Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)
Am Mittwoch, 28. Mai 2025, sprach in Mannheim in der jüdischen Gemeinde die israelische Kunsthandwerkerin, Mitarbeiterin in einem Reisebüro und Friedensaktivistin Irit Lahav über ihr Überleben am 7. Oktober 2023. Sie ist im Kibbutz Nir Oz geboren worden und lebte bis zum 7. Oktober dort. Das Schweizer Medium Blick hat schon am 12. Oktober 2023 über das Überleben von Irit Lahav und ihrer Tochter berichtet.
Es ging exakt um 6:29 Uhr mit einem Raketenalarm los, wie ihn viele Israelis zumal in der Nähe des Gazastreifens seit vielen Jahren gewohnt sind. Man hat dann 15 Sekunden Zeit, um in den Schutzraum zu gehen. Das machte Irit mit ihrer Tochter. Doch wenige Minuten danach hörten sie wieder Geräusche, die sich als Gewehrsalven von automatischen Waffen herausstellten, zuerst merkte das Irits Tochter, während Irit das nicht glauben konnte.
Danach wussten sie, dass es um ihr Leben ging. Was tun in einem Schutzraum, der nicht so gemacht ist, dass man ihn verriegeln oder abschließen kann? Die beiden Frauen verhielten sich mucksmäuschenstill und hatten kein Licht an. Nach einiger Zeit hatte der Bruder von Irit, der 5 km entfernt in einem Moshav lebt, die Idee, den Schutzraum mit überkreuzten Hölzern oder Ähnlichem zu verriegeln. Da sie in dem Schutzraum allerhand Gegenstände hatten, bekamen sie das mit enormem Erfindungsreichtum, einem Teil eines Paddels und einem Stück des Staubsaugers sowie Leder hin. Später dichtete Irit einen Zwischenraum zwischen Tür und Türrahmen noch mit Silberdraht ab, den sie in ihrer Schmuckwerkstatt, die sich in dem Schutzraum befindet, hatte. Insgesamt versuchten die palästinensischen Terroristen fünfmal, in den Schutzraum zu gelangen, ca. im Zeitraum zwischen 7 Uhr und dem frühen Nachmittag.
Erst kurz vor 18 Uhr wurden die beiden Frauen durch Soldaten der israelischen Armee befreit.
Ihr Schock über das komplette Versagen des eigenen Staates und der eigenen Armee sitzt sehr tief. Irit betonte, dass sie ein Jahr lang weder die israelische Nationalhymne Hatikvah hören noch die israelische Fahne sehen konnte. Bei Beerdigungen hat nicht nur sie sich abgewandt, als die israelische Fahne gezeigt wurde – so tief saß der Schock, dass das zentrale Versprechen des einzigen jüdischen Staates, seine Bewohner*innen immer zu schützen, gebrochen worden war. Bis heute ist unklar, warum und wie die Armee, die Polizei, die Geheimdienste und die Politik die Gefahr nicht sehen wollten, trotz interner Warnungen vor einem bevorstehenden Großangriff der Jihadisten aus Gaza – eine zentrale Untersuchungskommission wurde ja bislang von Netanyahu und der Regierung verhindert.
Doch noch viel schlimmer ist die arabische Sprache für Irit Lahav – sie ist traumatisiert durch das mörderische und brandschatzende Brüllen der Araber/Palästinenser, die in ihrem Haus und im ganzen Kibbutz Nir Oz wüteten. Sie hat schon Panik bekommen, als sie in Mannheim Leute Arabisch sprechen hörte – die Synagoge und das jüdische Gemeindezentrum liegen in den „Quadraten“, der Innenstadt von Mannheim, mit einem sehr hohen Migrantenanteil, speziell Türken und Araber.
Irits Vortrag in Mannheim war sehr emotional, mehrfach musste sie weinen, es sind äußerst dramatische Erinnerungen – Dutzende ihrer Freundinnen und Freunde aus dem Kibbutz sind ermordet worden, 14 noch in Geiselhaft, wo nicht klar ist, wie viele von ihnen überhaupt noch leben.
Es wurden ca. ein Drittel aller anwesenden Bewohner*innen des Kibbutz Nir Oz von den palästinensischen Terroristen am 7. Oktober ermordet oder entführt.
Seit Januar 2024 leben Irit Lahav, ihr Tochter und die anderen Überlebenden des Massakers von Nir Oz in einer Neubausiedlung in Kiryat Gat in einem Hochhaus.
