Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Schlagwort: Uni Tübingen

Preisgekrönter Infektiologe und Professor an der Universität Tübingen: Kinder und Jugendliche könnten an der Impfung „mehr leiden“ als an einer „Infektion“

Von Dr. phil. Clemens Heni, 24. August 2021

In einem zweiteiligen Film zu Corona hat sich der Linzer Virologe Prof. Dr. Martin Haditsch auf eine Weltreise begeben und einige der prominentesten Forscherinnen und Forscher zu Corona interviewt. Heute möchte ich nur auf einen der Interviewten hinweisen, da er besonders aktuell und relevant ist: Professor Dr. Peter Kremsner, Direktor des Instituts für Tropenmedizin an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.

Dieses Institut befindet sich, wie viele von Ihnen wissen werden, in der Wilhelmstraße in Tübingen, gegenüber vom „Brecht-Bau“, wo man Sprach- und Literaturwissenschaften studieren kann, und nur 450 Meter von meinem alten Studentenwohnheim entfernt. Ich kannte als Student der Geschichte, Philosophie, Empirischen Kulturwissenschaft und Politikwissenschaft das Institut für Tropenmedizin schon lange vor Corona, denn auch der Hegel-Bau befindet sich in der Wilhelmstraße, dort kann man Soziologie und Geschichte studieren. Dort gegenüber befand sich die ehrwürdige alte Mensa (wo es auch kostenlosen „Nachschlag“ gab, also zwei Portionen zum Preis von einer) und auf der gleichen Straßenseite der Wilhelmstraße wo Hegel und Brecht residieren, gibt es die Universitätsbibliothek mit ihrem unrühmlichen „Bonatz-Bau“.

Ebenfalls in der Wilhelmstraße befindet sich die Neue Aula von Mitte des 19. Jahrhunderts (die alte Aula stammte aus dem 16. Jahrhundert) mit dem Auditorium maximum. Im Keller der Neuen Aula, wenn ich das recht entsinne, fand Anfang der 1960er Jahre der spätere Konkret-Herausgeber und bekannteste linke Publizist der BRD, Hermann L. Gremliza (1940-2019), der mir diese unter anderem durch einen Text im Spiegel von 1964 bekannte Story auch privat erzählte, ein Ölgemälde eines Nazis, der Professor an der Uni Tübingen war, was den Beginn einer mehr oder weniger kritischen Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit im Universitätsstädtchen bedeutete. So war die SS-Vergangenheit von Theodor Eschenburg noch Jahrzehnte kein Thema.

Zwanzig Jahre lang verstaubte das ungerahmte Werk eines unbekannten Meisters in einem Kellergelaß der Universität Tübingen, ehe es die Studentenzeitung »Notizen« ans Licht der Öffentlichkeit und in ihrer Nummer 53 auf den Titel brachte: Seine Magnifizenz Professor Dr. Hermann Hoffmann Ordinarius für Psychiatrie und Tübinger Rektor der Jahre 1938 bis 1944, in der Uniform eines SA-Führers mit Hakenkreuz-Armbinde, NS-Orden und Rektor-Amtskette großformatig in Öl gemalt.

In jedem Fall ist der Servus TV Film „Corona – auf der Suche nach der Wahrheit“ gerade mit diesem Interview aus Tübingen sehr interessant und die Stellungnahme von Professor Peter Kremsner höchst aufschlussreich. Er verschweigt gar nicht, dass er selbst Teil des Geschäfts ist und mit den „Milliarden“ von Dietmar Hopp vom Fußballclub Hoffenheim forscht Kremsner an einem weiteren mRNA-Impfstoff (Curevac), obwohl ihm herkömmliche Impfstoffe lieber gewesen wären, da sie viel besser erprobt sind, wie er gesteht.

Der preisgekrönte Infektionswissenschaftler Kremsner – Memento-Preis für vernachlässigte Krankheiten, 2017 -, der also Teil des medizinischen Mainstream ist, mit allen Vor- und Nachteilen und allen problematischen Aspekten, die es mit sich bringen, wenn man im Mainstream ein affirmativer Teil der Gesellschaft ist, ist eine aktuelle und äußerst wichtige Quelle zur Kritik der Impfung von Kindern und Jugendlichen. Im Gegensatz zur Stiko ist er offenbar auch ein Experte für die Entwicklung UND Wirkung von Impfstoffen.

Er sagt in dem Gespräch mit seinem Kollegen Haditsch (ab 1:20:55):

Was steht jetzt gegeneinander? Also Impfung einerseits und Erkrankung andererseits oder Infektion andererseits. Ja, da könnte man jetzt überspitzt sagen, bei den Impfstoffen, die derzeit in der Europäischen Union zugelassen sind, ist es so, dass junge Erwachsene und Kinder durch den Impfstoff unter Umständen mehr leiden als durch die Infektion.

Den ganzen Film können Sie hier (Teil 1) und hier (Teil 2) anschauen.

 

Aufrechter Gang und deutscher Wald

Von Clemens Heni

Vorab

„Aufrechter Gang“ und „Wald“ ist mein Thema. Aufrechter Gang etwas allgemeiner, Wald spezieller, als deutscher Wald. Daß Wald als deutsch konnotiert wurde und wird und daß dies bestimmte politische Konsequenzen mit sich brachte bzw. bringt, soll erörtert werden. Ich versuche zu zeigen, daß es wohl nicht als beliebig oder rein zufällig der Wald ist, der als spezifisch deutsch „besetzt“ sein soll und eben nicht das Meer oder die Heide.

I Aufklärung

„Jene Speichellecker mit knechtischem Sinn machen also die Natur zu Schanden, welche nach Freiheit strebt.“ (In: Warneken 1990a: 39) In diesem Satz Carl von Nicolais von 1818, der hier, naturrechtlich begründet in dem nämlichen Sinn, daß Freiheitsstreben als quasi natürliches Anthropologicum gedacht wird, auf kultureller Ebene dem aufrechten Gang das Wort redet, kommt treffend zum Ausdruck, daß der ‚Gehdiskurs‘ eine kulturelle Variante des Aufklärungsdiskurses darstellt.

Das große Aufbegehren der bürgerlichen Klasse nach politischer Macht und wirtschaftlicher Unabhängigkeit, das in der Französischen Revolution von 1789 kulminierte, fand im kulturellen Habitus des Aufrechtgehens seinen Widerhall. Nicht knechtisch, demütig, gebückt, vor Ehrfurcht den Hut ziehend, nein stolz und selbstbewußt soll fortan durch die Straßen der Städte gegangen werden. Rangunterschiede sollten auch auf der Straße nicht mehr zu Tage treten. Selbst adlige und bürgerliche Frauen konnten in dieser Zeit allein auf die Straße, weil sie unbequeme, einen selbständigen Schritt unterdrückenden Schuhe u.a. gegen praktischere Männerschuhe bzw. neu entwickelte Damenschuhe ersetzten. Jedoch hatten diese Frauen ihren Blick nach unten zu richten, um die „Kraft, Mut und Unverzagtheit“ (Warneken 1989: 486) symbolisierende Ganghaltung ihrer Männer als spezifisch männliche, nicht anzutasten.

II. Die Eiche. Deutsch

„Der Eichbaum wurde zum Sinnbild eines jeden Mannes, der sich nach Freiheit, Einheit und Stärke sehnt.“ (Hürlimann 1987: 63) So heißt es in Anlehnung an Friedrich Gottlob Klopstock (1724–1803), der als „erster die Eiche mit dem vaterländischen Gedanken in Verbindung brachte“ (Ebd.: 62): „Alle … waren voll gesunden Lebens, wie eine Versammlung der Bürger einer großen Republik standen sie da, alle voll Selbstgefühls und eigenen Sinnes, doch nur eine Absicht“. (In: ebd., 63) Der Romantiker Clemens Brentano verstand diese Worte 1802 in republikanischer Absicht. Jedoch: „Gegen Spätaufklärung und Rationalismus (…) knüpft die Romantik an die mystische Frömmigkeit des Pietismus (…) an“ (Kabisch 1985: 19) Ging es im aufklärerischen Sinne um das Hinterfragen und kritische Reflektieren, so scheint mir hier mystische Verklärung, als lyrisches Mittel zugegebenermaßen, am Werk zu sein. So geht es bei Brentano hier auch nicht um Menschen, denn seine Bürger sind alle groß und geradlinig: er spricht von Eichen. Das sogenannte Heilige Römische Reich war 1806 endgültig zusammengebrochen. Napoleon hatte gesiegt.

