Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: politische Kultur

Warum lieben die Deutschen die Bundeswehr, die Ukrainer und vor allem den Frieden so sehr wie kein anderes Land? Liegt es an „dem“ Russen?

Von Dr. phil. Clemens Heni, 13. März 2022

Es gibt kein Volk auf Erden, das so sehr den Frieden liebt wie die Deutschen. Das sehen wir dieses Wochenende wieder an den Demonstrationen „für die Ukraine“, doch das sahen wir auch im ganzen zwanzigsten Jahrhundert. 1914, 1933/39 und dann 1989 wollten die Deutschen doch immer nur Frieden und Freiheit, es hat zwar nicht immer optimal geklappt, aber der Wille war da und schließlich gibt es doch nur einen Autor, der gar einen „Weltfrieden“ vordachte: Klar, Immanuel Kant.

Aber mal im Ernst: Das Beste wäre, der Ukraine-Krieg endet noch heute. Der Krieg Putins ist völkerrechtswidrig, er ist ein Angriffskrieg und durch nichts zu rechtfertigen, auch nicht durch klar belegbaren Nazi-Tendenzen in der ganzen ukrainischen Gesellschaft. Auch nicht dadurch, dass die NATO z.B. 1999 auch einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zusammen mit Gerhard Schröder, Joschka Fischer und den Deutschen gegen Serbien durchführte mit Tausenden Toten, auch in Belgrad.

Die Ukraine wird ’neutral‘, verzichtet auf NATO- und EU-Mitgliedschaft, beendet die Kooperation mit Neo-Nazi-Mitgliedern in Bataillonen und Regimentern (Azow) sowie Regierungsbänken aller Art, erklärt (wenigstens formal), dass sie die Holocaust-Kollaboration ihres Nationalhelden Stepan Bandera, nach dem Plätze, Straßen, Briefmarken, ja ganze Jahre benannt wurden und werden, schrecklich findet und sich einen neuen Nationalhelden sucht.

Die Falken in den USA drehen komplett hohl und ziehen das ganze Land mit. Der Dollar könnte als weltweite Leitwährung abdanken, wenn der Handel mit Russland komplett ausgesetzt wird. Es wird ganz neue Bündnisse geben, Russland-China-Indien, riesige Märkte. Das wird nicht gerade ökologisch zugehen und wenigstens Russland und China sind keine Demokratie-Champions, um das vorsichtig zu formulieren. Dabei wollten die USA die Ukraine noch nie Europa zuführen, das „Fuck the EU“ in einem Telefonat der führenden US-Außenministeriumsmitarbeiterin Nuland im Gespräch mit dem US-Botschafter in der Ukraine 2014 zeigte nicht nur wie unglaublich offensiv und aggressiv die USA versuchten, die neue antirussische Regierung in Kiew zu bestimmen, sondern es zeigte eben auch, wie die USA Europa verabscheuen. Da geht es in der Tat um kapitalistische Einflusssphären, Kämpfe innerhalb der Bestie.

Das Öl-Embargo gegen russisches Öl von Seiten der USA und die Panik an den Öl-Börsen sorgt für die aktuell höchsten Spritpreise weltweit. Das ist hinterhältig, weil ja alle denken, das liege am Krieg Russlands. Doch daran liegt es nicht primär. Würde Russland seine Öllieferungen nach Europa einstellen, dann gäbe es hier mal so ne richtige Krise. Doch entgegen dem Westen sanktioniert Russland bislang kaum, Öl und Gas werden weiter täglich in den vertraglich vereinbarten Mengen und Preisen geliefert.

Glauben McDonald’s und alle möglichen amerikanischen und europäischen Firmen tatsächlich, dass es die Opposition in Russland stärkt, wenn sie ihren Betrieb in Russland einstellen und auf nie dagewesene Weise ein ganzes Land vom westlichen Weltmarkt abkoppeln wollen? Merkt jemand, was für ein Wahnwitz das ist, wie irrational, sinnlos und brutal? Gerade jene, die gegen Putin sind und gerne zu McDonald’s gehen werden jetzt doch eher denken, wie absurd der Westen hier überdreht und gar nicht versucht, diplomatisch die Krise zu beenden, sondern das ganze Land – ganz Russland! – soll „ruiniert“ werden. Eine seriöse Reaktion wäre es, weder Waffen an die Ukraine zu liefern, noch die Beziehungen zu Russland vollständig abzubrechen und jeden einzelnen Russen (m/w/d) als regelrechten Feind der Menschheit zu definieren, sondern weltoffen und zart zu bleiben. Nur: der Westen war nie weltoffen und zart!

Die mediale Hetze gegen alles Russische hat unglaubliche Formen genommen, man kann das gar nicht glauben – doch dann besinnt man sich und merkt, dass es in Deutschland außer Israel und Juden noch einen zweiten Hauptfeind gibt: die Russen. Die Rede von Schröder, Scharping, Fischer und jetzt von Scholz, dass 1999 Auschwitz oder ein Genozid im Kosovo hätte verhindert werden müssen, war eine widerwärtige Lüge, auch Putins Rede von einem Genozid im Donbas ist eine Lüge. Doch während Putin von der ganzen Welt gehasst wird, wird Scholz verehrt und darf seinem Militarismus und somit Deutsch-Nationalismus frönen wie kein Kanzler (m/w/d) vor ihm.

Im US-Fernsehsender MSNBC sagte jetzt der ehemalige US-Botschafter in Russland und Professor an der Stanford Universität Michael McFaul in Bezugnahme auf einen Kommentar im ukrainischen Fernsehen, dass doch Hitler im Gegensatz zu Putin nicht die eigenen Leute getötet habe, Hitler habe „keine deutsch sprechenden“ Menschen bzw. „ethnischen Deutschen“ ermordet. Diese Holocaustleugnung an den deutschen Juden, diese Leugnung des Mordes an Linken, Gewerkschaftern, Behinderten, Sinti und Roma, Konservativen und vielen anderen, kam live im TV in der Rachel Maddow Show. Es gab einen Aufschrei und der Clip wurde aus der Mediathek gelöscht – aber er wurde gesendet und das spricht doch Bände für den Holocaust verharmlosenden, antisemitischen und antikommunistischen Wahn, den viele in den USA und im Westen aktuell verspüren!

Es reicht nicht, einen schrecklichen Krieg abzulehnen, nein: es muss zwingend Hitler ins Spiel kommen. Das zeigt nicht nur das unterirdische historische Wissen (hier in den USA), sondern vor allem die psychische Notwendigkeit, sich selbst als das absolut Gute darzustellen, Putin als das absolut Böse und das immer am allerbesten, indem man den Holocaust verharmlost. Mission accomplished!!

Interessant ist, dass der oberste außenpolitische Sprecher der Europäischen Union jetzt zugibt, dass es ein historischer Fehler war, der Ukraine eine mögliche NATO Mitgliedschaft schmackhaft zu machen, da dies nicht geschehen werde. Sehen wir das als Beschwichtigung der EU oder nur als weiteren perfiden Schachzug, weil es mal wieder nicht ernst gemeint ist? Hoffen wir mal, der Mann meint es ernst:

Der ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily, der auf seine alten Tage (89 Jahre alt) geradezu liberale Züge zu entwickeln scheint, hat wie schon bei Corona auch jetzt eine sehr reflektierte und de-eskalierende Meinung. So wie Schily sich vehement gegen die Impfpflicht ausspricht, so plädiert er jetzt in der WELT für ein Schweizer Modell für die Ukraine: verschiedene Landesteile, starker Gegensatz von Ost und West, unterschiedliche Sprachen und Kulturen, aber ein zusammenhängendes Staatsgefüge. Ob mit oder ohne Krim sollte dann auch verhandelt werden.

Es gab es seit dem Ende des Nationalsozialismus nicht mehr, dass in Deutschland – und diesmal sogar auf der ganzen Welt außer in Asien und Afrika, also nur im reichen und besonders fanatischen Teil der Welt: Europa und Nordamerika – eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen zum Abschuss freigegeben wird: Russen. Alle Russen werden verdächtigt, Pro-Putin, also Pro-Krieg zu sein. Dass es sogar ehemals Putinanhänger*innen geben mag, die gegen den Krieg sind, weil der Russland beschädigt, ist denkunmöglich, solange diese Menschen nicht öffentlich (!) Abbitte leisten. Das Verhalten der Bundesregierung und der ganzen Gesellschaft gleicht einem mittelalterlichen Ablasshandel – wer sich von Putin distanziert, obwohl er oder sie russisch ist, hat evtl. noch eine Chance, Teil der Menschheit zu bleiben. Für alle anderen gilt laut Facebook:

Mordaufrufe sind OK, solange sie gegen Putin oder Russen adressiert sind und von Leuten kommen, die das a-soziale Medium Facebook in den baltischen Staaten, Ungarn und einigen anderen namentlich genannten Staaten verwenden. Vor wenigen Jahren sprach die ARD noch von der Nato als Kriegstreiber in der Ukraine … Ein aktueller Text auf Telepolis betont unter Bezugnahme auf mehrere Bundeswehr-Vertreter, einen Oberst a.D. und andere, dass die NATO eine sehr große Verantwortung hat für diesen Krieg, sie hat aggressiv und antirussisch agiert und das seit vielen Jahren. Die politikwissenschaftliche Schule des „Realismus“, die sogar Pro-USA und Pro-NATO ist, hat sich seit den 1990er Jahren scharf gegen jede NATO-Osterweiterung ausgesprochen – aber sie wurden nicht gehört, der Fanatismus im Weißen Haus wie in Europa war und ist grenzenlos.

Wie der Spectator schreibt, sind jetzt Todesdrohungen gegenüber Russen auf Facebook wieder erlaubt, solange man in angrenzenden Ländern wie dem Baltikum, Ungarn, Ukraine etc. lebt. Explizite Todesdrohungen sind keine Hassrede mehr für Facebook, weil es ja nachvollziehbar scheint und gegen Russen geht. Kein Witz!

 

Selbst linke und vorgeblich ansonsten antimilitaristische Ukrainer werben jetzt für mehr Waffen für die Ukraine. Dabei betont der Interviewpartner der linken Zeitung Analyse und Kritik, dass es angeblich 2014 mehr Nazis in der Ukraine gegeben habe als heute, ohne das zu spezifizieren. Aufmärsche von Hunderten bewaffneten Kämpfern des rechtsextremen Azow-Bataillons in den letzten Jahren allein in Mariupol machen doch skeptisch, wie ungefährlich Neonazis aktuell in der Ukraine sind. Das heißt übrigens überhaupt nicht, dass nicht auch bei den pro-russischen Aktivist*innen Rechtsextreme oder/und Dugin-Anhänger*innen aktiv sind. Wir werden unten sehen, wie wichtig es hingegen ist, die längeren politisch-kulturellen Entwicklungen zu betrachten, hier bezüglich von Erinnerungspolitik und Neonazismus in der Ukraine.

Es darf offenbar in der Bundesrepublik Deutschland nur noch eine Meinung geben, die Reihen fest geschlossen, die Volksgemeinschaft geeint. Zuerst gab es Corona, wo jede, wirklich jede substantiell abweichende Meinung diffamiert und die Kritiker*innen zum Abschuss freigegeben wurden, jetzt ist es der Ukraine-Krieg Russlands, der die Deutschen wieder zu einem Kumpen Blei zusammen geschrumpft, mit nur einem Ziel: „Russland ruinieren“.

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Der Diplomatie-Historiker, Publizist und Buchautor Ted Galen Carpenter, Jahrgang 1947, Senior Fellow am Cato Institut, verurteilt den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine, aber er stellt klar, dass es eine unerträgliche Heuchelei ist, wenn Amerika und der Westen so tun, als ob imperialistische und völkerrechtswidrige Kriege seit 1945 Tabu gewesen wären. Es ist eine Lüge, wie Carpenter betont.

Er führt die völkerrechtswidrigen Kriege und Angriffe der NATO in Ex-Jugoslawien 1995, gegen Serbien 1999, in Afghanistan und dem Irak nach 9/11, in Libyen 2011 an. Genauso völkerrechtswidrig die aktuell Putin und Russland agieren, agierte die NATO in den letzten Jahrzehnten auch:

Eine deutsche Frau, deren Großvater nach ihrer eigenen Erzählung im April 1945 mit der Nazi-Wehrmacht gegen die Rote Armee kämpfte und somit vermutlich Russen tötete und Hitler zum Sieg verhelfen wollte, spricht Bände, wenn sie wiederum Russland „ruinieren“ möchte:

Verschiedene psychologische Reaktionsweisen kann man hier analysieren. Handelt es sich bei Baerbock um einen „Wiederholungszwang“? Oder um eine „Projektion“?

In einem aktuellen Text auf den NachDenkSeiten (NDS), die ich ja schon oft und mit triftigen Gründen kritisiert habe, der viel vulgärmarxistische Phrasen drischt, aber auch etwas Freud anwendet und insofern durchaus Nachdenkenswertes andenkt, steht:

Wenn ich sehe, wie mit Schaum vor dem Mund Russland und sein Präsident verbal immer weiter in die Nähe von Hitlerdeutschland geredet werden, dann ist das meines Erachtens nichts anderes als eine Projektion, um die Verdrängung der eigenen Geschichte nicht wahrnehmen zu müssen! Man leugnet etwas bei sich selbst und unterstellt es dem Gegenüber. Das entlastet.

Der Text verkennt zwar die Bedeutung Hitlers für den Nationalsozialismus, ja lehnt den Begriff „Nationalsozialismus“ in typisch vulgär-marxistischer Weise ab und macht auch Max Horkheimer keinen Gefallen, indem er mit seinem verkürzten Zitat über die enge Beziehung von Kapitalismus und Faschismus herum wedelt, hat aber doch den einen oder anderen interessanten Gedanken:

Projektion ist nicht die einzige mögliche Reaktion auf die Abspaltung und Verdrängung der deutschen Geschichte. Ein anderer psychischer Mechanismus ist der Wiederholungszwang: Alles, was nicht integriert wurde, wird so lange wiederholt, bis es bewusst begriffen und integriert worden ist. So wundert es nicht, dass seit Corona der Totalitarismus in neuem Gewande aufersteht und Deutschland dabei den Scharfmacher in Europa gibt. Im Zuge dessen ähnelt die deutsche Gesellschaft immer mehr dem, was sie Russland vorwirft: Untertanengeist und Blockwartmentalität blühen, der Meinungskorridor verengt sich zunehmend, alternative Medien werden diffamiert oder verboten und die Ideologie einzelner Interessenvertreter bestimmen in offenbarungsreligiöser Weise die öffentliche Meinung, wogegen der rationale Diskurs der Meinungsvielfalt weitgehend unterdrückt wird. Die Gesellschaft wird holzschnittartig in Gut und Böse unterteilt und die Politik wird immer undemokratischer. Das Land wurde in den letzten Jahre hauptsächlich von einer Einzelperson dominiert, die ähnlich lange an der Macht war wie Wladimir Putin, und niemand kann garantieren, dass es unter Olaf Scholz anders wird.

Der Journalist Peter Nowak hat 2018 die Ukraine-Russland Krise und die deutsche Haltung am Beispiel eines typischen deutschen Politikers kritisiert:

Über eine grassierende Geschichtsvergessenheit bei der Debatte über Russland in Deutschland

„Jetzt reicht es aber. Verlassen Sie den Donbaz“, herrschte der CDU-Politiker Elmar Brok seinen Diskussionspartner Dmitri Tultschinski an. Der ehemalige Leiter des russischen Senders Rossiya Sevodnya in Berlin sollte mit Brok und der Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien, Gwendolyn Sasse, im Deutschlandradio die Frage „Steht Putins Russland zu Recht am Pranger?“ diskutieren.

Am Pranger stand aber schnell der „Putinversteher“ Tultschinski, dem zwei Diskussionspartner gegenüberstanden, die den sogenannten Westen vertraten, die in Russland die Gefahr sehen, die gestoppt werden muss. Dass Brok da manchmal eher wie ein General wirkte, der gegen die Russen den Krieg doch noch gewinnen will, war eine besonders unangenehme Begleiterscheinung. Die wird aber kaum noch diskutiert. Die deutschen Verbrechen an Bürgern der Sowjetunion und Russlands werden heute nicht mehr erwähnt.

Ganz offenkundig baut der aktuelle Russenhass auf eine sehr lange und tiefe Tradition in Deutschland auf. Während Russland in den letzten 200 Jahren nicht einmal Deutschland angegriffen hat, aber teils sehr positive intensive Beziehungen pflegte, haben die Deutschen Russland allein im 20. Jahrhundert zweimal angegriffen und im Zweiten Weltkrieg 27 Millionen Sowjets getötet.

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Wie willkürlich die deutsche Politik ist, zeigen die aktuellen Demonstrationen gegen Russland bzw. für die Ukraine. Da dürfen Zehntausende auch ohne Abstand und Maske herumlaufen, während schon ein paar Spaziergänger*innen an einem Montag die Bullen zum Glühen bringen. Dass Russland keine freie Meinungsäußerung zulässt, ist schrecklich, wir kennen das antiliberale, antidemokratische Regime in Moskau. Doch wer spricht vom seit acht Jahren dauernden Krieg im Donbas und den Gewalttaten der ukrainischen Regierung und den mit ihr verbundenen Milizen?