Im Laufe des Abends bei der Diskussion zu ihrem gut 90-minütigen Vortrag sowie im Anschluss an die Veranstaltung wurde noch einiges klarer, was die Beziehung von Israelis, linken, friedensbewegten Jüdinnen wie Irit und einigen hier lebenden irgendwie Pro-Israel Aktivist*innen ausmacht.
Manch eine meinte im Gespräch mit anderen nach der Veranstaltung ernsthaft, „Gott haben seinen eigenen Plan, was er mit uns vorhat“, als andere erwähnten, dass „Gott wohl geschlafen habe“, als Juden lebendig verbrannt wurden von den muslimischen Terroristen.
Irit betonte, dass allein im Kibbutz Nir Oz drei Leute vor dem 7. Oktober regelmäßig palästinensische Patienten und Patientinnen in Krankenhäuser oder zur medizinischen Versorgung nach Israel fuhren. Einer der drei war Oded Lifshitz, am 7. Oktober 85 Jahre alt, er wurde von den Jihadisten ermordet, wie auch der zweite Friedensaktivist. Die dritte im Bunde war – Irit Lahav.
Sie meinte am Ende des Abends, auf die Frage, wie sie heute die Palästinenser sehen würde, dass es sehr schwer sei für sie, diese Situation in Worte zu fassen. Sie dachte wie viele andere auch, dass es primär die Hamas oder der Islamische Dschihad seien, die für den Terror verantwortlich sind. Doch sie hat gelernt, dass Kinder ab dem Alter von 3 Jahren im Gazastreifen bei Theaterstücken oder öffentlichen Auftritten lernen, dass in einem solchen ‚Stück‘ der Kernaspekt ist, Juden zu ermorden.
Sie und andere Bewohner*innen von Nir Oz haben Frauen- und männliche Teenagerstimmen gehört am 7. Oktober, manche Palästinenserin machte für ihre noch blutbespritzten Männer, Brüder, Söhne oder Neffen Sandwiches, sie schalteten die Computer der jüdischen Bewohner an und stellten die Fernseher auf arabische Sender. Eine unfassbare Situation. Mit solchen Menschen jemals Frieden machen?
Irit Lahav sagte, was traditionell zionistisch ist: „Mit FEINDEN schließt man Frieden“ – nicht mit Freunden.
Die Palästinenser*innen stahlen alles, was sie mitnehmen konnten, Löffel, Unterwäsche, Koffer, Laptops, einfach alles.
Was sie nicht fanden, war das hochwertige Rennrad von Irit, das in einem abgeschlossenen Raum auf dem Gelände stand – sie ist Triathletin.
Sarkastisch erzählte Irit dann, wie sie und ihre Tochter in ihrem Schutzraum eine Wand mit Büchern aufstellten, so dass sie, sollten die Terroristen der Hamas und andere eindringen und sofort Gewehrsalven abfeuern, durch die Bücher geschützt wären, vielleicht verletzt werden würden, aber nicht getötet. Eines der oberen Bücher, das ihr dabei in die Hände fiel, war „Aufstieg und Fall des Dritten Reiches“ (ein bekanntes Werk des US-amerikanischen Historikers William Lawrence Shirer von Anfang der 1960er Jahre), darauf Irit: „Maybe this time Hitler will help us!“…
Das einzige Wertvolle, was sie ebenfalls nicht mitnahmen, die palästinensischen Judenmörder und Plünderer, war eine 46 Kilogramm schwere bronzene Buddhafigur im Haus von Irit. Sie ist sozusagen eine zionistische Buddhistin, der Dalai Lama schenkte ihr einen kunstvollen tibetischen Wandteppich, als sie vor Jahren in einem Kloster in Indien war, wie die Times of Israel in einem Bericht im März 2024 schreibt.
Bei der Diskussion in der jüdischen Gemeinde Mannheim hat sie betont, dass sie die aktuelle israelische Regierungs- und Kriegspolitik ablehnt. Ja, sie hat sich schon überlegt, ob sie die Fahrten für kranke Palästinenser*innen wieder aufnehmen würde, wenn ein Waffenstillstand herrschte – und sie meinte „ja“, das würde sie womöglich wieder tun, obwohl sie jetzt weiß, dass ein sehr großer Teil der Palästinenser*innen vom Judenhass getriebene Existenzen sind, böse Menschen.
Aber sie selbst, das betonte Irit, sie möchte kein böser Mensch sein, sondern ein guter Mensch, sie möchte nicht vom Hass getrieben sein, so verständlich der ist von Seiten der Überlebenden und Angehörigen der Opfer des 7. Oktober 2023.