Aber: „Alles Große muß im Tod bestehen. Und ihr habt bestanden. Unter allen grünt ihr frisch und kühn mit starkem Mut (…) Schönes Bild von alter deutscher Treue.“ (In ebd.: 64) Diesmal ist es offensichtlich, Theodor Körner (1791–1813) meint die Eichen, die Mut, Kühnheit, Treue und Beständigkeit verkörperten. „Wachse Du Freiheit der deutschen Eichen, wachse empor über unsere Leiden“ (ebd.) stand es auch sinnig auf Körners Grabstein. „Die Eiche, der charakterstarke reckenhafte Baum aus alten Zeiten, war ihr Vorbild, ihr Seelenbaum, Gefährte all derer, die opferbereit und gotterfüllt den heiligen Kampf fürs Vaterland aufnahmen.“ (Ebd.) Wenn etwas gotterfüllt, heilig, nebulös vaterländisch genannt wird, wird nicht mehr reflektiert, dann werden mystische Einheiten konstruiert, die als ‚natürliche‘ kulturelle Werte ausgegeben werden. Wo also schlägt der emanzipative Gehalt des aufrechten Gangs der Aufklärungszeit um in die 30–40 Meter hohe Einbahnstraße der ‚deutschen Eiche‘? Oder treffen sie symbiotisch zusammen, zu einer festen, gar schlagenden Verbindung? Wo bleibt dann Aufklärung?

III „Preußische Kinderstube“

„Im Frühjahr 1911 stirbt Daniel Paul Schreber, während eines dritten Aufenthalts im Irrenhaus. (…) „Die Haltung und der Gang sind starr, die Bewegungen steif und eckig“, überliefern die Krankenblätter, „Patient ist einigen Stunden außer Bett, sitzt dann in derselben Haltung ½ bis 1 Stunde starr da, um plötzlich mit eckigen Bewegungen sich zu erheben und im Zimmer auf und ab zu gehen.“ (Langenbach 1988: 12)

Daniel Paul Schreber war der Sohn von Daniel Gottlob Moritz Schreber, von Beruf Orthopäde und ärztlicher Pädagoge. Dessen Bücher erhielten große Resonanz, sein Hauptwerk „Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit durch naturgetreue und gleichmäßige Förderung normaler Körperbildung, lebenstüchtiger Gesundheit und geistiger Veredelung und insbesondere durch möglichste Benutzung specieller Erziehungsmittel“ erzielte weit über 20 Auflagen (1858 ff.). Danach muß verhindert werden, daß die Schultern nach vorne fallen – Kopfhalter gegen das Herunterhängen oder gar Schiefhalten des Kopfes, Geradhalter am Tisch garantieren absolut aufrechte Haltung, desweiteren geht es ihm um „das feste und straffe Aufsetzen und Auswärtsstellen der Füsse“ (D.G.M. Schreber 1858: 198–209).

Ziel ist „… die edlen Keime der menschlichen Natur spriessen in ihrer Reinheit fast von selbst hervor, wenn die unedlen (das Unkraut) rechtzeitig verfolgt und ausgerottet werden“ (ebd.: 104). „Die Verneinung der Sexualität tötet bloß den körperlichen Menschen und ihn nur, um dem geistigen erst das volle Dasein zu geben.“ (In Langenbach 1988: 15) Weswegen Schreber auch das Festbinden der Kinder ans Bett empfiehlt, der präventiven Verhinderung etwaiger ‚Erregungen‘. Hier wird getötet, Schreber selbst erkennt dies und verteidigt es, nur weswegen?

Wie hat nun Daniel Paul Schreber selbst sein Aufwachsen, die Erziehungsmethoden seines Vaters empfunden? „‘Keine kleinste Bewegung!‘, lautete das oft gegen mich wiederholte Stichwort‘“, und er schließt daraus, „‘daß Gott mit lebenden Menschen (…) nicht umzugehen wußte, sondern nur den Verkehr mit Leichen (…) gewöhnt war.‘“ (Langenbach 1988: 14) Genau dieser Zusammenhang von aufrechtem Gehorsam und Tod werde ich weiter unter nochmal von anderer Seite beleuchten.

IV Wald als Heer

Nun stellt sich die Frage, was haben aufrechter Gang bzw. die Erziehung zu demselben, mit dem Wald zu tun? Wie sich die kulturelle Vermittlung von Natur, explizit des Waldes, äußern kann, soll am Beispiel des I. Weltkrieges gezeigt werden, denn: „Erst in der unmittelbaren Vorbereitung des Krieges wurde der Wald zu einem Inbegriff deutscher Art, die hartnäckig gegen westliche Zivilisation und die Gefahr aus dem Osten verteidigt werden mußte. Es bezeichnet den geistigen Zustand Deutschlands dieser Jahre, dass Ludwig Ganghofer, der Lieblingsschriftsteller des Kaisers, auch zum bevorzugten Kriegsberichterstatter avancierte…“ (Rothe 1987: 69). Jetzt war Standhaftigkeit gefordert! Helden brauchte das Land. Da jedoch die alten deutschen Helden, die Eichen, nicht schießen können, mußte die – männliche – Jugend ran. „Wohl durfte der eigentliche Zweck dieser Übungen, die Erziehung zur Wehrhaftigkeit, nicht laut werden; aber die jugendlichen Gemüter ahnten, wie Jahn sagt, verschwiegen, was sie zu erstreben berufen waren.“ (Meyers … 1908: 148) Gemeint sind die ‚körperlichen Fertigkeiten‘, die Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852), genannt Turnvater, seinen Schülern beibrachte.

100 Jahre später traf sich die deutsche Jugend zum XII deutschen Sportfest. „Das Treffen auf dem Hohen Meißner 1913 war der Höhepunkt dieser Bewegung unter der bürgerlichen deutschen Jugend. Man hatte diesen Berg ausgewählt, weil er in Deutschlands Mitte lag, aber auch weil in seiner Umgebung die Brüder Grimm nach Märchen gesucht hatten: er war der Berg eines Märchenwaldes. Bei diesem Treffen entschied sich unmißverständlich, daß der größte Teil der Versammelten bereit sei, wenn das Vaterland riefe.“ (Rothe 1987: 72, Herv. CH) Eine tolle Mischung: Die kraftstrotzende deutsche Turnerjugend, der sagenumwobene Ort des Märchenwaldes und der Nationalismus. „Eine Reihe engumschlungener Knaben wird von zwei päderastischen Übervätern vom Kampfplatz in die Stadt zurückgeführt; angesichts dieser innigen Harmonie von Jugendlichkeit und männlicher Autorität kein Wunder, daß die Bürger freudig ihre Zylinder schwenkten.“ (Rothe 1987: 72)

Hatte Theodor Körner knapp 100 Jahre zuvor noch enttäuscht feststellen müssen: „Deutsches Volk, du herrlichstes von allen, Deine Eichen stehn, Du bist gefallen!“ (Hürlimann 1987: 64), so steht jetzt auch das Volk stramm fürs Vaterland. „Denn nicht das Leben an sich, sondern ein reines, würdiges und ehrenhaftes Leben ist das Ziel des Strebens, für das, wenn es gälte, der edle Mensch das Leben selbst mit Freudigkeit opfern würde.“ (D.G.M. Schreber 1858: 289)

Und dieses Streben bzw. Sterben erfordert Gehorsam. Einen Gehorsam, wie ihn Friedrich Nicolai 1785 in seinem radikal-aufklärerischen, ja schönsten anarchistischen Sinn kritisiert hätte: „Wer noch nicht so weit ist, um zu wissen, daß die allgemeinen Kniebeugen und die militärischen Ehrenbezeugungen, (…) eigentlich der verderblichen Macht der Hierarchie zu Ehren geschehen; der ist noch sehr weit zurück.“ (In Warneken 1990: 40)

Doch der preußische Untertanengeist, der den Kindern auf erzieherischer Ebene mit D.G.M. Schreber entgegenschlug, hatte ganze Arbeit geleistet. Um aus der „Knetmasse Mensch“ in einem „Mortifikationsprozeß“ Soldaten zu machen (Planert 1990: 78) ist folgendes vonnöten: „‘Kadavergehorsam‘ heißt treffend der Terminus jener Technik, mit der das Militär seine Rekruten zunächst einmal selbst zu Leichen zurichtet, bevor es sie in den Krieg und andere Kadaver herstellen läßt“ (Langenbach 1988: 14).

Um eben diese verhängnisvolle Gemeinschaft von (diesem) aufrechten Gang und deutschem Wald geht es mir. Der königlich-preußische Forstmeister R. Düesberg hat dies in seinem 1910 erschienenen Buch „Der Wald als Erzieher“ vorgezeichnet: „Die Ordnung des Waldes und der Gesellschaft erinnerte ihn insbesondere an die des Heeres und er träumte bereits von der Erkämpfung neuen Siedlungslandes in den von der polnischen Bevölkerung durch zwangsweise Umsiedlung nach Südamerika menschenleer gemachten Land im Osten durch unsere junge Mannschaft.“ (Linse 1990: 343) Die ‚Ordnung‘ des Waldes politisch zu transformieren bzw. naturalistisch kurzzuschließen war eine deutsche Kulturleistung. „Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald.“

Elias Canetti gibt gleich noch, in komprimierter Form, die Gründe dieser vielleicht einzigartigen Symbiose von aufrechtem Gang und – deutschem – Wald an: „Seine Standhaftigkeit hat viel von derselben Tugend des Kriegers. Die Rinden, die einem erst wie Panzer erscheinen möchten, gleichen im Wald, wo so viele Bäume derselben Art beisammen sind, mehr den Uniformen einer Heeresabteilung. (…) Das Schroffe und Gerade der Bäume nahm er [der Deutsche] sich selber zur Regel (…) Im Wald standen schon die anderen bereit, die treu und wahr und aufrecht waren, wie er sein wollte, einer wie der andere, weil jeder gerade wächst, und doch ganz verschieden an Höhe und Stärke (…) In hundert Liedern und Gedichten nahm er sie auf und der Wald, der in ihnen vorkam, hieß oft – deutsch –.“ (Canetti 1960: 190 f.)

