Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA), 26. Dezember 2021
Die meisten Menschen laufen eher weg vom Gefängnis und von der Unfreiheit, die Deutschen aber weisen sich lieber selbst präventiv in ein Gefängnis ein, als auf rationale Weise eine Sucht zu behandeln und vor allem ihre individuelle Freiheit zu verteidigen oder zu erkämpfen. Und die dicksten Mauern und best geschmiedeten Gitter haben die deutschen Gefängnisse, die aus Wörtern bestehen.
Das ist im Kern die These von zwei der bedeutendsten Publizist*innen der 1930er und frühen 1940er Jahr in den USA: Dorothy Thompson (1893–1961) aus Lancaster in upstate New York, unweit von Buffalo und ca. 60 Meilen westlich von den Finger Lakes (die man wie den Lake Erie, den Lake Ontario und die Niagara Falls gesehen haben sollte zu Lebzeiten), die legendärste Journalistin in Amerika der ganzen 1930er Jahre, die bis zu 10 Millionen Leser*innen täglich erreichte in Dutzenden Publikationen, die ihre Kommentare und Berichte publizierten, die auf das Titelblatt der „Times“ als quasi einflussreichste Frau (nach Eleanor Roosevelt) kam, eine Thompson, die 1932 Hitler interviewte, ihn lächerlich machte (und unterschätzte) und kritisierte und dafür als erste Auslandskorrespondentin 1934 aus Deutschland verbannt wurde.
Dorothy Thompson hatte einigen Einfluss in den USA, sie war mit Bertolt Brecht, Thomas Mann, Odön von Horváth und Carl Zuckmayer bekannt und mit Letzterem befreundet, einigen konnte sie Stipendien in den USA verschaffen, oder sie nach deren Ankunft in Amerika zeitweise in ihrem Haus, wo sie mit dem ersten Literaturnobelpreisträger der USA (1930) Sinclair Lewis (1885-1951) lebte, behausen. Sie hatte eine lesbische Liebe mit der Schriftstellerin Christa Winsloe (1888–1944). Darüber hinaus jedoch vertrat Thompson eine eher herkömmliche Geschlechter-Vorstellung und sah in reaktionärer Diktion das Frau-Sein wohl doch primär als Mutter-Sein und war 1948 eine Gründerin von W.O.M.A.N – World Organization of Mothers of all Nations. Das mag als Kritik am Staatsversagen von Männern nach 1945 nachvollziehbarer Weise als weibliche Reaktion gemeint gewesen sein. Aber der Kurzschluss, dass Frauen primär Mütter seien oder sein sollten oder nur oder vor allem als solche für Frieden kämpften, was 1948 ein großes Thema war, der ist doch bis heute offenkundig. Dass es zum Frieden beitragen kann, wenn die Welt weniger bevölkert ist, das kam ihr nicht in den Sinn. Aber gleichwohl war Dorothy Thompson eine herausragende Persönlichkeit, vor allem wegen ihrer Analysen zu Deutschland.
Zudem war Thompson trotz aller Kritik an Deutschland, auf die ich unten eingehen werde, eine große Freundin der Deutschen gewesen, ganz unkritisch sah sie gerade während der NS-Zeit immer das „andere Deutschland“, wandte sich gegen den Morgenthau-Plan und die Deindustrialisierung. Sie mochte ihr Deutschland immer noch, sogar nach 1945, einem Land, das ja selbst ein Thomas Mann später nicht mehr sehen konnte und nie mehr in dieses Land zurückkam, wie Marlene Dietrich: „Deutschland? Nie Wieder!“
Dabei sind fast alle jene, die 1989 ff. „Nie wieder Deutschland“ als Parole hatten, mittlerweile regrediert und unterstützen den deutschen Staat in seiner nicht evidenzbasierten und antidemokratischen, panischen wie irrationalen Coronapolitik. Lustig ist, dass der konservative oder liberal-konservative Teil der Coronapolitik-Kritiker-Szene panische Angst davor hat, sein Deutschland zu verlieren:
Der andere bedeutende Publizist, der sich fast zeitgleich wie Thompson mit der deutschen Psyche, Philosophie, Politik, Kultur und Gesellschaft kritisch befasst hat, ist der Student Peter Viereck (1916–2006), über den ich auf Dorothy Thompson stieß. Viereck hat einen lustigen Nachnamen, er gewann 1949 den Pulitzer Preis für Lyrik und war Professor für Geschichte am Mount Holyoke College. Er hat nach 9/11 eine Neuauflage seines Buches „Metapolitics“ mit einem Vorwort angereichert, das sich mit der Gefahr des Islamismus befasst. Er ist der Enkel des Sozialdemokraten Louis Viereck (1851-1922) aus Berlin, der für die SPD im Reichstag saß, wie August Bebel aufgrund der antisozialistischen Gesetze einige Monate ins Gefängnis kam und später in die USA auswanderte. Der Sohn von Louis Viereck und Laura Viereck und Vater von Peter Viereck war George Sylvester Viereck (1884-1962).
Bevor wir uns Thompson und Viereck zuwenden, schauen wir uns an, wie 1934 von einem typischen katholischen Publizisten das „Gemeinwohl“, das Verhältnis von Individuum, Staat und ‚Volksgemeinschaft‘ dargestellt wurde. Von da aus geht es dann zurück zu Adam Müller, Novalis, den Gebrüdern Schlegel und der deutschen Romantik. Dazu werde ich versuchen, einen kurzen Blick auf die Kritik am heutigen deutschen Konservativismus zu werfen, exemplarisch dargestellt bei Ulrich Greiner und der Kritik an ihm von Wolfgang Brosche, und das zumindest in Ansätzen zu kontrastieren mit der Definition von „konservativ“ in den USA im Jahr 1940.
Eine zentrale Frage ist: Woher kommt die deutsche Vorliebe für Prävention und das Einsperren? Können wir das mit Quellen um 1800 und sodann 1940/41 beantworten?
