Von Dr. phil. Clemens Heni, 16. September 2019

Der Antisemitismus ist der „längste Hass“ (Robert S. Wistrich) und die flexibelste Ideologie überhaupt. Der Judenhass wird zeitgleich von rechts, links und der Mitte der Gesellschaft auf ganz unterschiedliche Weise verbreitet. Nehmen wie die Zeitschrift „Philosophie“, deren Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler und ihre Ausgabe Nr. 6 von Oktober/November 2019.

Screenshot

Darin ist, wie bereits auf dem Cover extra auffällig angepriesen, ein Exklusiv-Interview mit Judith Butler. Nun muss man von einer Zeitschrift, die wahlweise CSU-Politiker wie Erwin Huber interviewt, der neuerdings, wie kokett oder illuster, ja prickelnd im postnationalsozialistischen (oder heute besser: präfaschistischen) Deutschland, als 70+-Student ein Heideggerianer geworden ist, die Kritische Theorie auf infantile Schaubildchen herunterbricht, wahllos additiv auch Friedrich Engels‘ Äußerungen zur Wohnungsfrage zitiert oder die reaktionäre, dumpf-deutsche Thea Dorn als neue Kolumnistin anpreist – „Erwachsen zu sein, ist nur in Gesellschaften attraktiv, in denen Vergangenheit und Lebenserfahrung ein hohes Prestige genießen“ –, nichts erwarten außer der Affirmation des Bestehenden.

Doch ein Interview mit Judith Butler bringt Klicks und steigert die Verkaufszahlen und das Philosophie Magazin meint wohl damit durchzukommen, dass es die BDS-Frau einfach gar nicht zu ihrem eigenen Antisemitismus, zu Judentum und Zionismus und BDS fragt. Wer aber Judith Butler promotet, promotet BDS und damit antizionistischen Antisemitismus. Und den sekundären Antisemitismus ganz klammheimlich noch bisserl dazu, wer in Deutschland 2019 von der „Vergangenheit“ gleichsam faselt, die „ein hohes Prestige genieße“, hat aus selbiger nichts gelernt oder möchte sie wiederholen. Ist so.

Svenja Flaßpöhler und Nils Markwardt geben Butler ein Forum und sprechen sie auf den 11. September und Israel an, um den Antiamerikanismus, Butlers Liebäugeln mit dem Jihad wie ihren Antizionismus als Kritik am „Antiintellektualismus“ zu verpacken. Da lacht die „Electronic Intifada“.

Oder nehmen wir, politisch ganz anders gelagert auf den ersten Blick, die NGO Scholars for Peace in the Middle East (SPME), deren deutsches Chapter jetzt zwar 500 Unterschriften gesammelt hat, um die Kritik am Antisemitismus des Jüdischen Museums Berlin zu unterstreichen, aber gar kein Problem hatte, im Dezember 2017 den extrem rechten Publizisten Alexander Grau auf eine Konferenz einzuladen, nachdem dieser Agitator wenig zuvor im „Cicero“ die Neonazis des Antaios-Verlags und der Identitären Bewegung, die auf der Frankfurter Buchmesse 2017 für Randale gesorgt hatten, in Schutz genommen hatte. SPME hat zudem den Antisemiten, Sexisten und Rassisten Donald Trump seit seiner Wahl zum US-Präsidenten unterstützt.

Andere Leute sahen und sehen in der rechtsextremen AfD eine Option auch für Juden, obschon doch die AfD z.B. in Sachsen oder Thüringen antisemitisch hetzt und sich sowohl gegen die Beschneidung (Brit Mila) als auch das Schächten ausspricht. Wir kennen diese Agitation nicht nur aus der Nazi-Zeit, sondern auch von der FAZ im Sommer 2012, als ein Kölner Landgerichtsurteil gegen die Beschneidung für riesige Schockwellen unter Europas Juden sorgte. Euphorie hingegen bei der Giordano Bruno Stiftung oder eben der deutschen Elite der Juristen oder Mediziner und anderer, die zu Hunderten in der FAZ gegen die Beschneidung pöbelten und somit jüdisches Leben in Europa und Deutschland in Frage stellen.