V „Abendland als Waldland“ (Francé 1943: 227)

Der populärwissenschaftliche Biologe Raoul H. Francé stellte dar, wie er sich den Wald vorstellt: „Ein Wald ist für uns Deutsche nicht ein beliebiges Stück Natur, sondern er ist jene Umwelt, ohne die wir auf die Dauer nicht leben möchten. Wohl gibt es menschliche Siedlungen in Steppen, ja sogar solche in Wüsten, man denke da nur an Kairo oder Mekka. Aber keine davon ist eine Wohnstätte unserer Rasse, und keine solche wurde von europäischer Kultur erbaut und erhalten. Wo wir Weiße uns angesiedelt haben in der Neuen Welt, in Afrika oder Australien, und Städte von europäischer Kultur eingerichtet haben, da fehlte nirgend ringsherum der Wald und sein Klima, ohne das namentlich der germanische Mensch nun einmal nicht leben mag“ (Ebd.: 225)

Das ist knallharte Verteidigung des Imperialismus, auch des von Europa ausgegangenen Öko-Imperialismus und Rassismus, denn: „Darum hängt die deutsche Seele so mit allen Fasern auch in ihrem deutschen Wald. Er ist ihre wahre geistige Heimat und der lebendige Zauberbrunnen, in dem sie sich immer wieder gesundbadet, wenn fremder Ungeist und ihrem Wesen zuwidere Verführung sie auf andere Bahnen lenken wollen. Was unser Geschlecht als Erneuerung des Reiches soeben erlebt ist nichts anderes, als wieder einmal das Abschütteln des Fremden und des Sich-wieder-Findens aus dem Geiste der Heimat und unseres Volkstums. Und so lange [ist] unser Volk auch gesund und zu jedem Aufstieg und jeder Erneuerung fähig“ (ebd.: 227 f.)

Seine Ideologie von „Volksgemeinschaft“, die biologistisch vom angeblichen Leben im Wald abgeleitet wurde, hatte Francé vor allem in seinem Buch „Ewiger Wald“ von 1922 dargelegt. Im Wald gibt es danach eine „Stufenleiter sozialer Organisation“. Dazu eine „Waldmoral“ und das bedeutet in letzter Konsequenz: „Jawohl, auch Krieg. Im richtigen Moment zuschlagen, denen, die Böses tun, das Lebenslicht ausblasen, seinen Nächsten nicht lieben, sondern prüfen, ob er es verdient, geliebt zu werden, Mitleid von dem Verstand abhängig machen, um einen Schädling unschädlich zu machen; alles das gehört auch zur Harmonie.“ (In Linse 1990: 344) Harmonie heißt kollektive Zwangsmoral. „Der Kampf gegen die ‚Ausländer‘ unter den Bäumen bildet ein eigenes Kapitel der deutschen Waldideologie!“ (ebd.).

VI Ewiger Wald

Schließlich kulminiert solche Volks- und Waldideologie im deutschen Faschismus. Unter Bezug auf Francés Buch ‚Ewiger Wald‘ wurde 1936 der gleichnamige Film uraufgeführt. Es geht um das Gleichnis der Ewigkeit von Wald und Volk, anhand von Tausenden Jahren Geschichte bis zum Nationalsozialismus. Hier nur einzelne Ausschnitte, die für sich sprechen: „Dass die Natur euch lehrt, im ‚Stirb‘ und im ‚Werde‘, Volk, dir, das sucht, kämpft und ringt, das unvergängliche Reich zu bauen, ist gewidmet dies Lied: Ewiger Wald, ewiges Volk, es lebt der Baum wie du und ich, er strebt zum Raum wie du und ich, sein ‚Stirb‘ und ‚Werde‘ webt die Zeit, Volk steht wie Wald in Ewigkeit.“ (In Linse 1993: 60) So wird auch der germanische Wald-Mythos des Entstehens der Menschen aus der Vereinigung von Esche und Ulme reproduziert und Analogien von gotischer Kunst, die immerzu dem Licht zu streben und dem ‚Waldesdom‘, der in Vollendung als in Reih und Glied gepflanztes Heer erscheint. (Vgl. Linse 1993: 61).

„Die Haltungserziehung im deutschen Faschismus“ (vgl. Warneken 1990c: 72) ist wohl das bislang Brutalste, was mit dem ‚Prinzip Aufrecht‘ gemacht wurde. Das geradezu militärische Wachen über die richtige, sprich „den Deutschen des III. Reichs würdige“ Haltung ist Charakter-Kontrolle, und somit wurden im Alltag „faschistische Ideale – dynamischer, aufwärtsstrebender Habitus, ein die „reinrassig-nordische“ Herkunft symbolisierender Gang – von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung reproduziert.

Die Beziehung zum deutschen Wald kommt auch nicht zu kurz, sie ist geradezu Sinnbild: „Das im Faschismus oft bemühte Bild und Vorbild der Eiche ist ebenso erhebend wie bedrohlich: Sie beugt sich nicht und sie weicht nicht – sie kann es gar nicht, es bleibt ihr nur übrig, im letzten Sturm ihr Germanenschicksal mit Haltung zu ertragen.“ (Warneken 1990c: 73)

Kleiner Exkurs, speziell für dieses Seminar

Da ich selbst, wie die meisten von uns, gern im Wald bin, in welcher Form auch immer, möchte ich aufgrund dieser irgendwie affirmativen Beziehung zu Wäldern ungern mit jenem Mann in einen Topf geworfen werden, der auch oft in den Wald ging, der aber vielmehr selbst als ‚inkarnierter Holzweg‘ charakterisiert werden kann: „Wenn in tiefer Winternacht ein wilder Schneesturm mit seinen Stößen um die Hütte rast und alles verhängt und verhüllt, dann ist die hohe Zeit der Philosophie. Ihr Fragen muß dann einfach und wesentlich werden … Neulich [1933] bekam ich den zweiten Ruf an die Universität Berlin. Bei einer solchen Gelegenheit ziehe ich mich aus der Stadt auf die Hütte zurück. Ich höre, was die Berge und Wälder und Bauernhöfe sagen. Ich komme dabei zu meinem alten Freund, einem fünfundsiebzigen Bauern… er schiebt langsam den sicheren Blick seiner klaren Augen in den meinen, hält den Mund straff geschlossen, liegt mir seine treuebedächtige Hand auf die Schulter und – schüttelt kaum merklich den Kopf. Das will sagen: unerbittlich Nein.“ (Heidegger, in: Groepler 1988: 58)

„Verwurzelt wie Bäume, sangen die Nazis, verteidigen Soldaten die Heimat.“ (Graf/Graf 1987: 79) Unerbittlich. Martin Heidegger (1889–1976) wurde Parteigenosse der NSDAP, Nummer 312 589, Gau Baden. Über seine „verwurzelte“ Philosophie schreibt einer, der als linksradikaler ‚Gelegenheitsphilosoph‘ (Anders über Anders) von rechts und links gleichermaßen links liegen gelassen wurde, einer der 1933 als Jude aus Deutschland fliehen mußte, während Heidegger sich im Breisgau den metaphysischen Tiefen seiner Schneesturmphilosophie widmete, Günther Anders sagt: „Wie eng wirkt Heideggers Bodenstämmigkeit! (…) Und wie charakteristisch, daß gerade er, der Nichtglobale, auf den stursten Nationalismus, auf den Hitlers, hereingefallen ist.“ (Anders 1982: 319)

Was bleibt? Antifa statt romantische Waldideologie und ARD-Kuschelstunden mit der Neuen Rechten

Oben stehender Text war eine Grundseminarsarbeit, ein Referat von mir in Empirische Kulturwissenschaft (EKW) an der Uni Tübingen vom 16. Februar 1994 im Wintersemester 1993/94 bei „Professor Doktor Konrad Köstlin“. Damals natürlich mit einer Schreibmaschine (wahlweise einer ca. 20kg schweren Adler oder einer leichteren Reiseschreibmaschine) getippt, nun für die Publikation mit dem Computer abgeschrieben.

Natürlich war das nur die Arbeit eines 24jährigen Studenten, der noch vom „deutschen Faschismus“ sprach, wo „Nationalsozialismus“ treffender gewesen wäre oder der Heidegger im Anschluss an (einen der allerfrühesten Kritiker Heideggers) Günther Anders offenbar eher unterstellte, auf Hitler „hereingefallen“ zu sein, dabei war Heidegger ein glühender Antisemit schon lange vor 1933 und bevor Hitler irgendeine Rolle für die Nazis spielte.

