoss die warmen, ihn und das Neudeutschland incl.

Weikersheim von jedem Fanatismus, Antisemitismus, Nazismus und Nationalismus exkulpierenden Worte seine Nach-Nach-Nachfolgers Oettinger. Wer exkulpiert alsbald Oettinger, der nicht nur die erste Strophe des Deutschlandliedes gerne singt, vielmehr 1998 gegen die kritische Wehrmachtsausstellung hetzte? Wer mag das bewerkstelligen in diesen schwierigen Zeiten, wo es für alle Zufriedenen und Affirmativen gilt die Erinnerung an die präzedenzlosen Verbrechen der Deutschen ein für alle Mal wegzuwischen, das Unvergleichbare zu vergleichen, zu bagatellisieren, nicht nur aber auch um Teheran seine Rechtfertigung für den kommenden Judenmord zu geben?

Wer also mag diese große Aufgabe in Angriff nehmen? Das schaffen nur die Baden-Württemberger. Bestimmt. Die können wirklich alles.

1 Rolf Fechter (1933): Volk als Begriff und Aufgabe, in: Werkblätter von Neudeutschland Älterenbund, Heft 7/8, 6. Jahrgang, Okt./Nov. 1933, S. 160-169, hier S. 160.
2 Ebd.: 161.
3 Ebd.: 167.
4 Ebd.: 169.
5 Hanns Filbinger (1933): Aus einem ›Jüngerenkreis‹, in: Werkblätter von Neudeutschland Älterenbund, Heft 7/8, 6. Jahrgang, Okt./Nov. 1933, S. 204-205, hier S. 204.
6 Ebd.: 205.
7 Max Müller (1933): Zum Geleit, Werkblätter 9/10, 6. Jg., Dez 33/Jan 34, S. 209–214, hier S. 211.
8 Rolf Fechter (1933a): Das Deutsche Volk im Deutschen Raum, in: Hans Puhl (Hg.) (1933): Bund Beruf Reich. Die Vorträge des Bundestags von Neudeutschland im Limburg a.d. Lahn 1932, herausgegeben im Auftrage der Bundesleitung, Godesberg: Neudeutschland-Älterenbund, S. 135–141, hier S. 135.
9 Karl Gies (1932): Nationale Haltung, in: Werkblätter, Heft 3, 5. Jg., Juni 1932, S. 55–63, hier S. 61.
10 Rolf Fechter (1934): Besprechung von Otto Miller…, in: Werkblätter, 1. Heft, 7. Jg, Mai 1934, S. 21-24, hier S. 21.
11 http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/clemens_heni/
12 Rolf Fechter (1934a): Besprechung von Emil Maubach, »Rheinisches Christentum«, in Werkblätter, 1. Heft, 7. Jg, Mai 1934, S. 32.
13 Emil Maubach (1934): Kritisches über das Tanzen, in: Werkblätter, Mai 1934, S. 36-41.hier S. 40.
14 Vgl. die Angaben am Ende des Bandes Rolf Eilers (Hg.) (1985): Löscht den Geist nicht aus. Der Bund Neudeutschland im Dritten Reich, Mainz (Matthias-Grünewald-Verlag).
15 Rolf Fechter (1934b): Kulturkampf oder innere Erneuerung?, in: Werkblätter, H. 2, Juli 1934, S. 55-58, hier S. 55.
16 Ebd.: 58.
17 Max Müller (1934): Bemerkungen über Liberalismus und Antiliberalismus, in: ebd., 3. Heft, Oktober 1934, S. 111-127, hier S. 127.
18 Max Müller (1934a):Staat, in: ebd.: 129-141, hier S. 140f.
19 Hanns Filbinger (1935): Nationalsozialistisches Strafrecht. Kritische Würdigung des geltenden Strafgesetzbuches und Ausblick auf die kommende Strafrechtsreform, in: Werkblätter, 7. Jg., H. 5–6, März/April 1935, S. 265–269, hier S. 265.
20 Ebd.: 266.
21 Ebd.: 267.
22 Ebd.
23 Ebd.: 268.
24 Ebd.
25 Ebd.: 269.

 

 

Ein Schlag ins Gesicht der Überlebenden. Eine retrospektive Kritik an Aimée und Jaguar

Original auf LizasWelt am 17. September 2006

Die deutsche Selbstversöhnungsrhetorik erreichte mit dem Film Aimée und Jaguar von Max Färberböck, der auf seine Weise das Textmaterial des gleichnamigen Buches von Erica Fischer umsetzte, im Jahre 1999 einen weiteren Höhepunkt. Das wurde insbesondere von der Schriftstellerin Esther Dischereit bereits damals deutlich festgehalten:

„Die feministischen Reflexionen über nazideutsche Täterinnen waren immer recht spärlich und spät gefallen. Und Aimée wirkt entlastend, so wurde letztlich nicht die Geschichte der Felice Schragenheim geschrieben, sondern die von Lilly Wust. Die Stilisierung zur Love-Story, wie die Geschichte im Titel eines Dokumentarfilms über Jaguar und Aimée genannt wurde, und zu einem – wenn möglich – neuen deutschen Kultfilm entspräche dem fortschreitenden Wir-Gefühl. Da haben die Täterinnen schon fast so viel gelitten wie die Opfer, und die Nicht-Opfer sind den Opfern emphatisch jedenfalls beinahe gleich. Alle handelnden Personen im Film haben verdeckte Namen, nur Jaguar nicht. Sie heißt Felice. Sie kann keinen Einspruch erheben. Es fehlt nicht mehr viel, bis Auschwitz als das kollektive Massada der Deutschen in eine geläuterte nationale Selbstdefinition eingeht. Opfer sind alle und Erinnerung gemeinsam: die Toten aber könnten beiseite bleiben. Die stören. Überlebende manchmal noch mehr. Ehre, Würde, Vermögen, Leben der Opfer waren schon gestohlen, bleibt noch deren Geschichte.“

Dischereit hat gründlich recherchiert, Akten studiert, die Stationen des Überlebens der Jüdin Felice Schragenheim in Berlin zwischen 1941 und 1944, ihr Fliehen von der Prager Straße 29 zur Claudiusstraße, vom Nollendorfplatz nach Friedenau etc. erkundet sowie den Konnex von Deportation, Untertauchen und einer letzten Möglichkeit – der Beziehung zu einer ganz normalen, deutschen Frau, die Schutz bieten könnte – dargestellt. Liebe als Rettungsanker, wie Dischereit aufzeigt:

„Im Vorwort [von Erica Fischer] heißt es, dass die Überlebenden keinen Frieden mit Lilly Wust schließen können und wollen. Nein, können sie auch nicht, wenn da Schuld wäre, gäbe es keinen Grund, ‚Aimée’, Lilly Wust, zu einer Retterin zu stilisieren. Die Buchautorin Erica Fischer äußerte unlängst, ihr scheine es im Film immerhin gelungen, ‚mit dem Thema nicht voller Schuld, Selbstbezichtigung und Schwere umzugehen’. Nun ja, es gibt wohl Themen, da gibt es Schuld und Schwere, und auf Selbstbezichtigung warten die Staatsanwaltschaften noch immer.“