In Freiburg im Breisgau gibt es seit 1976 einen „Max-Müller-Steg“. 2010 wurde der Steg für 100.000€ renoviert. Max Müller war ein katholischer Nazi, Heidegger-Schüler, euphorisch-deutscher Publizist beim Bund Neudeutschland und nach 1945 wie selbstverständlich Stadtrat (1956-60) in Freiburg und Professor für Philosophie in München sowie Freiburg. Folgende anti-individualistische Trope könnte von Olaf Scholz, Robert Habeck oder Christian Lindner oder den Zeugen Coronas bei der Zeit, dem Spiegel, der taz, der SZ, der FAZ, ja mittlerweile auch von Konkret, der jungle world, dem Freitag, der Evangelischen und Katholischen Kirche etc. stammen, es ist aber – man merkt es allerdings nur leicht, am Duktus – vom Neudeutschen Max Müller, der 1934 schrieb:
Das Gemeinwohl des deutschen Volkes besteht nicht darin, daß sich jeder Einzelne in der besten körperlichen oder seelischen Verfassung befindet und so in der Erfüllung seiner individuellen Anlagen und Bedürfnisse sich glücklich fühlt. Sondern vielmehr darin, daß das Deutschtum als solches, geformt und getragen von einer starken Gemeinschaft, nach innen hin in allen Gliedern dieser Gemeinschaft wirklich wird, daß dieses deutsche Wesen sich auf allen Lebensgebieten ausprägt und Gestalt erlangt in den Werken und Leistungen der deutschen Menschen.[1]
Das habe ich 2018 in meiner Studie „Der Komplex Antisemitismus“ zitiert und analysiert:
Man kann darin eine Rechtfertigung des blutigen Alltags des Nationalsozialismus wie auch der Konzentrationslager (KZ) sehen, denn es gehe nicht darum, dass „sich jeder Einzelne in der besten körperlichen oder seelischen Verfassung befindet“, sondern um die Stärkung des „Deutschtums“. Ein solches Volk wie das der Deutschen solle auch im Notfall zum eigenen „Untergang“ bereit sein, um das Deutschtum zu retten, was auch Christen eigen sei, wenn das „gloria dei“ nur möglich sei mit dem eigenen Untergang.[2] Ganz nationalsozialistisch gedacht, schreibt Müller von den „drei Schichten des Lebens im Menschen“, dem Menschen als „Exemplar“, als Teil einer „Rasse“ und als „Individuum“.[3] Der „Ständestaat“ sei die einzig sinnvolle, „echte Totalität und Universalität“.[4] Aristoteles wird als Kronzeuge der „Lehre von der Überordnung der Gemeinschaft über den Einzelnen“ herangezogen[5] und jede Staatlichkeit seit dem Ausgang des Mittelalters bis 1914 mehr oder weniger als Teil des Liberalismus verworfen. Als ob das Deutsche Kaiserreich oder die deutschen Länder in dieser Zeitspanne jemals liberal gewesen wären. Nur der Nationalsozialismus sei echte Staatlichkeit:
„Erst in der Staatsentwicklung und im Staatsdenken der neuesten Zeit wird der seit dem Ausgang des Mittelalters bestehende liberale Individualismus allmählich überwunden, und in einem neuen, völkisch fundierten Universalismus der echte Zusammenhang von Person und Werk im öffentlichen Bereich, d.h. der Zusammenhang von Volk und Staat wieder echt erkannt und Staat wieder als die Erfüllung bestimmten Volkstums begriffen. Dadurch wird dem Staat seine hohe Würde zurückgegeben und er dennoch an das Wesen des Menschen, die ihn aufbauen, unlöslich normativ gebunden. (…) Der völkische Staat will seiner Idee nach keine grenzenlose Machtsteigerung, weil er von seinem Staatsbegriff aus die Berechtigung der anderen Staaten in der Erfüllung und Formung des ihnen zugeordneten Volkstums anerkennt.“[6]
Der Romantiker Adam Müller von Nitterdorf wiederum wird als Vordenker dieser „gerechten Ordnung der Staaten“ erwähnt.
Und jetzt lese ich wieder in „Metapolitics. From Wagner and the German Romantics to Hitler“ (1941) von Peter Viereck (1916–2006) und finde folgende Passage unten auf Seite 32 und dann auf Seite 33 oben:
Nun ist der Kanzler natürlich ein ‚Linker‘, ein ganz normaler Deutscher und ganz sicher gegen Antisemitismus, wie alle Deutschen und die „Guten“, das ist klar. Aber das sagt gar nichts aus über die tief sedimentierten Ideologeme, die wir alle in uns haben, die deutschen Traditionen, die wir alle zu beackern haben, wenn wir denn merken, dass es da etwas zu beackern gibt und Instrumente haben, die zu einer solche Bearbeitung dienlich sein könnten. Um es vorweg zu nehmen: die Idee, dass wir „noch nicht lebten“ und die große Erlösung erst noch kommen müsse, die ist der deutschen Romantik so gemein wie Marx, dem Marxismus oder den Antideutschen (bis März 2020, jetzt haben viele ihr Heil in der Impfung gefunden, für alle Zeiten, die neue deutsche Volksgemeinschaft der Antifa, SPD, Grünen, weiten Teilen der FDP, fast der ganzen CDU/CSU und fast der gesamten kulturellen und politischen Elite). Aber selbst „wir“ Kritiker*innen, so wir links dachten und immer noch denken, tragen das schwere Gepäck der deutschen Romantik mit uns herum. Ich muss mich fragen, ob das weiter unten Stehende von Dorothy Thompson und Peter Viereck auch meine politische und intellektuelle Sozialisation geprägt hat.