Gleichwohl sind für die Politikwissenschaft, die Kulturwissenschaft wie die Pädagogik und die interessierte Öffentlichkeit womöglich Aspekte in diesem kurzen Referat, die auch 25 Jahre später noch von einiger Relevanz sind:

Angesichts der „Salonfähigkeit der Neuen Rechten“ seit vielen Jahren und dem Einzug einer rechtsextremen Partei in alle Landtage und den Bundestag sowie das Hofieren dieser neu-rechten Ideologeme durch das Fernsehen, namentlich durch das Einladen von antisemitischen Agitatoren wie Alexander Gauland, der das erinnerungsabwehrende und sekundär antisemitische Unwort vom „Vogelschiss“ für die Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust verwendet, in jede x-beliebige völkische Quasselstunde im gebührenfinanzierten oder privaten Fernsehen oder Rundfunk (die jeweils nur funktionieren, weil es Mittäter*innen gibt, die den Neuen Rechten zur Seite stehen und sie hoffähig machen, von Katja Kipping über Sahra Wagenknecht (Linkspartei) bis zu den neu-rechten Medien „Tichys Einblick“ oder der „Achse des Guten“), wird deutlich, wie wichtig eine Kritik an der deutschen Ideologie der Romantik, von Clemens Brentano und Theodor Körner bis Friedrich Ludwig Jahn ist.

Namentlich die Ausmerzungspädagogik und Unkrautvernichtungs-Datschen-Mentalität der Schrebergartendeutschen harrt weiter ihrer Kritik.

Die AfD wie Rüdiger Safranski sind stolz auf die deutsche Romantik und Heidegger, die deutschen Recken, den deutschen Wald und die deutsche Geschichte insgesamt. Da sich die deutsche Eiche wie die AfD nicht (ver)biegen, können sie nur fallen – oder müssen gefällt werden.

Doch solange Spiegel Online Fatzkes lieber „Nazis rein“ faseln (Jan Fleischhauer) oder Sandra Maischberger jeden demokratischen Anstand vermissen lässt und sich weder für ihre Mittäter*innenschaft im Promoten der AfD vor deren Einzug in den Deutschen Bundestag schämt, noch heutzutage klare Kante gegen die Neue Rechte zeigt, hingegen Alexander Gauland oder jede/n x-beliebige/n andere/n neu-rechte oder/und AfD-Agitator*in weiterhin einlädt und somit auch klammheimlich schreiend antifaschistische ZDF-Journalistinnen („Nazis raus!“) zum virtuellen Abschuss freigegeben werden, Antisemitismus weiter salonfähig gemacht wird und die Warnungen der Holocaustüberlebenden Charlotte Knobloch in den Wind geschlagen werden und am gleichen Tag (gestern) abends die AfD wieder in der ARD einem Millionenpublikum als ganz normale Partei präsentiert wird, ja solange zudem die Freundin des „Inneren Reichsparteitag“ im ZDF (Katrin Müller-Hohenstein) weiter ihren Job machen darf, solange wird die deutsche Eiche weiter gegossen und wächst in ungeahnte Höhen, wie wir es im 20. Jahrhundert schon einmal erlebt haben.

Zyniker werden wie immer gar nichts tun oder darauf warten, dass der Klimawandel der deutschen Eiche ohnehin den Garaus machen wird, aber die Neue Rechte, der Rassismus, der mörderische (heute namentlich: Austeritäts-) Kapitalismus des survival of the fittest, die patriarchale Gewaltgeilheit wie auch und vor allem der Antisemitismus im 21. Jahrhundert wie die vulgärste Erinnerungsabwehr via AfD (und nie zu vergessen: der Antizionismus des Iran und seiner sunnitischen wie postzionistischen, auch jüdischen Fans) können auch in der Wüste, der Steppe, in sibirischen Kälteregionen, im Regenwald oder natürlich im klimawandelresistenteren Birkenmischwald oder einem Stadtwald mit Küstentannen gedeihen, solange sich keine massive Antifa-Bewegung bildet, die ihr ein Ende bereitet.

Literatur

Anders, Günther (1982): Ketzereien, München: C.H. Beck

Burkhard, M. (1990): „Zur Geradheit verkrümmt“, in: Der aufrechte Gang, Tübingen: TVV, S. 53–60

Canetti, Elias (1960): Masse und Macht, Düsseldorf

Francé, Raoul H. (1943): Leben und Wunder des Deutschen Waldes, Berlin

Graf, V./Graf, W. (1987): Auf dem Waldlehrpfad, in Weyergraf, B. (Hg.), Waldungen, Berlin, S. 74–81

Groepler, E. (1988): Parteigenosse, in: Konkret 1/88, S. 56–58

Hacks, Peter (1989): Die Romantik von Reich und Rasse, in: Konkret 10/1989, S. 94–98

Hürlimann, A. (1987): Die Eiche, heiliger Baum deutscher Nation, in: Weyergraf, B. (Hg.), Waldungen, Berlin:, S. 62–68

Kabisch, E.M. (1985): Literaturgeschichte kurzgefasst, Stuttgart

Langenbach, Jürgen (1988): Preußische Kinderstube, in: Forvm (kulturelle Freiheit/Politische Gleichheit/Solidarische Arbeit), Wien, 35. Jg., Jan/Febr, S. 12–16

Linse, Ulrich (1990): Der Deutsche Wald als Kampfplatz politischer Ideen, in: Revue d’Allemagne 22, S. 339–350

— Ders. (1993): Der Film „Ewiger Wald“, in: Zeitschrift für Pädagogik, 31. Beiheft, S. 57–76

Meyers Großes Konversationslexikon, 6. Aufl., 10. Band, Leipzig/Wien 1908

Planert, Ute (1990): Wie man aus Menschen Soldaten macht, in: Der aufrechte Gang, Tübingen: TVV, S. 78–87

Rothe, F. (1987): Deutscher Wald um 1900, in: Weyergraf, Bernd (Hg.), Waldungen, Berlin, S. 69–73

Schreber, Daniel Gottlob Moritz (1858): Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit durch naturgetreue und gleichmäßige Förderung normaler Körperbildung, lebenstüchtiger Gesundheit und geistiger Veredelung und insbesondere durch möglichste Benutzung specieller Erziehungsmittel, Leipzig: Fleischer

Warneken, Bernd Jürgen (1989): Bürgerliche Gehhaltung in der Epoche der Französischen Revolution, in: Zeitschrift für Volkskunde, 85. Jg., S. 177–187

— Ders. (1990a): Bürgerliche Emanzipation und aufrechter Gang, in: Argument 179, S. 39–52

— Ders. (1990b): Biegsame Hofkunst und aufrechter Gang, in: Aufrechter Gang, Tübingen: TVV, S. 11–23

— Ders. (1990c): Rechtwinklig an Leib und Seele, in: Aufrechter Gang, Tübingen: TVV, S. 72–77

©ClemensHeni

Von Walser (1998) bis Özdemir (2018): Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Uni Tübingen, die „Rede des Jahres“, deutscher Antisemitismus und Nationalismus

Von Dr. Clemens Heni, 13. Dezember 2018

Der Autor war vom Sommersemester 1991 bis einschließlich dem Sommersemester 1996 Student an der Uni Tübingen (Philosophie, Geschichte, Empirische Kulturwissensschaft (EKW) und Politikwissenschaft) und wohnte u.a. im Annette Kade Wohnheim (sehr günstig auf 8,95 qm, plus 1qm Vorraum mit Waschbecken und einem weiteren Bücherzimmer mit 1qm), schräg gegenüber des Instituts für Politikwissenschaft, wo der alte Nazi (SS-Mann) Theodor Eschenburg noch ein Arbeitszimmer hatte. 1996 während der Goldhagen-Debatte meinte eine Kommilitonin, die „rote Uni Bremen“ sei doch wohl besser für ihn und für die Uni Tübingen sei das auch besser. Und so kam es 😉

 

Im Dezember 2018 gab eine Jury des Seminars für Allgemeine Rhetorik der Eberhard Karls Universität Tübingen bekannt, dass die von ihr verliehene Auszeichnung für die „Rede des Jahres“ 2018 an den Politiker Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) geht.[i] Seine Rede im Bundestag am 22. Februar 2018 habe sich mit „ciceronianischer Wucht“ gegen die Alternative für Deutschland (AfD) und deren Agitation im Bundestag gewandt.

Doch Özdemir hat in dieser Rede gerade nicht nur die Neuen Rechten oder die neuen Nazis im Bundestag attackiert, sondern vor allem selbst massiv nationalistische und verschwörungsmythische Topoi gesetzt. Das hatte ich als Teil eines längeren Textes am 7. März 2018 analysiert, unten gebe ich jenen Abschnitt des Textes wieder, der sich mit Özdemir befasst.

Übrigens wird diese anmaßende Auszeichnung einer „Rede des Jahres“ seit 20 Jahren verliehen. Erster Preisträger war Martin Walser mit seiner berüchtigten Paulskirchenrede, die als eine der antisemitischsten Reden in die Geschichte der Bundesrepublik einging.[ii]

Die Jury (Prof. Dr. Gert Ueding) sagte damals über Walsers Rede:

Zur „Rede des Jahres 1998“ hat das Institut für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen Martin Walsers Frankfurter Friedenspreisrede gewählt, weil sie in der Tradition der großen humanistischen Beredsamkeit in Deutschland für die ideologisch verfestigten Meinungsschranken unserer Mediengesellschaft die Augen öffnet, sich gegen das organisierte Zerrbild von Gewissen, Moral, Schuldbewußtsein wehrt, das in Grausamkeit gegen die Opfer umschlägt, und schließlich für Vertrauen und Hoffnung in die Zukunft plädiert, ohne die Kraft zur Trauer zu schwächen.