Wer spricht von der antirussischen politischen Kultur und Politik in der Ukraine seit dem gewaltsamen Sturz der Regierung 2014, die vom CIA ganz offen unterstützt wurde? Schließlich jedoch ergänzen sich Putin und zumal die Deutschen wieder in ihrer unfassbaren Panik vor Corona. Wer spricht von der objektiven Gefahr der NATO-Osterweiterung für Russland? Wo bleibt eine emanzipatorische Kritik am Antidemokraten, Nationalisten und Großmachtträume hegenden Putin und die Kritik an der nationalistischen, antisemitischen, neo-nazistischen Gegenwart in der Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit 1991?

Es marschieren in der Ukraine seit Jahren Neo-Nazis auf, wie z.B. in der jetzt heftig umkämpften Stadt Mariupol die Azow-Brigaden bzw. das Azow-Regimente, das regulärer Teil der ukrainischen Armee ist. Da sind viele Neonazis mit dabei, die mit Hakenkreuzfahnen für sich werben, gegen Roma oder Russen Pogrome veranstalten und auch brutal antiliberal, antifeministisch und patriarchal auftreten. Wo bleibt da die Kritik unserer ach-so-westlich-weltoffenen Medien? Wie sieht es mit der nationalistischen Sprachpolitik, die sich gegen das weit verbreitete Russisch wendet, in der Ukraine aus?

Wie sieht es mit dem Antifeminismus in Russland aus, wo eine aggressive Kampagne für mehr Kinder von Putin seit Jahren läuft und die Unabhängigkeit von Frauen torpediert wird? Wo sind die Berichte über die täglichen Angriffe auf die russische Bevölkerung im Donbass seit 2014, und zwar militärische wie politische und sozialpolitische Angriffe – Menschen bekommen nur Sozialleistungen auf ukrainischem Gebiet, jenseits des Donbas, und da hinzukommen ist ein Spießrutenlauf, da rechtsextreme Banden wie die Azow-Brigaden diese Gegend kontrollieren, siehe auch Mariupol.

Wie sieht es mit der Meinungsfreiheit in Kiew aussieht, sagen wir für russische Anti-Putin Leute, die sowohl gegen den Krieg als auch gegen Selenskyi und seine Unterstützung von Neo-Nazis sind? Doch wie schon bei Corona und der Impfpflicht werden in den Massenmedien kaum kritische Stimmen vernommen, Zeitungen wie Die Welt bringen zwar dissidente Positionen, die aber kaum mehr als Alibicharakter haben und die extreme antirussische Hetze der Bild-Zeitung nicht verdecken können.

Es gibt viele wissenschaftliche Artikel zur Gedenkpolitik, zu Rechtsextremismus und Antisemitismus in der Ukraine. Die Politikwissenschaftlerin und Slavistin Laura Schultz hat 2017 eine Aufsatz zur Kritik rechter Tendenzen in der Ukraine publiziert (S. 183-197).

Schultz geht gleich zu Beginn auf die typische Reaktion im Westen ein, wenn das Thema Rechtsextremismus auf den Tisch kommt. Da wird abgewiegelt, entwirklicht und geleugnet, was für eine tiefe politisch kulturelle Bedeutung der Rechtsruck hat und wie stark der Einfluss der Neonazis auf dem Maidan tatsächlich war. Eine Gruppe von anti-linken oder die Rechten verharmlosenden Forscher*innen hat auf der Seite der Heinrich-Böll-Stiftung eine solche Warnung an linke Kritiker*innen der Nazis im Jahr 2014 publiziert, weil diese Kritik nur Putin Vorschub leisten würde. Exakt das erleben wir auch heute. 2014 hießt es:

Obwohl wir den rechten Aktivitäten auf dem Euromaidan kritisch gegenüberstehen, sind wir besorgt über eine unerfreuliche Erscheinung in zu vielen internationalen Medienberichten über die jüngsten Ereignisse in der Ukraine. In etlichen Reportagen und Kommentaren wird in der einen oder anderen Weise die Rolle, der Stellenwert und der Einfluss ukrainischer Rechtsradikaler in Kiew überbewertet bzw. fehlinterpretiert. Einigen Berichten zufolge wird die ukrainische proeuropäische Bewegung von ultranationalistischen Fanatikern unterwandert, getragen oder gar übernommen. Bestimmte Kommentare erwecken den irreführenden Eindruck, dass die ukrainischen Proteste von derartigen Kräften erzeugt wurden oder gesteuert werden.

Zwei der Unterzeichner sind die Historiker Andreas Umland und Timothy Snyder. Snyder ist ein typischer Vertreter der den Holocaust verharmlosenden Rot=Braun These. Sein zumal in Deutschland preisgekrönter Bestseller „Bloodlands“ ist eine Art Bibel für Rechtsextreme im Osteuropa und hat mit seriöser Holocaustforschung wenig zu tun. Ich habe mich ausführlich mit dieser Schrift beschäftigt, unter anderem in dem Kapitel „Ernst Nolte’s ‘grandson?’ – Timothy Snyder“ in meiner Studie „Antisemitism: A Specific Phenomenon“ von 2013 (S. 313-372).

2017 schrieb ich („Die Heinrich-Böll-Stiftung hat ein Antisemitismus-Problem“) über Snyder:

2013 bekam der Holocaustverharmloser Timothy Snyder, ein enger Freund Judts, ebenfalls den Arendt-Preis, den die Stiftung zusammen mit dem Senat der Hansestadt Bremen seit 1994 jährlich verleiht. Snyders Bestseller Bloodlands ist eines der ungeheuerlichsten antijüdischen Bücher überhaupt, er macht sich geradezu einen Spaß daraus, zu betonen, wie klein die Gruppe der deutschen Juden gewesen sei, die im Holocaust ermordet wurde. Snyder schrieb, dass die meisten deutschen Juden, die 1933 lebten, eines „natürlichen Todes“ gestorben seien – warum also die Aufregung wegen des 9. Novembers 1938, Bergen-Belsen, den Wäldern von Litauen, Babi Yar oder Auschwitz?

Snyder ging noch weiter und meinte, der Westen, vor allem Europa, hätte die westeuropäischen Juden, die nach Auschwitz deportiert und dort vergast wurden, deshalb erinnert, weil das die „bourgeoisen Juden“ gewesen seien (!). Die armen osteuropäischen Juden würden hingegen vergessen, was an Infamie schwerlich zu überbieten ist, denn wenn jemand die Juden als die Opfergruppe der Shoah vergisst und klein redet, dann ist es Timothy Snyder.

In seinem Buch Bloodlands fantasiert er von einem Territorium, das es als solches natürlich gar nicht gab, in dem 14,5 Millionen Menschen ermordet worden seien – von Stalin und dann von Hitler. Es geht für den Revisionisten Snyder mit Stalin und der Hungerkrise in der Ukraine 1932 los, Auschwitz ist für ihn viel später, kein Zivilisationsbruch und nur ein Puzzleteil im Morden der beiden Diktatoren, als die er Stalin und Hitler in dieser völlig veralteten Forschung, die der Great Man Theory des 19. Jahrhunderts anhängt, präsentiert.

Völlig konsistent mit dem linken Geschichtsrevisionismus war die Preisverleihung des Arendt-Preises an Joachim Gauck 1997, einem Vorläufer von Snyder.

In meiner Studie von 2013 zitierte ich auch einige andere scharfe Kritiker des Ansatzes von Timothy Snyder, wie den israelischen Holocausthistoriker Prof. Dan Michman, den Historiker am Institut für Zeitgeschichte in München Dr. Jürgen Zarusky oder den deutsch-israelischen Historiker Prof. Dan Diner. Diner hat seine Position gegen Snyder zugespitzt formuliert. Für Snyder, der auf aggressive und unwissenschaftliche Weise Stalin und Hitler analogisiert und einen völlig abstrusen, fiktiven Raum mit dem Namen „Bloodlands“ bezeichnet, der grob zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer sowie zwischen Ostpolen und der Ukraine liegt, entwirklicht vollkommen das Nie-Dagewesene und Spezifische von Auschwitz und dem eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen. Der Holocaust hat für Snyder nur als Teil dieser irrationalen Konstruktion von „Bloodlands“ Bedeutung, und die beginnen nicht zufällig 1932 mit der ukrainischen Hungersnot, die überhaupt gar nicht mit der gezielten Vernichtung eines ganzen Volkes auch nur im Ansatz verglichen werden kann. Diner schreibt:

Es bleibt dabei: Die Leiden eines an Hunger zugrunde gehenden ukrainischen Kindes unterscheidet sich keinen Deut von dem eines jüdischen Kindes im Getto oder angesichts der Gaskammer. Indes galt es nicht, alle Ukrainer als Ukrainer und überall zu Tode zu bringen. Zudem war der von Stalin zu verantwortende, wenn nicht gar willentlich herbeigeführte Hungertod in der Ukraine und nicht nur in der Ukraine, vielmehr im gesamten sowjetischen Schwarzerdebereich ebenso wie im Nordkaukasus, nicht wesentlich ethnisch begründet, sondern zog all jene ins Verderben, die ebendort ansässig waren – in der Ukraine vornehmlich ethnische Ukrainer, aber auch dort lebende Polen, Juden und Angehörige anderer Nationalitäten. Für Juden als Juden war der ihnen von den Nazis vorbehaltene Tod gleichwohl regelhaft, Überleben allein dem Zufall geschuldet. Diese und andere an diesen fundamentalen Umstand gemahnende Unterscheidungen sind Timothy Snyder selbstverständlich geläufig. Er lässt sie auch ständig und immer wieder in seinem Buch zu Worte kommen. Gleichwohl sind sie eher von salvatorischer Bedeutung, will heißen: Sie sind für die von ihm konstruierte Erzählung eigentlich folgenlos.

Lara Schultz geht in ihrem Bericht auf jene Erklärung auf der Seite der Böll-Stiftung ein und schreibt:

Auf dem Maidan versammelte sich, darauf legten auch ukrainische Berichterstatter*innen großen Wert, ein Querschnitt der Bevölkerung. Das heißt natürlich: auch Nazis. Von Anfang an fehlte in der Protestbewegung eine Abgrenzung und Distanzierung von der extremen Rechten. Eine enge Kooperation mit Neonazis wurde so normalisiert, mit der Folge, dass Nazis anschließend in wichtige politische Ämter kamen und eigene Bataillone aufstellten, um im Osten des Landes zu kämpfen. Dies zu äußern, so wurde der Autorin und anderen Journalist*innen vorgeworfen, sei Wasser auf die Mühlen Putins, der sowieso die gesamte Ukraine als ‚faschistisch‘ diffamiere. Nur deshalb nicht über die ukrainische Rechte zu berichten, wie es im Februar 2014 in einem prominenten offenen Brief von Sozial- und Geisteswissenschaftler*innen gefordert wurde [hier der Link zu Seite der Böll-Stiftung, CH], wäre dennoch falsch: Don’t shoot the messenger! (S. 184)

Sie attackiert den Slavisten und Politologen Andreas Umland, der mit Snyder und Dutzenden anderen diesen die rechte Gefahr verharmlosenden Brief bei der den Grünen nahestehenden Böll-Stiftung publizierte, da Umland schon damals Putin mit Hitler verglich und „Parallelen zum Nationalsozialismus“ herbei fantasierte (S. 185). Sie kritisiert weitere pro-westliche einseitige Schuldzuweisungen, aber auch einseitige anti-westliche Vorwürfe wie an Jörg Kronauer, der 2014 ein Buch über die Ukraine und den deutschen Einfluss bei diesem „Expansionsprojekt des Westens“ extrapoliert. (Ebd.)

Sie erwähnt, dass die Ukraine in ihrer heutigen Gestalt als Staatsgebilde erst seit 1991 existiert (S. 188), im Gegensatz zu den baltischen Staaten. Ein Großteil der Bevölkerung spricht Russisch, erst seit 1991 gilt Ukrainisch als Amtssprache (S. 187f.). Sie geht auf die Spaltung der 1929 gegründeten „Organisation Ukrainischer Nationalisten (Orhanizacija ukrains’kich nacionalistiv, OUN)“ im Jahr 1940 ein, fortan gab es die OUN-M (für Melnyk) und OUN-B (für Stepan Bandera).

Schultz geht auf die Erinnerungs- und Gedenkpolitik in der heutigen (Stand 2017) Ukraine ein. Und das ist bezeichnend, was man dort vorfindet:

Auf dem zentralen Platz des Lycakivs’kyi Friedhofes in L’viv (Westukraine) stehen meterhohe weiße Kreuze, die, durch Jahreszahlen kenntlich gemacht, an die Opfer des Holodomor erinnern. Daneben findet sich ein Gedenkstein für die ukrainische Armee (inklusive der 14. Waffen-Grenadier-Division, also der SS-Division Galizien), daneben Gräber von nach dem Krieg verstorbenen Mitgliedern der OUN-UPA. (S. 191)

Wenn heute überall Stepan Bandera, die OUN und die Ukrainische Aufständige Armee (Ukrajins’ka Povstans’ka Armija, UPA) (S. 192) als Helden gefeiert werden, muss man wissen, wofür die OUN stand (S. 192f.):

Jaroslav Stec’ko, Vize der OUN-B, ließ in seiner autobiografischen Schrift von 1941 keinen Zweifel am eliminatorischen Antisemitismus der OUN:

‚Moskau und die Juden sind die größten Feinde der Ukraine. Als Hauptfeind betrachte ich Moskau, welches die Ukraine mit Gewalt in Unfreiheit gehalten hat, nicht weniger beurteile ich die Juden als ein schädliches und feindliches Schicksal, die Moskau helfen, die Ukraine zu verknechten. Daher beharre ich auf dem Standpunkt einer Vernichtung der Juden und der zweckdienlichen Einführung deutscher Methoden der Extermination der Juden in der Ukraine, ihre Assimilation ausschließend‘ (Berkhoff/Carynnyk 199: 162). [Das ist ein wissenschaftlicher Artikel aus den Harvard Ukrainian Studies von 1999, CH]

2013/14 wurde Bandera zu einem Schlüsselsymbol der Proteste auf dem Maidan. (…) Diese Wertschätzung [Banderas, CH ] wurde nun auch gesetzlich verankert: Mit dem Gesetz über die rechtliche Stellung und die ehrende Erinnerung an die Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im zwanzigsten Jahrhundert, No. 314-VIII vom 9. April 2015 kann strafrechtlich belangt werden, wer Kritik an der wohlwollenden Einschätzung der OUN-UPA äußert. Kontroversen sind somit ausgeschlossen.

So wie überall in Europa, von Finnland über Schweden, Dänemark, Deutschland, England, Frankreich, Holland, Ungarn, Österreich gibt es eben auch in der Ukraine extrem rechte Tendenzen, die immer mehr im Mainstream andocken. Sicher gibt es nicht überall so viele Neonazis in der Regierung wie in der Ukraine in den letzten Jahren (der Artikel ist wie gesagt von 2017). Aber die großen Linien der politischen Kultur sind klar: Es geht seit 1991 in der Ukraine um einen sehr starken Nationalmythos, um Nationalismus und eine Abwehr der Erinnerung an die Verbrechen Banderas und der OUN/UPA, die Tausende Juden und Zehntausende Polen ermordeten.

***

Was heißt das? Wir müssen der Diplomatie eine Chance geben, sie ist die einzige, die wir haben. Russland muss den Krieg beenden, aber das wird nur mit einem Kompromiss gehen, die Ukraine muss klare Zugeständnisse machen, primär eine Abkehr von einer NATO-Mitgliedschaft. Was würden die USA tun, wenn ein neues Militärbündnis in Mittelamerika, bestehend z.B. aus Mexiko, El Salvador und Nikaragua als neues Mitglied plötzlich Kanada einladen möchte und dort regelmäßig Kampfübungen mit Zehntausenden Soldaten unweit von Toronto abhalten würde? Diesen Gedanken hat der oben zitierte Diplomatiehistoriker, der Putins Krieg scharf verurteilt, ihn aber kontextualisiert:

One can readily imagine how Americans would react if Russia, China, India, or another peer competitor admitted countries from Central America and the Caribbean to a security alliance that it led—and then sought to add Canada as an official or de facto military ally. It is highly probable that the United States would have responded by going to war years ago. Yet even though Ukraine has an importance to Russia comparable to Canada’s importance to the United States, our leaders expected Moscow to respond passively to the growing encroachment.

They have been proven disastrously wrong, and thanks to their ineptitude, the world is now a far more dangerous place.

Wenn jetzt selbst in der Ukraine linke Gesellschaftskritiker mehr Waffen vom Westen fordern, aber nicht etwa – was viel naheliegender wäre – für einen Gebärstreik plädieren, dann zeigt sich, dass in Russland, wo der Protest gegen den Krieg offenbar schwach ist, aber auch mit Gefängnis bedroht wird, wie in der Ukraine vorwiegend junge Männer als Kanonenfutter in den Krieg geschickt werden. Es gibt keine patriarchalere Institution wie eine Armee, Befehl, Gehorsam, Männerbund und Gewalt, inklusive sexueller Gewalt auf allen Seiten, sind die schrecklichen Konsequenzen. Diese jetzt auch noch mit mehr Waffen für die Ukraine zu verlängern oder aber in Deutschland die Bundeswehr so stark aufzurüsten wie noch nie seit ihrem Bestehen, das zeigt, wie ähnlich sich die Politiker*innen weltweit doch sind.