Daher stellt sich die Frage: gibt es eine Kritik an den deutschen Zuständen und der Fantasie, dass am „deutschen Wesen die Welt genesen“ soll, die es eben gerade auch und vor allem zuerst von Leuten gab, die wir irgendwie schnucklig, verträumt, herzig oder begeisternd fanden und lasen und rezipieren oder zu rezitieren hatten und haben in der Schule, im Bildungsbürgerhaushalt, und im Studium und bei kulturellen wie politischen Veranstaltungen in ganz unterschiedlichen rationalisierten Formen goutierten? Liegt darin ein Schlüssel zum Verständnis, warum gerade und vorneweg die Linken und Liberalen wie Jürgen Habermas so an vorderster Front stehen bei den Zeugen Coronas, der Coronareligion, die mit einem gezielten Schutz der Vulnerablen so viel zu tun hat wie die Stellungnahmen des Robert Koch-Instituts (RKI) mit Verhältnismäßigkeit, Public Health und einer demokratischen und rationalen Analyse, nämlich so gut wie nichts? Wenn aus der ach-so-staatskritischen Antifa, aus der ich selbst komme, jetzt Staatsfetischist*innen und Impf- wie BigPharma-Fanatiker*innen werden, die keinen Bezug mehr zur Realität haben, was hat das dann mit mir und den deutschen Traditionslinien zu schaffen, die Peter Viereck unter anderem an Adam Müller und dessen Staatsidee festmacht, derzufolge die Individuen ihre Freiheiten aufzugeben haben für das „sich entwickelnde Ganze“, wie oben zitiert?
Ich schrieb 2018 zu Adam Müller, ohne zu ahnen, dass ich in einer Pandemie wenige Jahre später auf ihn zurückkommen sollte:
Als ich im März 2018 im offenen Magazin der FU Berlin Bücher auslieh, entdeckte ich unter den Neuanschaffungen des Jahres 2018 ein Werk von Adam Müller. Das Buch steht da einfach so, die Studierenden könnten denken, es sei vielleicht ein wichtiges Buch, neu angeschafft 2018. Wer war dieser Adam Müller? Die Literaturwissenschaftlerin Susanna Moßmann, die sich Mitte der 1990er Jahre mit der christlich-deutschen Tischgesellschaft befasste, kritisiert namentlich den Antisemitismus dieses so legendären und für die deutsche Romantik maßgeblichen Zirkels. In seiner „letzten Rede als Sprecher der Gesellschaft am 18. Juni 1811“ sagte Adam Müller:
„Wir führen Krieg […] gegen die Juden, gegen ein Gezücht, welches mit wunderbarer Frechheit ohne Beruf, ohne Talent, mit wenig Muth und noch weniger Ehre, mit bebendem Herzen und unruhigen Fußsohlen, wie Moses ihnen prophezeit hat, sich in den Staat, in die Wissenschaft, in die Kunst, in die Gesellschaft […] einzuschleichen, einzudrängen, einzuzwängen bemüht ist. Vom Staat, von der Wissenschaft und von der Kunst es zurückzuweisen, stehet nicht in unsrer Macht; aber vom Hufeisen dieses Tisches es zu verbannen, das steht nicht blos in unsrer Gewalt, sondern halten wir für unsre Pflicht.“[7]
Wie weit ist es von hier zum „Stürmer“ des Nationalsozialismus? Wie weit ist es zum Sänger Heino und seinem Geschenk einer Platte mit dem Lied „Wenn alle untreu werden“ von Max von Schenkendorf von 1814 an die „Heimat“-Ministerin des Landes Nordrhein-Westfalen, Ina Scharrenbach (CDU), im März 2018?[8] Max von Schenkendorf hatte dieses Lied dem berüchtigten „Turnvater“ Jahn gewidmet, der 1810 mit seinem Buch „deutsches Volkstum“ den völkischen Ton vorgegeben hatte. Am 10. Dezember 1933 wurde unter Absingen des, auch heute noch von Heino in allen drei Strophen geliebten, Deutschlandliedes (und des Horst-Wessel-Liedes) in Koblenz am Rhein der 150. Geburtstag Schenkendorfs von NSDAP-Kreisleiter Rudolf Klaeber und anderen gefeiert.[9] Neben seiner deutsch-nationalen Positionierung kennzeichnen solche Auslassungen wie zu dieser allzu deutschen Tischgesellschaft, zum antisemitischen Kern der deutschen Romantik, zu Heideggers antijüdischer wie genuin nationalsozialistischer ‚Philosophie‘[10] das Werk des Ex-K-Gruppen-Manns (KPD/AO) Rüdiger Safranski. Seinen autoritären Charakter – in seiner Dissertation 1976 an der Freien Universität Berlin (FU) war er strammer Anhänger des Marxismus-Leninismus[11] – konnte er mühelos von der K-Gruppen-Zeit in die heutige nationalistische Zeit des stolzdeutschen Wahnsinns mitnehmen.
Wie rechts diese Zeiten heute sind, zeigt eine Verteidigung Tellkamps, Safranskis und deren Kameraden und Kameradinnen durch den Ex-Feuilletonchef der Zeit, Ulrich Greiner:[12] Keine der Äußerungen Tellkamps bei seinem Auftritt in Dresden sei „skandalös“ gewesen. Es sei erforderlich, „einander aufmerksam zuzuhören“. Greiner weiß, dass er der Rechten damit Vorschub leistet. Der Skandal, der keiner mehr ist, liegt darin, dass er sein völkisches Geraune nicht etwa in der Jungen Freiheit veröffentlicht, vielmehr mainstreamiger in der Zeit.
Wenn wir heute die Zeit als Flaggschiff der irrationalen Verteidigung der Coronapolitik wahrnehmen, wie fast alle Mainstreammedien, dann sollte nicht vergessen werden, für was die Zeit (oder Suhrkamp mit Tellkamp) schon vor 2020 standen.
Zu Ulrich Greiner hat der Publizist Wolfgang Brosche in seinem Buch „Panoptikum des Grauens. Üble Zeitgenossen, Zombies und andere neue Rechte“ (Edition Critic, 2019) geschrieben:
Der bürgerliche Konservatismus ist als Zombie der Ideengeschichte nicht totzukriegen und immer bestrebt, das freie Leben und die lebendige, der Neuerung aufgeschlossene Politik in der Entwicklung zu behindern mit einem Ziel: Grabesruhe ist die erste Bürgerpflicht. Zombies und Konservative sind Jammergestalten – manchmal gut gekleidet und mit bemerkenswerten Tischsitten, aber zumeist zähneklappernd und greinend schlurfen sie umher: heimatlos, denn sie sind noch nicht im Reich der Toten und machen noch immer das Reich der Lebenden unsicher. Wie dieses Zombietum von innen aussieht, beschreibt Ulrich Greiner in seinen „Bekenntnissen eines Konservativen“, denen er bezeichnend den Titel „Heimatlos“ gegeben hat. Mit diesem Wimmergesang exhibitioniert sich das Trauerspiel des deutschen Konservatismus.