Martin Walser hat mit selbstkritischen und ironischen Untertönen den Meinungsbetrieb in seiner manchmal gutgläubigen, doch meist zynischen Doppelbödigkeit aufgedeckt und als Instrument der ideologischen Macht­ausübung, als profitables Mediengeschäft und intellektuelle Inszenierung erkennbar gemacht. Die maßlose und hämische Kritik an dieser in rhetorischem Ethos, schlüssiger Argumentation und leidenschaftlichem Engagement für eine menschenwürdige Zukunft vorbildlichen Rede bestätigt deren Thesen so eindrucksvoll wie bedrückend.“

 

Entgegen Uedings und der Uni Tübingens hoher Meinung von Martin Walser gab es auch seriöse und kritische, gegen den Antisemitismus gerichtete Analysen wie jene in der Doktorarbeit des Politologen Lars Rensmann:

„Auschwitz gerät von der Chiffre für das unvorstellbare Verbrechen zur bloßen intellektuellen ‚Vorhaltung‘ gegenüber den Deutschen: ‚Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird.‘ Nicht der Holocaust, die Grausamkeit gegenüber Juden, sondern, im Gegenteil, ein an den Deutschen verübter ‚grausame[r] Erinnerungsdienst‘ der ‚Intellektuellen‘, die den Terror erinnern, wird als Gewalt projiziert; die Erinnerung an den Schrecken an sich wird von Walser abgewehrt.“[iii]

Rensmann resümiert:

„Nach den ‚Walser-Debatten‘ lässt sich jedoch begründet eine zunehmend erodierende Grenzziehung im politischen Diskurs gegenüber erinnerungsabwehrenden Formen des Antisemitismus als ‚legitime Meinungsäußerung‘ befürchten. Seit der Walser-Debatte glauben die antisemitischen Briefeschreiber in der Bundesrepublik kaum mehr anonym bleiben zu müssen, weil sie, nicht ganz zu unrecht, ihre Ansichten und Drohungen wieder für salonfähig oder zumindest für legitim und akzeptabel halten. Das antisemitische Judenbild, das Walser wie auch [Rudolf] Augstein und andere in der politischen Öffentlichkeit rehabilitieren und am Leben erhalten, stößt gesellschaftlich zumindest kaum auf energische Ablehnung. Die Diskussion bezeugt insofern bisher einen ersten Höhepunkt affektiver, gegen Juden gerichteter öffentlicher Tabubrüche in der politischen Kultur der ‚Berliner Republik‘, dessen Folgen und Effekte nachwirken und in den nachkommenden Debatten Widerhall finden.“[iv]

Wenn Özdemir seinen nationalistischen Eifer vom Februar 2018 wieder gutmachen möchte, könnte er nun diese Auszeichnung ablehnen. Das wird Özdemir aber ganz sicher nicht tun, dafür ist er viel zu stolz auf dieses Land.

Cem Özdemir und die „gute“ Heimat, 2018

Es gibt kaum einen besseren Indikator für die politische Kultur in diesem Land, wenige Monate nach dem Einzug der rechtsextremen AfD in den Deutschen Bundestag, als die Rede des Grünen Cem Özdemir in jenem Parlament am 22. Februar 2018 und die überschwängliche Begeisterung derer, die sich im Anti-AfD-Lager befinden. Aufhänger für die neuen Nazis im Bundestag waren vorgeblich „antideutsche“ Texte des Journalisten Deniz Yücel, der dank des Einsatzes der Bundesregierung aus dem Gefängnis in der Türkei entlassen wurde. Zu Recht attackierte Özdemir in seiner Wutrede am 22. Februar 2018[v] die AfD als „Rassisten“, attackierte lautstark die rassistische Hetze gegen ihn, den die AfD am liebsten „abschieben“ wolle, während er aber natürlich ein Deutscher aus „Bad Urach“ ist. Das ist alles sehr gut und treffend. Özdemir sagte aber auch:

„Wie kann jemand, der Deutschland, der unsere gemeinsame Heimat so verachtet, wie Sie es tun, darüber bestimmen, wer Deutscher ist und wer nicht Deutscher ist? (…) Sie verachten alles, wofür dieses Land in der ganzen Welt geachtet und respektiert wird. Dazu gehört beispielsweise unsere Erinnerungskultur, auf die ich als Bürger dieses Landes stolz bin. (…) Dazu gehört – das muss ich schon einmal sagen; da fühle ich mich auch als Fußballfan persönlich angesprochen – unsere großartige Nationalmannschaft. Wenn Sie ehrlich sind: Sie drücken doch den Russen die Daumen und nicht unserer deutschen Nationalmannschaft. Geben Sie es doch zu!“

Was macht Özdemir mit jenen Antifas oder Antideutschen, die „unsere Heimat“ tatsächlich verachten? Sind Antifas oder Antideutsche keine Menschen? Der Logik zufolge verabscheut Özdemir Kritik an den deutschen Zuständen so sehr, wie das die AfD verabscheut und er kategorisiert völlig realitätsblind die AfD in das Lager der Heimatfeinde.

Gerade den aggressivsten Nationalisten, die jemals in solch einer Fraktionsstärke im Bundestag gesessen haben, vorzuwerfen, nicht deutsch-national genug zu sein, ist völliger Blödsinn. Es ist eine absurde Idee und wird exakt auf jene zurückschlagen, mit schwarzrotgoldenem Fanatismus, wie wir ihn namentlich und verschärft seit dem ach-so-zarten „Sommermärchen“ 2006 alle zwei Jahre erleben, die eben tatsächlich nicht für dieses Land mitfiebern, sondern für seine sportlichen Konkurrenten zum Beispiel, oder denen das schnuppe ist. Und das Argument, quasi „Volksverräter“ zu sein, kann bei Nazis nur dazu führen, dass bei nächster Gelegenheit die Anti-AfDler mal wieder als solche bezeichnet werden. Heimat ist auch für Neonazis von allerhöchster Bedeutung.[vi]

Selbstredend hat Özdemir recht, wenn er sich gegen die Hetze gegen das Holocaustmahnmal aus dem Munde von Björn Höcke wendet, was aber wiederum gar nichts darüber aussagt, was für eine stolzdeutsche Ideologie in diesem Mahnmal, zu dem man „gerne gehen soll“ (Gerhard Schröder), und wieviel Degussa-Material darin steckt.

Warum Stolz auf die deutsche Erinnerungskultur? Eine „Kultur“, die es gar nicht ohne die sechs Millionen von Deutschen ermordeten Juden geben könnte?

Stolz zudem auf die Verdrängung der deutschen Verbrechen bis in die 1980er Jahre hinein und dann das unerträgliche Eingemeinden der jüdischen Opfer mit SS-Tätern in Bitburg durch Bundeskanzler Helmut Kohl und später die Trivialisierung des Holocaust durch Typen wie den späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck, der den Kommunismus wie den Nationalsozialismus als ähnlich schrecklich empfindet und Beiträge in den Holocaust verharmlosenden Büchern wie „Roter Holocaust“ (Herausgeber war der Historiker Horst Möller, 1998) publizierte und 2008 die aus dem gleichen totalitarismustheoretischen und Auschwitz nivellierenden Eichenholz geschnitzte Prager Deklaration unterschrieb? Stolz auf ein Land, das derzeit Phänomene erlebt wie Dorfbevölkerungen in Rheinland-Pfalz oder in Niedersachsen, die mit Hitlerglocken oder Nazi-Glocken in ihren Kirchen kein Problem haben, ja stolz auf die lange Tradition sind?

Das sind nur einige wenige Elemente der Kritik, warum Özdemir einen großen Fehler begeht, wenn er ernsthaft meint, Nazis rechts überholen zu können mit noch mehr Stolz auf Deutschland und namentlich auf dessen „So geh’n die Deutschen“[vii] -Fußballnationalmannschaft (2014). Das „Sommermärchen“ 2006 war absolut grundlegend für den schwarzrotgoldenen Wahnsinn von Pegida im Oktober 2014 bis zum Einzug der AfD in den Bundestag und bis heute.[viii] Dabei hatte es so wundervolle Momente wie das Vorrundenaus der Deutschen bei der WM 2018 zuvor bei Fußballweltmeisterschaften eher selten gegeben.