Der Rechtsruck aber, die Liebe zu „Heimat“ und Nation, ‚Sommermärchen‘ 2006, die AfD, Pegida, die Liebe zum Eigenen und der Hass auf Andere ist seit Jahrzehnten auch in der Ukraine angekommen, nachdem sie 1991 als neuer Staat in seiner heutigen Form entstand. Die Stadt Dniproperovs’k hörte sich zu sowjetisch an und wurde im Mai 2015 umbenannt in Dnipro. (Schultz 2017, S. 194) So lief es ja auch mit Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), während Straßen und Plätze in der BRD weiter fröhlich nach Hindenburg, Bismarck oder Richard-Wagner benannt sind. Honni soit qui mal y pense.

Der geradezu idiosynkratische Hass auf alles Russische ist schockierend. Da scheint etwas ganz tief im deutschen Unbewussten angetriggert zu werden. Massenmorde in Ruanda und anderen Teilen Afrikas oder ganz aktuell im Yemen, das von den Saudis zerbombt wird und einen Stellvertreterkrieg mit dem Iran erlebt, all das interessiert so gut wie kein Schwein. Da geht es nicht um blonde Frauen, die Opfer eines Krieges werden, sondern um Nicht-Weiße. Vor allem aber ist da jeweils „der“ Russe nicht involviert. Nicht mal die Amerikaner und Trump hatten es geschafft, eine solche Ablehnung an allem Amerikanischen zu stiften und das will was heißen beim so ubiquitären Antiamerikanismus in diesem Land. Auch Israel hat es nicht geschafft, so uneingeschränkt und total abgelehnt zu werden wie aktuell Russland und alle Russen weltweit.

Dieser Russenhass muss sofort aufhören. Russen und die Sowjetunion haben Europa von den Deutschen und Nazis befreit. Und es ist eine unerträgliche Ironie der Geschichte, ein Wiederholungszwang offenbar, dass gerade das Land, dessen Nationalisten so eng mit den Nazis, der SS und der Wehrmacht kooperierten, die Ukraine, Bandera, die OUN und UPA heute Nationalhelden in der Ukraine sind und die Deutschen dieses Land unterstützen wie sie noch nie etwas unterstützt haben seit 1945.

Selbst ungeimpfte Ukrainer*innen dürfen ungetestet Zug fahren und werden dafür bejubel, auf Demos für die Ukraine gelten plötzlich keine Abstandsregeln mehr und keine Maskenpflicht. Es ist ja für eine gute Sache und diese Seuche Corona ist irgendwie doch nur dann besonders schlimm, wenn es um Demonstrationen von Kritiker*innen der verfassungsfeindlichen, irrationalen, unwissenschaftlichen und antidemokratischen Coronapolitik geht.

Aber während eine Kritik an Russland auf allen Ebenen erwünscht, ja eingefordert wird von der stramm geschlossenen Volksgemeinschaft der Friedensfreunde, die jetzt 100 Milliarden extra locker machen für die Zukunft der Friedens-Bundeswehr, die nur mit Konfetti und Broschüren mit Kants „Ewigem Frieden“ schießt, ist die so not-wendige Kritik am Nationalismus, an der Erinnerungsabwehr an die Shoah und die Beteiligung von Bandera, der OUN und UPA am Holocaust verpönt.

Seit Jahren wird der Kriegshaushalt in Deutschland erhöht und hat jetzt mit dem Wahnsinns-100-Milliarden-„Sondervermögen“ von Scholz den Gipfel dessen erreicht, was wir „autoritäre Demokratie“ nennen könnten, wie der Freitag in Analogie zum SPD-Verhalten bei den Kriegskrediten 1914 schreibt.

Dieser Autoritarismus, Nationalismus und eine politische Kultur der Stolzdeutschen sind ein längerer Prozess, der nicht erst mit 1989 begann, aber natürlich durch den Mauerfall unglaublichen Auftrieb erhielt. Hunderte Morde an Migrant*innen, Walsers Paulskirchenrede gegen die Erinnerung an Auschwitz, seine Einladung ins Bundeskanzleramt zu Schröder am 8. Mai 2002, das „Sommermärchen“ mit Jürgen Klinsmann 2006, der schwarz-rot-goldene Rausch 2014 mit seinem anti-argentinischen Rassismus („so laufen die Deutschen…“) am Brandenburger Tor hin zur rassistischen Pegida-Bewegung, dem Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag 2017 hat jetzt seit der Coronapolitik und dem Ukraine-Krieg seine volksgemeinschaftliche Vollendung gefunden.

Schauen wir abschließend nochmal, wer so in der Politik in der Ukraine in den letzten Jahren mitmischte und was das für die dortige politische Kultur bedeutet, auch sprachlich. Laura Schultz schreibt:

Dass Nazis und extreme Rechte, die sich auf dem Maidan profiliert hatten, später mit politischen Ämtern bedacht würden, war abzusehen. So war es dann auch im Kabinett Jacenjuk I: Der stellvertretende Ministerpräsident Oleksandr Sic, Verteidigungsminister Ihor Tenjuch, Umweltminister Andrij Mochnik und Landwirtschaftsminister Ihor Svajka hatten damals alle ein Svoboda-Parteibuch. [Fußnote der Autorin: „Die ‚Allukrainische Vereinigung Svoboda‘ (dt. Freiheit) ist eine extrem rechte und nationalistische Partei unter dem Vorsitz von Oleh Tjanybok. 1991 wurde sie unter dem Namen ‚Sozial-nationale Partei der Ukraine‘ gegründet“] Auch Generalstaatsanwalt Oleh Machnickij war Mitglied der Partei Svoboda. Bildungsminister Serhij Kvit wurden Sympathien für den Rechten Sektor nachgesagt. Dmytro Bulatov, Minister für Jugend und Sport, war Mitglied der neonazistischen Ukrainischen Selbstverteidigung UNA-UNSO, ebenso Tetjana Cornovol, damalige Vorsitzende der nationalen Anti-Korruptions-Kommission. Der damalige Chef des Rats für die nationale Sicherheit und Verteidigung, Andrij Parubij, war Mitbegründer der Svoboda Vorgängerpartei, der Sozial-nationalen Partei der Ukraine. Und Dmytro Jaros, ehemaliger Majdan-Kommandant, ‚Führer‘ der neonazistischen Organisation Dreizack und Rechter Sektor, war Parubijs Stellvertreter im Rat. Dieser Erfolg von faschistischen Gruppen und eine derart hohe Regierungsbeteiligung von extremen Rechten war in europäischem Maßstab einmalig. Derzeit ist beispielsweise Andrij Parubij Parlamentspräsident, während der ehemalige Kommandant des Azov-Bataillons Vadym Trojan Polizeichef in Kiew ist. (S. 194)

All das rechtfertigt keine Sekunde einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands – aber es zeigt, mit was für einem Land wir es mit der Ukraine zu tun haben. Schultz schreibt:

Die Majdan-Revolution war unter anderem Ausdruck einer nationalen antirussischen Identität. Der ukrainische Dreizack, Blumenkränze im Haar, reich bestickte Blusen und Hemden waren Symbole, die auch die Fernsehaufnahmen prägten. Dass sich Teile des Majdans positiv auf den ja nach Sichtweise Freiheitskämpfer oder NS-Kollaborateur zu bezeichnenden Bandera beriefen, dass der OUN-Schlachtruf ‚Ruhm der Ukraine – den Helden Ruhm!‘ und die Beteiligung von organisierten Neonazis auf dem Majdan gängig waren, war Wasser auf die Mühlen Russlands, dessen Propaganda auf dem Majdan eine neue faschistische Junta sah oder eine direkte Parallele zur historischen, mit Nazis kollabierenden OUN ziehen konnte. (S. 195)

Ironischerweise beendet sie ihren instruktiven Artikel, indem sie betont, dass es doch ironisch oder „zynisch“ ist, dass die Ukraine insofern tatsächlich sich nach Europa orientiert, weil wir in Europa doch seit Jahren einen starken Rechtsruck haben.

Wie beendete der ukrainische Präsident und vormalige Fernseh-Clown Selenskij seine Rede vor der Münchener Sicherheitskonferenz – das war einige Tage vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine:

Ruhm der Ukraine.

Wir aber sollten uns mit der jahrzehntelangen Erinnerungsabwehr in Deutschland beschäftigen, mit der mehr oder weniger offenen, mehr oder weniger schamlosen Bezugnahme auf ‚unsere‘ Großväter und Urgroßväter wird heute wieder gefordert, „Russland zu ruinieren“.

In einem aktuellen Radiokommentar für das freie Radio Flora aus Hannover kritisiert der Historiker Hubert Brieden die „Kriegsrhetorik“ und „Karrieregeilheit“ von Scholz, Merz oder Habeck. Er setzt dann etwas vorschnell beide Weltkriege im 20. Jahrhundert unter die Rubrik „Einflusssphäre“, also intoniert die kapitalistisch-imperialistische Dimension, was beim Nationalsozialismus scheitert, Auschwitz hatte keinen Grund, kein Ziel, war kein Interesse des Kapitals. Es ging um die Vernichtung der Juden um der Vernichtung willen, wie ich in Bezug auf die internationale Forschung in meinem zitierten Band „Antisemitism: A Specific Phenomenon“ quellenbasiert zeigte.

Aber Brieden resümiert in einem autobiografischen Rückblick auf seinen Vater, der als Wehrmachtssoldat in der Ukraine war, und meint damit auch die aktuelle Bundesregierung:

Der Hauptfeind steht im eigenen Land.

Hoffnung auf mehr „Staatsverdrossenheit“, auf einen Zahnarzt aus Rosenheim, garniert mit maskenfreiem Einkaufsvideo aus Schweden, dazu etwas „Möhre“ und „Echse“ als Kontrast zur Augsburger Puppenkiste

Von Dr. phil. Clemens Heni, 28. April 2021

In einem zentralen Artikel des Politologen Karl Rohe von 1987 geht es um das Spannungsverhältnis von Soziokultur und politischer Kultur der Interpretation.*

Das ist ein sehr interessantes Konzept, das grob gesprochen Folgendes meint: Es gibt in einer Gesellschaft politische Kämpfe um die Deutungshoheit. Sobald ein Thema oder ein Topos sich – auf welche Weise auch immer – durchgesetzt hat und Teil unseres Alltags geworden ist, wurde aus der „politischen Kultur der Interpretation“ die politische Kultur der „Soziokultur“.

Die Ökologie ist so ein Thema. 1972 beim ersten Bericht des Club of Rome haben die Industriegesellschaften (ob nun westlich-kapitalistisch oder östlich-staatssozialistisch) ökologische Themen kaum als relevant erachtet. Auch 1992 nach dem vorgeblichen „Ende der Geschichte“ und dem weltweiten Einheitskapitalismus bei der großen Umwelt-Konferenz in Rio war das noch nicht wirklich anders, trotz Tschernobyl, Bophal etc. Aber seither wurde das Thema Ökologie völlig mainstreamig. Heute ist noch jede Automobilindustrie, jede KohlebaggerGewerkschaft und jede Rüstungsfirma vorgeblich ökologisch und „klimaneutral“ orientiert.

Ein anderes Thema wären schwarzrotgoldene Unterhosen oder Dessous. Früher hätte dabei jeder an NPD-Ortsgruppenleiter und deren Evas gedacht, seit 2006 („Sommermärchen“) ist das kein Skandal mehr. Die deutsche Fahne ist so weit verbreitet, auf Milchtüten, Armbändchen und Schlüsselanhängern alternder SPD-Professoren und natürlich seit 2013 bei der AfD, schwarzrotgold wurde seit 1989 schrittweise von der politischen Kultur der Interpretation zur Soziokultur.

Ich habe den schwarzrotgoldenen Taumel im Juli 2006 als das nationale Apriori untersucht:

Schon seit Anfang der 1950er Jahre Adorno seine empirische Reise zu den post-nazistischen Deutschen unternommen hat – Schuld und Abwehr – ist bekannt, dass es keineswegs bei den (West)Deutschen nur um Holocaustleugnung geht. Gerade auch die Annahme der Schuld (“Wir Deutschen…” oder “Das macht uns so schnell keiner nach…”) an der Vernichtung der europäischen Juden war möglich, indem Beethoven, Kleist, Luther und Fontane, Sekundärtugenden, C.D. Friedrich und Verwandtes beschworen wurden. Später, in den 1980er Jahren, sagte der erste Vorsitzende der Republikaner, Franz Schönhuber, dass “Deutschland der Welt viel mehr geschenkt” habe, “als Auschwitz je kaputtmachen könnte”.

Was wir jetzt erleben, Ende April 2021, ist auch ein Wandel der politischen Kultur. Die politische Kultur der Interpretation, also die ‚Deutungsangebote‘ im öffentlichen Raum, transformiert sich zu einer Form der Soziokultur. Das könnte man an dem Wort „Krise“ zeigen. Es wird zunehmend von der „Demokratie-Krise“ oder der „Maßnahmen-Krise“ gesprochen und bei dem Wort „Krise“ nicht mehr primär an ein Virus gedacht, das mittlerweile gut erkennbar für fast alle, kaum jemanden trifft und selbst wer es bekommt, ist mal paar Tage schlapp, aber stirbt nicht. Corona kann gefährlich werden, wenn Sie sehr alt oder sehr vorerkrankt sind, wäre Corona eine echte Seuche, würden Sie diesen Text nicht einfach so lesen können, sondern die Leichen vor Ihrer Türe beseitigen müssen.

Das zeigt den wirklichen Fanatismus jener, die das Narrativ der Coronakrise seit März 2020 bestimmen: Die Regierungspolitik und die ihr hörigen Mainstreammedien.

Durch #allesdichtmachen sind diese Medien jetzt so blamiert wie nie zuvor. Die besten, die beliebtesten und bekanntesten Schauspieler*innen halten der zynischen Coronapolitik und den Medien den Spiegel vor – und der Mainstream dreht durch wie nicht mal 1977 oder 1968. Diese Schauspieler*innen sind enorm mutig, weil sie damit ja auch ihren Kolleg*innen zeigen, was sie denken und was an rationaler, evidenz basierter und demokratischer, zutiefst menschlicher, philosophisch-metaphysischer, psychologischer und kultureller Kritik an der Coronapolitik und an unserem Alltag alles möglich ist. Was für eine Blamage für all jene Tausenden TV-Darsteller*innen, die da nicht mit dabei sind!

Die Bündnisse, die sich jetzt auftun, sind so vielfältig wie selten zuvor – einige der bekanntesten und beliebtesten Schauspieler*innen des Landes, der Kabarettist Mathias Richling, die damals noch vereinzelte Kritik an der Coronapolitik wie von NENA nach der Demo in Kassel, konservative Familienunternehmer, liberale Geschäfteinhaberinnen, große Brauereien, Autohändler, Gaststätten und Hotelbesitzer*innen, die zuvor niemals politisch aktiv geworden wären – all diese ganz unterschiedlichen Menschen werden jetzt aktiv.

Damit ändert sich auch peu à peu die politische Kultur. Das Deutungsangebot der mehr oder weniger radikalen Gesellschaftskritiker*innen seit März 2020 an der Coronapolitik, also die politische Kultur der Interpretation setzt sich am Grund ab, sedimentiert sozusagen und wird zur Soziokultur.

Dass diese Verteidigung der Grundrechte von der wirklich völlig marginalen Position von März und April 2020, also von der politischen Kultur der Interpretation zur mainstreamigen Soziokultur geronnen ist, zeigt sich ganz deutlich in dem genialen Video der Schauspielerin Tina Maria Aigner, die veranschaulicht, dass unsere „Grundrechte“ eben von einem „Grund“ abhängen, der „Inzidenz, dem R-Wert“ und so weiter (wer zufällig seit März 2020 nicht auf diesem Planeten sich aufhielt und jüngst zurückkehrte, wird diese Worte nicht kennen):

In weiten Kreisen des Rosenheimer Einzelhandels regt sich jetzt auch Widerstand, von Leuten, von denen man das bis März 2020 niemals erwartet hätte – CSU-Wähler, SPD-Unterstützer*innen, vermutlich auch Freie Wähler, Grüne, Linke – Tausende Firmen stellen sich ganz offen und aktiv gegen die „Maßnahmen“. Das zeigt den Wandel der politischen Kultur.

Schauen Sie sich zum Beispiel dieses Video des Zahnarztes Dr. Georg Kustermann aus Rosenheim an:

Wir haben keine Coronakrise, sondern eine Maßnahmen-Krise –

der Titel bringt es exakt auf den demokratischen Punkt.