Dabei ist es gewiss kein Zufall, dass das Material einer arischen Deutschen wie Lilly Wust nicht den Behörden, sondern einem Regisseur vorgelegt wurde. Schlimmer noch: Der Film ist ein Schlag ins Gesicht der Überlebenden. Er basiert auf den Fantasmen der Lilly Wust, die von Erica Fischer lanciert wurden und in Deutschland, dem Land der großen Wiedergutmachung mit sich selbst, bestens ankommen. Denn das Publikum ist eine Volksgemeinschaft der besonderen Art: Künstler, Kulturtheoretikerinnen und Kulturtheoretiker, Feministinnen, Berlinale-Fans und programmatische Lesben kommen gleichermaßen auf ihre identitären Kosten. Am Ende des Streifens wird Felice Schragenheim ermordet; die Vorgeschichte wird dabei jedoch vollkommen entstellt. Dass Felice beispielsweise ihrer Geliebten Lilly noch auf dem Sammelplatz der Gestapo einen Erbschein unterschrieb, den letzere – vormals stramme Nationalsozialistin – nach dem Krieg bei der überlebenden Schwester sowie Freundinnen und Freunden von Felice einlösen wollte, kommt gar nicht erst vor. Esther Dischereit stellt klar:

„Am 28.7.44 erhält Lilly Wust eine Schenkungsurkunde von Felice Schragenheim; am 21.8.1944 wird Felice Schragenheim deportiert. Also drei Wochen später. In den Krimis kommt an dieser Stelle immer eine Lebensversicherung vor, anschließend der Tote. Das hätte uns stutzig gemacht.“

Dischereit berichtet darüber hinaus von vielen Geschenken, die Felice Lilly machte bzw. machen musste: „Frauenkleider aus Foulardseide und feinem Leinen, Abendkleid aus Taft…“ Und selbst Lillys Besuch im Konzentrationslager Theresienstadt – von dem der Deutschen mit Mutterkreuz und der Manie, ihre jüdische Geliebte bevorzugt vor ihren SS-Freunden auf Partys zu präsentieren, alle im Untergrund lebenden Juden und Jüdinnen abgeraten hatten – wird in dem Film nicht in seiner für Felice eine Todesgefahr heraufbeschwörenden Dimension dargestellt. Doch weder das noch die Tatsache, dass Lilly Wust eine waschechte Nationalsozialistin war, hat die Szene, insbesondere die Frauen-Lesben-Szene, nachhaltig irritieren können – offenbar aber auch nicht die Leiterin des Jüdischen Museums Berlin, Cilly Kugelmann.

Elenai Predski-Kramer jedoch, jüdische Überlebende und Freundin von Schragenheim, stellt die Fragen, die sich aufdrängen. Sie ist enttäuscht und traurig ob der Geschichtsfantasmen von Wust, die Erica Fischer als Wahrheit niederschrieb und verkaufte. Wer sich kritisch mit Aimée und Jaguar beschäftigen möchte, dem sei daher neben dem bereits zitierten Beitrag von Esther Dischereit der auf einem Gespräch mit Predski-Kramer basierende und im Gegensatz zu Erica Fischer deren Stimme sehr ernst nehmende Artikel von Katharina Sperber empfohlen, „Eine andere Version: Schmerzhafte Erinnerungen einer Überlebenden“. In ihm heißt es zu Beginn:

„Wie vor den Kopf geschlagen fühlte sich Elenai Predski-Kramer, als sie vor acht Jahren die Auslage einer Buchhandlung betrachtete. Zwischen all den Titeln, die da ausgestellt waren, entdeckte sie einen Buchdeckel mit einem großen Schwarz-Weiß-Foto. Darauf zwei Frauen im Badeanzug am Havelstrand. Beide Frauen kannte sie. Die eine ist die Jüdin Felice Schragenheim, die andere Lilly Wust, eine mit dem Mutterkreuz dekorierte Nazi-Mitläuferin.“

Fischers Geschichten interessierten seinerzeit sofort mehrere Verleger; das Buch erfuhr zahlreiche Auflagen – weltweit, wie sie stets betont – und wurde in dreizehn Sprachen übersetzt. Selbst die unwissendsten, sich aber irgendwie zum Thema „Juden“ hingezogen fühlenden Menschen haben nicht selten zumindest ein Buch in ihrem kleinen Bücherregal: Erica Fischers Aimée und Jaguar eben – eine allzu deutsche Story, die nicht aneckt und daher gefällt.

Ihr Plot hat den Fokus auf die arische Lilly gerichtet; das ist die Basis sowohl für den Film als auch für das Buch. In ersterem wird das bereits zu Beginn deutlich, in der Szene mit dem „lesbischen Blick“ nämlich, die die Perspektive Wusts einnimmt – eine Sicht, die den ganzen Film bestimmt und somit keine Brüche, Zweifel oder gar die Frage nach Schuld aufkommen lässt. Denn es geht nicht um Kritik, es geht um Identität. Gleichwohl ist es falsch, die Vereinnahmung von Felice für derlei Identitätspolitiken – durch lesbische Frauen einerseits und durch Jüdinnen andererseits – in einem Dritten, einem vermeintlichen Ort der Nicht-Identität, aufgehen zu lassen, wie es im 2001 veröffentlichten Beitrag „Of Death, Kitsch, and Melancholia – Aimée und Jaguar: ‚Eine Liebesgeschichte, Berlin 1943’ or ‚Eine Liebe größer als der Tod’?“ von Anna M. Parkinson geschieht*.

Parkinson argumentiert dabei in Anlehnung an Judith Butlers Konzept von gendered Melancholie. Demnach habe Lilly nach der Deportation und Ermordung von Felice sich selbst „zur Jüdin gemacht“ und das verlorene Objekt der Begierde verinnerlicht – eine melancholische Introversion also, die Parkinson mit Freud untermauert wissen möchte. Dass Lilly Wust aufgrund einer möglichen Verantwortung für die Deportation von Felice selbst Anteil an deren Ermordung haben könnte, zieht Parkinson in ihrem beredten Abstrahieren von diesen realen Fragen und Fakten jedoch nicht in Betracht. Doch wie kam die Gestapo an eines der wenigen Fotos von Felice, die außer Lilly nur andere Jüdinnen in Besitz hatten? Und weshalb ließ Lilly sich einen Erbschein unterschreiben? Warum, schließlich, hat sie ihre Freundin – so dies denn stimmt – in Theresienstadt besucht, obwohl alle Jüdinnen ihr abgeraten hatten von diesem narzisstisch motivierten Besuch, der – in einem Konzentrationslager! – nur die Liebe bestätigt sehen wissen wollte?

Wären das nicht alles Gründe für eine radikale Infragestellung der Erinnerungen einer Lilly Wust? Es sind jedenfalls die Fragen der jüdischen Freundin von Felice, die Fragen Elenai Predski-Kramers. Parkinsons Analyse ist demgegenüber geradezu grotesk: Ohne die Frage nach all diesen Schuldanteilen auch nur zu stellen, zimmert sie sich eine kultur- und gender studies-theoretische Analyse zusammen, die im typischen Stil der Sozial- und Kulturwissenschaft Täter und Opfer in einem sehen möchte – alles sei im Fluss, lautet die Botschaft. Dass eine solche Analyse eine Derealisierung der Wirklichkeit darstellt, ist jedoch offensichtlich. Denn wenn sich beispielsweise die arische Deutsche Wust beim Einmarsch der Roten Armee in Berlin Anfang 1945 den gelben Stern gleichsam stolz ans Revers heftet, ist das gerade nicht „ironically“, weil Felice ihn nie trug. Parkinson lässt letztlich die Geschichten von Wust und Fischer unbeanstandet und zeigt eine die Empathie gleichsam eskamotierende Ferne zu der realen Überlebenden Elenai Predski-Kramer. Man könnte also von einer kulturtheoretischen Derealisierung sprechen.