Das Bittere, das so gut wie niemandem auffällt, an Özdemirs Vorwurf an die Nazis, doch nicht deutsch genug zu sein, hat wiederum Pohrt schon am Beispiel eines Textes vom 14.5.1982 in der taz untersucht, dessen Autor Hilmar Zschach die Nazivergangenheit des schleswig-holsteinischen Landtagspräsidenten Helmut Lembke erwähnt, aber das als untypisch für die feschen Schleswig-Holsteiner abtut. Pohrt kommentierte:

„Die gemeinsame völkisch-nationalistische Basis bringt Linke und Rechte dazu, einander undeutsche Umtriebe vorzuwerfen. So irrational, wie die Kontroverse dann geworden ist, so mörderisch sind auch ihre potentiellen Konsequenzen. Es geht eigentlich darum, den Volkskörper von volksfremden Elementen zu säubern, damit endlich das andere, das wahre Deutschland erscheine. Unter dieser Voraussetzung ist es gleichgültig, ob die ‚Antifaschisten‘ oder die Faschisten gewinnen, denn die Verlierer werden allemal Leute sein, die keine Lust haben, sich Deutsche zu nennen.“[ix]

 

[i] „Mit seinem Debattenbeitrag hat Özdemir gezeigt, wie wirksam und kraftvoll eine Parlamentsrede sein kann, wenn ein Redner mit Überzeugung und Leidenschaft antritt – ein herausragendes Beispiel dafür, wie man den Populisten im Parlament die Stirn bieten kann. Jury: Simon Drescher, Pia Engel, Dr. Gregor Kalivoda, Rebecca Kiderlen, Prof. Dr. Joachim Knape, Sebastian König, Prof. Dr. Olaf Kramer, Viktorija Romascenko, Oliver Schaub, Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr. Thomas Zinsmaier. Im Jahr 2018 war mit Oliver Schaub erstmals auch ein von den Studierenden bestimmtes studentisches Mitglied Teil der Jury“, http://www.rhetorik.uni-tuebingen.de/portfolio/rede-des-jahres/.

[ii] Joachim Rohloff (1999): Ich bin das Volk. Martin Walser, Auschwitz und die Berliner Republik, Hamburg: KVV Konkret (Konkret Texte 21); Lars Rensmann (2004): Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 356–414;

[iii] Rensmann 2004, S. 364.

[iv] Ebd., S. 414.

[v] http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19014.pdf.

[vi] Zur Kritik siehe z.B. Lucius Teidelbaum (2018): Kritische Heimatkunde, 05.03.2018, http://emafrie.de/kritische-heimatkunde/.

[vii] https://www.youtube.com/watch?v=6lcaRA4sr4o.

[viii] Clemens Heni (2017a): Sommermärchen bereitete der AfD den Boden, Frankfurter Rundschau, 16./17. Dezember 2017, online: http://www.fr.de/kultur/antisemitismus-sommermaerchen-bereitete-der-afd-den-boden-a-1409276.

[ix] Wolfgang Pohrt (1982): Endstation. Über die Wiedergeburt der Nation. Pamphlete und Essays, Berlin: Rotbuch Verlag, 127 f., Fußnote 4.

©ClemensHeni

Von Weimar nach Berlin – Antisemitismus vor Auschwitz und im Jahr 2012

Von Susanne Wein und Clemens Heni

 

Das Jahr 2012 ist so dicht an antisemitischen Ereignissen, dass ein vorgezogener Jahresrückblick lohnt. Das Jahr zeigt wie flexibel, vielfältig, codiert und offen sich Antisemitismus äußern kann. Drei Forschungsfelder seien hier knapp vorgestellt, um schließlich ein besonders markantes und schockierendes Beispiel von 2012 mit einem Fall aus dem Jahr 1925 zu vergleichen.

1)     Holocaustverharmlosung.

Im Januar wurde in Leipzig bekannt gegeben, dass der amerikanische Historiker Timothy Snyder den Leipziger Buchpreis 2012 erhalten wird.

Snyder hat 2010 das Buch Bloodlands publiziert, worin er leugnet, dass der Holocaust ein spezifisches Verbrechen war, ohne Vergleich in der Geschichte. Vielmehr konstruiert der „Genozid“-Forscher, der dem sog. spatial-turn folgt (eine Modeerscheinung der Kulturwissenschaft, die den Raum als zentrale Größe postuliert), einen Raum in Osteuropa zwischen dem Baltikum und der Ukraine, den er Bloodlands nennt und in dem zwischen 1932 (!) und 1945 ca. 14 Millionen Menschen starben bzw. ermordet wurden. Hitler und Stalin sind für ihn gleich schlimme historische Figuren. Snyder bemüht die veraltete Great Man Theory und hat keinen Blick für die sehr ausdifferenzierte Forschung zum Nationalsozialismus und zum Holocaust.

Vielmehr kooperiert er mit dem litauischen Staat und unterstützt eine dortige, weltweit in Misskredit geratene historische Kommission, die die Verbrechen von Hitler und Stalin wiederum gleichsetzt. Dramatisch ist, dass selbst die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und ihr wissenschaftliches Personal in Person der neuen Chefhistorikerin Dina Porat  mit dieser Kommission in Litauen kooperiert, was zu scharfen Protesten von Holocaustüberlebenden führte.

Kurz gesagt: Timothy Snyder ist ein geistiger Enkel Ernst Noltes, er möchte die Deutschen entschulden und die Präzedenzlosigkeit von Auschwitz verwischen oder leugnen. Historiker wie Omer Bartov (Brown University), Dan Michman (Yad Vashem) oder Jürgen Zarusky (Institut für Zeitgeschichte, München) haben Snyder dezidiert kritisiert. Der Jiddisch-Forscher Dovid Katz dokumentiert und analysiert seit Jahren den Antisemitismus in Osteuropa, insbesondere in Litauen, auch er hat sich intensiv mit Snyders Bloodlands befasst und zeigt, warum extrem rechte Kreise in Osteuropa Snyder feiern.

Die Wahl von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten im März 2012 verstärkt die Holocaustverharmlosung, da Gauck die „Prager Deklaration“ vom Juni 2008 unterzeichnet hat, die – ganz im Sinne von Snyder – rot und braun gleichsetzt und die Verbrechen des Holocaust trivialisiert. Die Unterzeichner wollen als gesamteuropäischen Gedenktag den 23. August (der Tag des Ribbentrop-Molotow Paktes von 1939) etablieren und schmälern damit implizit die Bedeutung des Holocaustgedenktages am 27. Januar, wenn sie diesen Gedenktag nicht sogar ganz abschaffen wollen. Gauck sprach zudem 2006 davon, dass jene, die die Einzigartigkeit des Holocaust betonen, nur einen Religionsersatz suchen würden. Auch Neonazis, Holocaustleugner, manche christliche Aktivisten, Forscher oder auch Autoren der tageszeitung (taz) frönen einer solchen Sprache und reden von der „Holocaust-Religion“ oder einer „Pilgerfahrt“, wenn es um Auschwitz geht. Ohne den Dammbruch durch Martin Walsers Paulskirchenrede von Oktober 1998 wäre das alles nicht so ohne Weiteres im Mainstream der deutschen Gesellschaft denk- und sagbar.

2)     Antizionismus.

Der zweite Aspekt des Antisemitismus ist der seit der zweiten Intifada im September 2000 und nach dem islamistisch motivierten Massenmord vom 9/11 weltweit bei den wenigen Kritikern im Zentrum der Aufmerksamkeit stehende antizionistische Antisemitismus bzw. die Israelfeindschaft.

Am 4. April 2012 publizierte der Literaturnobelpreisträger Günter Grass in der größten deutschen Tageszeitung (nach der Boulevardzeitung BILD), der Süddeutschen Zeitung aus München, ein Gedicht mit dem Titel „Was gesagt werden muss“. Darin schreibt der deutsche Denker:

„Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden?“

Nicht der Iran droht Israel mit Vernichtung, die Juden („Atommacht Israel“) seien die Gefahr. Diese Leugnung der Wirklichkeit, die Derealisierung, Schuldprojektion und die Schuldumkehr sind ein typisches Muster des neuen oder Post-Holocaust Antisemitismus. Israel gefährde den Weltfrieden und nicht der „Maulheld“ Ahmadinejad, wie er vom deutschen Dichter verniedlichend genannt wird; dabei haben die Verharmlosung der iranischen Gefahr bzw. das klammheimliche Liebäugeln mit dem vulgären, iranischen, islamistischen aber natürlich auch dem arabischen Antisemitismus Konjunktur. Die Diffamierung Israels ist auch unter deutschen Wissenschaftlern, Journalisten, Politikern, NGO-Aktivisten und der Bevölkerung gern gesehen. Die ARD jedenfalls war von Grass so begeistert, dass der Tagesthemen-Anchorman Tom Buhrow ein Exklusivinterview mit dem Schriftsteller führte und tags darauf Grass das Gedicht in der ARD vortragen durfte.

Das wird ergänzt durch die Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt am Main am 11. September 2012 an die amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Judith Butler von der University of California in Berkeley. Butler ist als antiisraelische Agitatorin weltweit berüchtigt, wenn sogar der Präsident der Harvard University im Jahr 2002, Lawrence Summers, unter anderem sie meinte als er den Hass auf Israel und die Boykottaufrufe gegen den jüdischen Staat thematisierte. Butler steht für einen Antizionismus, der sich in der Tradition von Martin Buber und Hannah Arendt verortet und die Gründung eines explizit jüdischen Staates (der zudem so tolerant ist und 20% Araber und Muslime und andere zu seiner Bevölkerung zählt) ablehnt. Mit fast vollständig homogenen islamischen Staaten wie Saudi-Arabien, Iran oder Jordanien und ihren antidemokratischen, homophoben und misogynen politischen Kulturen hat Butler selbstredend kein Problem. Die Wochenzeitung Die Zeit publizierte gar einen Text der BDS-Unterstützerin Butler und unterstützt somit den Aufruf zum Boykott Israels. Früher wäre das fast nur in der jungen Welt oder der Jungen Freiheit propagiert worden, doch längst sind solche antisemitischen Positionen Mainstream.