Ulrich Greiner, viele Jahre Feuilletonchef der einstmals bürgerlich-liberalen Zeit, versucht mit diesem Büchlein auf seine alten Tage (er ist Jahrgang 1945) seinen politischen Standpunkt zu sichern und stellt mit dem Untertitel fest, dass er ein Konservativer ist und fühlt sich dabei auch ganz kommod. Was das nun sei, beschreibt er in zehn Kapitelchen (caput, lat. „das Haupt“ nicht zu verwechseln mit „kaputt“ – Verzeihung, wenn wir hier durch sind, wird man sehen, dass der Kalauer seine Berechtigung hat). Es sind Maulereien und Beschwichtigungen eines wieder fromm gewordenen, männlichen Mitteleuropäers älteren Jahrgangs. Was Greiner aufs geduldige Papier gebracht hat, beschrieb Kurt Tucholsky so: „Wenn der Mensch fühlt, dass er hinten nicht mehr hoch kann, wird er fromm und weise; er verzichtet auf die sauren Trauben der Welt. Dieses nennt man innere Einkehr. (…)
Greiner erschreckt auch die „Genderideologie“, die erhebliche Verwirrung ins herkömmliche Ehe- und Familienleben bringe. Ein nichtssagender Luftikus-Begriff aus dem Nebelwerfer-Vokabular der reaktionären Rechten, die Angst haben, man werde zum Unisex durch die internationale Homolobby verdammt und verliere dadurch die sowieso bedrohte männliche Vorherrschaft in der Vater-Mutter-Kind-Konstellation, der Keimzelle des Staates. Als das Bollwerk gegen all die erfundenen oder wirklich bedrohlichen Veränderungen betrachtet Greiner nicht nur in Sachen Kunst und Kultur, sondern vor allem in der Politik das Vergangene, den heimeligen Konservatismus, der obendrein auch noch, das bittet er sich aus, christlich zu sein hat. Kronzeugen, die er für seine konservativen Geständnisse beibringt sind die üblichen Verdächtigen der Retardierung des Denkens: Peter Sloterdijk, Botho Strauß, Sibylle Lewitscharoff und sogar Martin Mosebach… unwirsche bis frömmelnde Gegenwartsberauner bis Zukunftsverächter.“[13]
Und nun gehen wir zurück ins Frühjahr 1940. Der 23-jährige Peter Viereck, Student der Geschichte und Literatur in Harvard und Oxford, der, wie er betont, kaum noch Geld hat und die ideologische Blindheit der Linken („liberals“) in den USA attackiert, schreibt im Atlantic im April 1940 einen Artikel, warum er ein „Konservativer“ ist:
What do I mean by ‚conservative‘? Conservatism must include what Thomas Mann calls humanism: the conservation of our cultural, spiritual, and individualist heritage.[14]
Auch wenn Viereck hier als junger Mann schon die Post-Auschwitz-Sprache der NS-Verharmloser von heute drauf hat, die Rot und Braun gleichsetzen oder von „nationalen Sozialisten“ sprechen und damit Hitler und Stalin meinen (exemplarisch: die Prager Deklaration von 2018 und deren riesiges publizistisches, politisches und kulturelles Umfeld in Europa und den USA), und obwohl er keinen demokratischen Marxismus sich vorstellen kann, so hat er doch einiges Kritisches zu sagen. Peter Viereck wendet sich gegen seinen Vater Sylvester Viereck, einem glühenden Hitler-Anhänger schon seit Anfang der 1920er Jahre, als er den Nazi-Führer interviewte, und sieht im Konservativen gerade das Antifaschistische.
Peter Viereck wendet sich gegen den Hitler-Stalin-Pakt und möchte die westlichen Freiheiten bewahren oder konservieren. Das ist sein humanistischer und zumal individualistischer Ansatz, den er mit Thomas Mann unterstreicht. Kurz danach sollte Thomas Mann die spätere Doktorarbeit von Peter Viereck – Metapolitics[15] – von 1942 an der Harvard University, die schon 1941 als Buch erschien, wie folgt belobigen. In einem Brief an den Verlag und Mr. de la Torre Bueno vom 7. September 1941 schreibt Thomas Mann:
I have long esteemed this young author as an intellect with profound historical knowledge and keen psychological observation, and after a few samples of the book which I read in magazines, I expected much of it. To one of those samples, an essay about Wagner and National Socialism, I have given my detailed comment in Common Sense. The book as a whole, however, has still surpassed my expectations. I have read it with great interest, and consider it an excellent contribution to the critique of the German Nationalism and Racism, and with it to the clarification of the spiritual backgrounds of this war.
Of course, such a book may also have its dangers inasmuch as it lends a spiritual excuse to the actual crimes of the German Nationalism, and a sort of historic legitimacy to the political outrages of Hitler, and could thus weaken the physical defense against him. On the other hand, nothing is more important than understanding and recognition, and I consider it most meritorious how Viereck goes back to the sources of German Nationalism which is the most dangerous in existence, because it is mechanized mysticism.”[16]
Wenn Thomas Mann hier 1941 vom „mechanisierten Mystizismus“ der Deutschen spricht, dann spielt er exakt auf die Mischung aus Blut-und-Boden SA-Schlägertrupps und der kalten technokratischen SS-Elite an, die den Holocaust durchführte. Der Lebenskult der Romantik ist es, der Viereck umtreibt, den er als Gefahr und Vorläufer des neuen Deutschland untersucht. Warum, so fragt er, mochten die Deutschen die Preußen anfangs gar nicht und folgten ihnen später, nach der Reichsgründung, umso fanatischer? Weil die Preußen so „undeutsch“ gewesen seien, so auf Zucht und Ordnung und gar nicht auf Innerlichkeit, Sehnsucht und Lebensphilosophie erpicht.[17] Der romantische Aufbruch der Gebrüder Schlegel und ihrem Periodikum Athenäum (1798–1800), von 1976–1982 Namensgeber eines Verlags, „Tempel der Athene“, war einer der das „Werden“ ins Zentrum stellt, nicht das So-Sein oder Dasein.[18] Das mag als Weltbeglückungsideologie decodiert werden. Viereck geht auf Goethe ein, der nur ein klein wenig Romantiker gewesen sei und sich später von den Romantikern als „den Kranken“ gegenüber den „gesunden Klassikern“ abgrenzte.[19] Schellings „Weltseele“ ist für Viereck ein typischer romantischer Ausdruck, dass „das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile“, diese Abkehr von der euklidischen Mathematik sei „der mathematische Irrtum“ der Romantik.[20] Die Suche nach „Unendlichkeit“, ja das „ewige Suchen“ nach Halt und Sinn im Leben führt nun – und das ist der Kern der Analyse von Viereck und sogleich Dorothy Thompson – dazu, dass die Deutschen einen besonders starken Staat brauchen, der kein Werkzeug mehr ist, sondern Sinn an und für sich – gerade gegen den Willen der Bürgerinnen und Bürger.
