Von Dr. Clemens Heni, 5. November 2017
Die Nationalratswahl in Österreich spiegelt den Rechtsruck in ganz Europa wider. Während mit der Alternative für Deutschland (AfD) in Deutschland erstmals Neonazis, die stolz sind auf die deutschen Landser im Zweiten Weltkrieg, in den Bundestag einzogen (12,6%), bekam die rechtsextreme Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) mehr als doppelt so viele Stimmen (25,97%) und wird voraussichtlich an der Regierung als Juniorpartner (der ein Seniorpartner ist) der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) unter Sebastian Kurz beteiligt.
Das Magazin Falter publiziert nun die neo-nazistische Vergangenheit des FPÖ-Frontmanns HC Strache auf dem aktuellen Cover:
Vor diesem Hintergrund ist zumindest am Rande bemerkenswert, wie die Wissenschaft und Publizistik mit der extremen Rechten umgeht.
In einem von dem Wiener Politologen Stephan Grigat herausgegebenen Band (in einer Buchreihe im Nomos Verlag, die vom Politikwissenschaftler Samuel Salzborn ediert wird) über die AfD und FPÖ schreibt der Wiener Germanist Gerhard Scheit[i] einen grundsätzlichen Beitrag über den Umgang mit den neuen Rechten.
Er setzt so ein:
„Erinnert sich noch jemand an Jörg Haider? Im Unterschied zur heutigen Freiheitlichen Partei Österreichs mit Heinz-Christian Strache als Vorsitzendem hatte der frühere FPÖ-Chef noch geopolitische Visionen. Wenn Haider zuweilen wie seine Nachfolger gegen die Aufnahme von Flüchtlingen in der ‚Heimat‘ polterte, suchte er deshalb durchweg ein anderes Verhältnis zum Islam, der ihm als Bündnispartner wichtiger war denn als Feindbild.“
Zentral ist folgender Abschnitt, der das Wort „Souveränisten“ in den Diskurs einführt bzw. zitiert:
„Mit diesem Rückzug auf die Frage des Grenzschutzes bilden diese ‚Souveränisten‘, wie sie sich selbst manchmal nennen, im Inneren nur das grelle Pendant zur diskreten Politik der Europa-‚Unionisten’ im Äußeren. Der Verzicht auf Intervention, der die EU prägt und der sie weltpolitisch prädestiniert erscheinen lässt, zu den ‚Reserven des allgemeinen Chaos‘ beizutragen – um den Ausdruck zu verwenden, mit dem Karl Kraus die Politik am Vorabend des Ersten Weltkriegs charakterisiert hat (Kraus 1989, 11) –, konnte auch nur solange folgenlos und unauffällig bleiben, als die USA als Welthegemon sich noch der Interventionen annahmen.“
Das heutige Europa habe also ein Problem mit zu wenig „Intervention“ und die USA seien kein „Welthegemon“ mehr, damit meint Scheit die Obama-Zeit. Trump versprüht für Scheit durchaus Hoffnung, wie er nach der Wahl Trumps zum 45. Präsidenten im November 2016 schrieb.
Auch bezüglich Israel sieht Scheit eher Hoffnung bei den extremen Rechten:
„Israel verliert als Projektionsfläche des antikapitalistischen Wahns unmittelbar an Bedeutung, dafür tritt die Brüsseler Bürokratie umso mehr hervor: ‚Die Menschen werden es sich nicht mehr länger gefallen lassen, für einen zentralistischen Moloch ausgeplündert zu werden‘, sagte etwa Strache 2011 im Nationalrat.“
Diese Stelle ist in mehrfacher Hinsicht problematisch, weil sie suggeriert, Israel sei bislang bei der extremen Rechten, um die geht es hier, aus „antikapitalistischen“ Gründen heraus attackiert worden.