Im Rekurs auf Freud kann Parkinson zwar interessante Elemente von Melancholie, Identitätsverweigerung und -wandel auftun, nicht aber die konkrete Historie erhellen. Denn die Leidensgeschichte der Jüdin Felice wird nicht aus ihrer Sicht oder aus der ihrer noch lebenden Freundin Elenai Predski-Kramer erzählt und festgehalten, sondern aus der die jüdische Perspektive derealisierenden Perspektive einer arischen Deutschen.

Zudem: Wie kommt es zu dem unglaublichen Spitznamen „Jaguar“? Gerade die existenziell bedrohte, vom Verhalten ihrer deutschen Umwelt abhängige Jüdin wird dadurch zur Jägerin gemacht, die sich eine deutsche Geliebte sucht. Würde die Geschichte aus Felices Sicht erzählt, wäre es nie zu so einem grotesken und infamen Namen gekommen. Doch gerade mit ihm reüssieren Buch und Film. Es wird kokett mit der – nach Parkinsons bloß „ironischen“ – Verkehrung von Opfer und Täterin, Jägerin und Geliebter hantiert. Doch es ist natürlich keine Ironie, sondern der deutsche Fokus, der hier dominiert.

Die Abstraktion von der deutschen Volksgemeinschaft – auch nach 1945 – durch das Fokussieren der lesbischen Liebe lässt das von Dischereit so treffend bezeichnete „Massada der Deutschen“ traurige Wirklichkeit werden. Zu suggerieren, weder die eine noch die andere „Seite“ habe Recht, wie Parkinson es tut, mag zwar der Diskursanalyse, den gender studies mithin, schmeicheln, schlägt sich jedoch wenigstens subkutan auf die Seite der Siegerin, der egomanischen Nazisse Lilly Wust. Es geht um deren Identität – eine deutsche Identität mit Feder und Kamera im Gefolge. Noch einmal Esther Dischereit:

„Das Leben der in Auschwitz getöteten Jüdin Felice Schragenheim scheint durch die Akteurin ‚Aimée’, real Lilly Wust, hindurch und über diese vermittelt. ‚Jaguar’ – im Kosenamen eine grotesk absurde Verkehrung darüber, wer hier Jäger und wer hier Gejagte ist. Das ist eine Übernahme aus dem gleichnamigen Buch, in dem die Geschichte bereits so angelegt ist, dass wir letztlich erfahren, wie sehr die Nicht-Jüdin, Kosename ‚Aimée’, leidet. Durch den Filter ihrer Person erfahren wir von der Verfolgungsgeschichte der Jüdin, die die Deutsche ‚Aimée’ wie in einem Mysterienspiel auf sich nimmt und posthum zu ihrem Leiden macht. In Talk-Sendungen in Deutschland verstieg sich die authentische, nun schon betagte ‚Aimée’, Lilly Wust, zu der Bemerkung, die Tote erscheine ihr gegen Abend. Statt Hitler-Bild ist nun ein siebenarmiger Leuchter in Betrieb. Und – mit dem jüngst zur Welt gekommenen Baby der Maria Schrader sei nun wieder eine wunderbare Felice auf der Welt.“

Heute nun werden die Dokumente der Lilly Wust einem allzu deutschen Publikum dargeboten; von „Arierin“ und „Tränen“ ist viel die Rede. Ganz normale Deutsche, die auf dem Rücken ihrer jüdischen Opfer oder „Freundin“ ihre pekuniären, emotionalen und politischen Geschäfte mach(t)en, wollen das letzte Wort behalten, Geschichte bestimmen und umschreiben. Für immer. Auch mit „jüdischen Kronzeugen“ des Jüdischen Museums Berlin.

* In: Helmut Schmitz (Hrsg.): German Culture and the Uncomfortable Past, Aldershot u.a. (Ashgate), Seite 143–163

 

Das nationale Apriori: Wie aus der BRD endgültig ‚Deutschland‘ wurde

Original auf www.hagalil.com, 07.07.2006

Das Nationale ist zum deutschen Apriori geronnen. Während die NPD und andere Nazis jahrzehntelang für das massenhafte Tragen von Deutschlandfahnen, Wimpeln, schwarzrotgold umrandete Untertassen und andere Embleme ‚der Deutschen‘ geworben haben, schweigt diese Partei heute, fast.

Zu sehen sind nun die propagierten Accessoires in Millionenausfertigung, ganz Deutschland schwelgt, klatscht, schreit, jubelt und singt „blühe deutsches Vaterland“ wie früher nur die NPD im Hinterstübchen der Deutschen Klause in Delmenhorst (bzw. zeitgleich die SED, die vom „sozialistischen Vaterland“ sprach).

Ein deutscher Stürmer, Podolski, hat die Strophen der Nationalhymne in seinen Fußballschuh, in das Leder einschreiben lassen. Jetzt ist die Fanmeile in Berlin am Brandenburger Tor (das ja jetzt geöffnet ist) zur einhellig getätschelten „patriotischen“ Liebeserklärung geworden, ohne Wenn und Aber, eine Art Bildzeitung in Riesenformat. Wenige Hundert Meter weiter liegen die neu-deutschen Frauen im schwarzrotgoldenen Bikini im Liegestuhl am Holocaust-Mahnmal – tote Juden als Aussichtspunkt des Neuen Deutschland; diese ach so friedlichen ‚Jungdeutschlandregimenter‘ setzen des Altkanzlers Schröders Wort vom Holocaust-Mahnmal als „Ort, an den man gerne geht“, lediglich in die Praxis um.

Schon seit Anfang der 1950er Jahre Adorno seine empirische Reise zu den post-nazistischen Deutschen unternommen hat – Schuld und Abwehr – ist bekannt, dass es keineswegs bei den (West)Deutschen nur um Holocaustleugnung geht. Gerade auch die Annahme der Schuld („Wir Deutschen…“ oder „Das macht uns so schnell keiner nach…“) an der Vernichtung der europäischen Juden war möglich, indem Beethoven, Kleist, Luther und Fontane, Sekundärtugenden, C.D. Friedrich und Verwandtes beschworen wurden. Später, in den 1980er Jahren, sagte der erste Vorsitzende der Republikaner, Franz Schönhuber, dass „Deutschland der Welt viel mehr geschenkt“ habe, „als Auschwitz je kaputtmachen könnte“.

Vom holocaustleugnenden Konjunktiv ganz zu schweigen spricht Schönhuber hier eine deutsche Befindlichkeit aus, welche die letzten 20 Jahre, nach der ‚Wiedervereinigung‘ und verschärft seit Rot-Grün 1998ff., immer mehr Einfluss gewinnt, ja von einem Bestandteil rechtsextremer ‚Deutungskultur‘ (Karl Rohe) zu einer gesamtgesellschaftlichen ‚Soziokultur‘ geronnen ist. Wissenschaftstheoretisch ist dabei das Paradoxon zu analysieren wie gerade eine Abkehr von Nationalgeschichte einer Verharmlosung und Universalisierung der spezifisch deutschen, präzedenzlosen Menschheitsverbrechen Vorschub leistet.

An sieben Punkten werde ich darstellen, wie sich diese Bewusstseinslage oder Befindlichkeit, die neue deutsche Ideologie äussert und was daran bemerkenswert ist.