Und diese Eiseskälte ist es, die sprachlich (!) heute wieder in Begriffen wie „Absonderung“ im Kontext eines Virus, das für fast alle Menschen harmlos ist, verwendet wird oder wenn Menschen an ihre Schaufenster schreiben „Ungeimpfte unerwünscht“ – was KEINE Übertreibung ist, das gibt und gab es und 2G meint ja das gleiche, nur verdruckster. Das ist eine Kälte, eine soziale Ausgrenzung, die es in der Geschichte der BRD bislang noch nicht gab und die wir alle für undenkbar hielten.
Dorothy Thompson schreibt im April 1940 in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ einen faszinierenden Artikel:
„The Problem Child of Europe“.[21]
Der auf problematische Weise pädagogisch anmutende Titel, der von „Problemkindern“ spricht und immanent Erziehungsanstalten einem in den Sinn kommen lässt oder rigide, gar schwarze Pädagogik, wie wir sie zuletzt in nie gekannter Weise seit 1945 von Horst Seehofer (CSU) und der letzten wie der aktuellen Bundesregierung serviert und indoktriniert bekommen, soll uns vom Inhalt nicht ablenken. Dorothy Thompson hat eine „unglückliche Liebe“ zu Deutschland[22], betont, dass sowohl Goethe als auch Nietzsche Deutschland „verachtet“[23] und die Deutschen eine symbiotische Nähe zum „Fürsorgestaat“[24] hätten.
Und dann kommt sie zum Kern ihrer Analyse des deutschen Problems. Die Deutschen, von der Romantik über Wagner hin zum SS-Staat würden den Staat nicht als Werkzeug oder rationale Ordnungsmacht lieben, sondern als Zwangseinrichtung, die die zu Chaos und Anarchie tendierenden romantischen Deutschen mit ihrem sprühenden Unsinn zügeln würden. Da die Deutschen aber nicht abwarten wollen, wie man auf demokratische Weise ein Problem löst, weisen sie sich lieber wie ein Alkoholiker in ein Sanatorium ein – oder eben in ein Gefängnis:
Even prison, since it means four walls and a routine, may be attractive to him.[25]
Sobald sie aber im Gefängnis sitzen, fangen sie wieder an zu jaulen und schreien nach dem „Kosmos“ und ewiglicher Liebe und Freiheit. Goethes „Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust“ werden von Thompson angeführt[26] und sie konnte es während ihrer Zeit in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik und dann ab 1933 bis zu ihrer Ausweisung 1934 kaum fassen, dass deutsche Männer bei trivialen Anlässen losheulten, was ihr als Amerikanerin oder Anglo-Sächsin peinlich oder läppisch vorkam.[27] Aber es war eine toxische Sentimentalität!
Peter Viereck hat also Dorothy Thompsons Artikel gelesen und in seine zeitgleich entstehende Doktorarbeit eingebaut. Bevor er naiver- und tragischerweise von dem möglichen Umschwung in Deutschland fantasiert (1941) schreibt er in einer herausragenden Analyse, die nicht nur Thomas Mann, sondern uns heutige Kritiker*innen des Corona-Regimes begeistern kann:
In fact, nothing is more typical of the chaotic romantic temperament than this very attempt to escape from itself into the prison of limitless authoritarianism.
Germans have a strange habit of fleeing not from prisons but into prisons.[28]
„Die Deutschen haben eine merkwürdige Art, nicht aus, sondern in die Gefängnisse zu fliehen“ – kann man die deutsche Mentalität und den Staatsfetischismus besser in Worte fassen?
Das trifft exakt of Lothar Wieler (RKI), Angela Merkel, Jens Spahn (CDU), Olaf Scholz, Frank Walter Steinmeier, Franziska Giffey, Stephan Weil (SPD), Winfried Kretschmann, Robert Habeck, Annalena Baerbock (Grüne), Bodo den Ramelow, Klaus Lederer (Die Linke), Markus Söder (CSU) und nahezu die gesamte politische und kulturelle Elite in diesem Land seit März 2020 im Zuge der Coronakrise zu, die offenbar zumal eine Romantik-Krise in Deutschland ist. Innerlich unsichere Existenzen, die keinen Halt im Individuellen, in der Rationalität, der Wissenschaft haben, die weder die Gleichheit der Menschen schätzen, noch vom juristischen Prinzip der Verhältnismäßigkeit je etwas gehört haben, Menschen, die so in Panik gebadet haben, dass sie nicht nur sich selbst, sondern alle in den Abgrund, ergo: Quarantäne, Lockdown, in den Maskenwahn und die Impfpflicht verabschieden, all diese Menschen sollten Dorothy Thompson und Peter Viereck lesen.
Viereck schreibt weiter:
Wordsworth, the English Lake-school romantic, found salvation in that same process when he reacted against the excessive freedom of his youthful ‘French ideas.’ He expressed that reaction, more perfectly than anyone before or after, in his pæn to the narrow stone ‘cell’ as the sweetest refuge from ‘the weight of too much liberty’.