Dieser Arzt ist seit 28 Jahren in eigener Praxis Zahnarzt, ist einer von 241.000 Vollzeitbeschäftigten bundesweit in der Zahnheilkunde in Deutschland, die in der Berufsgenossenschaft gemeldet sind. Von diesen haben seit März 2020 nur 85 Personen einen positiven Test auf SARS-CoV-2 bekommen, wie er betont – 85 Leute. Das sind 0,03 Prozent aller Beschäftigten in der krassesten aller Aerosol-Industrie-Zweige:  Zahnarztpraxen. Keine Panik nirgendwo bei Zahnärzten. Er selbst hat in seiner Praxis seit März 2020 ca. 7500 Patientinnen und Patienten behandelt – und es passierte in dieser Mega-Seuchen-Zeit einfach nichts, niemand starb oder wurde schwer krank oder überhaupt krank. Wie wir wissen, haben Aerosole Panik vor Rolltreppen (und somit auch vor Kaufhäusern), aber nur selten kann man direkt mit der Rolltreppe in die Zahnarztpraxis fahren, was es also den Aerosolen so leicht macht, in die Münder der Patient*innen in Zahnarztpraxen zu hüpfen – und: Es passiert buchstäblich nichts. Niemand wird krank oder stirbt beim Zahnarzt wegen Corona.

Wie Sie sich vorstellen können, behandeln die meisten Zahnärzte nur Patientinnen und Patienten, die keine Maske tragen. So eine Behandlung kann locker eine Stunde dauern, mitunter auch länger. Da sich diese Viren im Rachenraum aufhalten, sind die Zahnärzte nicht nur in der Corona-Krise irgendwie „dabei“, sondern „mittendrin“, wie Kustermann ironisch betont.

Auch als Zahnarzt bekommt er täglich die Klagen der Patient*innen, die einfach am Ende sind mit den Nerven.

Es gibt keinerlei medizinische Krise, da können Intensivmediziner heulen und schwätzen, wie sie wollen – es gab schon immer volle ICUs, 2018 und immer wieder. Dass es dort stressig ist, liegt zu 100 Prozent am kapitalistischen Gesundheitssystem, das auf Profit ausgerichtet ist. Das Problem heißt Jens Spahn (CDU), zuvor Ulla Schmidt (SPD), das Problem heißt Fallpauschale, Kosten-Nutzen-Rechnung und so weiter. Ivan Illich könnte noch viele weitere Aspekte hinzufügen, ich vermisste sein Wissen nie so sehr wie seit 2020.

Der Zahnarzt Dr. Georg Kustermann ist Teil einer größeren Initiative aus Bayern und Rosenheim – wir stehen zusammen -, da sind wirklich ganz unterschiedliche Leute mit dabei, die sicher großteils gar keine Radikalinkis sind, dafür teilweise sogar Franz-Josef Strauß Anhänger, manche haben so urkomische bayerische Kleidungsstücke am Körper dran pappen, aber egal. Es sind alte und junge Unternehmer aller Couleur, sie eint die Kritik am Corona-„Wahnsinn“, an „Merkel und Söder“. Der Donaukurier schreibt:

Eines der Gesichter hinter dem Projekt ist Florian Unterleitner. Er hat die Initiative ins Leben gerufen und arbeitet für die Kaffeerösterei Dinzler in Irschenberg (Kreis Miesbach) mit gut 200 Angestellten. „Wir haben mehrfach an Politik und Presse geschrieben. Immer mehr Firmen müssen um ihre Existenz bangen. Mitte Februar war der Moment gekommen, wo wir gesagt haben, der Punkt, an dem es nicht mehr geht, ist erreicht“, sagt er gegenüber unserer Reaktion.

(…)

Zu Beginn, so schildert Unterleitner weiter, standen rund 170 Unterstützer aus den Kreisen Miesbach und Rosenheim. „Wir wollten vor allem in unserem Einzugsgebiet etwas bewirken. Aber wir haben schnell überregional Zuspruch gefunden. “ Mittlerweile haben fast 2700 Unternehmen und Betriebe den Brief unterzeichnet und sich mit der Initiative solidarisiert. „Und man kann sehen, dass es nicht nur verzweifelte Einzelhändler und Gastronomen sind“, so der Initiator.

Ganz anders schaut es im Bayerischen Kultusministerium aus. Dieses hat ein Video der Augsburger Puppenkiste finanziert oder produzieren lassen, das bislang knapp 1,3 Millionen Kinder und Erwachsene gesehen haben, das so schamlos Propaganda macht für vorsätzliche Körperverletzung (testen bzw. selbsttesten) und so völlig offen zum Nicht-Nachdenken aufruft, ja Kinder indoktriniert, dass der Hamas im Gazastreifen oder alten Kämpfern hierzulande das Wasser im Munde zusammenlaufen dürfte:

Dr. Kasperls Coronatest-Anleitung.

Als Kritik daran gibt es ein Puppenkisten-Video der Echse, die sich entgegen der Bayerischen Staatsregierung für die Demokratie einsetzt:

Dr. Kasperl & Die Echse „Demokratietest-Anleitung“.

Das ist echte selbst durchdachte Kunst, das ist Freiheit der Kunst und das ist Ironie. Mit Ironie konnten die Deutschen noch nie etwas anfangen, was ja der unfassbare Shitstorm vom WDR über alle Medien bezüglich der besten und mutigsten und demokratischsten und witzigsten Schauspielerinnen und Schauspieler, die dieses Land immer noch hat – #allesdichtmachen -, zeigt.

Dazu hat auch die Möhre bissle was Lustiges zu sagen.

Jetzt wurden die privaten Räumlichkeiten eines Weimarer Amts- und Familienrichters durchsucht, weil er ein kritisches Urteil über Masken und Abstand und zur Coronapolitik gefällt hat. Ob er juristisch richtig liegt, werden im Zweifelsfall nicht Gerichte zeigen, sondern erst der Rückblick und die Urteile von Historiker*innen in Jahrzehnten, da aktuell offenbar mit keiner objektiven Gerichtsbarkeit zu rechnen ist, denn da, wo sie auftritt, die rationale Gerichtsbarkeit wie in Weimar oder Weilheim bei München, da tobt der Staat. Gewaltenteilung? Gewaltenteilung bei einem Bundesverfassungsgericht, dessen Präsident über 10 Jahre für die CDU im Bundestag saß, den also seine Kumpels zum Richter in Karlsruhe wählten? Der wird nie im Leben rational und seine alten CDU-Kumpel brüskierend, verfassungskonform urteilen, das jedenfalls ist die Befürchtung vieler demokratisch gesinnter Bürgerinnen und Bürger.

Das Allerbeste und Hoffnung verheißende hingegen ist ein ganz alltägliches Video aus Schweden, eine Affirmation der Konsumwelt, die uns doch in diesen Zeiten Freiheit verspricht – hätte ich jemals im Februar 2020 oder im Frühjahr 2002 gedacht, ein Video über eine alltägliche Einkaufssituation in Schweden zu posten?

Sweden, Stockholm Walks: Hötorgshallen/Haymarket, a food hall in the center of Stockholm.

Man wird mit diesen kurzen Video minutenlang durch eine Art Markthalle geführt, ähnlich wie viele Kaufhäuser hierzulande oft solche Lebensmittelstände und Essbereiche im Erd- oder Untergeschoss haben (Beispiel: Karstadt Hermannplatz Berlin-Kreuzberg, oder Kaufhof Stuttgart am Tagblattturm oder Kaufhof Essen, den es mal gab, so 1993, als wir von der lustigen Antifa den nicht weit entfernt stattfindenden Weihnachtsmarkt ‚besuchten‘ – Sie werden solche großen Markthallen auch in Ihrer Stadt oder Großstadt in Kaufhäusern oder Arkaden oder wo immer finden).

In diesem Video aus Schweden von April 2021 sind so gut wie alle Menschen ohne Maske und ohne Abstand unterwegs, fröhlich, entspannt, alltäglich – so etwas gibt es in Deutschland seit Ende März 2020 nicht mehr. Ähnliche Videos finden Sie aus Florida oder Texas, Georgia und so weiter, also in US-Bundesstaaten, wo es noch Verhältnismäßigkeit, Rationalität und Demokratie gibt.

Ja, viel mehr noch: Schweden hat aktuell, Stand 27. April 2021, viermal weniger C-Tote als Deutschland. Viermal weniger Tote – und das gerade ohne jeden Lockdown, mit offenen Schulen, offenen Restaurants, offenen Kinos und Theatern, offenen Läden aller Art, einfach ein fast normales Leben (nur Großkonzerte etc. gibt es noch nicht). Schweden wird für alle Zeiten der Beweis sein, dass ein europäisches Land demokratisch bleiben und die Würde des Menschen auch in Krisenzeiten bewahren kann.

Das ist ein unglaubliches Zeichen der Souveränität und Selbständigkeit, angewandte Public Health, rationales Handeln statt irrationaler Panik. Danke, Schweden.

Hier sind die Zahlen für Schweden im Vergleich zu Deutschland, was die Toten „an“ oder auch nur „mit“ Corona seit dem 10. Januar 2021 betrifft – das war der Höhepunkt der Todeszahlen in Deutschland.

7-Tages-Schnitt der Toten „an“ oder „mit“ Corona (da Schweden 8,3 Mal weniger Einwohner*innen hat als Deutschland, stehen in Klammern die hochgerechneten Todeszahlen, also die absolute Zahl in Schweden multipliziert mit 8,3):

10.1.21            1.2.21            1.3.21          27.4.21

GER             905                 713                  308            230

SWE            92 (763)         54 (448)     20 (166)     7 (58)

Man sieht, dass in Schweden seit Januar 2021 viel weniger Menschen „an“ oder „mit“ Corona sterben als in Deutschland. Ende April 2021 sind es vier Mal weniger Tote in Schweden als in Deutschland.

Der Verfassungsschutz hingegen ist jetzt total hilflos. Was macht man mit Franz Josef Strauß Anhängern (wie im Video aus Rosenheim), die de facto Seite an Seite mit unabhängigen Intellektuellen oder mit organisierten „freien Linken“ sowie BASIS-Aktivist*innen und links-liberalen Mainstream-Schauspiel-Superstars wie Ulrich Tukur, Nina Proll oder Jan Josef Liefers gemeinsame Sache machen gegen die irrationale, nicht evidenz basierte und völlig unverhältnismäßige Coronapolitik?

Das was heute aus wirklich allergrößter Hilflosigkeit vom VS als „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ bezeichnet wird, hieß früher „Staatsverdrossenheit“. Der Staat weiß, jedenfalls im Vieraugen-Gespräch oder beim schallenden Lachen im abhörsicheren Keller ganz genau: Merkel, der VS, Scholz und Spahn, Söder, Laschet und Baerbock haben verloren.

Es ist aus! Das Corona-Regime ist moralisch am Ende. Das merken Konservative, Liberale, Linke, Demokraten aller Couleur, Einzelhändler*innen, Restaurantbetreiber*innern, Sportstudiobetreiber und Theaterleute aller Art, das zeigen diese historischen und sensationellen 50 Videos von #allesdichtmachen.

Das war der Punkt, an dem die gut 12-monatige politische Kultur der Interpretation – pro und contra Corona-Maßnahmen – zur politischen Soziokultur nach Karl Rohe geworden ist, das also ist angewandte oder operationalisierte Politikwissenschaft:

Jetzt ist es Mainstream, mit Jan Josef Liefers sich ironisch bei Merkel und der Regierung zu bedanken.

Jetzt ist es Mainstream, sich bei Altmaier zu bedanken für die Zerstörung des Einzelhandels.

Jetzt ist es Mainstream, sich bei Grütters für das Ende der Kultur sarkastisch zu bedanken und

jetzt ist es Mainstream, sich mit Felix Klare an das Strammstehen der Kinder zu erinnern, wenn der Vater zur Türe hereinkam und das Einfordern einer Erziehung zu „Disziplin und Hygiene“.

Jetzt ist die Zeit der Kritik, die Zeit der Distanz, der Ironie, des Zusammenstehens gegen den Wahnsinn, jetzt ist die Zeit für radikale Kritik aller Art.

Die Coronapolitik-Kritik hat gewonnen – das wird Merkel nie zugeben, sie weiß es aber, sie hat verloren. Sie wollen das Land noch viele Monate gefangen halten, quälen, ja psychisch foltern, einsperren und zurechtweisen, aber sie haben verloren, die bedingungslose Kapitulation wird kommen. Schweden zeigt ja, dass es besser dasteht als Deutschland, Florida und Texas besser als New York oder New Jersey, Sie wissen das alles.

Diese 50 Videos und groß angelegte lokale Initiativen wie in Rosenheim – Rosenheim ist überall – zeigen, die politische Kultur hat sich gewandelt. Ohne all die vielen Tausenden, ja Hunderttausenden Demonstrant*innen und Blogger*innen, YouTuber*innen wäre das nicht denkbar gewesen, ohne hier jemals all die Spinner und teils gefährlichen antisemitischen Verschwörungstrottel, die am Rande immer auch mit dabei sind, zu ignorieren, ich hab ja ausführlich und detailliert regelmäßig über sie berichtet.

Aber die Kritik hat erreicht, dass wir niemals im gesamten öffentlichen Raum Masken tragen mussten, dass wir niemals eine Ausgangssperre auch tagsüber hatten (wie sie sicher nicht nur die Inkarnation des Rohrstocks der 1950er Jahre, Winfried Kretschmann aus dem Ländle, gerne gehabt hätte) – das war alles im Bereicht des totalitär Möglichen (schauen wir nach Italien, Israel, Frankreich, Spanien). Das war also schon seit Frühjahr 2020 ein Erfolg der vielfältigen Demonstrationen und auch der publizistischen Proteste von Jurist*innen, Historiker*innen und Sozial- und Geisteswissenschaftler*innen.

Jene Irrationalist*innen, die jetzt einen „Pflichtdienst“ auf Intensivstationen einfordern für die Kritiker*innen der irrationalen und medizinisch nicht evidenz basierten Coronapolitik, zeigen nicht nur ihre Fratze, sondern vor allem ihren autoritären und antidemokratischen Charakter. Wenn Deutschland aktuell überhaupt keine echte Krise hat auf Intensivstationen, was jeder seriöse Intensivmediziner bestätigen wird, da ja die absolute Zahl der Intensivpatienten seit einem Jahr fast exakt gleich bleibt – was dann?

Gäbe es eine echte Krise, müssten erstmal wenigstens 100 oder 76 der angeblichen 10.000 Notfallbetten Verwendung finden oder die immer noch freien ca. 3000  bereits mit Laken bezogenen ’normalen‘ ICU-Betten, doch das passiert nicht – warum also das panische und absurde, durchschaubare Rumgeschreie von den irrationalen Intensivmediziner*innen, die keineswegs für alle Intensivmediziner*innen sprechen?

Wie kann es eine Krise sein, wenn die Gesamtzahl aller Intensivpatient*innen seit über einem Jahr so gut wie gleich bleibt, nämlich bei 20.000 bzw. 21.000? Das hat der immer größer werdende denkende Teil der Bevölkerung entgegen den Mainstreammedien längst durchschaut.

Schweden hat zudem deutlich weniger Intensivbetten und trotzdem aktuell vier Mal weniger Tote als Deutschland. Auch das sagt viel aus über die völlige Unprofessionalität deutscher Krankenhausgesellschaften und führender deutscher Intensivmediziner*innen.

Niemand hat der Demokratie, dem Rechtsstaat und somit der Legitimität von Maßnahmen aller Art in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mehr Schaden zugefügt als Merkel, Scholz und alle 16 Landesregierungen, so gut wie alle Gerichte, Polizeibeamte (es gibt Ausnahmen, siehe jene berühmte Polizistin in Kassel!) und so gut wie alle Mainstreammedien und bestimmte Teile der Bevölkerung (die Reicheren, Etablierteren mit gesicherter staatlicher Alimentierung, Lehrer*innen (FAST alle, aber es gibt sehr rühmliche Ausnahmen), Professor*innen und Dozent*innen, städtische und staatliche Angestellte aller Art, Hartz4-Aufstocker alias ZDF-Heute-Show-Hilfssheriff etc.).

Daher abschließend bezüglich der jetzt beim VS mit Sorge betrachteten verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates ein Zitat des Philosophen und Psychologen Ulrich Sonnemann (1912-1993), das 1968 bei Suhrkamp publiziert wurde, als dieser bekannteste und renommierteste deutsche Verlag noch kritisch war und Teil der 68er Bewegung:

Wer es war in der Bundesrepublik, der Staatsverdrossenheit in Zirkulation setzte, blieb unermittelt, man hört es noch nicht lange, zunehmend seit ungefähr einem Jahr; die Handelnden führen das Wort im Mund, der Erbaulichkeitshandel, der ihre Apologien vertreibt, längst auf Lager. (…)

Die von jeher dünne, nun durchschlissene Rede vom Negativismus, die ihren Habitués sinkende Erträge bringt, schon bei aufgeweckten Schulkindern nicht recht zieht, ersetzt mit dem neuen Wort eine flotte, verstehende Väterlichkeit, die dem Regierungschef ähnlich sieht und dreierlei gleichzeitig kann:

sie subjektiviert Staatsverdrießlichkeit in eine Stimmung, Gemütsverfassung, also in etwas, das der Verdrossene sich selbst zuzuschreiben hat und das notfalls behandelbar ist;

sie läßt ihm die Hoffnung, durch Selbstzucht oder solche Behandlung doch noch staatsfreudig zu werden;

und sie ist pädagogisch so zart, ihre Eskalierung zur Staatsfeindlichkeit, diesem erinnerungsvollen Terminus unserer Nationalgeschichte, nur als Möglichkeit durchblicken zu lassen, bis zur Erschöpfung öffentlicher Langmut humanerweise nicht zu beinhalten: zur Irreführung der Studenten, da bei Wahrnehmung ihres Demonstrationsrechts die Eskalierung bereits jetzt sich vollzieht.