1) Ein deutsches Graduiertenförderungswerk, 2002: ein Küchlein mit Folgen

Als Ausgangspunkt mag ein Treffen von Nachwuchswissenschaftlern, alles StipendiatInnen eines großen Graduiertenförderungswerkes, von Juli 2002 dienen. Dort hat ein kleines Küchlein, ein am Bahnhof gekaufter Muffin mit Mini-US-Fahne dazu geführt, die Fronten zu klären. Eigentlich als Zuckerl gedacht, entpuppte sich das Gebäck zu einem Objekt der Abwehr seitens typisch deutscher, linker JungakademikerInnen, die dieses US-Fahne – nach 9/11 zumal – unerträglich fanden. Zufällig wurde zu dieser Zeit im TV ein Interview Michel Friedmans mit dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon gesendet. Lediglich zwei der 17 Teilnehmenden hatten daran Interesse, die anderen pflegten ihre Ressentiments gegenüber Juden im Allgemeinen, Israelis im Besondern.

Wohlgemerkt: die Stimmung war schon so deutlich gegen Friedman, dass Möllemanns Flugblatt von September 2002 zur Bundestagswahl, auch gewisse Töne dieses Treffens vornehmlich linker, durchaus gewerkschaftsnaher Akademiker aufgreifen konnte. Dass es genau diese Stiftung bzw. ihre Doktoranden war, die wenige Monate später einen handfesten Antisemitismus-Skandal erlebte (als dessen Konsequenz immerhin eine Tagung zur Kritik des linken Antisemitismus stand), als ein migrantischer Doktorand nassforsch antiisraelische Töne durchs weltweite Netz jagte, überrascht nicht mehr. Fazit: Ressentiments gegen kleine amerikanische Fahnen, Juden und Israelis gehörten zum guten Ton dieses akademischen Nachwuchses. Das führt mich zum zweiten Beispiel.

2) Ein weiteres deutsches Graduiertenförderungswerk, Juni 2006: ich bin deutsch und was bist du?

Mitten in der nationalen Paranoia im Juni 2006, als Siege der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen schwache, schwächste oder unmotivierteste Teams die Stimmen der Moderatoren sich überschlagen und Millionen von Individuen zu einer homogenen Masse zusammenfinden lässt, eine weitere Tagung eines anderen, kleineren Graduiertenförderungswerks. Zu einem Spiel der deutschen Mannschaft wurde extra Party-Material gekauft, um einen Raum zu schmücken. Nicht etwa, um allgemein Fußball-Fan-Artikel der WM ganz allgemein zu drapieren, nein: ausschließlich schwarzrotgold war angesagt, noch nicht einmal die Farben der gegnerischen Mannschaft waren im Horizont der Vorbereitungsgruppe dieses Abends.

Erwachsene Akademiker malten sich mit Schminke die Farben des ‚deutschen Vaterlandes‘ ins Gesicht – wie sollen diese Persönchen in Zukunft noch ernst genommen werden als Wissenschaftler, Intellektuelle gar oder einfach nur interessante Individuen? So etwas war noch vor 12, 8 oder auch 4 Jahren undenkbar.

Dass keineswegs nur typische, ich-schwache und autoritär sozialisierte Personen dazu neigen sich mit einer Nation zu identifizieren, zeigen solche Beispiele wie auch die folgenden. Gleichwohl ist jede nationale Identifikation in Deutschland Zeichen eines persönlichen Defizits, das zu kompensieren aufgebrochen wird.

3) Walk of Ideas, Berlin 2006

Mitten in Berlin stehen sechs mega große Skulpturen, die zeigen sollen, dass Deutschlands „größtes Kapital“ „die Ideen der Menschen“ seien. Erfindungen werden hier nicht als Erbe der Menschheit, vielmehr als nationales Gut, als ‚volksmässig‘ akkumuliertes Kapital betrachtet. Vom Automobilismus, der Medizin, der unvermeidlichen Bemächtigung Einsteins Relativitätstheorie über den Fußballschuh, der Musik hin zum Buchdruck.

Letzterer ist ein gutes Beispiel, wie Deutschland heute funktioniert:

„Die Verbreitung des gedruckten Wortes beschleunigte Reformation und Aufklärung und unterstützte die Alphabetisierung. Dichter und Denker nutzten die neue Technik und ließen die deutsche Buchlandschaft erblühen – Zensur und Barbarei hätten sie fast zerstört: Am 10. Mai 1933 verbrannten Nationalsozialisten überall in Deutschland Werke moderner und regimekritischer Autoren. Die Bücherverbrennung setzte 500 Jahren deutscher Buchkultur ein vorläufiges Ende.“

So steht es auf einer Tafel zu dieser Skulptur am Bebelplatz in Berlin, Unter den Linden. Da stutzt man gewaltig: die Bücherverbrennung als „Ende“ „deutscher Buchkultur“? Waren die Werke Carl Schmitts, Richard Euringers, Eberhard Wolfgang Möllers, Martin Heideggers oder Erwin Guido Kolbenheyers nicht gedruckt worden in den Jahren 1933–1945? Was verbirgt sich hinter der Chiffre „moderner und regimekritischer Autoren“?

Wenn die Werke Heines aus dem 19. Jh. verbrannt wurden, wurde dann ein „NS-regimekritischer“ Autor verbrannt? Typisch ist die Auslassung des Antisemitismus, der jedoch de facto in Goebbels hetzerischer Ansprache an jenem 10. Mai 1933 auf diesem Platz deutlich zu hören war, als er vom „jüdischen Intellektualismus“ sprach, der ein Ende nehmen müsse. Dass sich gerade die Deutschen über die Jahrhunderte hinweg gerade nicht als Gesellschaft, die Büchern aufgeschlossen gegenüber steht, entwickelt hat, vielmehr Juden als Vertreter einer „Buchkultur“ oder „Gesetzesreligion“ angeprangert wurden, wird einfach derealisiert.

Wer sich die Geschichte des Antiintellektualismus anschaut, d.h. insbesondere die bis heute prägende Studie von Dietz Bering von 1978, weiß, dass der Affekt gegen das Buch in Deutschland von links bis rechts Tradition hat. Die Skulptur des Jahres 2006 suggeriert den Millionen Besuchern Berlin bzw. der Bundesrepublik: fast wäre das Buch an sich zugrunde gegangen, aber es ging noch mal gut. Dazu gesellt sich natürlich das Automobil, unter Hitler wären es die Autobahnen gewesen, welches der Welt vor dem Brandenburger Tor präsentiert wird.

Dass Audi, deren Modell nun überdimensional vor dem Brandenburger Tor steht, heute eine Tochter des Volkswagenkonzerns ist, der 1938 in der „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ gegründet wurde, wird klammheimlich bejaht, ja verbreitet Stolz im Neuen Deutschland wie annodazumal.

4) „Die Nazis wurden doch sportlich, 1936!“ Neu-deutsche Wissenschaft als Rehabilitierungsübung für den Nationalsozialismus

Auch in der Wissenschaft ist seit Jahren ein Trend bemerkbar, den Nationalsozialismus als ganz normale Gesellschaft – hier am Beispiel des Sport – darzustellen, Antisemitismus und Volkstumsideologie werden entweder offen oder subkutan affirmiert. Dazu dient als brillantes Beispiel die häufig zitierte und auch von linken Zeitschriften wie Konkret positiv angeführte Historikerin Christiane Eisenberg, die insbesondere deshalb in gewissen Kreisen einen Namen hat, weil sie Fußball-Analyse als wissenschaftliche Disziplin anerkannt habe.