‘Stone walls do not a prison make,’ or at least not nearly so unbreakable a one as – words. The cell into which generation after generation of German romantics have finally fled from liberty’s weight is a word-cell. Their cell is their fanatic faith in some rigid authoritarian dogma, whether of church or state.
This apparent paradox behind German discipline has found its most striking summary in no German writer but in America’s widest read feminine columnist [Dorothy Thompson]. ‘The German does not accept discipline because of neat love of order. He accepts it the way a drunkard delivers himself into a sanatorium. He wants some one to impose it on him because he cannot impose it on himself.’”
Diese Analyse von Dorothy Thompson ist brillant. Sie wird zu Recht als eine der bedeutendsten Warnerinnen vor dem Nazismus und als Unterstützerin der Juden vom United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C., erinnert:
Ihre Analyse und jene von Peter Viereck reichen aber weit über die Nazi-Zeit hinaus. Denn das antiwestliche Denken in Deutschland schon und gerade zu Zeiten der Romantik um 1800 ist ein tief sedimentiertes Element der deutschen Mentalität oder der politischen Kultur.
Nehmen wir heute die Diskussionen zu Corona: weil die Leute keine Selbständigkeit, kein Verantwortungsgefühl, kein rationales Denkvermögen haben, delegieren sie jede – jede – auch private Entscheidung an den Staat. Da sitzen dann die Geboosterten in ihren Wohnungen in Köln, Hamburg oder Hintertupfingen und kriegen Omikron und schließen sich in der eigenen Wohnung in das Gästezimmer ein, damit die anderen komplett und mega turbo Geimpften nicht mit ihm oder ihr in Kontakt kommen. So stark glauben die Geimpften an die Wirkung der Gentherapie, dass sie voreinander panische Angst haben wie sie noch nie im Leben vor irgendetwas Angst hatten. Gestern eine ca. 29-jährige Radfahrerin im Freien mit Maske, ganz allein. Sie will die Panik verbreiten, die sie selbst einsaugt, tagtäglich durch die Panikschleudern und Hetze-Superspreader gmx oder web oder Tagesschau, Heute-journal etc. pp.
Das Zitat von Peter Viereck zeigt aber, dass auch in England die romantische Regression und Angst vor der Freiheit ein literarischer Topos war – aber im Gegensatz zu Deutschland nie hegemonial wurde und es immer demokratische Gegenkräfte gab. Das ist der Unterschied ums Ganze zwischen dem Westen, England, Amerika, Frankreich und “Rom” auf der einen, Hermann dem Cherusker, Luther, dem ersten „SA-Stormtrooper“ (Viereck über „Turnvater Jahn“), der Romantik, Wagner und dem Nationalsozialismus auf der anderen Seite. Fünf antiwestliche “Revolten” untersucht Peter Viereck in Metapolitics.[29]
Vor allem zeigt der Corona-Diskurs seit März 2020, wie die Deutschen sich ein Gefängnis aus Worten basteln und alle reinstecken, gerade jene, die keine Panik vor einem Virus, anderen Menschen oder sich selbst haben. Und dieser Totalitarismus hat viel mit der Weltbeglückungsideologie der deutschen Romantik und der unfassbaren deutschen Angst – German angst – vor sich selbst, vor zu viel Freiheit, zu tun. Daher: Lest Peter Viereck und Dorothy Thompson.
Solange es in Deutschland keine demokratische, auf der Individualität basierende Revolution gibt, solange wird der Lockdown – Impf-Apartheid oder Impf-Pflicht sind nichts anderes als Lockdowns für die nicht mehr als Bürger angesehenen Exemplare – Alltag sein oder immer wieder werden können. In den USA gab es von Anfang an sehr starken Widerstand gegen Maskenmandate – Florida hat sie im September 2020 (!) aufgehoben und dort sind nicht mehr Menschen an oder mit Covid-19 gestorben als im fanatischen New York oder Kalifornien, ja in Florida sind Impf-Mandate, auch für Polizist*innen oder medizinisches Personal, unter Strafe untersagt – und in England gibt es weiterhin ein starkes Bürgertum und eine medizinische Elite, die sich in Teilen auch explizit mit der Arbeiterklasse gegen die Zeugen Coronas solidarisiert (Professorin Sunetra Gupta von der Eliteuniversität Oxford). All das gibt es in Deutschland nicht. Und das liegt auch an Adam Müller, Novalis, Tieck, Schlegel, Schelling, Schleiermacher, Jahn und unzähligen anderen deutschen Ideologen.
Peter Viereck analysiert den Unterschied von „individuellem Wahnsinn“, den niemand positiv würdigen würde (bis auf Hölderlin?), und einem „kollektiven Wahnsinn“, der für Deutsche gerade „keine Beleidigung“ darstelle, sondern im Sinne von Novalis „aufhört, Wahnsinn zu sein und etwas Magisches wird.“[30] Viereck ergänzt das mit Bemerkungen zum „totalitären National-Sozialismus“ bei Fichte, zu Hegels Staatsverständnis als „Organismus“ und zu Adam Müllers Ideologie, wie oben zitiert, dass „der Staat aufhöre, ein Instrumente in der Hand einer Person zu sein“ und stattdessen „selbst eine Person werde, ein frei entstehendes Ganzes“.
Es ist exakt dieses Ganze, das Olaf Scholz in seiner ersten Regierungserklärung Mitte Dezember 2021 im Deutschen Bundestag meinte.[31] Niemand kann leugnen, dass 3G, 2G und die in einer Demokratie und in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 nie dagewesene Spaltung in Geimpfte und Ungeimpfte – obwohl das laut der Pharmaindustrie (Bayer) eine „Gentherapie“ ist und keine herkömmliche Impfung und jeder Geimpfte mit der exakt gleichen Viruslast und exakt gleichen Dauer an Tagen infektiös sein kann wie ein nicht geimpfter Mensch (so das US Justizministerium und das RKI der USA, das CDC) – Realität ist. Nicht so für den Kanzler. Scholz hat einen Realitätsverlust, wenn er ernsthaft sagt:
Viel ist ja zurzeit von der angeblichen Spaltung unserer Gesellschaft die Rede. Dazu stelle ich fest: Unsere Gesellschaft ist nicht gespalten.