Das zarte Wort von „Rechtspopulisten“ wird von Scheit auch in Bezug auf Israel verwendet:
„Und solange die Linkspopulisten der Bedrohung Israels nicht nur nichts entgegensetzen, sondern sie sogar fördern, können die Rechtspopulisten innenpolitisch gewisse Erfolge erzielen, indem sie Israelsolidarität simulieren, was freilich noch immer besser ist, als Israelhass zu praktizieren.“
Der ganze marxistische Hokuspokus, für den Scheit steht, wird in folgendem Zitat deutlich, das indiziert, dass er die Geschichte des Antisemitismus einzig auf eine falsche Analyse des Kapitalismus gründet und alle anderen ideologischen, politisch-kulturellen, religionshistorischen, psychologischen, philosophischen, kulturellen etc. Aspekte des Antisemitismus negiert, weil es nur einen Grund gebe für die „Logik des antisemitischen Wahns“:
„Der Feind dieser Feindschaft ist dadurch in der Projektion total, wie der Weltmarkt in der Wirklichkeit, dass er nicht nur ein ganz bestimmter, sondern ein nicht austauschbarer ist; die Feindschaft muss ‚vorherbestehend‘ und ‚unabänderlich‘ sein, gleichgültig wie der Feind sich auch verhalten mag, ob er einwandern oder auswandern möchte, keinen Staat hat oder einen gründet, sich wehrt oder sich anpasst: er wird vernichtet. Nur dann ist es möglich, an die Erlösung in der Vernichtung zu glauben, wenn wenigstens dieser eine nicht austauschbar ist und zugleich die totale Austauschbarkeit – den Tauschwert – verkörpert. Das ist die Logik des antisemitischen Wahns.“
Der Nationalsozialismus wird hierbei lediglich als Krisenbewältigung herunter dekliniert und auch heutige Phänomene wie Djihad und Neonazismus unter dieser ökonomischen Brille beäugt. Das ist ein Ökonomismus, wie man ihn von den K-Gruppen der 1970er Jahre kennt, auch wenn sich ein Scheit davon meilenweit entfernt wähnt.
Selbst das den Djihad verharmlosende Gerede von den Muslimen als den Juden von heute, das Scheit selbstredend und zu Recht ablehnt, führt er so grotesk verkürzt und ökonomistisch ein, dass es wie eine marxistische Obsession erscheint, jedes Phänomen (Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Behindertenfeindlichkeit etc.) mit einem Hinweis auf Marx aus dem 19. Jahrhundert zu erklären:
„Demgegenüber gibt sich allerdings das ideologische Manöver vieler Linker, das den Namen Islamophobie trägt und wonach der Wahn, der in Deutschland zur Vernichtung der Juden führte, bei den Rechtspopulisten bloß das Objekt des Hasses ausgewechselt habe und sich heute gegen die Muslime richte, als eine Schutzbehauptung zu erkennen: Sie dient dem Appeasement und der Kollaboration mit dem Djihad, dem auch jene international nolens volens unternommenen Schritte des Krisenaufschubs kaum etwas anhaben können, weil er selbst nichts anderes ist als die Anpassung des Vernichtungswahns an diese neuen Bedingungen kapitalistischer Verwertung.“
Neonazismus und die FPÖ werden als „Krisenaufschub“ trivialisiert, wie der Djihad. Vor HC Strache und den österreichischen Neonazis hat Scheit keine Angst, denn er weiß, „dass für die Juden und Israel die unverhältnismäßig größere Bedrohung von der djihadistischen Disposition im Islam ausgeht“.
Holocaustüberlebende in Österreich wie Rudolf Gelbard sehen das anders und warnen vor der FPÖ, aber was kümmert das den marxistischen Weltgeist? Was kümmert einen strammen Marxisten die Veränderung der politischen Kultur hin zu mehr Holocaustbejahung und Erinnerungsabwehr, wenn er doch eh erkannt hat, schlau wie er ist, dass das alles nur ein Aufschieben der kapitalistischen Krise ist, die irgendwann eh komme? Was, wenn der kluge Marxist erkannt hat, dass der Djihad und die Linken in Österreich die eigentliche Gefahr sind?