Wichtig für ein Verstehen Ihres Ansatzes ist der Kulminationspunkt ihrer Habilitationsschrift aus dem Jahr 1997, eine Analyse der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin. In dieser Schrift versucht sie zu zeigen, wie Deutschland durch den Sport eine bürgerlich(er)e Gesellschaft nach dem Vorbild Englands wurde, die Studie heißt auch entsprechend „“English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939″.

Eisenberg versucht dem Sport ein Eigenleben auch und gerade unter den Bedingungen eines Herrschaftssystems wie dem Nationalsozialismus, welchem damit gleichsam ein ganz normaler Platz im Pantheon der (Sport-)Geschichte gesichert werden soll, zuzugestehen.

„Für die Atmosphäre der Spiele war es darüber hinaus von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß es reichlich Gelegenheit zur internationalen Begegnung und freien Geselligkeit außerhalb der Arenen gab. Gemeint sind hier weniger die Restaurants auf dem Reichssportfeld und auch nicht die zahllosen Empfänge und Partys der Nazigrößen. Das Urteil gründet sich vielmehr darauf, daß der Großteil der männlichen Athleten in einem Olympischen Dorf untergebracht wurde, so wie es erstmals bei den vorangegangenen Spielen in Los Angeles 1932 versucht worden war. Hatte das OK [Olympische Komitee C. H.] zunächst geplant, dafür eine bereits bestehende Kaserne zu renovieren, so ergab sich 1933 auf Vermittlung Walter v. Reichenaus die Chance, Neubauten zu bekommen. In der Nähe eines Truppenübungsplatzes in Döberitz/Brandenburg wurden in einem landschaftlich reizvollen Gelände 140 ‚kleine Wohnhäuser‘ für das Infanterie-Lehrregiment gebaut, deren Erstbezieher 3.500 Sportler wurden. Es gab Sporthallen, ein offenes und ein überdachtes Schwimmbad, Spazierwege, Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen. Zu den Gemeinschaftsräumen gehörten eine vom Norddeutschen Lloyd bewirtschaftete Speiseanstalt mit internationaler Küche und ein Kino.“

Eisenberg will einer neuen Sicht auf den Nationalsozialismus den Weg ebnen. In gezielter Negierung gesellschaftlicher Totalität isoliert sie Momentaufnahmen aus ihrem Kontext, um deren Allgemeingültigkeit, ja Universalität, kurz, das moderne Moment zu würdigen. Denn „Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen“ sind ja eine feine Errungenschaft, in Berlin 1936 wenigstens so lobenswert wie in Los Angeles 1932, will sie suggerieren.

Sie kritisiert die kritischen Reflexionen und Analysen bekannter und renommierter Sportwissenschaftler wie Hajo Bernett, Thomas Alkemeyer oder Horst Ueberhorst. Auch die Untersuchungen des Politikwissenschaftlers Peter Reichel über den Schönen Schein des Dritten Reichs qualifiziert Eisenberg ab:

„Diese Interpretation der Spiele vermag aus drei Gründen nicht zu überzeugen. Erstens ist das zugrundeliegende Argument methodisch fragwürdig, weil es nicht falsifizierbar ist. Wer immer das Gegenteil behauptet, daß Berlin 1936 ein Ereignis sui generis und der schöne Schein auch eine schöne Realität gewesen ist, riskiert es, als Propagandaopfer abqualifiziert zu werden.“

Die Olympiade in Berlin 1936 sei ein ‚Ereignis‘ ’sui generis‘ gewesen, gleichsam eine ’schöne Realität‘. Diese positivistische Abstraktion von jeglicher Gesellschaftsanalyse ist für nicht geringe Teile der Mainstream-Wissenschaft typisch. Ihre Argumentation steigert Eisenberg noch, indem sie Reichels Analyse im Reden von den vermeintlichen ontologischen Zwittern Sport und Propaganda untergehen lässt:

„Zweitens ist das Argument unergiebig, weil Sport und Propaganda wesensverwandt sind. Beide sind nach dem Prinzip der freundlichen Konkurrenz strukturiert, beide verlangen von den Akteuren eine Be-Werbung um die Gunst von Dritten (‚doux commerce‘). Daß dabei geschmeichelt, poliert, dick aufgetragen, ja gelogen und betrogen wird, überrascht niemanden, weder in der Propaganda noch im Sport. Olympische Spiele sind, so gesehen, immer Illusion und schöner Schein; eben das macht ihre Faszination aus. Daraus zu folgern, daß Berlin 1936 eine umso wirksamere Werbemaßnahme für den Nationalsozialismus gewesen sein müsse, wäre jedoch kurzschlüssig. Denkbar wäre auch, daß Nutznießer der Propaganda der Sport war. Diese Möglichkeit hat jedoch noch keiner der erwähnten Autoren geprüft.“

Eisenberg will sagen: So schlimm kann der Nationalsozialismus doch nicht gewesen sein, wenn ein so zentrales Moment für moderne, freizeit- und spaßorientierte Gesellschaften wie der Sport, gar ein ‚Nutznießer‘ dieses politischen Systems war. Diese eben zitierte Passage ist Ausdruck eines Wandels politischer Kultur in der BRD. Ungeniert lässt sie den Nationalsozialismus, am Beispiel der Olympischen Spiele von 1936, im Kontinuum bürgerlicher Gesellschaft, die eben im Sport ‚wesenhaft‘ lüge, dick auftrage und schmeichele, aufgehen.

Wie soll es nach der auf internationale Verständigungspolitik“ ausgerichteten Weimarer Republik möglich gewesen sein,

„daß die Olympiapropaganda nach 1933 plötzlich eine Nazifizierung der Athleten und des sportinteressierten Publikums bewirkte? Mußte nicht zuvor eine Versportlichung der Nazis erfolgt sein?“

Bei dieser Olympiade wurde ein ‚Weihespiel‘, die „Olympische Jugend“ von Carl Diem uraufgeführt. Es geht in diesem olympischen Weihespiel um „‚Kampf um Ehre, Vaterland'“. Die Jugend sieht ihrem Selbst-Opfer ins Gesicht: „Allen Spiels heil’ger Sinn: Vaterlands Hochgewinn. Vaterlandes höchst Gebot in der Not: Opfertod!“ Eisenberg ordnet diesen Opfertod folgendermaßen ein: das Diemsche „Festspiel“ werde

„in der sport- und tanzhistorischen Literatur als Verherrlichung des ‚Opfertodes‘ für die nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘ interpretiert – was nicht zu überzeugen vermag. Erstens gehörte die Opferrhetorik schon in der Weimarer Republik zum spezifisch deutschen Sportverständnis (…) Zweitens haben die Zeitgenossen des Jahres 1936 die Szene ohne Zweifel mit dem Ersten Weltkrieg und nicht mit dem bevorstehenden Zweiten in Verbindung gebracht.“

Auch wenn sich die Historikerin ganz sicher ist („ohne Zweifel“), bleibt zu betonen: die Erinnerung an die deutschen Toten des I. Weltkriegs war sehr wohl die Vorbereitung auf den II. Der ‚Langemarck-Topos‘ der Jugend, des Opfers und des Nationalen kommt hierbei zu olympischen Ehren. Die internationale Anerkennung der Spiele ist Zeichen des Appeasements dem nationalsozialistischen ‚Aufbruch‘ gegenüber. Wenn in einem Buch von 1933 ausgeführt wird:

„‚Daraus erhellt, daß bei Ausbruch des Krieges der Zukunft die Ausbildung künftiger Langemarckkämpfer um ein mehrfaches verlängert und die Material- und Munitionsmenge für heutige Schlachten um ein Vielfaches vermehrt werden muß'“,

so muss gerade eine solche Interpretation des Langemarck-Topos ernst genommen und nicht, wie bei Eisenberg, als quasi Weimarer Tradition, die zufällig 1936 wieder hervortritt, verharmlost werden. Dagegen ist die Kontinuität von ’33 bis ’36 zu sehen, die soeben zitierte Passage von ’33 bekommt im Festspiel von Diem eine internationale Beachtung findende Weihe, wie Eisenberg unschwer in der Forschungsliteratur hätte nachlesen können:

„So wurde im Glockenturm des Berliner Olympia-Stadions eine Gedächtnishalle für die Toten von Langemarck eingerichtet, und Carl Diems Eröffnungsspiel der Olympiade von 1936 endete mit ‚Heldenkampf und Totenklage‘; eine Division des Hitlerschen Ost-Heeres bekam den Namen ‚Langemarck'“.