Er kann in jedes geöffnete Restaurant gehen, in 2G-Krankenhäusern Verwandte oder Freund*innen besuchen, Sie und ich können das nicht. Weil wir eine Impf-Apartheid haben und ohne jede medizinische Evidenz Menschen nach dem Impfstatus selektiert werden. Es gibt in Mainstream-Kultureinrichtungen beschäftige Personen, die nicht Geimpfte mit einem „Blinddarm“ vergleichen und entmenschen. Diese Realität zu leugnen, ist dramatisch. Es sind ca. 12 Millionen Menschen über 18 Jahren, die nicht gegen Corona geimpft sind, so viele, wie bei der letzten Bundestagswahl SPD gewählt haben. Und die meint Scholz, wenn er sagt:
Aber was es eben heute in Deutschland auch gibt, das ist Wirklichkeitsverleugnung, das sind absurde Verschwörungsgeschichten, mutwillige Desinformation und gewaltbereiter Extremismus. Um es klar zu sagen: Eine kleine extremistische Minderheit in unserem Land hat sich von unserer Gesellschaft, unserer Demokratie, unserem Gemeinwesen und unserem Staat abgewandt, nicht nur von Wissenschaft, Rationalität und Vernunft.
Für die gesamte Bundesregierung sage ich: Wir haben Respekt vor ernst gemeinten Einwänden. Wir hören zu. Wir suchen die Debatte. Wir sind offen für Kritik und Widerspruch. Wir geben auch den Versuch nicht auf, bislang noch Zurückhaltende davon zu überzeugen, dass sie sich doch impfen lassen – mit der Kraft der Fakten, der Kraft der Vernunft oder der Kraft des besseren Arguments.
Scholz geht auf das Wort Impfpflicht nicht einmal ein. Dabei wäre eine solche das totalitärste Projekt in der Geschichte der BRD. Und eine Impfpflicht wäre ein Wortbruch von Olaf Scholz, der sich noch vor wenigen Monaten gegen eine Impfpflicht ausgesprochen hatte, wie fast alle Regierenden und Politiker*innen. Er sagt auch nicht, dass sich der Ex-Bundesinnenminister Otto Schily, der auch aus der SPD ist, vehement gegen eine Impfpflicht ausspricht, wie auch führende Rechtswissenschaftler*innen wie Professorin Katrin Gierhake von der Universität Regensburg, kritische Richter und Staatsanwälte (eine Impfpflicht verstößt gegen die Würde des Menschen und 1 Abs. 1 GG, auch, da statistisch aufgrund der Erfahrungen von 2021 ganz sicher ist, dass die Impfung („Gentherapie, so Bayer“) zu vielen Todesopfern führen wird, da wir schon jetzt die offiziellen Nebenwirkungen und über 1400 Tote alleine in Deutschland haben) und viele weitere gewichtige bürgerliche, linke, liberale Stimmen, vorneweg wesentliche Teile der FDP-Bundestagsfraktion um Kubicki. Die alle unter „Wirklichkeitsverleugnung“ mehr oder weniger zu subsumieren, ist an Unverschämtheit und unwissenschaftlicher Agitation nicht zu überbieten.
Nun: Es gibt Nazis, Esoteriker*innen und Leute, die jede Impfung aus irrationalen und antiwissenschaftlichen ablehnen, das ist eine große Gefahr. Daher habe ich mich auch in vielen Texten gegen Rechtsextremismus, Verschwörungswahnwichtel, Antisemiten und Esoteriker*innen in der Coronapolitik-Kritiker*innen-Szene gewandt und sie namentlich und öffentlich kritisiert. Aber darum geht es Scholz gar nicht primär. Denn wenn wir 12 Millionen Nazis hätten, sähe dieses Land anders aus, das weiß der SPDler. Das wäre eine politische Katastrophe. Also vermischt er die marginale Gruppe von totalen Impfgegnern und Rechtsextremisten mit allen Kritiker*innen der Gentherapie, die als Impfung verkauft wird und schon viele Tausende Tote in den USA, Europa und Deutschland, weltweit verursacht hat. Es handelt sich um Impfschäden, wie es sie in ihrer Häufigkeit und Schwere in den letzten 50 Jahren weltweit nicht gegeben hat. Und vor allem: kaum jemand unter 65 oder 70 ist von Corona stark bedroht, wer das behauptet, sagt absichtlich die Unwahrheit.
Damit meint Scholz also in seiner Rede alle nicht Geimpften – dass die Impfung kaum wirkt und ohnehin nur für alte und vorerkrankte Menschen sinnvoll sein kann, dazu kein Wort. Es gibt also viele Linien vom Staatsfetischismus von Olaf Scholz zurück zu einem Adam Müller und vielen Ideologemen der deutschen Romantik, die sich gegen das Individuum und für das große Ganze, gar die Weltseele einsetzten. Da die Deutschen Angst vor sich selbst haben, vor dem Anarchischen in ihnen, sperren sie sich gerne ein – und wie zitiert bei Peter Viereck sind die dicksten Mauern und sind die sichersten Gefängnisse jene, die wir mit Worten bauen, „wir“ Deutschen. Und das verlangt Kritik, intellektuelle Kritik an den deutschen Traditionen und Ideologemen. Ironischerweise könnte es sein, dass Bauern in Bayern oder sonstwo, die in vielen Bereichen sicher alles, nur nicht fortschrittlich oder gar antideutsch denken, weniger staatstragend sind als die hippe, urbane, irrationale Masse der Vollgeimpften und Gentherapie-Abonnent*innen.
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Schließen möchte ich diesen Essay mit Thomas Mann, der 1948 angesichts eines Beschlusses der USA, ihre Zustimmung zur Errichtung eines jüdischen Staates zurückzuziehen, sich klar auf die Seite der Juden schlug, wie schon die ganze Zeit seit 1933 und schon zuvor, obwohl auch zumal im Frühwerk Manns gewisse sprachliche antijüdische Elemente decodiert werden können.[32] Als es darauf ankam, stand Thomas Mann an der Seite der Juden, angesichts von Auschwitz und angesichts der Vernichtungsdrohungen der Araber gegenüber Israel.