Und so kulminiert der von Grigat herausgegebene Beitrag Scheits in einer Attacke auf die Flüchtlinge von 2015, die in diesen Worten auch von der CSU, der FPÖ, den Nazis der Identitären Bewegung oder der AfD kommen könnte:
„Die zeitweilig unkontrollierte Öffnung der Grenzen im Jahr 2015 war nur die unmittelbar sichtbar gewordene Konsequenz der Nichtinterventionspolitik, die seit der Regierung Schröder den Ton angab.“
Syrische Flüchtlinge, die zu Millionen vor dem Massenmörder Assad wie vor den Massakern und unsagbaren Verbrechen der Jihadisten des Daesh (IS) flohen, werden zu einer Gefahr stilisiert. Man könne zwar versuchen, die Flüchtlinge zu erziehen aber:
„Soweit es dabei nicht mehr gelingt, der bedrohlichen Tendenzen Herr zu werden, zeichnen sich zwangsläufig Obergrenzen in der Flüchtlingsaufnahme ab.“
Und so liest sich der letzte Absatz in diesem den Neonazismus trivialisierenden Elaborat von Gerhard Scheit wie ein Freifahrschein für HC Strache als neuer österreichischer Innenminister, denn er sei immer noch „das kleinere Übel“ verglichen mit den Linken und dem Djihad in Österreich:
„Kurzum: es ist nicht gut, dass es die ‚Souveränisten‘ gibt. Sie sind kein Gegengift zur Katastrophenpolitik, sondern setzen sie fort; sie sind im gesellschaftlichen Zusammenhang betrachtet nicht das kleinere Übel, sondern Teil des größeren. Der Missachtung des Primats der Außenpolitik entsprungen, also der Weigerung, an der Seite der USA eine hegemoniale Politik kontinuierlich durchzusetzen, leisten sie ihren freilich einstweilen nur kleinen Beitrag, das Chaos der deutschen Politik im Inneren auszuweiten durch ihren massenpsychologisch so erfolgreichen Rückzug aufs Vaterland, das zur Ideologie des geschlossenen Handelsstaats eingeschrumpft ist. Herausgehoben aber aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang, den sie selbst nur reproduzieren, und jenen Linken unvermittelt gegenübergestellt, die den Djihad verharmlosen und so diesem zur weltweiten Bedrohung angewachsenen Behemoth nützlich sind, können sie sogar als das kleinere Übel gelten.“
So ein skandalöser Text von Gerhard Scheit wird also von Stephan Grigat publiziert und von Samuel Salzborn in eine Reihe im Nomos Verlag aufgenommen. Neonazis, die Identitäre Bewegung oder die AfD und FPÖ als „kleineres Übel“ verglichen mit den Linken und dem Djihad.
In Frankreich wurde kürzlich so ein „kleineres Übel“ inhaftiert, wie die ZEIT berichtete:
„Sieben Jahre Haft und 30.000 Euro Bußgeld lautet das Urteil gegen ein Mitglied der Identitären Bewegung aus Lille in Frankreich. Wie die Zeitung Ouest France berichtet, hatte der 54-jährige Rechtsextremist Claude Hermant mehr als 500 Waffen verkauft. Sechs davon wurden 2015 ausgerechnet von dem Dschihadisten Amedy Coulibaly bei einem blutigen Anschlag in Paris verwendet. Eine Polizistin und vier Supermarktbesucher wurden damals getötet.“
Wenn man dann noch in Rechnung stellt, dass Herausgeber Grigat selbst nur so lange für Israel ist, wie es Antisemitismus, ergo aus seiner Sicht: Kapitalismus und Staat gibt, wird es noch absurder. Grigat hegt sogar gewisse Ressentiments gegen die hebräische Sprache und sagt:
„Und der eine oder die andere Antideutsche jüngeren Semesters sollten sicher lieber Adorno lesen als eifrig Hebräisch zu pauken.“[ii]
Wie wichtig gerade Tel Aviv als erste hebräische Stadt ist und wie zentral für Nahum Sokolov und viele andere Zionisten die hebräische Sprache war, wird gar nicht erst versucht, zu verstehen. Zumal ja Sokolovs Bedeutung für den Zionismus und die Balfour-Deklaration vom 2. November 2017 von Linken gar nicht erkannt wird, da dies gegen die weit verbreitete Annahme steht, der Holocaust sei der Grund für Israel und Israel primär ein Schutzraum vor Antisemitismus – was falsch ist, Israel ist in erster Linie eine Rückkehr zu Zion und zu jüdischer Selbstbestimmung und zudem natürlich der Schutzraum für Juden vor Antisemitismus in der Post-Holocaust-Welt.