Ein weiterer Kritikpunkt, ganz eng am Diemschen Spiel und seinen Protagonisten wie der Ausdruckstänzerin Mary Wigman orientiert, ist folgender: es lässt sich gut zeigen, wie Wigmans Auffassung von Opfertod Diems Weihespiel in diesem Punkt inhaltlich bzw. choreographisch bereits vor ’33 antizipiert hat, so am „Stück ‚Totenmal‘, einem Drama von Albert Talhoff, welches von Talhoff und Wigman 1930 gemeinsam inszeniert wurde, wobei Wigman die tänzerische Choreographie übernahm.

Das Werk wurde zum Gedenken an die Gefallenen des 1. Weltkriegs geschrieben. (…) [Zudem] ist dieses Werk ein Prototyp nationalsozialistischer Inszenierungen, zum einen wegen des Themas (Verehrung der gefallenen Soldaten) zum anderen wegen der Form (die Inszenierung stellt eine Kombination aus Sprechchor und Bewegungschor dar).“ Waren schon die „Tanzfestspiele 1935“ eine „Propagandaveranstaltung für den deutschen Tanz nationalistischer Prägung“, so kulminierte das im olympischen Jahr im Weihespiel von Diem, an dem Wigman aktiv beteiligt war. Ein Sportwissenschaftler, Micha Berg, weist auf die zentrale Bedeutung von Symbolik für das nationalsozialistische Deutschland hin und zitiert den völkischen Vordenker Alfred Baeumler:

„Das Symbol gehört niemals einem Einzelnen, es gehört einer Gemeinschaft, einem Wir. Dieses Wir ist nicht ein Wir des gesinnungsmäßigen Zusammenschlusses von Persönlichkeiten, ist nicht ein nachträgliches Wir, sondern ein ursprüngliches. Im Symbol sind Einzelner und Gemeinschaft eins. (…) Das Symbol ist unerschöpflich, in ihm erkennt sich sowohl der Einzelne wie die Gemeinschaft.“

Dieses ‚ursprüngliche Wir‘ kehrt heute im deutschen Feuilleton wieder, gerade am Beispiel der deutschen Hymne, wie weiter unter an einem weiteren Beispiel gezeigt werden wird. Es bleibt zu konstatieren, dass Eisenberg darauf beharrt: Diems Festspiel ende doch mit Beethovens „Schlußchor der IX. Sinfonie mit der ‚Ode an die Freude‘ von Friedrich Schiller“, was Ausdruck von ‚Kunst‘ sei. Sie schließt ihre Arbeit, indem sie nicht nur dem Sport unterm NS mehr Möglichkeiten als noch in der Weimarer Republik attestiert, sondern auch, den II. Weltkrieg als „Beeinträchtigung des Wettkampfbetriebs“ euphemisierend, dem Nationalsozialismus bescheinigt, er habe den „Sport“ zuungunsten des Turnens gewinnen lassen, was sie als „Rahmen für den Sport in der Bundesrepublik“ für gut erachtet.

Besser hätte es die Neue Rechte oder jeder Konservativismus auch nicht hinbekommen: Die Nazis wurden im NS sportlich und nicht umgekehrt. Damit werden der NS verharmlost, Juden gedemütigt und Deutschland gerettet, die Habilitations-Mission ist erfüllt.

Dieser etwas ausführlichere Ausschnitt mag verdeutlichen, wie gegenwärtige Geistes- und Sozialwissenschaft in der Bundesrepublik funktioniert (wenn sie erfolgreich sein will im affirmativen Sinne, Eisenberg bekam alsbald eine Professur an der Humboldt-Universität). Es ist gerade bei politisch angeblich unverdächtigen Personen Mode geworden, den Nationalsozialismus einzubetten in ein Kontinuum, um auf jeden Fall den Zivilisationsbruch, den Auschwitz bedeutet, zu verdecken oder zu leugnen.

Die bürgerliche Gesellschaft wird gerade in Deutschland so dargestellt, als sei die Gesellschaft im NS 1936 ganz ähnlich strukturiert gewesen wie die der USA bei den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles. Das, was das nationalsozialistische Deutschland sehr spezifisch kennzeichnete, wird gezielt weggewischt, als irreal abgetan oder schlicht und ergreifend gar nicht analysiert. Vielmehr soll gelten: Die Existenz von Liegestühlen und Blumenbeeten für Sportler wiegt den Antisemitismus und Ausschluss jüdischer SportlerInnen auf. Dieser Antisemitismus ist erst auf den zweiten Blick erkennbar, ein Blick, der allzu selten vorgenommen wird.

5) Drei weitere Beispiele ‚linker‘ Wissenschaftler und deren Verharmlosung der deutschen Verbrechen

In der Dissertation des heutigen Konstanzer Juniorprofessors Sven Reichardt wird diese Position am Beispiel eines Vergleichs deutscher und italienischer ‚faschistischer‘ Geschichte deutlich:

„Der in dieser Arbeit zugrundegelegte Faschismusbegriff stellt eine eigene praxeologische Analyse der faschistischen Bewegung vor, die nicht an die marxistische Deutung und nur selektiv an die neuesten angloamerikanischen Arbeiten und Noltes Definition anknüpft“.

Antisemitismus wird zwar als Differenz von italienischen Squadristen und deutscher SA erwähnt, aber als wenig bedeutsam klein geredet, zudem als bloßer ‚Rassismus‘ verkannt. Das ist Folge des bei Reichardt paradigmatisch für weite Teile heutiger Historiografie hervortretenden komparatistischen Zugangs, der die Präzedenzlosigkeit der deutschen Verbrechen und ihrer Vorgeschichte gezielt negiert.

Konsequent ist es, wenn u. a. Reichardt dem Altlinken Karl Heinz Roth Rat gab bei der Verabschiedung einer Analyse des Nationalsozialismus zugunsten eines ubiquitären Faschismusbegriffs, vgl. Roths Aufsatz aus dem Jahr 2004 „Faschismus oder Nationalsozialismus? Kontroversen im Spannungsfeld zwischen Geschichtspolitik, Gefühl und Wissenschaft“.

Roth exkulpiert die Deutschen in althergebrachter Diktion von ihrem Antisemitismus, wenn er schreibt:

„Weitaus gebräuchlicher ist indessen der Begriff ‚Nationalsozialismus‘: Es handelte sich zunächst ebenfalls um eine affirmative Selbstdefinition, die aber elementare Prämissen, nämlich den militanten Antisozialismus, verschleiert. Darüber hinaus ist der Begriff nicht vergleichsfähig, weil er seine faschistischen Kontexte und Varianten per definitionem ausschließt. Er schließt aber auch alle anderen Bezüge zur europäischen und Weltgeschichte aus oder unterwirft den Blick auf Europa und die Welt der affirmativen Selbstkonnotation. Auch die kritisch distanziert gemeinte Analyse des ‚Nationalsozialismus‘ vermag nicht über einen germanozentrischen Blickwinkel hinaus zu gelangen“.