So zu tun, als sei man gegen Antisemitismus, aber gleichzeitig andere Formen des Antisemitismus zu fördern, das kann auch die Mainstream-Architekturzeitschrift Arch+. Völlig zu Recht wendet sie sich in ihrer Nummer 235 von Mai 2019 mit ihrem Gasteditor Stephan Trüby von der Uni Stuttgart gegen „rechte Räume“, die Neue Rechte, Neonazis, antisemitische Inschriften wie auf dem Walter-Benjamin-Platz in Berlin, gegen die den Zivilisationsbruch Auschwitz und die Verbrechen der Deutschen im Nationalsozialismus vergessen machende Rekonstruktionsarchitektur wie in Frankfurt am Mains neuer Altstadt, aber zugleich bedankt sich Arch+ 235 bei einem antisemitischen Bündnis – Decolonize the City –, das z.B. in Tweets die BDS-Bewegung gegen Israel unterstützt oder auch via ihrer postkolonialen Ideologie die Präzedenzlosigkeit der Shoah leugnet.

Fußnote:

Der für Linke tragischste, aber wohl auch typischste Fall ist hingegen der italienische Fußballer Paolo Sollier (Jg. 1948). Er ist eine Ikone, weil er immer mit der geballten Faust im Fußballstadion auftrat, als Symbol linksradikaler Solidarität mit den Genossinnen und Genossen zumal der Gruppe Avanguardia Operaia. 2018 brachte die Fußballzeitschrift „Ballesterer“ aus Österreich Sollier auf dem Titelblatt des Heftes 129 über „1968 im Fußball“.

Screenshot

In einem Interview mit dem Standard von Januar 2018 wird Sollier auch gewürdigt und auf sein furioses Buch verwiesen.

Er hat 1976 ein Buch geschrieben, das umgehend ins Deutsche übersetzt wurde: „Ein Porträt des Fußballspielers als junger Mann“ (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1978). Dieses Taschenbuch war sensationell cool. Auf dem Cover in der Mitte, umgeben von acht gleichgroßen Cartoons, ein Foto Solliers mit rotem langärmeligem Trikot, schwarzem Vollbart und dem empor gestreckten linken Arm mit der Faust.

 

Er schreibt über Trainingslager und deren Qualen, über die angepassten Fußballer, die fast alle heiraten, damit sie immer eine Frau zum Vögeln um sich herum haben und ja nie wissen, ob und wann sie verkauft werden, die Spieler. Den meisten geht es – wie bis heute – um Frau, Kind, Familie und Haus. Nix im Hirn, aber fette Geldbörse. Sollier stieg mit Perugia Calcio in die Serie A auf, bekanntlich die höchste italienische Spielklasse. Er ist Antifaschist, aber auch Feminist, was damals, Anfang der 1970er Jahre, nicht wirklich Mainstream war bei Fußballspielern. Es geht viel um Sex, den körperlichen Druck, der sich entladen muss, entweder mit Gewalt auf dem Platz oder als Fan auf der Tribüne, oder aber am besten im Bett.

Er ist für freie Liebe, feiert weder seinen Geburtstag noch Silvester oder Weihnachten und hat so gar keine ich-verliebte Attitüde, wie wir es von Stars kennen. Einen nicht unerheblichen Teil seiner Einkünfte spendet er an seine linksradikalen Genossinnen und Genossen, an die organisierten politischen „Autonomen“ (wie wir sagen würden), aber auch an Einzelne, die bedürftig sind.

Er ist von Amsterdam schockiert, dass die Frauen wie „ein Kilo Äpfel oder eine Rinderkeule“ in Schaufenstern feilgeboten werden. Was er analysiert, könnte man heute auf Berlin Prenzlauer Berg, das Hamburger Schanzenviertel oder jede hippe Gegend in jeder Großstadt beziehen, nur dass aus Hippies Hipster geworden sind:

„Zu viele second-hand-hippies, eine Atmosphäre abgeklärter Leute, die alles wissen, eingekapselt sind in ihre eigenen Gewißheiten.“

Sollier mag keine Kommunistische Partei, weil sie nur Partei ist und den Status Quo behalten möchte, nur mit mehr Lohn oder besseren Bedingungen, aber kategorisch anti-revolutionär. Das nervt ihn völlig zu Recht. Und zwar massiv.