Zudem sagt Grigat ganz grundsätzlich, warum für ihn der Zionismus falsch ist und nur vorübergehend zu akzeptieren sei:
„Dementsprechend ist der Zionismus für die kommunistische Kritik zwar nicht die richtige Antwort auf den Antisemitismus (das wäre nach wie vor die Errichtung der klassen- und staatenlosen Weltgesellschaft, die freie Assoziation freier Individuen, die befreite Gesellschaft, die es den Menschen ermöglicht, ohne Angst und Zwang verschieden zu sein), aber er ist die vorläufig einzig mögliche. (…) Solange die emanzipative Überwindung von Staat und Kapital keine Aussicht auf Erfolg hat, gilt es, kritische Theorie als entfaltetes Existenzialurteil zu betreiben (vgl. Horkheimer 1937: 201) und an einem materialistisch zu interpretierenden zionistischen kategorischen Imperativ festzuhalten: alles zu tun, um die Möglichkeiten reagierender und präventiver Selbstverteidigung des Staates der Shoahüberlebenden aufrecht zu erhalten.“[iii]
Scheit spielt 2017 die neonazistische Gefahr herunter,[iv] stellt sich aber als der größte Freund Israels dar. Sein Kumpel und Herausgeber Grigat sagte ja schon vor Jahren (wie zitiert), wie lange diese Solidarität mit dem Judenstaat gilt: bis zum Kommunismus, der „klassen- und staatenlosen Weltgesellschaft“.
Sobald in Wien und weltweit, das ist wichtig, die Revolution ausgebrochen ist, ist Schluss mit einem jüdischen Staat und jüdischer Souveränität. Dann behüte Gott oder wer immer die Juden vor den Marxisten.
[i] Gerhard Scheit (2017): Eingeschrumpfter Behemoth und neue ‚Souveränisten‘. Über die Voraussetzungen der Erfolge von FPÖ und AfD, in: Stephan Grigat (Hg.): AfD & FPÖ. Antisemitismus, völkischer Nationalismus und Geschlechterbilder, Baden-Baden: Nomos, 165–181.
[ii] Stephan Grigat (2009): „Projektion“ – „Überidentifikation“ – „Philozionismus“. Der Vorwurf des Philosemitismus an die antideutsche Linke, in: Irene A. Diekmann/Elke-Vera Kotowski (Hg.), Geliebter Feind. Gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Julius H. Schoeps, Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg, 467–485, 481.
[iii] Stephan Grigat (2006): Befreite Gesellschaft und Israel. Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Zionismus, in: Stephan Grigat (Hg.), Feindaufklärung und Reeducation. Kritische Theorie gegen Postnazismus und Islamismus, Freiburg: ça ira, 115–129, online unter http://buecher.hagalil.com/ca-ira/grigat-3.htm (eingesehen am 05.11.2017).
[iv] Der Band umfasst nur zehn Beiträge (Stephan Grigat, Samuel Salzborn, Marc Grimm/Bodo Kahmann, Juliane Lang, Christoph Kopke/Alexander Lorenz, Heribert Schiedel, Bernhard Weidinger, Karin Stögner, Gerhard Scheit, Franziska Krah) und ein Geleitwort von Julius H. Schoeps vom Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam. Bezeichnenderweise wird dieser unglaubliche Beitrag von Scheit in dem Band in einer langen, ganzseitigen und überschwänglich lobhudelnden Rezension in der Zeitschrift der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) nicht einmal kursorisch erwähnt, geschweige denn attackiert, Lothar Galow-Bergemann (2017): Rezension von Grigat (Hg), AfD & FPÖ, in: DIG Magazin 2/2017, 50.
©ClemensHeni