Bezeichnend ist, dass Roth nicht von einer deutschen Spezifik bei der Analyse des NS spricht, vielmehr einer „transnationale[n] und komparative[n] Sichtweise auf die faschistische Epoche“ das Wort redet. Das wird von einem weiteren Juniorprofessor sekundiert, wenn Kiran Klaus Patel ohne mit einem Wort den eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen und die Präzedenzlosigkeit der Shoah analysierend, „transnational“ Phänomene wie den NS betrachten möchte und zum Schluss kommt:

„Gerade für das NS-Regime verspricht eine transnationale Perspektive neue Erkenntnisse. (…) Denn die Distanz zwischen NS-Regime und New Deal war weniger tief als häufig angenommen“.

Solche Perspektive hat durch Arbeiten der Neuen Rechten – exemplarisch sei der wichtigste Neue Rechte in der Bundesrepublik seit Anfang der 1970er Jahre bis heute, Henning Eichberg, erwähnt – über die Jahrzehnte hinweg den Boden bereitet bekommen.

6) Das Opfer bringen und singen: „Blüh im Glanze deutsches Vaterland“ – von Diem zu Klinsmann

Jürgen Klinsmann wird zu Unrecht als wenig typisch deutscher Sportler betrachtet. Zwar war er in England bei den Spurs eine Kultfigur geworden, weil er als Deutscher so nett erschien und die Fans zu sangen begannen „Juergen was a German now he is a Jew“, was auf die umgepolte Selbststilisierung zum „Judenklub“ Tottenham Hotspurs anspielt, aber analytisch ist das nicht tief gehend.

Vielmehr war es Klinsmann, der das Deutsche evozierte, aggressiv zu werden, trotz kalifornischem Wohnort und internationalem Habitus. Er war es, der die deutsche Nationalmannschaft fast einhellig dazu brachte, lauthals die Nationalhymne zu trällern, den jungen Deutschen ein positives Gefühl für ihr Deutschland zu geben. Dass es so ein Gefühl nach Auschwitz in Deutschland nie wieder geben sollte, fällt da natürlich unter den volksgemeinschaftlichen Tisch. Dass keinem es auffällt oder zu peinlich oder widerlich ist, eine Hymne zu singen, die wortwörtlich auch im Nationalsozialismus gesungen wurde, ist doch schockierend, nicht?

Weit mehr: in einem Artikel der wiederum eher links-liberal daherkommenden Frankfurter Rundschau steht am 27. Juni 2006 folgender Text, der sich anhört als wäre er 1936 geschrieben worden, lange bevor der Autor geboren wurde:

„Wir wissen, schon in zwölf Jahren wird fast keiner mehr erzählen können, wie er sich als Kriegsteilnehmer in einem Kreis von Kriegsteilnehmern gefühlt hat, als der Sieg der deutschen Nationalmannschaft in Bern durch den europäischen Äther ging. Wir wissen zugleich: Schon in ein paar Wochen wird unsere Erinnerung an die schönsten Spiele dieser Weltmeisterschaft merkwürdig transparent und ausgeblichen sein, als vertrüge unsere tägliche Gedächtnispraxis das heftige Licht des Geschehenen auf Dauer nicht. Die Gegenwart muss sich einhaken. Anders gesagt: Unsere stärksten Gefühle lassen uns für eine kurze Spanne spüren, dass wir die kommenden Toten sind. Deshalb ist es schön, sie zu zweit, und besonders rührend, sie in einer Gemeinschaft von ähnlich Gestimmten durchleben zu dürfen. Gemeinsam singend, genießen wir uns als die baldigen Toten.“

Diese Propaganda ist nichts anders als die Beschwörung einer Gemeinschaft von Deutschen, die sich in völkischer Tradition sehen wollen. Es hört sich wirklich genuin nationalsozialistisch an, ist aber ein Text eines jüngeren Autors, Georg Klein, Jahrgang 1953 und Ingeborg-Bachmann-Preisträger.

Dieser Feuilleton-Text zeigt die Ungeniertheit, die das nationale Apriori ermöglich, hervorkitzelt und zum Ausdruck bringt. Eigentlich wäre bisher bei so einer Zeile, dass die stärksten Gefühle jene seine, die mir sagen, dass ich, nein: wir die „kommenden Toten“ sein werden, ein Aufschrei durch das Land gegangen. Heute nicht. Es geht nicht um die Sterblichkeit der Menschen.

Es geht um die Konstruktion eines homogenen Ganzen, eines Volkskörpers, das jeden einzelnen nur unter dem Aspekt dieses Körpers, des Volkes sieht und nicht – gleichsam katholisch gedacht – als Kind unter „Gottes Hand“. Muss man wirklich Katholik werden um solch völkische Rede der Frankfurter Rundschau zu kontern? Gut, Klein möchte als Deutscher sterben, soll er das.

Es wird auch weiterhin Leute geben, die lieber als Menschen, als ganz spezifische Individuen mit Macken, Vorlieben, Träumen, Sehnsüchten, Hoffnungen, Enttäuschungen, Freuden und Ekel, denn als Deutsche sterben.

Dazu passt, dass der ehemalige Bundestagspräsident, Wolfgang Thierse, fordert, doch noch mehr Strophen dieser deutschen Hymne zu verfassen. Nicht etwa dass der ehemalige DDR-Bürger Thierse die Abschaffung eines nationalen Symbols forderte, wo kämen ‚wir‘ hin? Wer in Berlin in den Stadtteil Lichtenberg im Osten fährt weiß wie aktuell die Gefahr des Umkippens vorgeblich harmlosen Singens der deutschen Hymne in Hetze und Gewalt durch Nazis ist. Dort gibt es Straßen, wo die Reichskriegsflagge in Eintracht mit der schwarzrotgoldenen am Haus hängt.

Vor wenigen Wochen, vor der WM, wurde in dieser Gegend ein bekannter deutsch-türkisch-kurdischer Kommunalpolitiker schwer verletzt. Nazis haben hier die Hoheit, schwarzrotgoldene Hosenträger, Markenzeichen schon seit eh und je der dickbäuchigen Nazis, schon zu BRD-Zeiten, sind ja heute in Mode, wo alle deutsche Welt schwarzrotgold trägt, als Armkettchen, Rock, T-Shirt oder Gürtel aus biologisch abbaubarer Wolle.

All diejenigen, die jetzt das Deutsche hochleben lassen sind politisch für solche Gewalttaten von Nazis mitverantwortlich zu machen. Das ist ja auch nichts Neues: früher haben auch Liberale und Linke Konservativen bzw. Rechten die Mitschuld am immer stärker werdenden Rassismus gegeben, am deutlichsten und treffendsten vielleicht 1992/1993 bei der de facto Abschaffung des individuellen Asylrechts durch CDU/CSU/SPD und ihren Helfern in anderen Parteien, Medien und Verbänden.