Eine Vertraute und Freundin von Butler, die Politikwissenschaftlerin Seyla Benhabib (Yale University) wurde 2012 in Deutschland ebenfalls geehrt. Sie erhielt am 8. Mai den Dr. Leopold Lucas-Preis der Universität Tübingen für ihren Einsatz für Hospitalität und „universelle Menschenrechte“ – auch dieser Preis ist mit 50.000€ dotiert, was ja von der schwäbischen Alma Mater freundlich ist, wenn man bedenkt, wie schlecht bekanntlich die Yale University ihre Professoren bezahlt. Benhabibs Vorbilder sind Immanuel Kant („Der Ewige Frieden“ von 1795) und Hannah Arendt. Die problematischen Aspekte dieser Art von Kosmopolitanismus oder vielmehr die anti-israelische Dimension bei Arendt,  kehren bei Benhabib verstärkt wieder. 2010 diffamierte sie Israel  indem sie es mit der südafrikanischen Apartheid und mit den „1930er Jahren in Europa“ (sie erwähnt den Slogan „Eine Nation, Ein Land, Ein Staat“ und spielt offensichtlich auf Nazi-Deutschland an) verglich – während selbstverständlich auch sie den Jihadismus z.B. der Gaza Flottille ignorierte und ihn bis heute ausblendet. Dies sind die eigentlichen Gründe für die Ehrungen und den Beifall aus Deutschland für Personen wie Butler und Benhabib. Kritik an Arendt, Kant und der europäischen Ideologie (wie sie auch Jürgen Habermas vertritt) eines Post-Nationalstaats-Zeitalter, wie sie von dem israelischen Philosophen Yoram Hazony bekannt ist, wird in Deutschland entweder gar nicht zur Kenntnis genommen oder abgewehrt.  Aufgegriffen und promotet wird sie höchstens von problematischen, nicht pro-israelischen, vielmehr deutsch-nationalen, rechten und konservativen Kreisen wie der Zeitschrift Merkur (dessen Autor Siegfried Kohlhammer den Islam mit seinen Dhimmi-Regelwerken für Nicht-Muslime schlimmer findet als den Nationalsozialismus und die Nürnberger Gesetze, und der zudem gegen Israel argumentiert).

3)     Antijudaismus.

Diese älteste Form des Antisemitismus spielt auch im nachchristlichen Zeitalter eine zunehmende Rolle. 2012 tritt ein in seiner Vehemenz seit 1945 ungeahnter und ohne Vergleich dastehender Angriff auf Juden und das Judentum auf: Hetze gegen die Beschneidung und religiöse Rituale. Alles, was Juden im Post-Holocaust Deutschland dachten, als selbstverständlich annehmen zu können, steht jetzt in Frage: Juden als Juden werden hinterfragt. Wie im Holocaust sollen männliche Juden die Hosen runter lassen, damit die arischen Deutschen nachschauen, ob er ein Jude ist oder nicht; sie durchleuchten Juden auf ihre Gesundheit, sexuellen Praktiken und Fähigkeiten und finden diese Art von Zurschau-Stellung von Juden notwendig und emanzipatorisch. Heute wird diese antijüdische Propaganda nicht unter dem Schild der SS oder der Wehrmacht durchgeführt, nein: heute geht es um „Kinderrechte“ und die angebliche Freiheit, nur als nicht-beschnittener Mann im Erwachsenenalter über die Religionszugehörigkeit entscheiden zu können.

Am 7. Mai 2012 befand das Kölner Landgericht in einem die politische Kultur in Deutschland für immer verändernden Urteil die Beschneidung von Jungen als gegen „dem Interesse des Kindes“ stehend und somit als nicht vertretbar. Die Beschneidung von jüdischen Jungen am achten Tag bzw. die Beschneidung von muslimischen Jungen im Alter zwischen 0 und 10 Jahren, sei somit nicht legal. Ein deutsches Gericht urteilt über das Judentum, das die Beschneidung vor über 4000 Jahren einführte. Der Volksgerichtshof des Nationalsozialismus hätte seine Freude gehabt an diesem 7. Mai 2012. 600 Ärzte und Juristen, angesehene normale Deutsche, agitierten sodann unter Federführung des Mediziners Matthias Franz von der Universität Düsseldorf am 21. Juli 2012 in einem Offenen Brief in der Zeitung für Deutschland (Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZ) gegen die Beschneidung und forderten politische und rechtliche Konsequenzen aus dem Kölner Urteil. Selbst pro-israelische Aktivisten zeigen nun ein ganz anderes Gesicht und machen sich über das Judentum lustig. Offenbar hatten diese Leute schon immer ein Israel ohne Judentum im Sinn. Die Zeitschrift Bahamas

aus Berlin folgte dem Ruf aus Köln, der FAZ und dem Zeitgeist und sprach sich gegen eine Kundgebung für Religionsfreiheit/für die Beschneidung aus und forderte ihre 23 oder 34 Anhänger auf, dieser ohnehin kleinen Manifestation vorwiegend deutscher Jüdinnen und Juden am 9. September 2012 in Berlin fern zu bleiben, da sie „den kulturellen und religiösen Traditionen von Kollektiven grundsätzlich misstraut“. Autoren dieses Sektenblattes wie Thomas Maul und Justus Wertmüller bezeichnen die Beschneidung als „archaisch“ und diffamieren dadurch mit Verve das Judentum. Derweil kringeln sich die Neonazis, die NPD und autonome Nationalisten, da doch der deutsche Mainstream das Geschäft des Antisemitismus (bis auf die Verwüstungen jüdischer Friedhöfe und von Gedenktafeln, bis heute eine typisch neonazistische Form des Antisemitismus) übernommen hat. Die Wochenzeitung jungle world 

mit ihrem Autor Thomas von der Osten-Sacken machte gegen die Beschneidung mobil und stellte Bezüge zur kriminellen Klitorisverstümmelung bei Mädchen, der Female genital mutilation (FGM), her. Sein Kollege Tilman Tarach war auf Facebook nicht weniger obsessiv dabei,

die Beschneidung und somit das Judentum zu schmähen. Eine Internetseite, Politically Incorrect (PI), die aus dem Umfeld von Parteien wie Die Freiheit, der Bürgerbewegung Pax Europa (BPE), der Pro-Bewegung und anderen Gruppierungen der extremen Rechten oder des Rechtspopulismus kommt, droht Juden:

„Wenn sich aber jüdische Verbände und Organisationen beispielsweise so an die uralte Vorschrift der Beschneidung klammern, zeigen sie damit, dass sie sich in diesem Punkt nicht vom Islam unterscheiden. So etwas können wir nach meiner festen Überzeugung in unserem Land nicht zulassen.“

Die Giordano Bruno Stiftung (GBS) mit ihrem Vorbeter Michael Schmidt-Salomon (übrigens sitzt Hamed Abdel-Samad im wissenschaftlichen Beirat der GBS),

die Deutsche Kinderhilfe, Evolutionäre Humanisten Berlin Brandenburg e.V., der Zentralrat der Ex-Muslime, die Freidenkervereinigung der Schweiz, der pflegeelternverband.de und einige andere Organisationen und Gruppen agitieren besonders aggressiv gegen Juden (und Muslime) und starten im Herbst 2012 die perfide Anzeigenkampagne

„Mein Körper gehört mir“. Zu sehen ist das Bild eines Jungen, der sich völlig verängstigt in den Schritt fasst und darunter steht: „Zwangsbeschneidung ist Unrecht – auch bei Jungen.“ Damit wird nicht nur die kriminelle und zumal islamistische Praxis der Klitorisverstümmelung mit der harmlosen Beschneidung von Jungen gleichgesetzt, vielmehr wird in Stürmer-Manier gesagt: vor allem das Judentum basiert auf Unrecht! Hieß es 1879 bei Heinrich von Treitschke „Die Juden sind unser Unglück“, was zu einem der Propagandasprüche des Nationalsozialismus avancierte, so wird im Jahr 2012 von Atheisten, Positivisten und anderen Aktivisten (die sich teils anmaßend Humanisten nennen) die Beschneidung als das Unglück für Kinder dargestellt oder Juden (und Muslime) gar als Kinderschänder diffamiert. Das liest sich wie eine post-christliche Version der Blutbeschuldigung, der antisemitischen Blood Libel.