Die kapitalistische Hin- und Herschieberei von Menschen – genannt „Transfermarkt“ – schockieren ihn zutiefst. Häufig erfahren die Spieler damals aus der Zeitung oder von Leuten auf der Straße, dass sie „verkauft“ wurden, auch ihm erging es so, als er nach Rimini verkauft wurde wie ein Stück Fleisch, das am Fleischerhaken über die Theke gereicht wird.

Er berichtet über den ersten unendlich langen Kuß mit Maria, aber auch viele andere Frauen tauchen auf und ab. Beim Lob auf die Bretonen und deren Abscheu, Franzosen genannt zu werden (schauen wir uns die bretonischen Fahnen auf jeder Tour de France an!) wird man als Historiker und Politologe skeptisch, da ja bekanntlich bereits die Deutschen wie der Sprachforscher Leo Weisgerber im Nationalsozialismus (Gruppenbefehl No. 106, Propaganda-Abteilung, Gruppe Rundfunk) das besetzte Frankreich völkisch agitierten und in Rennes die Abspaltung der Bretagne vom französischen Nationalstaat propagierten.

Bei Sollier geht es natürlich um Faschisten in Italien, auch hier fühlt man sich an heute erinnert.

Schließlich hat Paolo Sollier teils geradezu lyrische Qualitäten, was man nicht zwingend bei jedem ehemaligen Metallarbeiter (aus Turin) erwarten würde:

„Alles kann man von Perugia sagen: daß es schön ist, daß es häßlich ist, daß es bezaubert, daß es langweilt; aber wenn es regnet, gibt es keinen Ort, der es mit dieser Stadt aufnehmen könnte. Die Dächer leuchten, die Mauern wetteifern mit der Ewigkeit, Wolken dringen in die Gassen, klammern sich an den Häuserecken fest, sprühen Wasser.“

Doch das wird alles  – alles – hinfällig angesichts seines Boykotts Israels, den er schon Anfang der 1970er Jahre praktizierte (was man z.B. hier in einem Interview vom 15. Januar 2018 anlässlich seines 70. Geburtstages am 13. Jänner auf Italienisch nachlesen kann) und in seinem Buch so andeutete, S. 146, es geht um die Universität in Perugia:

„Denk dir die paar palästinensischen oder persischen Studenten weg, die politisch aktiv sind, weil ihre Toten an ihnen nagen, dann bleiben ein paar exotische Tierchen, die auf den Treppen der Piazza herumsitzen, Farbtupfer, ein bißchen Safari.“

Vom antisemitischen Massaker an der israelischen Olympiamannschaft bei dem Olympischen Spielen in München 1972, wo am 5. September 11 Israelis ermordet wurden, kein Wort, das scheinen eher die Freunde Solliers gewesen zu sein, die dieses Massaker verübten, wobei ja bekanntlich auch Neonazis bei dem Attentat geholfen hatten. Ein paar groteske Bemerkungen in dem Buch über sich selbst mit „Hakennase“ oder einmal kontextlos über Gaskammern, ließen leider schon erahnen, dass das Thema Juden, Antisemitismus und Shoah ganz sicher nicht zu den Themen gehörte, die der super aktive Antifaschist Paolo Sollier behandelt hatte, was damals – Anfang der 1970er Jahre – auch gar keine Ausnahme von der ignoranten linken Regel war.

Das Wunderschöne am Regen ist nicht nur die Tatsache, dass die Tränen im universellen Meer untergehen, sondern dass man wenigstens in diesen Momenten auch alleine ist und die ganzen im wörtlichen Sinne hirnverbrannten Sonnenanbeter*innen sich verkrochen haben. Das macht diese heutige Zeit, wo es so selten regnet wie schon lange nicht mehr, zur wirklichen Katastrophe, nicht nur ökologisch, auch sozial.

Wer von den Wolken zu sprechen vermag, die sich an Häuserecken festhalten, aber zugleich dem ältesten aller Ressentiments anhängt, dem gegen Juden oder dem Kollektivjuden, dem Staat Israel, gibt einem Rätsel auf oder ist das nur das alte Spiel von Genie und Wahnsinn? Eine bittere, ewige (auch linke) Geschichte, die sich tagtäglich weltweit wiederholt, auch ohne leuchtende Dächer oder Mauern, die mit der Ewigkeit wetteifern …

©ClemensHeni