Es mag durchaus als eine Rationalisierung seines Ressentiments gegen Politik (und seiner Zustimmung zum Gemetzel im Ersten Weltkrieg, „Betrachtungen eines Unpolitischen“, 1915–1918) gelesen werden, was der Literaturnobelpreisträger und berühmteste deutsche Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts hier am Ende dieses Zitats mit Flaubert sagt – und was wir auf die unfassbare Coronapolitik, ihre biopolitischen und demokratiefeindlichen, gesundheitsschädlichen Dimensionen münzen können:
Was man den Juden nun raten, wozu sie ermutigen soll, ist eine Frage voller Verantwortung. Ich überlasse es anderen, sie zur verzweifelten Fortsetzung des Blutvergießens, zur Verteidigung ihres schon etablierten Staates mit den Waffen anzuspornen – unter dem berühmten Embargo natürlich, das den Arabern Waffen gewährt, ihnen aber nicht. Es mag der empörte Aufschrei der moralischen Welt zur Revision des schimpflichen Beschlusses führen. Wo nicht, so wäre erwiesen, daß die ungeheure Enttäuschung aller Hoffnungen auf eine bessere, gerechtere Welt schon zur Apathie, zur dumpfen Ergebung der Menschheit in das heraufziehende Unheil geworden ist, und uns geistigen Menschen bliebe als letzte Form des Protestes nur der Hohn Flauberts, des Menschenverächters:
‚Ah le progrès, quelle blague! Et la politique – und belle saleté!‘[33]
[„Ah, der Fortschritt, was für eine Plage! Und die Politik – was für ein schöner Dreck!“]
Mit Thomas Mann, Dorothy Thompson und Peter Viereck gegen die irrationale Coronapolitik. Es gibt schlechtere Verbündete.
Und dazu für uns Punk-Rocker natürlich wie immer Erich Mühsam, der jüdische Anarchist, den die Nazis 1934 im KZ Oranienburg ermordeten:
[1] Müller (1934): Staat, in: Werkblätter, 7. Jg., Heft 3, Oktober, S. 129–141, hier S. 129.
[2] Ebd., S. 130.
[3] Ebd., S. 131.
[4] Ebd., S. 135.
[5] Ebd., S. 137.
[6] Ebd., S. 140.
[7] Adam Müller, Rede vor der Tischgesellschaft am 18. Juni 1811, zitiert nach Susanne Moßmann (1996): Das Fremde ausscheiden. Antisemitismus und Nationalbewußtsein bei Ludwig Achim von Arnim und in der „Christlich-deutschen Tischgesellschaft“, in: Hans Peter Herrmann/Hans-Martin Blitz/Dies., Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 123–159, hier S. 144.
[8] https://www.focus.de/kultur/musik/nach-nazi-kritik-heino-verteidigt-sich-die-lieder-koennen-doch-nichts-dafuer_id_8656894.html.
[9] Erich Mertens (1988): Neue Beiträge zu Max Schenkendorfs Leben, Denken und Dichten, Koblenz: Stadtbibliothek Koblenz, S. 101 f.
[10] Faye 2009. Zu Heideggers Antisemitismus und seinem Weißwäscher und Epigonen Peter Trawny vom Martin-Heidegger-Institut der Bergischen Universität Wuppertal, https://www.heidegger.uni-wuppertal.de/ (15.08.2018), siehe Michèle Cohen-Halimi/Francis Cohen [2015]/(2016): Der Fall Trawny. Zu Heideggers Schwarzen Heften. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Oliver Precht, Berlin/Wien: Turia + Kant.
[11] Auf der letzten Seite heißt es: „Eine solche Literatur, die im Leninschen Sinne als ‚Rädchen und Schräubchen‘ einer entwickelten revolutionär-kommunistischen Parteiarbeit fungieren könnte, gibt es noch nicht“ – Rüdiger Safranski (1976): Studien zur Entwicklung der Arbeiterliteratur in der Bundesrepublik. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie dem Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin vorgelegt von Rüdiger Safranski aus Rottweil, S. 270.
[12] Ulrich Greiner (2018): Zweierlei Maß, Die Zeit, 22.03.2018, S. 46.
[13] Wolfgang Brosche (2019): Panoptikum des Grauens. Üble Zeitgenossen, Zombies und andere neue Rechte, Berlin: Edition Critic, S. 12–14.
[14] Peter Viereck (1940): But I’m a Conservative, The Atlantic, https://www.theatlantic.com/magazine/archive/1940/04/but-im-a-conservative/304434/.
[15] Peter Viereck (1941)/2004: Metapolitics. From Wagner and the German Romantics to Hitler. Expanded edition. With a new foreword by the author, New Brunswick / London: Transaction Publishers.
[16] Thomas Mann (1941): Letter from Thomas Mann, in: Viereck 2004, S. lx–lxi.
[17] Viereck 1941, S. 26f.
[18] Ebd., S. 28.
[19] Ebd.
[20] Ebd., S. 29ff.
[21] Dorothy Thompson (1940): The Problem Child of Europa, Foreign Affairs, Vol. 18, No. 3, April 1940, S. 389–412.
[22] Ebd., S. 397.
[23] Ebd., S. 398.
[24] Ebd., S. 393.
[25] Ebd., S. 399.
[26] Ebd.
[27] Ebd., S. 399f.
[28] Viereck 1941, S. 27.
[29] Ebd., S. 10–15.
[30] Ebd., S. 33.
[31] Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Deutschen Bundestag am 15. Dezember 2021 in Berlin: https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-1992008.
[32] Yahya Elsaghe (2000): Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das ‚Deutsche‘, München: Wilhelm Fink Verlag; Yahya Elsaghe (2004): Thomas Mann und die kleinen Unterschiede. Zur erzählerischen Imagination des Anderen, Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag.
[33] Thomas Mann (1966): Gespenster von 1938, in: Ders., Sieben Manifeste zur Jüdischen Frage 1936–1948, Darmstadt: Joseph Melzer Verlag, S. 83–85, hier S. 84f.