Das brachte ihr im Anschluss an die Veranstaltung von manchem Teilnehmer höhnische Kommentare. Ein Teilnehmer der Veranstaltung sagte in einem privaten Gespräch, das ich mitbekam, er finde es schlimm, dass die israelische Armee „solche Leute“ wie Irit auch noch beschützen müsse (!). Viel perfider geht es kaum noch – das war ein (sich selbst so bezeichnender) „extrem rechter“ Netanyahu-Fan.
Und damit sind wir am heutigen Tag, also nur zwei Tage später, als der ehemalige Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) Reinhold Robbe dem amtierenden Präsidenten der DIG Volker Beck vorwirft, sich hinter die rechtsextreme Regierung in Jerusalem zu stellen, wie der Tagesspiegel heute (5 Uhr am Morgen) berichtet:
Innerhalb der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) gibt es Streit über den Umgang mit der Gaza-Offensive von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Der frühere DIG-Präsident Reinhold Robbe (SPD) sagte dem Tagesspiegel, der amtierende DIG-Präsident Volker Beck (Grüne) sei „inzwischen zum Sprachrohr der rechtsextremistischen israelischen Regierung geworden“.
Prompt kam ein Dementi, und der Bayerische Rundfunkt berichtete um 15 Uhr, dass Beck sich von den extremistischen Teilen der israelischen Regierung distanziere:
„Meine Aufgabe, Israel zu verteidigen, wird immer schwieriger, weil es in der israelischen Regierung Stimmen gibt, die völlig inakzeptabel sind“, sagte der frühere Grünen-Politiker in einem Interview. „Wenn Minister dazu aufrufen, die Bevölkerung in Gaza auszuhungern oder ‚ins Ausland zu schicken‘, was nichts anderes als eine ethnische Säuberung ist, dann macht das unsere Aufgabe sehr schwierig“, sagte Beck.
Beck bezog sich dabei auf Äußerungen der ultrarechten israelischen Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir. Smotrich drohte kürzlich mit einer „totalen Zerstörung“ des Gazastreifens. Er sagte zudem, die Einwohner sollten im Süden des Küstenstreifens in einer „humanitären Zone“ konzentriert werden. Von dort aus sollten sie dann in großer Zahl das Gebiet verlassen und in Drittländer gehen.
Diese Kritik innerhalb der DIG zeigt, wie tief die Gräben inzwischen innerhalb der Pro-Israel Szene sind. Seit Jahren gibt es ähnliche Zerwürfnisse wegen Trump und Israel, insgesamt kann man eindeutig sagen, dass Linkszionismus für die meisten in der Pro-Israel Szene ein Fremdwort ist.
Irit Lahav betonte am Mittwoch in Mannheim schließlich, dass sie wirklich nicht weiß, wie sie reagieren würde, wenn eine der palästinensischen Frauen aus Gaza, die sie eventuell in Zukunft einmal in ein israelisches Krankenhaus fahren würde, ihre Ohrringe oder sonstigen Schmuck von ihr tragen würde …
Irit hat ihre alte Gemeinschaft von Kibbutzniks jetzt in dieser Hochhaussiedlung, aber auch den Ort in Nir Oz, der wieder aufgebaut werden wird, mit all den Granatäpfelbaumen und der Landschaft, den Feldern, der Kunst und der zionistischen Hoffnung.
Auch hier eine ganz bittere und typische Pointe: Eine Geisel erzählte nach ihrer Freilassung, dass einer der Terroristen in Gaza betonte, dass die Granatäpfel auf Niz Oz so gut schmecken würden – dabei liefert das Kibbutz gar keine Granatäpfel nach Gaza. Könnte es sein, dass das einer der Arbeiter war, der in Israel arbeitet – im Kibbutz Nir Oz – und Teil der Jihadistenbande vom 7. Oktober war?
Ihr Verhalten erinnert stark an den jüdischen Philosophen Emmanuel Levinas, der das Gewährenlassen durch die israelische Besatzungsmacht von christlichen, katholisch-maronitischen Terroristen vom 16.-18. September 1982, die zwischen 500 und 3000 Palästinenser*innen in Beirut in den Flüchtlingslagern Sabra und Chatila in Beirut im Libanon niedermetzelten, absolut unerträglich fand.
350.000 Israelis demonstrierten daraufhin in Tel Aviv gegen die israelische Armee (IDF) und die israelische Regierung.
Und dann kommen die Rechten, die Neuen oder extremen Rechten und Netanyahu-Fans und lachen über Friedensaktivistinnen wie Irit Lahav, ich habe es selbst gesehen, in Mannheim. Ohne das Wort „Schöngeist“ zu verwenden, meinten sie genau das. Und Irit Lahav hat dieses einnehmende Lachen, trotz dieser unerträglichen Trauer und den Traumata, die sie hat, und den Tränen, die immer wieder kamen.