 

 

*Karl Rohe (1987): Politische Kultur und der kulturelle Aspekt von politischer Wirklichkeit, in: Dirk Berg-Schlosser/Jakob Schissler (Hg.) (1987): Politische Kultur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 18, S. 39–48.

 

Von Weimar nach Berlin – Antisemitismus vor Auschwitz und im Jahr 2012

Von Susanne Wein und Clemens Heni

 

Das Jahr 2012 ist so dicht an antisemitischen Ereignissen, dass ein vorgezogener Jahresrückblick lohnt. Das Jahr zeigt wie flexibel, vielfältig, codiert und offen sich Antisemitismus äußern kann. Drei Forschungsfelder seien hier knapp vorgestellt, um schließlich ein besonders markantes und schockierendes Beispiel von 2012 mit einem Fall aus dem Jahr 1925 zu vergleichen.

1)     Holocaustverharmlosung.

Im Januar wurde in Leipzig bekannt gegeben, dass der amerikanische Historiker Timothy Snyder den Leipziger Buchpreis 2012 erhalten wird.

Snyder hat 2010 das Buch Bloodlands publiziert, worin er leugnet, dass der Holocaust ein spezifisches Verbrechen war, ohne Vergleich in der Geschichte. Vielmehr konstruiert der „Genozid“-Forscher, der dem sog. spatial-turn folgt (eine Modeerscheinung der Kulturwissenschaft, die den Raum als zentrale Größe postuliert), einen Raum in Osteuropa zwischen dem Baltikum und der Ukraine, den er Bloodlands nennt und in dem zwischen 1932 (!) und 1945 ca. 14 Millionen Menschen starben bzw. ermordet wurden. Hitler und Stalin sind für ihn gleich schlimme historische Figuren. Snyder bemüht die veraltete Great Man Theory und hat keinen Blick für die sehr ausdifferenzierte Forschung zum Nationalsozialismus und zum Holocaust.

Vielmehr kooperiert er mit dem litauischen Staat und unterstützt eine dortige, weltweit in Misskredit geratene historische Kommission, die die Verbrechen von Hitler und Stalin wiederum gleichsetzt. Dramatisch ist, dass selbst die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und ihr wissenschaftliches Personal in Person der neuen Chefhistorikerin Dina Porat  mit dieser Kommission in Litauen kooperiert, was zu scharfen Protesten von Holocaustüberlebenden führte.

Kurz gesagt: Timothy Snyder ist ein geistiger Enkel Ernst Noltes, er möchte die Deutschen entschulden und die Präzedenzlosigkeit von Auschwitz verwischen oder leugnen. Historiker wie Omer Bartov (Brown University), Dan Michman (Yad Vashem) oder Jürgen Zarusky (Institut für Zeitgeschichte, München) haben Snyder dezidiert kritisiert. Der Jiddisch-Forscher Dovid Katz dokumentiert und analysiert seit Jahren den Antisemitismus in Osteuropa, insbesondere in Litauen, auch er hat sich intensiv mit Snyders Bloodlands befasst und zeigt, warum extrem rechte Kreise in Osteuropa Snyder feiern.

Die Wahl von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten im März 2012 verstärkt die Holocaustverharmlosung, da Gauck die „Prager Deklaration“ vom Juni 2008 unterzeichnet hat, die – ganz im Sinne von Snyder – rot und braun gleichsetzt und die Verbrechen des Holocaust trivialisiert. Die Unterzeichner wollen als gesamteuropäischen Gedenktag den 23. August (der Tag des Ribbentrop-Molotow Paktes von 1939) etablieren und schmälern damit implizit die Bedeutung des Holocaustgedenktages am 27. Januar, wenn sie diesen Gedenktag nicht sogar ganz abschaffen wollen. Gauck sprach zudem 2006 davon, dass jene, die die Einzigartigkeit des Holocaust betonen, nur einen Religionsersatz suchen würden. Auch Neonazis, Holocaustleugner, manche christliche Aktivisten, Forscher oder auch Autoren der tageszeitung (taz) frönen einer solchen Sprache und reden von der „Holocaust-Religion“ oder einer „Pilgerfahrt“, wenn es um Auschwitz geht. Ohne den Dammbruch durch Martin Walsers Paulskirchenrede von Oktober 1998 wäre das alles nicht so ohne Weiteres im Mainstream der deutschen Gesellschaft denk- und sagbar.

2)     Antizionismus.

Der zweite Aspekt des Antisemitismus ist der seit der zweiten Intifada im September 2000 und nach dem islamistisch motivierten Massenmord vom 9/11 weltweit bei den wenigen Kritikern im Zentrum der Aufmerksamkeit stehende antizionistische Antisemitismus bzw. die Israelfeindschaft.

Am 4. April 2012 publizierte der Literaturnobelpreisträger Günter Grass in der größten deutschen Tageszeitung (nach der Boulevardzeitung BILD), der Süddeutschen Zeitung aus München, ein Gedicht mit dem Titel „Was gesagt werden muss“. Darin schreibt der deutsche Denker:

„Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden?“

Nicht der Iran droht Israel mit Vernichtung, die Juden („Atommacht Israel“) seien die Gefahr. Diese Leugnung der Wirklichkeit, die Derealisierung, Schuldprojektion und die Schuldumkehr sind ein typisches Muster des neuen oder Post-Holocaust Antisemitismus. Israel gefährde den Weltfrieden und nicht der „Maulheld“ Ahmadinejad, wie er vom deutschen Dichter verniedlichend genannt wird; dabei haben die Verharmlosung der iranischen Gefahr bzw. das klammheimliche Liebäugeln mit dem vulgären, iranischen, islamistischen aber natürlich auch dem arabischen Antisemitismus Konjunktur. Die Diffamierung Israels ist auch unter deutschen Wissenschaftlern, Journalisten, Politikern, NGO-Aktivisten und der Bevölkerung gern gesehen. Die ARD jedenfalls war von Grass so begeistert, dass der Tagesthemen-Anchorman Tom Buhrow ein Exklusivinterview mit dem Schriftsteller führte und tags darauf Grass das Gedicht in der ARD vortragen durfte.

Das wird ergänzt durch die Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt am Main am 11. September 2012 an die amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Judith Butler von der University of California in Berkeley. Butler ist als antiisraelische Agitatorin weltweit berüchtigt, wenn sogar der Präsident der Harvard University im Jahr 2002, Lawrence Summers, unter anderem sie meinte als er den Hass auf Israel und die Boykottaufrufe gegen den jüdischen Staat thematisierte. Butler steht für einen Antizionismus, der sich in der Tradition von Martin Buber und Hannah Arendt verortet und die Gründung eines explizit jüdischen Staates (der zudem so tolerant ist und 20% Araber und Muslime und andere zu seiner Bevölkerung zählt) ablehnt. Mit fast vollständig homogenen islamischen Staaten wie Saudi-Arabien, Iran oder Jordanien und ihren antidemokratischen, homophoben und misogynen politischen Kulturen hat Butler selbstredend kein Problem. Die Wochenzeitung Die Zeit publizierte gar einen Text der BDS-Unterstützerin Butler und unterstützt somit den Aufruf zum Boykott Israels. Früher wäre das fast nur in der jungen Welt oder der Jungen Freiheit propagiert worden, doch längst sind solche antisemitischen Positionen Mainstream.

Eine Vertraute und Freundin von Butler, die Politikwissenschaftlerin Seyla Benhabib (Yale University) wurde 2012 in Deutschland ebenfalls geehrt. Sie erhielt am 8. Mai den Dr. Leopold Lucas-Preis der Universität Tübingen für ihren Einsatz für Hospitalität und „universelle Menschenrechte“ – auch dieser Preis ist mit 50.000€ dotiert, was ja von der schwäbischen Alma Mater freundlich ist, wenn man bedenkt, wie schlecht bekanntlich die Yale University ihre Professoren bezahlt. Benhabibs Vorbilder sind Immanuel Kant („Der Ewige Frieden“ von 1795) und Hannah Arendt. Die problematischen Aspekte dieser Art von Kosmopolitanismus oder vielmehr die anti-israelische Dimension bei Arendt,  kehren bei Benhabib verstärkt wieder. 2010 diffamierte sie Israel  indem sie es mit der südafrikanischen Apartheid und mit den „1930er Jahren in Europa“ (sie erwähnt den Slogan „Eine Nation, Ein Land, Ein Staat“ und spielt offensichtlich auf Nazi-Deutschland an) verglich – während selbstverständlich auch sie den Jihadismus z.B. der Gaza Flottille ignorierte und ihn bis heute ausblendet. Dies sind die eigentlichen Gründe für die Ehrungen und den Beifall aus Deutschland für Personen wie Butler und Benhabib. Kritik an Arendt, Kant und der europäischen Ideologie (wie sie auch Jürgen Habermas vertritt) eines Post-Nationalstaats-Zeitalter, wie sie von dem israelischen Philosophen Yoram Hazony bekannt ist, wird in Deutschland entweder gar nicht zur Kenntnis genommen oder abgewehrt.  Aufgegriffen und promotet wird sie höchstens von problematischen, nicht pro-israelischen, vielmehr deutsch-nationalen, rechten und konservativen Kreisen wie der Zeitschrift Merkur (dessen Autor Siegfried Kohlhammer den Islam mit seinen Dhimmi-Regelwerken für Nicht-Muslime schlimmer findet als den Nationalsozialismus und die Nürnberger Gesetze, und der zudem gegen Israel argumentiert).

3)     Antijudaismus.

Diese älteste Form des Antisemitismus spielt auch im nachchristlichen Zeitalter eine zunehmende Rolle. 2012 tritt ein in seiner Vehemenz seit 1945 ungeahnter und ohne Vergleich dastehender Angriff auf Juden und das Judentum auf: Hetze gegen die Beschneidung und religiöse Rituale. Alles, was Juden im Post-Holocaust Deutschland dachten, als selbstverständlich annehmen zu können, steht jetzt in Frage: Juden als Juden werden hinterfragt. Wie im Holocaust sollen männliche Juden die Hosen runter lassen, damit die arischen Deutschen nachschauen, ob er ein Jude ist oder nicht; sie durchleuchten Juden auf ihre Gesundheit, sexuellen Praktiken und Fähigkeiten und finden diese Art von Zurschau-Stellung von Juden notwendig und emanzipatorisch. Heute wird diese antijüdische Propaganda nicht unter dem Schild der SS oder der Wehrmacht durchgeführt, nein: heute geht es um „Kinderrechte“ und die angebliche Freiheit, nur als nicht-beschnittener Mann im Erwachsenenalter über die Religionszugehörigkeit entscheiden zu können.

Am 7. Mai 2012 befand das Kölner Landgericht in einem die politische Kultur in Deutschland für immer verändernden Urteil die Beschneidung von Jungen als gegen „dem Interesse des Kindes“ stehend und somit als nicht vertretbar. Die Beschneidung von jüdischen Jungen am achten Tag bzw. die Beschneidung von muslimischen Jungen im Alter zwischen 0 und 10 Jahren, sei somit nicht legal. Ein deutsches Gericht urteilt über das Judentum, das die Beschneidung vor über 4000 Jahren einführte. Der Volksgerichtshof des Nationalsozialismus hätte seine Freude gehabt an diesem 7. Mai 2012. 600 Ärzte und Juristen, angesehene normale Deutsche, agitierten sodann unter Federführung des Mediziners Matthias Franz von der Universität Düsseldorf am 21. Juli 2012 in einem Offenen Brief in der Zeitung für Deutschland (Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZ) gegen die Beschneidung und forderten politische und rechtliche Konsequenzen aus dem Kölner Urteil. Selbst pro-israelische Aktivisten zeigen nun ein ganz anderes Gesicht und machen sich über das Judentum lustig. Offenbar hatten diese Leute schon immer ein Israel ohne Judentum im Sinn. Die Zeitschrift Bahamas

aus Berlin folgte dem Ruf aus Köln, der FAZ und dem Zeitgeist und sprach sich gegen eine Kundgebung für Religionsfreiheit/für die Beschneidung aus und forderte ihre 23 oder 34 Anhänger auf, dieser ohnehin kleinen Manifestation vorwiegend deutscher Jüdinnen und Juden am 9. September 2012 in Berlin fern zu bleiben, da sie „den kulturellen und religiösen Traditionen von Kollektiven grundsätzlich misstraut“. Autoren dieses Sektenblattes wie Thomas Maul und Justus Wertmüller bezeichnen die Beschneidung als „archaisch“ und diffamieren dadurch mit Verve das Judentum. Derweil kringeln sich die Neonazis, die NPD und autonome Nationalisten, da doch der deutsche Mainstream das Geschäft des Antisemitismus (bis auf die Verwüstungen jüdischer Friedhöfe und von Gedenktafeln, bis heute eine typisch neonazistische Form des Antisemitismus) übernommen hat. Die Wochenzeitung jungle world 

mit ihrem Autor Thomas von der Osten-Sacken machte gegen die Beschneidung mobil und stellte Bezüge zur kriminellen Klitorisverstümmelung bei Mädchen, der Female genital mutilation (FGM), her. Sein Kollege Tilman Tarach war auf Facebook nicht weniger obsessiv dabei,

die Beschneidung und somit das Judentum zu schmähen. Eine Internetseite, Politically Incorrect (PI), die aus dem Umfeld von Parteien wie Die Freiheit, der Bürgerbewegung Pax Europa (BPE), der Pro-Bewegung und anderen Gruppierungen der extremen Rechten oder des Rechtspopulismus kommt, droht Juden:

„Wenn sich aber jüdische Verbände und Organisationen beispielsweise so an die uralte Vorschrift der Beschneidung klammern, zeigen sie damit, dass sie sich in diesem Punkt nicht vom Islam unterscheiden. So etwas können wir nach meiner festen Überzeugung in unserem Land nicht zulassen.“

Die Giordano Bruno Stiftung (GBS) mit ihrem Vorbeter Michael Schmidt-Salomon (übrigens sitzt Hamed Abdel-Samad im wissenschaftlichen Beirat der GBS),

die Deutsche Kinderhilfe, Evolutionäre Humanisten Berlin Brandenburg e.V., der Zentralrat der Ex-Muslime, die Freidenkervereinigung der Schweiz, der pflegeelternverband.de und einige andere Organisationen und Gruppen agitieren besonders aggressiv gegen Juden (und Muslime) und starten im Herbst 2012 die perfide Anzeigenkampagne

„Mein Körper gehört mir“. Zu sehen ist das Bild eines Jungen, der sich völlig verängstigt in den Schritt fasst und darunter steht: „Zwangsbeschneidung ist Unrecht – auch bei Jungen.“ Damit wird nicht nur die kriminelle und zumal islamistische Praxis der Klitorisverstümmelung mit der harmlosen Beschneidung von Jungen gleichgesetzt, vielmehr wird in Stürmer-Manier gesagt: vor allem das Judentum basiert auf Unrecht! Hieß es 1879 bei Heinrich von Treitschke „Die Juden sind unser Unglück“, was zu einem der Propagandasprüche des Nationalsozialismus avancierte, so wird im Jahr 2012 von Atheisten, Positivisten und anderen Aktivisten (die sich teils anmaßend Humanisten nennen) die Beschneidung als das Unglück für Kinder dargestellt oder Juden (und Muslime) gar als Kinderschänder diffamiert. Das liest sich wie eine post-christliche Version der Blutbeschuldigung, der antisemitischen Blood Libel.

Der Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel, Alfred Bodenheimer, ist zutiefst schockiert über den Anti-Beschneidungsdiskurs und hat im Sommer 2012 ein kleines Büchlein dazu verfasst: „Haut-Ab! Die Juden in der Besschneidungsdebatte“ (Göttingen: Wallstein). Darin analysiert er:

„Aus christlich-theologischer Sicht war die Kreuzigung ein sehr ähnliches Vergehen wie das Beschneiden der Kinder aus der heutigen säkularen: Denn die Taufe als unmittelbare Partizipation des einzelnen Gläubigen an der Kreuzigung Christi (und der damit verbundenen Sündenvergebung) machte letztlich jeden Getauften zum partiell von den Juden Gekreuzigten ­– und damit jenes Ereignisses, in dem gerade Paulus die Beschneidung aufgehoben hatte. Der säkulare Ausgrenzungsdiskurs folgt dem christlichen auf dem Fuße, er ist kultur- und mentalitätsgeschichtlich so leicht abrufbar, dass insbesondere den dezidierten Säkularisten die Ohren sausen dürften, wären sie sich der Sensoren gewahr, die ihren Furor geweckt haben. Der säkularistische Anspruch, Gleichheit in allen Belangen zur Ausgangslage eines frei auslebbaren Individualismus zu machen, trägt mehr vom Paulinischen Universalismus in sich (dessen Gegenbild die auf defensiver Differenz bestehenden Juden waren), als dem Gros seiner Vertreter klar ist.“ (ebd., 58f.)