Geschichtspolitisch wurde immer auf die Vordenkerfunktion der geistigen Elite hingewiesen, nicht erst zum Historikerstreit 1986ff. Bereits Ende der 1970er Jahre, Anfang der 1980er Jahre, als in der BRD das Nationale offen aufs Tableau kam – nicht zufällig schon damals übrigens von Jürgen Habermas, der 1979 zwei Bände herausgab, welche die „nationale Frage“ auf die Tagesordnung setzten und Martin Walser davon sprach, lediglich wenn „wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Fragen zuwenden“ – wurde z. B. von Wolfgang Pohrt auf diese nationale Vordenkerfunktion zumal der Linken, Alternativen und Grünen verwiesen.

Schon damals also wurde deutlich dass das Einfordern universalistischer Prinzipien von Staatsbürgerschaft und politischem Gemeinwesen, für das Habermas steht, einher gehen kann mit einer Verharmlosung der deutschen Geschichte, ja ein nationales Narrativ gleichsam als Grundlage auch eines nicht blutsmässigen Staatsdenkens zu erkennen ist.

Wer also heute im Schwenken der deutschen Fahne nichts Gefährliches sieht, weil er oder sie nicht die Nazis auf der Straße, die fast komplett ’national befreite Zone‘ Ostdeutschlands sieht, weil doch lediglich Party gemeint sei und ein ‚Patriotismus‘ nie und nimmer mit Nationalismus verwechselt werden dürfe, irrt gewaltig. Das wird im folgenden Punkt noch deutlicher.

In einer Radiosendung des SWR in Stuttgart vor wenigen Tagen ging es um diesen neuen ‚Patriotismus‘, die Fahnenmeere etc. Hermann Bausinger, emeritierter und wohl dekorierter Kulturwissenschaftler aus Tübingen legte die Pace dieser nationalen Debatte vor. Er meinte ganz freudentrunken, dass das neue nationale Pathos völlig harmlos und schön sei, gerade weil alles Militärische daran fehle. Und dieses Fehlen des Militärischen sei Konsequenz der deutschen Verweigerungshaltung im Irak-Krieg, ja die deutsche Friedenssehnsucht sei Prämisse eines neuen, zurecht stolzen Deutschland. Der Hass auf die USA, der Antizionismus, das Appeasement und die klammheimliche Freude ob des Djihad sind dieser friedlichen Hetze inhärent.

7) Keine „Reue“ zeigen: gegen „amerikanischen Messianismus“ – Matusseks nassforsche Invektiven oder Wie funktioniert sekundärer Antisemitismus?

Der Spiegel Kultur-Ressort-Leiter Matthias Matussek hat mit seinem Bestseller „Wir Deutschen – Warum uns die anderen gern haben können“ ein offen nationalistisches Buch geschrieben, das in vielerlei Hinsicht ohne Walsers Tabubruch von 1998 im Mainstream-Journalismus nicht so ohne weiteres zu denken war. Der Bezug zu Bausingers Friedensliebe der Deutschen ist ganz offenbar in einem Interview Matusseks mit Peter Sloterdijk. Matussek gibt dem TV-Philosophen eine neu-deutsche Steilvorlage, wenn er fragt:

„Sichtbar wird vielmehr ein neues deutsche Selbstbewusstsein, zumindest in der Außenpolitik, die sich sogar den Widerstand gegen den amerikanischen Messianismus erlaubt hat.“

Das Ressentiment gegen „jüdischen“ Messianismus, wie er in antisemitischen Texten überall auftaucht, bekommt hier völlig selbstverständlich, aber rhetorisch kaschiert, seine Weihen. Der alte SPD-Mann Egon Bahr nennt das in einem Büchlein dann logisch „den deutschen Weg“ – gegen den „amerikanischen“ – und der Wirtschaftswissenschaftler Werner Abelshauser stimmt als einer unter vielen in diesen nationalen Chor ein.

Matussek ergeht sich nicht nur in Allgemeinplätzen, die er oft selbst erfindet wie folgenden „Die Liebe zum Vaterland ist eine Kraft, schon seit der Antike“ – aber sein Ton ist so ungeheuerlich aggressiv, schwülstig deutsch, durchsetzt von antienglischen Invektiven, dass deutlich wird, wie stark ein stolzer Deutscher auf Feinde und Gegner eingestellt ist.

Da werden Engländer zum „unsympathischsten Volk auf Erden“ erklärt, der deutsche „Bildungsbürger“ beschworen und gegen die „englische Klassengesellschaft“ gesetzt und Klaus von Dohnanyi, ein Altpolitiker der SPD aus Hamburg, phantasiert demokratische Traditionslinien der Deutschen herbei, die angeblich älter seien als die Englands ohne zu betonen, dass es in Deutschland keine erfolgreiche und konsequente demokratische Revolution je gegeben hat. Ein Hinweis auf deutsche Verbrechen trotz „Bildung“ gereicht den beiden Gesprächspartnern Dohnanyi und Matussek dazu, Englands Sklavenhandel und Nordamerikas Sklavenhaltergesellschaft zu geißeln. Diese deutschen Schuld-Projektionsleistungen sind zwar häufig analysiert worden, aber treten heute umso reflexhafter, ungenierter hervor als je zuvor. 9/11 hat da Dämme brechen lassen.

Und so kulminiert das Gespräch der beiden Stolzdeutschen in einem Satz, der an Antisemitismus und Wiederbetätigung im Sinne des Nationalsozialismus nicht deutlicher ausfallen könnte:

„Die Juden hatten es ja sogar in Deutschland in den ersten Nazi-Jahren besser als damals die meisten Schwarzen im Süden.“

So spricht Klaus von Dohnanyi und Matthias Matussek hats gefreut! Solche Tabubrüche, den Nationalsozialismus mit seiner Braunen Revolution von 1933 als Beginn zu loben, sind heute eine Bestsellergarantie und kein Fall mehr für einen Skandal. Der Verlag der solche antijüdische Propaganda druckte heißt auch nicht Grabert-Verlag, vielmehr S. Fischer, einer der ganz großen Verlage in der Bundesrepublik.

An anderer Stelle untermauert Matussek seinen (nun sekundären) Antisemitismus, seine Erinnerungsabwehr ist Walser nach dem Munde geredet:

„Bei uns wurde der Holocaust, nach einer lähmenden, brütenden Phase der Verdrängung, in eine übereilfertige, nicht mehr versiegende, immer glattere und abgeschliffenere Beschuldigungs- und Verachtungs- und Selbstverachtungsphraseologie überführt, in der ständig nach dem politischen Vorteil geschielt wird.“

Vor 30 Jahren hätte jeder Leser sofort an einen Revisionisten gedacht bei solchen Zeilen, aber nein: Matussek ist kein Holocaustleugner, gewiss nicht. Er ist ein typischer sekundärer Antisemit, der immer, wenn es um die deutschen Verbrechen geht, jene zwar nicht leugnet aber als Bagatelle abtut, ja er spricht – wörtlich – bezüglich des Holocaust, der als Thema auf einem Empfang oder einer Party vorkam, von einem „Stimmungskrepierer.“

Diese neu-deutsche Selbstverständlichkeit gerade als Deutsche stolz zu sein, zu betonen, ja zu brüllen: die deutsche Geschichte war im Kern was sehr Schönes, etwas ganz Einzigartiges, „Hitler“ war lediglich ein „Freak-Unfall der Geschichte“ (O-Ton Matussek), ist die neue Befindlichkeit, die neue, deutsche Ideologie im 21. Jahrhundert.

„Ich bin nicht tief traumatisiert, denn ich denke nicht oft an die deutsche Schuld und an den Holocaust“ sagt Matussek, er kämpft wie Walser und Konsorten gegen die „moralische Keule“.

Das sind die Töne des nationalen Apriori.

hagalil.com 07-07-2006

 

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