Und dann kommt Emmanuel Levinas, der in einer ganz ähnlichen Situation war, 1982, als Israel bei Kriegsverbrechen wenigstens zusah, obwohl sie hätten verhindert werden können, und heute womöglich selbst welche begeht – obwohl der Krieg gegen den Antisemitismus und Jihad 1982 so berechtigt war wie heute.
Aber: Er hat Grenzen und die hat Levinas so im Blick wie Irit Lahav. Levinas sagte in einem legendären Radio-Gespräch – wenige Tage nach dem Massaker in Beirut – mit Shlomo Malka, dem heutigen Biographen von Levinas, und Alain Finkielkraut:
Aber der Punkt, wo alles unterbrochen ist, wo alles gebrochen ist, wo die moralische Verantwortlichkeit aller, die die Unschuld betrifft, die sie reklamieren, zum Vorschein kommt und ihnen unerträglich ist, ist in den Ereignissen von Sabra und Chatila erreicht. Verantwortlichkeit aller.
Hier kann niemand uns sagen: Ihr seid in Europa und im Frieden, ihr seid nicht in Israel und ihr erlaubt es euch zu urteilen!
Ich denke, daß genau hier diese Unterscheidung zwischen den einen und den anderen, zumindest für diesen Fall, verschwindet. Man wird uns auch sagen, wie Sie es eben gesagt haben: ‚Ihr seid schöngeistig‘. Hegel ist es, der uns gelehrt hat, daß man alles sein darf, aber kein Schöngeist. Aus Angst davor, Schöngeist zu sein, wird man ein verbrecherischer Geist.
(Israel: Ethik und Politik, in: Emmanuel Levinas (2007): Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Pascal Delhom und Alfred Hirsch, Zürich/Berlin: diaphenes, S. 237-248, hier S. 243f.)
Der Journalist Nicholas Potter, gegen den eine sehr gefährliche antisemitische Kampagne von Antizionist*innen in Berlin läuft, schreibt heute über den Tod des 11-jährigen Mädchens Yaqeen Hammad in Gaza, die als „Influenzerin“ im Netz berühmt war, sie starb bei einem israelischen Luftangriff.
Er sieht offenbar „den anderen“, so wie Irit Lahav und Emmanuel Levinas „den anderen“ sehen oder sahen.
Das ist eine zutiefst jüdische Ethik, den anderen zu sehen, wie es das große Lebenswerk von Levinas bezeugt.
Die aktuelle israelische Regierung arbeitet entgegen dieser Ethik, sie will das Westjordanland zu einem Teil Israels machen und Palästinenser aus Gaza vertreiben oder ihnen das Leben dort unerträglich machen oder sie dort in unregelmäßigen Militäraktionen erschießen, absichtlich oder als Kollateralschaden zur perfiden Taktik der Hamas, sich unter Zivilisten zu mischen. Aber die Hamas kann man nicht auslöschen, das glauben nur völlig Irre und Durchgeknallte. Es geht um eine Demilitarisierung der Köpfe in Gaza, um westliche Angebote an Demokratie – das ist das einzige Mittel, dem Terror schrittweise das Wasser abzugraben. Dabei helfen auch diplomatische Kontakte zu moderateren arabischen Regimen – die Israel aktuell auch stark beschädigt.
Levinas hätte diese Politik von Benjamin Netanyahu so scharf abgelehnt, wie sie von Irit Lahav heute abgelehnt wird – im Namen des Judentums und des Zionismus und im Namen der Geiseln – Bring them Home NOW!!!
Das machte diesen Abend in Mannheim so umwerfend, die Kraft, die Irit Lahav ausstrahlt, trotz dieser Todesängste vom 7. Oktober, der unschilderbaren menschlichen Verluste, der massakrierten Freundinnen und Freunde – und trotzdem ihr Betonen, dass „wir“ jedenfalls nicht so sein wollen wie die meisten Palästinenser*innen, gerade auch solche, die zuvor Hilfe von Jüdinnen und Juden, Zionistinnen und Zionisten erfahren hatten die Jahre zuvor.
Dass ein gewisser oder gar substantieller Teil jener, die Irit Lahav zuhörten, das nicht verstehen wollen und können, war ein weiteres Drama dieses Abends und Ausdruck der politischen Kultur unserer Zeit oder eben des Zeitgeistes.