Die Internetseite HaOlam mit ihrem Vertreter Jörg Fischer-Aharon, die sich jahrelang als pro-israelisch gab, hat den Anti-Beschneidungsvorkämpfer Schmidt-Salomon exklusiv interviewt und macht damit Werbung für obige Anzeigenkampagne.

Manche Organisationen, die häufig mit HaOlam bzw. deren Umfeld und vielen anderen aus der nie näher definierten „pro-Israel-Szene“ kooperierten, werden ins Grübeln kommen.

Sei es Ressentiment auf Religion oder kosmopolitisch inspirierte Universalität, jedenfalls wird mit bestem Gewissen jedwede Partikularität – wie die des jüdischen Staates Israel und des Judentums, inklusive seiner religiösen Traditionen, die auch von nicht-gläubigen Juden mit überwältigender Mehrheit praktiziert werden – abgelehnt.

Es ist unerträglich, mit welcher Arroganz, Obszönität und Dreistigkeit ausgerechnet deutsche Areligiöse,  Christen, selbsternannte Israelfreunde und „Antifas“ sich de facto zu den islamistischen und neonazistischen Judenfeinden gesellen und völlig geschichtsvergessen das Nachdenken einstellen.

Kaum jemand hat heute in Deutschland noch Beißhemmungen wenn es um Juden geht.

Dieser hier skizzenhaft aufgezeigte neu-alte Antisemitismus zeigt sich in dramatischer Form in vier antisemitischen Vorfällen in wenigen Wochen bzw. Tagen allein in Berlin:

  • Am 28. August 2012 wurde in Berlin-Friedenau am helllichten Tag der Rabbiner Daniel Alter von mehreren vermutlich arabischen Jugendlichen und Antisemiten krankenhausreif geschlagen. Er trug eine Kippa und wurde gefragt, ob er Jude sei. Das „Ja“ führte zu einem Jochbeinbruch und Todesdrohungen gegen seine 6-jährige Tochter. Die Täter sind bis heute nicht ermittelt.
  • Am 3. September wurde gegen 10 Uhr vormittags eine Gruppe von jüdischen Schülerinnen vor der Carl-Schuhmann-Sporthalle in der Schlossstraße in Berlin-Charlottenburg von vier ca. 15-16-jährigen Mädchen muslimischer Herkunft (eine der Antisemitinnen trug ein Kopftuch) diffamiert und u.a. als „Judentussen“ beleidigt.
  • Am höchsten jüdischen Feiertag, Yom Kippur, am Mittwoch, den 26. September 2012, rief Esther Dobrin aus Berlin gegen 11 Uhr ein Taxi, um mit ihrer 11-jährigen Tochter und zwei weiteren Personen zur Synagoge in die Pestalozzistraße zu fahren. Der Taxifahrer verhielt sich reflexhaft feindselig, als der genaue Bestimmungsort als „Synagoge“ benannt wurde; er warf die vier Fahrgäste sozusagen aus dem Wagen.
  • Wenig später, gegen 18 Uhr an diesem 26. September, wurden drei andere Juden in Berlin verbal attackiert. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, kam gerade mit seinen beiden Töchtern im Alter von 6 und 10 Jahren von der Synagoge, ebenfalls in Charlottenburg, unweit des Kurfürstendamms, als er offenbar wegen eines klar ersichtlichen jüdischen Gebetsbuches beleidigt wurde. Im Laufe eines aggressiven Wortgefechts hat Kramer nicht nur die Polizei zu Hilfe gerufen, vielmehr auch auf seine Waffe gezeigt, die er seit acht Jahren zum Selbstschutz und als ausgebildeter Sicherheitsbeauftragter bei sich trägt. Die Polizei hat nun zwei Anzeigen zu bearbeiten, Kramer zeigte die Beleidigungen des Antisemiten an, während derselbe Kamer wegen Bedrohung anzeigte, wozu er, nach unbestätigten Informationen,  von der Berliner Polizei durchaus ermutigt worden war.

Kramer kennt die Zusammenhänge des GraSSierenden Antisemitismus in Deutschland und weiß, dass sich die geistigen Zustände und Debatten in gewalttätigen Straßenantisemitismus entladen können – darum ist er bewaffnet. Welche zwei komplett disparaten Lebensrealitäten – eine jüdische und eine nicht-jüdische – werden von nichtjüdischen Deutschen tagtäglich stillschweigend hingenommen? Wie fühlt es sich an, ständig in den Einrichtungen der eigenen Religion/Gruppe, Kindergarten, Schule, Synagoge etc. unter Polizeischutz stehen zu müssen?

1925, einige Jahre vor NS-Deutschland, im demokratischen Rechtsstaat der Weimarer Republik passierte in Stuttgart Folgendes:

„An einem Sonntag im November 1925 las der Kaufmann Ludwig Uhlmann in der Gastwirtschaft Mögle Zeitung und trank ein Bier. In provozierender Absicht beleidigte ihn der am Nachbartisch sitzende Franz Fröhle mit spöttischen Bemerkungen und ließ mehrfach die Bezeichnung ‚Jude Uhlmann‘ fallen. Dieser reagierte nicht. Daraufhin sagte Fröhle: ‚Was will der Judenstinker hier, der Jude soll heimgehen‘, was Uhlmann sich verbat. Als die Pöbeleien anhielten, zog Uhlmann eine Pistole, mit der Bemerkung, dass Fröhle damit Bekanntschaft machen könne, falls er nicht aufhöre. Schließlich setzten der Wirt und die Polizei den Beleidiger vor die Tür. Die Staatsanwaltschaft beantragte nicht nur einen Strafbefehl gegen Fröhle wegen Beleidigung in Höhe von 50 RM Geldstrafe, sondern auch einen gegen Uhlmann wegen Bedrohung und abgelaufenen Waffenscheins. Bei der Hauptverhandlung des Amtsgerichts wurde er zwar von der Anklage der Bedrohung freigesprochen, aber wegen der Bagatelle des abgelaufenen Waffenscheins von wenigen Monaten zu einer Geldstrafe von 30 RM verurteilt.“ (Martin Ulmer (2011): Antisemitismus in Stuttgart 1871–1933. Studien zum öffentlichen Diskurs und Alltag, Berlin: Metropol, S. 350)

 

Dieses Schlaglicht zeigt die Normalität antisemitischer Beleidigungen, die in der deutschen politischen Kultur bereits damals, wie sich an unzähligen Beispielen aufzeigen lässt, tief verankert und sedimentiert war.

Heute nun, im Jahr 2012, über 67 Jahre nach dem Holocaust und Auschwitz – welch ein Unterschied ums Ganze! –, müssen sich Juden wieder bewaffnen. Sie sind fast täglich Angriffen, Beleidigungen und Hetzkampagnen ausgesetzt und es kann sich eine Szene abspielen, die der in einer Stuttgarter Kneipe von 1925 gruselig ähnelt.

 

Auf der einen Seite haben wir diese Vorfälle aus dem Jahr 2012 und insbesondere die „Beschneidungsdebatte“ mit all ihren antisemitischen Internet-Kommentaren -und Forenbeiträgen, die einen an Max Liebermanns Ausspruch zum 30. Januar 1933 denken lassen. Auf der anderen sucht man vergebens die arrivierten Antisemitismusforscherinnen und -forscher, die sich der skizzierten Forschungsfelder annehmen. Werner Bergmann schrieb 2011 in einer Festschrift für einen Kollegen:

„Im historischen Vergleich mit der Zeit vor 1945, aber auch in den letzten 60 Jahren in Deutschland […] war Antisemitismus gesamtgesellschaftlich wohl selten so sehr an den Rand gedrängt wie heute.“

Antisemitismus ist in Deutschland nicht erst, aber insbesondere im Jahr 2012 gesamtgesellschaftlich so weit verbreitet wie vielleicht noch nie seit 1945.

 

 

Susanne Wein ist Historikerin und promovierte im September 2012 an der Freien Universität Berlin  mit einer Arbeit über „Antisemitismus in der politischen Kultur der Weimarer Republik. Eine Untersuchung anhand der Debatten im Reichstag“.

Clemens Heni ist Politikwissenschaftler und promovierte im August 2006 an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck mit einer Arbeit über die „Salonfähigkeit der Neuen Rechten. ‚Nationale Identität‘, Antisemitismus und Antiamerikanismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1970 – 2005: Henning Eichberg als Exempel“.

Ein Super-GAUck. Politische Kultur im neuen Deutschland – das Buch zur Wahl des Bundespräsidenten am 18. März 2012

Am 9. März 2012 sendete das Freie Radio für Stuttgart ein kurzes Interview mit Clemens Heni über Joachim Gauck und die anstehene Wahl zum Bundespräsidenten.

 

Zur Wahl erscheint auch folgendes Buch:

 

 

Clemens Heni/Thomas Weidauer (Hg.): Ein Super-GAUck. Politische Kultur im neuen Deutschland, Berlin: Edition Critic, 2012, ISBN 978-3-9814548-2-6, 111 Seiten,  Softcover, 21cm x 14,8cm, 13€ (D)

Das Buch erscheint am 16. März 2012! Bei Interesse: Bestellen Sie schon jetzt (Lieferung über den Verlag ist versandkostenfrei): editioncritic@email.de

Das Buch ist dann auch bei Amazon.de und im gesamten Buchhandel erhältlich.

Eine nahezu Allparteienkoalition nominierte am 19. Februar den neuen Bundespräsidenten 2012, den Super-GAUck. Was steckt hinter diesem Phänomen? Ist es ein Vorgeschmack auf die Zukunft, wenn ein Ausscheren aus dem Konsens als „Schweinejournalismus“ (O-Ton Jürgen Trittin) diffamiert wird?

Annähernd unisono feiern die großen Medien Pastor Joachim Gauck als Glücksgriff und Freiheitsapostel und niemand wird skeptisch, wenn die Neue Rechte und deren publizistisches Flaggschiff, die Wochenzeitung Junge Freiheit, euphorisch titelt: „Wir sind Präsident!“

13 Texte von 12 Autoren aus Deutschland, England, Litauen und Israel bieten Analysen zur politischen Kultur, der „Prager Deklaration“ und vielem mehr.

„Wer hätte gedacht, dass jetzt, in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts, das wiedervereinigte Deutschland, das wirtschaftliche Zugpferd der Europäischen Union, als erneut eine der bedeutendsten Nationen des Planeten einen gleichsam staatlichen Speer in die Herzen von Holocaust-Überlebenden mit ihren Familien und Nachkommen sowie der Geschichtsschreibung über den Holocaust stoßen würde? Wie konnte es soweit kommen? Indem es einem Mann die Möglichkeit gibt zum Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt zu werden, der 2008 zu den Erstunterzeichnern der Prager Deklaration zählte.“
(Dovid Katz, Vilnius, Litauen)

 

Das nationale Apriori: Wie aus der BRD endgültig ‚Deutschland‘ wurde

Original auf www.hagalil.com, 07.07.2006

Das Nationale ist zum deutschen Apriori geronnen. Während die NPD und andere Nazis jahrzehntelang für das massenhafte Tragen von Deutschlandfahnen, Wimpeln, schwarzrotgold umrandete Untertassen und andere Embleme ‚der Deutschen‘ geworben haben, schweigt diese Partei heute, fast.

Zu sehen sind nun die propagierten Accessoires in Millionenausfertigung, ganz Deutschland schwelgt, klatscht, schreit, jubelt und singt „blühe deutsches Vaterland“ wie früher nur die NPD im Hinterstübchen der Deutschen Klause in Delmenhorst (bzw. zeitgleich die SED, die vom „sozialistischen Vaterland“ sprach).

Ein deutscher Stürmer, Podolski, hat die Strophen der Nationalhymne in seinen Fußballschuh, in das Leder einschreiben lassen. Jetzt ist die Fanmeile in Berlin am Brandenburger Tor (das ja jetzt geöffnet ist) zur einhellig getätschelten „patriotischen“ Liebeserklärung geworden, ohne Wenn und Aber, eine Art Bildzeitung in Riesenformat. Wenige Hundert Meter weiter liegen die neu-deutschen Frauen im schwarzrotgoldenen Bikini im Liegestuhl am Holocaust-Mahnmal – tote Juden als Aussichtspunkt des Neuen Deutschland; diese ach so friedlichen ‚Jungdeutschlandregimenter‘ setzen des Altkanzlers Schröders Wort vom Holocaust-Mahnmal als „Ort, an den man gerne geht“, lediglich in die Praxis um.

Schon seit Anfang der 1950er Jahre Adorno seine empirische Reise zu den post-nazistischen Deutschen unternommen hat – Schuld und Abwehr – ist bekannt, dass es keineswegs bei den (West)Deutschen nur um Holocaustleugnung geht. Gerade auch die Annahme der Schuld („Wir Deutschen…“ oder „Das macht uns so schnell keiner nach…“) an der Vernichtung der europäischen Juden war möglich, indem Beethoven, Kleist, Luther und Fontane, Sekundärtugenden, C.D. Friedrich und Verwandtes beschworen wurden. Später, in den 1980er Jahren, sagte der erste Vorsitzende der Republikaner, Franz Schönhuber, dass „Deutschland der Welt viel mehr geschenkt“ habe, „als Auschwitz je kaputtmachen könnte“.

Vom holocaustleugnenden Konjunktiv ganz zu schweigen spricht Schönhuber hier eine deutsche Befindlichkeit aus, welche die letzten 20 Jahre, nach der ‚Wiedervereinigung‘ und verschärft seit Rot-Grün 1998ff., immer mehr Einfluss gewinnt, ja von einem Bestandteil rechtsextremer ‚Deutungskultur‘ (Karl Rohe) zu einer gesamtgesellschaftlichen ‚Soziokultur‘ geronnen ist. Wissenschaftstheoretisch ist dabei das Paradoxon zu analysieren wie gerade eine Abkehr von Nationalgeschichte einer Verharmlosung und Universalisierung der spezifisch deutschen, präzedenzlosen Menschheitsverbrechen Vorschub leistet.

An sieben Punkten werde ich darstellen, wie sich diese Bewusstseinslage oder Befindlichkeit, die neue deutsche Ideologie äussert und was daran bemerkenswert ist.

1) Ein deutsches Graduiertenförderungswerk, 2002: ein Küchlein mit Folgen

Als Ausgangspunkt mag ein Treffen von Nachwuchswissenschaftlern, alles StipendiatInnen eines großen Graduiertenförderungswerkes, von Juli 2002 dienen. Dort hat ein kleines Küchlein, ein am Bahnhof gekaufter Muffin mit Mini-US-Fahne dazu geführt, die Fronten zu klären. Eigentlich als Zuckerl gedacht, entpuppte sich das Gebäck zu einem Objekt der Abwehr seitens typisch deutscher, linker JungakademikerInnen, die dieses US-Fahne – nach 9/11 zumal – unerträglich fanden. Zufällig wurde zu dieser Zeit im TV ein Interview Michel Friedmans mit dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon gesendet. Lediglich zwei der 17 Teilnehmenden hatten daran Interesse, die anderen pflegten ihre Ressentiments gegenüber Juden im Allgemeinen, Israelis im Besondern.

Wohlgemerkt: die Stimmung war schon so deutlich gegen Friedman, dass Möllemanns Flugblatt von September 2002 zur Bundestagswahl, auch gewisse Töne dieses Treffens vornehmlich linker, durchaus gewerkschaftsnaher Akademiker aufgreifen konnte. Dass es genau diese Stiftung bzw. ihre Doktoranden war, die wenige Monate später einen handfesten Antisemitismus-Skandal erlebte (als dessen Konsequenz immerhin eine Tagung zur Kritik des linken Antisemitismus stand), als ein migrantischer Doktorand nassforsch antiisraelische Töne durchs weltweite Netz jagte, überrascht nicht mehr. Fazit: Ressentiments gegen kleine amerikanische Fahnen, Juden und Israelis gehörten zum guten Ton dieses akademischen Nachwuchses. Das führt mich zum zweiten Beispiel.

2) Ein weiteres deutsches Graduiertenförderungswerk, Juni 2006: ich bin deutsch und was bist du?

Mitten in der nationalen Paranoia im Juni 2006, als Siege der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen schwache, schwächste oder unmotivierteste Teams die Stimmen der Moderatoren sich überschlagen und Millionen von Individuen zu einer homogenen Masse zusammenfinden lässt, eine weitere Tagung eines anderen, kleineren Graduiertenförderungswerks. Zu einem Spiel der deutschen Mannschaft wurde extra Party-Material gekauft, um einen Raum zu schmücken. Nicht etwa, um allgemein Fußball-Fan-Artikel der WM ganz allgemein zu drapieren, nein: ausschließlich schwarzrotgold war angesagt, noch nicht einmal die Farben der gegnerischen Mannschaft waren im Horizont der Vorbereitungsgruppe dieses Abends.