Der Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel, Alfred Bodenheimer, ist zutiefst schockiert über den Anti-Beschneidungsdiskurs und hat im Sommer 2012 ein kleines Büchlein dazu verfasst: „Haut-Ab! Die Juden in der Besschneidungsdebatte“ (Göttingen: Wallstein). Darin analysiert er:

„Aus christlich-theologischer Sicht war die Kreuzigung ein sehr ähnliches Vergehen wie das Beschneiden der Kinder aus der heutigen säkularen: Denn die Taufe als unmittelbare Partizipation des einzelnen Gläubigen an der Kreuzigung Christi (und der damit verbundenen Sündenvergebung) machte letztlich jeden Getauften zum partiell von den Juden Gekreuzigten ­– und damit jenes Ereignisses, in dem gerade Paulus die Beschneidung aufgehoben hatte. Der säkulare Ausgrenzungsdiskurs folgt dem christlichen auf dem Fuße, er ist kultur- und mentalitätsgeschichtlich so leicht abrufbar, dass insbesondere den dezidierten Säkularisten die Ohren sausen dürften, wären sie sich der Sensoren gewahr, die ihren Furor geweckt haben. Der säkularistische Anspruch, Gleichheit in allen Belangen zur Ausgangslage eines frei auslebbaren Individualismus zu machen, trägt mehr vom Paulinischen Universalismus in sich (dessen Gegenbild die auf defensiver Differenz bestehenden Juden waren), als dem Gros seiner Vertreter klar ist.“ (ebd., 58f.)

Die Internetseite HaOlam mit ihrem Vertreter Jörg Fischer-Aharon, die sich jahrelang als pro-israelisch gab, hat den Anti-Beschneidungsvorkämpfer Schmidt-Salomon exklusiv interviewt und macht damit Werbung für obige Anzeigenkampagne.

Manche Organisationen, die häufig mit HaOlam bzw. deren Umfeld und vielen anderen aus der nie näher definierten „pro-Israel-Szene“ kooperierten, werden ins Grübeln kommen.

Sei es Ressentiment auf Religion oder kosmopolitisch inspirierte Universalität, jedenfalls wird mit bestem Gewissen jedwede Partikularität – wie die des jüdischen Staates Israel und des Judentums, inklusive seiner religiösen Traditionen, die auch von nicht-gläubigen Juden mit überwältigender Mehrheit praktiziert werden – abgelehnt.

Es ist unerträglich, mit welcher Arroganz, Obszönität und Dreistigkeit ausgerechnet deutsche Areligiöse,  Christen, selbsternannte Israelfreunde und „Antifas“ sich de facto zu den islamistischen und neonazistischen Judenfeinden gesellen und völlig geschichtsvergessen das Nachdenken einstellen.

Kaum jemand hat heute in Deutschland noch Beißhemmungen wenn es um Juden geht.

Dieser hier skizzenhaft aufgezeigte neu-alte Antisemitismus zeigt sich in dramatischer Form in vier antisemitischen Vorfällen in wenigen Wochen bzw. Tagen allein in Berlin:

  • Am 28. August 2012 wurde in Berlin-Friedenau am helllichten Tag der Rabbiner Daniel Alter von mehreren vermutlich arabischen Jugendlichen und Antisemiten krankenhausreif geschlagen. Er trug eine Kippa und wurde gefragt, ob er Jude sei. Das „Ja“ führte zu einem Jochbeinbruch und Todesdrohungen gegen seine 6-jährige Tochter. Die Täter sind bis heute nicht ermittelt.
  • Am 3. September wurde gegen 10 Uhr vormittags eine Gruppe von jüdischen Schülerinnen vor der Carl-Schuhmann-Sporthalle in der Schlossstraße in Berlin-Charlottenburg von vier ca. 15-16-jährigen Mädchen muslimischer Herkunft (eine der Antisemitinnen trug ein Kopftuch) diffamiert und u.a. als „Judentussen“ beleidigt.
  • Am höchsten jüdischen Feiertag, Yom Kippur, am Mittwoch, den 26. September 2012, rief Esther Dobrin aus Berlin gegen 11 Uhr ein Taxi, um mit ihrer 11-jährigen Tochter und zwei weiteren Personen zur Synagoge in die Pestalozzistraße zu fahren. Der Taxifahrer verhielt sich reflexhaft feindselig, als der genaue Bestimmungsort als „Synagoge“ benannt wurde; er warf die vier Fahrgäste sozusagen aus dem Wagen.
  • Wenig später, gegen 18 Uhr an diesem 26. September, wurden drei andere Juden in Berlin verbal attackiert. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, kam gerade mit seinen beiden Töchtern im Alter von 6 und 10 Jahren von der Synagoge, ebenfalls in Charlottenburg, unweit des Kurfürstendamms, als er offenbar wegen eines klar ersichtlichen jüdischen Gebetsbuches beleidigt wurde. Im Laufe eines aggressiven Wortgefechts hat Kramer nicht nur die Polizei zu Hilfe gerufen, vielmehr auch auf seine Waffe gezeigt, die er seit acht Jahren zum Selbstschutz und als ausgebildeter Sicherheitsbeauftragter bei sich trägt. Die Polizei hat nun zwei Anzeigen zu bearbeiten, Kramer zeigte die Beleidigungen des Antisemiten an, während derselbe Kamer wegen Bedrohung anzeigte, wozu er, nach unbestätigten Informationen,  von der Berliner Polizei durchaus ermutigt worden war.

Kramer kennt die Zusammenhänge des GraSSierenden Antisemitismus in Deutschland und weiß, dass sich die geistigen Zustände und Debatten in gewalttätigen Straßenantisemitismus entladen können – darum ist er bewaffnet. Welche zwei komplett disparaten Lebensrealitäten – eine jüdische und eine nicht-jüdische – werden von nichtjüdischen Deutschen tagtäglich stillschweigend hingenommen? Wie fühlt es sich an, ständig in den Einrichtungen der eigenen Religion/Gruppe, Kindergarten, Schule, Synagoge etc. unter Polizeischutz stehen zu müssen?

1925, einige Jahre vor NS-Deutschland, im demokratischen Rechtsstaat der Weimarer Republik passierte in Stuttgart Folgendes:

„An einem Sonntag im November 1925 las der Kaufmann Ludwig Uhlmann in der Gastwirtschaft Mögle Zeitung und trank ein Bier. In provozierender Absicht beleidigte ihn der am Nachbartisch sitzende Franz Fröhle mit spöttischen Bemerkungen und ließ mehrfach die Bezeichnung ‚Jude Uhlmann‘ fallen. Dieser reagierte nicht. Daraufhin sagte Fröhle: ‚Was will der Judenstinker hier, der Jude soll heimgehen‘, was Uhlmann sich verbat. Als die Pöbeleien anhielten, zog Uhlmann eine Pistole, mit der Bemerkung, dass Fröhle damit Bekanntschaft machen könne, falls er nicht aufhöre. Schließlich setzten der Wirt und die Polizei den Beleidiger vor die Tür. Die Staatsanwaltschaft beantragte nicht nur einen Strafbefehl gegen Fröhle wegen Beleidigung in Höhe von 50 RM Geldstrafe, sondern auch einen gegen Uhlmann wegen Bedrohung und abgelaufenen Waffenscheins. Bei der Hauptverhandlung des Amtsgerichts wurde er zwar von der Anklage der Bedrohung freigesprochen, aber wegen der Bagatelle des abgelaufenen Waffenscheins von wenigen Monaten zu einer Geldstrafe von 30 RM verurteilt.“ (Martin Ulmer (2011): Antisemitismus in Stuttgart 1871–1933. Studien zum öffentlichen Diskurs und Alltag, Berlin: Metropol, S. 350)

 

Dieses Schlaglicht zeigt die Normalität antisemitischer Beleidigungen, die in der deutschen politischen Kultur bereits damals, wie sich an unzähligen Beispielen aufzeigen lässt, tief verankert und sedimentiert war.

Heute nun, im Jahr 2012, über 67 Jahre nach dem Holocaust und Auschwitz – welch ein Unterschied ums Ganze! –, müssen sich Juden wieder bewaffnen. Sie sind fast täglich Angriffen, Beleidigungen und Hetzkampagnen ausgesetzt und es kann sich eine Szene abspielen, die der in einer Stuttgarter Kneipe von 1925 gruselig ähnelt.

 

Auf der einen Seite haben wir diese Vorfälle aus dem Jahr 2012 und insbesondere die „Beschneidungsdebatte“ mit all ihren antisemitischen Internet-Kommentaren -und Forenbeiträgen, die einen an Max Liebermanns Ausspruch zum 30. Januar 1933 denken lassen. Auf der anderen sucht man vergebens die arrivierten Antisemitismusforscherinnen und -forscher, die sich der skizzierten Forschungsfelder annehmen. Werner Bergmann schrieb 2011 in einer Festschrift für einen Kollegen:

„Im historischen Vergleich mit der Zeit vor 1945, aber auch in den letzten 60 Jahren in Deutschland […] war Antisemitismus gesamtgesellschaftlich wohl selten so sehr an den Rand gedrängt wie heute.“

Antisemitismus ist in Deutschland nicht erst, aber insbesondere im Jahr 2012 gesamtgesellschaftlich so weit verbreitet wie vielleicht noch nie seit 1945.

 

 

Susanne Wein ist Historikerin und promovierte im September 2012 an der Freien Universität Berlin  mit einer Arbeit über „Antisemitismus in der politischen Kultur der Weimarer Republik. Eine Untersuchung anhand der Debatten im Reichstag“.

Clemens Heni ist Politikwissenschaftler und promovierte im August 2006 an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck mit einer Arbeit über die „Salonfähigkeit der Neuen Rechten. ‚Nationale Identität‘, Antisemitismus und Antiamerikanismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1970 – 2005: Henning Eichberg als Exempel“.

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