Erwachsene Akademiker malten sich mit Schminke die Farben des ‚deutschen Vaterlandes‘ ins Gesicht – wie sollen diese Persönchen in Zukunft noch ernst genommen werden als Wissenschaftler, Intellektuelle gar oder einfach nur interessante Individuen? So etwas war noch vor 12, 8 oder auch 4 Jahren undenkbar.

Dass keineswegs nur typische, ich-schwache und autoritär sozialisierte Personen dazu neigen sich mit einer Nation zu identifizieren, zeigen solche Beispiele wie auch die folgenden. Gleichwohl ist jede nationale Identifikation in Deutschland Zeichen eines persönlichen Defizits, das zu kompensieren aufgebrochen wird.

3) Walk of Ideas, Berlin 2006

Mitten in Berlin stehen sechs mega große Skulpturen, die zeigen sollen, dass Deutschlands „größtes Kapital“ „die Ideen der Menschen“ seien. Erfindungen werden hier nicht als Erbe der Menschheit, vielmehr als nationales Gut, als ‚volksmässig‘ akkumuliertes Kapital betrachtet. Vom Automobilismus, der Medizin, der unvermeidlichen Bemächtigung Einsteins Relativitätstheorie über den Fußballschuh, der Musik hin zum Buchdruck.

Letzterer ist ein gutes Beispiel, wie Deutschland heute funktioniert:

„Die Verbreitung des gedruckten Wortes beschleunigte Reformation und Aufklärung und unterstützte die Alphabetisierung. Dichter und Denker nutzten die neue Technik und ließen die deutsche Buchlandschaft erblühen – Zensur und Barbarei hätten sie fast zerstört: Am 10. Mai 1933 verbrannten Nationalsozialisten überall in Deutschland Werke moderner und regimekritischer Autoren. Die Bücherverbrennung setzte 500 Jahren deutscher Buchkultur ein vorläufiges Ende.“

So steht es auf einer Tafel zu dieser Skulptur am Bebelplatz in Berlin, Unter den Linden. Da stutzt man gewaltig: die Bücherverbrennung als „Ende“ „deutscher Buchkultur“? Waren die Werke Carl Schmitts, Richard Euringers, Eberhard Wolfgang Möllers, Martin Heideggers oder Erwin Guido Kolbenheyers nicht gedruckt worden in den Jahren 1933–1945? Was verbirgt sich hinter der Chiffre „moderner und regimekritischer Autoren“?

Wenn die Werke Heines aus dem 19. Jh. verbrannt wurden, wurde dann ein „NS-regimekritischer“ Autor verbrannt? Typisch ist die Auslassung des Antisemitismus, der jedoch de facto in Goebbels hetzerischer Ansprache an jenem 10. Mai 1933 auf diesem Platz deutlich zu hören war, als er vom „jüdischen Intellektualismus“ sprach, der ein Ende nehmen müsse. Dass sich gerade die Deutschen über die Jahrhunderte hinweg gerade nicht als Gesellschaft, die Büchern aufgeschlossen gegenüber steht, entwickelt hat, vielmehr Juden als Vertreter einer „Buchkultur“ oder „Gesetzesreligion“ angeprangert wurden, wird einfach derealisiert.

Wer sich die Geschichte des Antiintellektualismus anschaut, d.h. insbesondere die bis heute prägende Studie von Dietz Bering von 1978, weiß, dass der Affekt gegen das Buch in Deutschland von links bis rechts Tradition hat. Die Skulptur des Jahres 2006 suggeriert den Millionen Besuchern Berlin bzw. der Bundesrepublik: fast wäre das Buch an sich zugrunde gegangen, aber es ging noch mal gut. Dazu gesellt sich natürlich das Automobil, unter Hitler wären es die Autobahnen gewesen, welches der Welt vor dem Brandenburger Tor präsentiert wird.

Dass Audi, deren Modell nun überdimensional vor dem Brandenburger Tor steht, heute eine Tochter des Volkswagenkonzerns ist, der 1938 in der „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ gegründet wurde, wird klammheimlich bejaht, ja verbreitet Stolz im Neuen Deutschland wie annodazumal.

4) „Die Nazis wurden doch sportlich, 1936!“ Neu-deutsche Wissenschaft als Rehabilitierungsübung für den Nationalsozialismus

Auch in der Wissenschaft ist seit Jahren ein Trend bemerkbar, den Nationalsozialismus als ganz normale Gesellschaft – hier am Beispiel des Sport – darzustellen, Antisemitismus und Volkstumsideologie werden entweder offen oder subkutan affirmiert. Dazu dient als brillantes Beispiel die häufig zitierte und auch von linken Zeitschriften wie Konkret positiv angeführte Historikerin Christiane Eisenberg, die insbesondere deshalb in gewissen Kreisen einen Namen hat, weil sie Fußball-Analyse als wissenschaftliche Disziplin anerkannt habe.

Wichtig für ein Verstehen Ihres Ansatzes ist der Kulminationspunkt ihrer Habilitationsschrift aus dem Jahr 1997, eine Analyse der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin. In dieser Schrift versucht sie zu zeigen, wie Deutschland durch den Sport eine bürgerlich(er)e Gesellschaft nach dem Vorbild Englands wurde, die Studie heißt auch entsprechend „“English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939″.

Eisenberg versucht dem Sport ein Eigenleben auch und gerade unter den Bedingungen eines Herrschaftssystems wie dem Nationalsozialismus, welchem damit gleichsam ein ganz normaler Platz im Pantheon der (Sport-)Geschichte gesichert werden soll, zuzugestehen.

„Für die Atmosphäre der Spiele war es darüber hinaus von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß es reichlich Gelegenheit zur internationalen Begegnung und freien Geselligkeit außerhalb der Arenen gab. Gemeint sind hier weniger die Restaurants auf dem Reichssportfeld und auch nicht die zahllosen Empfänge und Partys der Nazigrößen. Das Urteil gründet sich vielmehr darauf, daß der Großteil der männlichen Athleten in einem Olympischen Dorf untergebracht wurde, so wie es erstmals bei den vorangegangenen Spielen in Los Angeles 1932 versucht worden war. Hatte das OK [Olympische Komitee C. H.] zunächst geplant, dafür eine bereits bestehende Kaserne zu renovieren, so ergab sich 1933 auf Vermittlung Walter v. Reichenaus die Chance, Neubauten zu bekommen. In der Nähe eines Truppenübungsplatzes in Döberitz/Brandenburg wurden in einem landschaftlich reizvollen Gelände 140 ‚kleine Wohnhäuser‘ für das Infanterie-Lehrregiment gebaut, deren Erstbezieher 3.500 Sportler wurden. Es gab Sporthallen, ein offenes und ein überdachtes Schwimmbad, Spazierwege, Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen. Zu den Gemeinschaftsräumen gehörten eine vom Norddeutschen Lloyd bewirtschaftete Speiseanstalt mit internationaler Küche und ein Kino.“

Eisenberg will einer neuen Sicht auf den Nationalsozialismus den Weg ebnen. In gezielter Negierung gesellschaftlicher Totalität isoliert sie Momentaufnahmen aus ihrem Kontext, um deren Allgemeingültigkeit, ja Universalität, kurz, das moderne Moment zu würdigen. Denn „Blumenbeete und Terrassen mit Liegestühlen“ sind ja eine feine Errungenschaft, in Berlin 1936 wenigstens so lobenswert wie in Los Angeles 1932, will sie suggerieren.

Sie kritisiert die kritischen Reflexionen und Analysen bekannter und renommierter Sportwissenschaftler wie Hajo Bernett, Thomas Alkemeyer oder Horst Ueberhorst. Auch die Untersuchungen des Politikwissenschaftlers Peter Reichel über den Schönen Schein des Dritten Reichs qualifiziert Eisenberg ab:

„Diese Interpretation der Spiele vermag aus drei Gründen nicht zu überzeugen. Erstens ist das zugrundeliegende Argument methodisch fragwürdig, weil es nicht falsifizierbar ist. Wer immer das Gegenteil behauptet, daß Berlin 1936 ein Ereignis sui generis und der schöne Schein auch eine schöne Realität gewesen ist, riskiert es, als Propagandaopfer abqualifiziert zu werden.“

Die Olympiade in Berlin 1936 sei ein ‚Ereignis‘ ’sui generis‘ gewesen, gleichsam eine ’schöne Realität‘. Diese positivistische Abstraktion von jeglicher Gesellschaftsanalyse ist für nicht geringe Teile der Mainstream-Wissenschaft typisch. Ihre Argumentation steigert Eisenberg noch, indem sie Reichels Analyse im Reden von den vermeintlichen ontologischen Zwittern Sport und Propaganda untergehen lässt:

„Zweitens ist das Argument unergiebig, weil Sport und Propaganda wesensverwandt sind. Beide sind nach dem Prinzip der freundlichen Konkurrenz strukturiert, beide verlangen von den Akteuren eine Be-Werbung um die Gunst von Dritten (‚doux commerce‘). Daß dabei geschmeichelt, poliert, dick aufgetragen, ja gelogen und betrogen wird, überrascht niemanden, weder in der Propaganda noch im Sport. Olympische Spiele sind, so gesehen, immer Illusion und schöner Schein; eben das macht ihre Faszination aus. Daraus zu folgern, daß Berlin 1936 eine umso wirksamere Werbemaßnahme für den Nationalsozialismus gewesen sein müsse, wäre jedoch kurzschlüssig. Denkbar wäre auch, daß Nutznießer der Propaganda der Sport war. Diese Möglichkeit hat jedoch noch keiner der erwähnten Autoren geprüft.“

Eisenberg will sagen: So schlimm kann der Nationalsozialismus doch nicht gewesen sein, wenn ein so zentrales Moment für moderne, freizeit- und spaßorientierte Gesellschaften wie der Sport, gar ein ‚Nutznießer‘ dieses politischen Systems war. Diese eben zitierte Passage ist Ausdruck eines Wandels politischer Kultur in der BRD. Ungeniert lässt sie den Nationalsozialismus, am Beispiel der Olympischen Spiele von 1936, im Kontinuum bürgerlicher Gesellschaft, die eben im Sport ‚wesenhaft‘ lüge, dick auftrage und schmeichele, aufgehen.

Wie soll es nach der auf internationale Verständigungspolitik“ ausgerichteten Weimarer Republik möglich gewesen sein,

„daß die Olympiapropaganda nach 1933 plötzlich eine Nazifizierung der Athleten und des sportinteressierten Publikums bewirkte? Mußte nicht zuvor eine Versportlichung der Nazis erfolgt sein?“

Bei dieser Olympiade wurde ein ‚Weihespiel‘, die „Olympische Jugend“ von Carl Diem uraufgeführt. Es geht in diesem olympischen Weihespiel um „‚Kampf um Ehre, Vaterland'“. Die Jugend sieht ihrem Selbst-Opfer ins Gesicht: „Allen Spiels heil’ger Sinn: Vaterlands Hochgewinn. Vaterlandes höchst Gebot in der Not: Opfertod!“ Eisenberg ordnet diesen Opfertod folgendermaßen ein: das Diemsche „Festspiel“ werde

„in der sport- und tanzhistorischen Literatur als Verherrlichung des ‚Opfertodes‘ für die nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘ interpretiert – was nicht zu überzeugen vermag. Erstens gehörte die Opferrhetorik schon in der Weimarer Republik zum spezifisch deutschen Sportverständnis (…) Zweitens haben die Zeitgenossen des Jahres 1936 die Szene ohne Zweifel mit dem Ersten Weltkrieg und nicht mit dem bevorstehenden Zweiten in Verbindung gebracht.“

Auch wenn sich die Historikerin ganz sicher ist („ohne Zweifel“), bleibt zu betonen: die Erinnerung an die deutschen Toten des I. Weltkriegs war sehr wohl die Vorbereitung auf den II. Der ‚Langemarck-Topos‘ der Jugend, des Opfers und des Nationalen kommt hierbei zu olympischen Ehren. Die internationale Anerkennung der Spiele ist Zeichen des Appeasements dem nationalsozialistischen ‚Aufbruch‘ gegenüber. Wenn in einem Buch von 1933 ausgeführt wird:

„‚Daraus erhellt, daß bei Ausbruch des Krieges der Zukunft die Ausbildung künftiger Langemarckkämpfer um ein mehrfaches verlängert und die Material- und Munitionsmenge für heutige Schlachten um ein Vielfaches vermehrt werden muß'“,

so muss gerade eine solche Interpretation des Langemarck-Topos ernst genommen und nicht, wie bei Eisenberg, als quasi Weimarer Tradition, die zufällig 1936 wieder hervortritt, verharmlost werden. Dagegen ist die Kontinuität von ’33 bis ’36 zu sehen, die soeben zitierte Passage von ’33 bekommt im Festspiel von Diem eine internationale Beachtung findende Weihe, wie Eisenberg unschwer in der Forschungsliteratur hätte nachlesen können:

„So wurde im Glockenturm des Berliner Olympia-Stadions eine Gedächtnishalle für die Toten von Langemarck eingerichtet, und Carl Diems Eröffnungsspiel der Olympiade von 1936 endete mit ‚Heldenkampf und Totenklage‘; eine Division des Hitlerschen Ost-Heeres bekam den Namen ‚Langemarck'“.

Ein weiterer Kritikpunkt, ganz eng am Diemschen Spiel und seinen Protagonisten wie der Ausdruckstänzerin Mary Wigman orientiert, ist folgender: es lässt sich gut zeigen, wie Wigmans Auffassung von Opfertod Diems Weihespiel in diesem Punkt inhaltlich bzw. choreographisch bereits vor ’33 antizipiert hat, so am „Stück ‚Totenmal‘, einem Drama von Albert Talhoff, welches von Talhoff und Wigman 1930 gemeinsam inszeniert wurde, wobei Wigman die tänzerische Choreographie übernahm.

Das Werk wurde zum Gedenken an die Gefallenen des 1. Weltkriegs geschrieben. (…) [Zudem] ist dieses Werk ein Prototyp nationalsozialistischer Inszenierungen, zum einen wegen des Themas (Verehrung der gefallenen Soldaten) zum anderen wegen der Form (die Inszenierung stellt eine Kombination aus Sprechchor und Bewegungschor dar).“ Waren schon die „Tanzfestspiele 1935“ eine „Propagandaveranstaltung für den deutschen Tanz nationalistischer Prägung“, so kulminierte das im olympischen Jahr im Weihespiel von Diem, an dem Wigman aktiv beteiligt war. Ein Sportwissenschaftler, Micha Berg, weist auf die zentrale Bedeutung von Symbolik für das nationalsozialistische Deutschland hin und zitiert den völkischen Vordenker Alfred Baeumler:

„Das Symbol gehört niemals einem Einzelnen, es gehört einer Gemeinschaft, einem Wir. Dieses Wir ist nicht ein Wir des gesinnungsmäßigen Zusammenschlusses von Persönlichkeiten, ist nicht ein nachträgliches Wir, sondern ein ursprüngliches. Im Symbol sind Einzelner und Gemeinschaft eins. (…) Das Symbol ist unerschöpflich, in ihm erkennt sich sowohl der Einzelne wie die Gemeinschaft.“

Dieses ‚ursprüngliche Wir‘ kehrt heute im deutschen Feuilleton wieder, gerade am Beispiel der deutschen Hymne, wie weiter unter an einem weiteren Beispiel gezeigt werden wird. Es bleibt zu konstatieren, dass Eisenberg darauf beharrt: Diems Festspiel ende doch mit Beethovens „Schlußchor der IX. Sinfonie mit der ‚Ode an die Freude‘ von Friedrich Schiller“, was Ausdruck von ‚Kunst‘ sei. Sie schließt ihre Arbeit, indem sie nicht nur dem Sport unterm NS mehr Möglichkeiten als noch in der Weimarer Republik attestiert, sondern auch, den II. Weltkrieg als „Beeinträchtigung des Wettkampfbetriebs“ euphemisierend, dem Nationalsozialismus bescheinigt, er habe den „Sport“ zuungunsten des Turnens gewinnen lassen, was sie als „Rahmen für den Sport in der Bundesrepublik“ für gut erachtet.

Besser hätte es die Neue Rechte oder jeder Konservativismus auch nicht hinbekommen: Die Nazis wurden im NS sportlich und nicht umgekehrt. Damit werden der NS verharmlost, Juden gedemütigt und Deutschland gerettet, die Habilitations-Mission ist erfüllt.

Dieser etwas ausführlichere Ausschnitt mag verdeutlichen, wie gegenwärtige Geistes- und Sozialwissenschaft in der Bundesrepublik funktioniert (wenn sie erfolgreich sein will im affirmativen Sinne, Eisenberg bekam alsbald eine Professur an der Humboldt-Universität). Es ist gerade bei politisch angeblich unverdächtigen Personen Mode geworden, den Nationalsozialismus einzubetten in ein Kontinuum, um auf jeden Fall den Zivilisationsbruch, den Auschwitz bedeutet, zu verdecken oder zu leugnen.

Die bürgerliche Gesellschaft wird gerade in Deutschland so dargestellt, als sei die Gesellschaft im NS 1936 ganz ähnlich strukturiert gewesen wie die der USA bei den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles. Das, was das nationalsozialistische Deutschland sehr spezifisch kennzeichnete, wird gezielt weggewischt, als irreal abgetan oder schlicht und ergreifend gar nicht analysiert. Vielmehr soll gelten: Die Existenz von Liegestühlen und Blumenbeeten für Sportler wiegt den Antisemitismus und Ausschluss jüdischer SportlerInnen auf. Dieser Antisemitismus ist erst auf den zweiten Blick erkennbar, ein Blick, der allzu selten vorgenommen wird.

5) Drei weitere Beispiele ‚linker‘ Wissenschaftler und deren Verharmlosung der deutschen Verbrechen

In der Dissertation des heutigen Konstanzer Juniorprofessors Sven Reichardt wird diese Position am Beispiel eines Vergleichs deutscher und italienischer ‚faschistischer‘ Geschichte deutlich:

„Der in dieser Arbeit zugrundegelegte Faschismusbegriff stellt eine eigene praxeologische Analyse der faschistischen Bewegung vor, die nicht an die marxistische Deutung und nur selektiv an die neuesten angloamerikanischen Arbeiten und Noltes Definition anknüpft“.

Antisemitismus wird zwar als Differenz von italienischen Squadristen und deutscher SA erwähnt, aber als wenig bedeutsam klein geredet, zudem als bloßer ‚Rassismus‘ verkannt. Das ist Folge des bei Reichardt paradigmatisch für weite Teile heutiger Historiografie hervortretenden komparatistischen Zugangs, der die Präzedenzlosigkeit der deutschen Verbrechen und ihrer Vorgeschichte gezielt negiert.

Konsequent ist es, wenn u. a. Reichardt dem Altlinken Karl Heinz Roth Rat gab bei der Verabschiedung einer Analyse des Nationalsozialismus zugunsten eines ubiquitären Faschismusbegriffs, vgl. Roths Aufsatz aus dem Jahr 2004 „Faschismus oder Nationalsozialismus? Kontroversen im Spannungsfeld zwischen Geschichtspolitik, Gefühl und Wissenschaft“.

Roth exkulpiert die Deutschen in althergebrachter Diktion von ihrem Antisemitismus, wenn er schreibt:

„Weitaus gebräuchlicher ist indessen der Begriff ‚Nationalsozialismus‘: Es handelte sich zunächst ebenfalls um eine affirmative Selbstdefinition, die aber elementare Prämissen, nämlich den militanten Antisozialismus, verschleiert. Darüber hinaus ist der Begriff nicht vergleichsfähig, weil er seine faschistischen Kontexte und Varianten per definitionem ausschließt. Er schließt aber auch alle anderen Bezüge zur europäischen und Weltgeschichte aus oder unterwirft den Blick auf Europa und die Welt der affirmativen Selbstkonnotation. Auch die kritisch distanziert gemeinte Analyse des ‚Nationalsozialismus‘ vermag nicht über einen germanozentrischen Blickwinkel hinaus zu gelangen“.

Bezeichnend ist, dass Roth nicht von einer deutschen Spezifik bei der Analyse des NS spricht, vielmehr einer „transnationale[n] und komparative[n] Sichtweise auf die faschistische Epoche“ das Wort redet. Das wird von einem weiteren Juniorprofessor sekundiert, wenn Kiran Klaus Patel ohne mit einem Wort den eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen und die Präzedenzlosigkeit der Shoah analysierend, „transnational“ Phänomene wie den NS betrachten möchte und zum Schluss kommt:

„Gerade für das NS-Regime verspricht eine transnationale Perspektive neue Erkenntnisse. (…) Denn die Distanz zwischen NS-Regime und New Deal war weniger tief als häufig angenommen“.

Solche Perspektive hat durch Arbeiten der Neuen Rechten – exemplarisch sei der wichtigste Neue Rechte in der Bundesrepublik seit Anfang der 1970er Jahre bis heute, Henning Eichberg, erwähnt – über die Jahrzehnte hinweg den Boden bereitet bekommen.

6) Das Opfer bringen und singen: „Blüh im Glanze deutsches Vaterland“ – von Diem zu Klinsmann

Jürgen Klinsmann wird zu Unrecht als wenig typisch deutscher Sportler betrachtet. Zwar war er in England bei den Spurs eine Kultfigur geworden, weil er als Deutscher so nett erschien und die Fans zu sangen begannen „Juergen was a German now he is a Jew“, was auf die umgepolte Selbststilisierung zum „Judenklub“ Tottenham Hotspurs anspielt, aber analytisch ist das nicht tief gehend.

Vielmehr war es Klinsmann, der das Deutsche evozierte, aggressiv zu werden, trotz kalifornischem Wohnort und internationalem Habitus. Er war es, der die deutsche Nationalmannschaft fast einhellig dazu brachte, lauthals die Nationalhymne zu trällern, den jungen Deutschen ein positives Gefühl für ihr Deutschland zu geben. Dass es so ein Gefühl nach Auschwitz in Deutschland nie wieder geben sollte, fällt da natürlich unter den volksgemeinschaftlichen Tisch. Dass keinem es auffällt oder zu peinlich oder widerlich ist, eine Hymne zu singen, die wortwörtlich auch im Nationalsozialismus gesungen wurde, ist doch schockierend, nicht?

Weit mehr: in einem Artikel der wiederum eher links-liberal daherkommenden Frankfurter Rundschau steht am 27. Juni 2006 folgender Text, der sich anhört als wäre er 1936 geschrieben worden, lange bevor der Autor geboren wurde:

„Wir wissen, schon in zwölf Jahren wird fast keiner mehr erzählen können, wie er sich als Kriegsteilnehmer in einem Kreis von Kriegsteilnehmern gefühlt hat, als der Sieg der deutschen Nationalmannschaft in Bern durch den europäischen Äther ging. Wir wissen zugleich: Schon in ein paar Wochen wird unsere Erinnerung an die schönsten Spiele dieser Weltmeisterschaft merkwürdig transparent und ausgeblichen sein, als vertrüge unsere tägliche Gedächtnispraxis das heftige Licht des Geschehenen auf Dauer nicht. Die Gegenwart muss sich einhaken. Anders gesagt: Unsere stärksten Gefühle lassen uns für eine kurze Spanne spüren, dass wir die kommenden Toten sind. Deshalb ist es schön, sie zu zweit, und besonders rührend, sie in einer Gemeinschaft von ähnlich Gestimmten durchleben zu dürfen. Gemeinsam singend, genießen wir uns als die baldigen Toten.“

Diese Propaganda ist nichts anders als die Beschwörung einer Gemeinschaft von Deutschen, die sich in völkischer Tradition sehen wollen. Es hört sich wirklich genuin nationalsozialistisch an, ist aber ein Text eines jüngeren Autors, Georg Klein, Jahrgang 1953 und Ingeborg-Bachmann-Preisträger.

Dieser Feuilleton-Text zeigt die Ungeniertheit, die das nationale Apriori ermöglich, hervorkitzelt und zum Ausdruck bringt. Eigentlich wäre bisher bei so einer Zeile, dass die stärksten Gefühle jene seine, die mir sagen, dass ich, nein: wir die „kommenden Toten“ sein werden, ein Aufschrei durch das Land gegangen. Heute nicht. Es geht nicht um die Sterblichkeit der Menschen.

Es geht um die Konstruktion eines homogenen Ganzen, eines Volkskörpers, das jeden einzelnen nur unter dem Aspekt dieses Körpers, des Volkes sieht und nicht – gleichsam katholisch gedacht – als Kind unter „Gottes Hand“. Muss man wirklich Katholik werden um solch völkische Rede der Frankfurter Rundschau zu kontern? Gut, Klein möchte als Deutscher sterben, soll er das.

Es wird auch weiterhin Leute geben, die lieber als Menschen, als ganz spezifische Individuen mit Macken, Vorlieben, Träumen, Sehnsüchten, Hoffnungen, Enttäuschungen, Freuden und Ekel, denn als Deutsche sterben.

Dazu passt, dass der ehemalige Bundestagspräsident, Wolfgang Thierse, fordert, doch noch mehr Strophen dieser deutschen Hymne zu verfassen. Nicht etwa dass der ehemalige DDR-Bürger Thierse die Abschaffung eines nationalen Symbols forderte, wo kämen ‚wir‘ hin? Wer in Berlin in den Stadtteil Lichtenberg im Osten fährt weiß wie aktuell die Gefahr des Umkippens vorgeblich harmlosen Singens der deutschen Hymne in Hetze und Gewalt durch Nazis ist. Dort gibt es Straßen, wo die Reichskriegsflagge in Eintracht mit der schwarzrotgoldenen am Haus hängt.

Vor wenigen Wochen, vor der WM, wurde in dieser Gegend ein bekannter deutsch-türkisch-kurdischer Kommunalpolitiker schwer verletzt. Nazis haben hier die Hoheit, schwarzrotgoldene Hosenträger, Markenzeichen schon seit eh und je der dickbäuchigen Nazis, schon zu BRD-Zeiten, sind ja heute in Mode, wo alle deutsche Welt schwarzrotgold trägt, als Armkettchen, Rock, T-Shirt oder Gürtel aus biologisch abbaubarer Wolle.

All diejenigen, die jetzt das Deutsche hochleben lassen sind politisch für solche Gewalttaten von Nazis mitverantwortlich zu machen. Das ist ja auch nichts Neues: früher haben auch Liberale und Linke Konservativen bzw. Rechten die Mitschuld am immer stärker werdenden Rassismus gegeben, am deutlichsten und treffendsten vielleicht 1992/1993 bei der de facto Abschaffung des individuellen Asylrechts durch CDU/CSU/SPD und ihren Helfern in anderen Parteien, Medien und Verbänden.

Geschichtspolitisch wurde immer auf die Vordenkerfunktion der geistigen Elite hingewiesen, nicht erst zum Historikerstreit 1986ff. Bereits Ende der 1970er Jahre, Anfang der 1980er Jahre, als in der BRD das Nationale offen aufs Tableau kam – nicht zufällig schon damals übrigens von Jürgen Habermas, der 1979 zwei Bände herausgab, welche die „nationale Frage“ auf die Tagesordnung setzten und Martin Walser davon sprach, lediglich wenn „wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Fragen zuwenden“ – wurde z. B. von Wolfgang Pohrt auf diese nationale Vordenkerfunktion zumal der Linken, Alternativen und Grünen verwiesen.

Schon damals also wurde deutlich dass das Einfordern universalistischer Prinzipien von Staatsbürgerschaft und politischem Gemeinwesen, für das Habermas steht, einher gehen kann mit einer Verharmlosung der deutschen Geschichte, ja ein nationales Narrativ gleichsam als Grundlage auch eines nicht blutsmässigen Staatsdenkens zu erkennen ist.

Wer also heute im Schwenken der deutschen Fahne nichts Gefährliches sieht, weil er oder sie nicht die Nazis auf der Straße, die fast komplett ’national befreite Zone‘ Ostdeutschlands sieht, weil doch lediglich Party gemeint sei und ein ‚Patriotismus‘ nie und nimmer mit Nationalismus verwechselt werden dürfe, irrt gewaltig. Das wird im folgenden Punkt noch deutlicher.

In einer Radiosendung des SWR in Stuttgart vor wenigen Tagen ging es um diesen neuen ‚Patriotismus‘, die Fahnenmeere etc. Hermann Bausinger, emeritierter und wohl dekorierter Kulturwissenschaftler aus Tübingen legte die Pace dieser nationalen Debatte vor. Er meinte ganz freudentrunken, dass das neue nationale Pathos völlig harmlos und schön sei, gerade weil alles Militärische daran fehle. Und dieses Fehlen des Militärischen sei Konsequenz der deutschen Verweigerungshaltung im Irak-Krieg, ja die deutsche Friedenssehnsucht sei Prämisse eines neuen, zurecht stolzen Deutschland. Der Hass auf die USA, der Antizionismus, das Appeasement und die klammheimliche Freude ob des Djihad sind dieser friedlichen Hetze inhärent.

7) Keine „Reue“ zeigen: gegen „amerikanischen Messianismus“ – Matusseks nassforsche Invektiven oder Wie funktioniert sekundärer Antisemitismus?

Der Spiegel Kultur-Ressort-Leiter Matthias Matussek hat mit seinem Bestseller „Wir Deutschen – Warum uns die anderen gern haben können“ ein offen nationalistisches Buch geschrieben, das in vielerlei Hinsicht ohne Walsers Tabubruch von 1998 im Mainstream-Journalismus nicht so ohne weiteres zu denken war. Der Bezug zu Bausingers Friedensliebe der Deutschen ist ganz offenbar in einem Interview Matusseks mit Peter Sloterdijk. Matussek gibt dem TV-Philosophen eine neu-deutsche Steilvorlage, wenn er fragt:

„Sichtbar wird vielmehr ein neues deutsche Selbstbewusstsein, zumindest in der Außenpolitik, die sich sogar den Widerstand gegen den amerikanischen Messianismus erlaubt hat.“

Das Ressentiment gegen „jüdischen“ Messianismus, wie er in antisemitischen Texten überall auftaucht, bekommt hier völlig selbstverständlich, aber rhetorisch kaschiert, seine Weihen. Der alte SPD-Mann Egon Bahr nennt das in einem Büchlein dann logisch „den deutschen Weg“ – gegen den „amerikanischen“ – und der Wirtschaftswissenschaftler Werner Abelshauser stimmt als einer unter vielen in diesen nationalen Chor ein.

Matussek ergeht sich nicht nur in Allgemeinplätzen, die er oft selbst erfindet wie folgenden „Die Liebe zum Vaterland ist eine Kraft, schon seit der Antike“ – aber sein Ton ist so ungeheuerlich aggressiv, schwülstig deutsch, durchsetzt von antienglischen Invektiven, dass deutlich wird, wie stark ein stolzer Deutscher auf Feinde und Gegner eingestellt ist.

Da werden Engländer zum „unsympathischsten Volk auf Erden“ erklärt, der deutsche „Bildungsbürger“ beschworen und gegen die „englische Klassengesellschaft“ gesetzt und Klaus von Dohnanyi, ein Altpolitiker der SPD aus Hamburg, phantasiert demokratische Traditionslinien der Deutschen herbei, die angeblich älter seien als die Englands ohne zu betonen, dass es in Deutschland keine erfolgreiche und konsequente demokratische Revolution je gegeben hat. Ein Hinweis auf deutsche Verbrechen trotz „Bildung“ gereicht den beiden Gesprächspartnern Dohnanyi und Matussek dazu, Englands Sklavenhandel und Nordamerikas Sklavenhaltergesellschaft zu geißeln. Diese deutschen Schuld-Projektionsleistungen sind zwar häufig analysiert worden, aber treten heute umso reflexhafter, ungenierter hervor als je zuvor. 9/11 hat da Dämme brechen lassen.

Und so kulminiert das Gespräch der beiden Stolzdeutschen in einem Satz, der an Antisemitismus und Wiederbetätigung im Sinne des Nationalsozialismus nicht deutlicher ausfallen könnte:

„Die Juden hatten es ja sogar in Deutschland in den ersten Nazi-Jahren besser als damals die meisten Schwarzen im Süden.“

So spricht Klaus von Dohnanyi und Matthias Matussek hats gefreut! Solche Tabubrüche, den Nationalsozialismus mit seiner Braunen Revolution von 1933 als Beginn zu loben, sind heute eine Bestsellergarantie und kein Fall mehr für einen Skandal. Der Verlag der solche antijüdische Propaganda druckte heißt auch nicht Grabert-Verlag, vielmehr S. Fischer, einer der ganz großen Verlage in der Bundesrepublik.

An anderer Stelle untermauert Matussek seinen (nun sekundären) Antisemitismus, seine Erinnerungsabwehr ist Walser nach dem Munde geredet:

„Bei uns wurde der Holocaust, nach einer lähmenden, brütenden Phase der Verdrängung, in eine übereilfertige, nicht mehr versiegende, immer glattere und abgeschliffenere Beschuldigungs- und Verachtungs- und Selbstverachtungsphraseologie überführt, in der ständig nach dem politischen Vorteil geschielt wird.“

Vor 30 Jahren hätte jeder Leser sofort an einen Revisionisten gedacht bei solchen Zeilen, aber nein: Matussek ist kein Holocaustleugner, gewiss nicht. Er ist ein typischer sekundärer Antisemit, der immer, wenn es um die deutschen Verbrechen geht, jene zwar nicht leugnet aber als Bagatelle abtut, ja er spricht – wörtlich – bezüglich des Holocaust, der als Thema auf einem Empfang oder einer Party vorkam, von einem „Stimmungskrepierer.“

Diese neu-deutsche Selbstverständlichkeit gerade als Deutsche stolz zu sein, zu betonen, ja zu brüllen: die deutsche Geschichte war im Kern was sehr Schönes, etwas ganz Einzigartiges, „Hitler“ war lediglich ein „Freak-Unfall der Geschichte“ (O-Ton Matussek), ist die neue Befindlichkeit, die neue, deutsche Ideologie im 21. Jahrhundert.

„Ich bin nicht tief traumatisiert, denn ich denke nicht oft an die deutsche Schuld und an den Holocaust“ sagt Matussek, er kämpft wie Walser und Konsorten gegen die „moralische Keule“.

Das sind die Töne des nationalen Apriori.

hagalil.com 07-07-2006

 

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