Von Dr. phil. Clemens Heni, 27. Februar 2022

Diese paradox oder absurd anmutende Frage, ob Russland NATO-Mitglied werden könnte, war in den letzten gut 20 Jahren gar nicht absurd.

Darauf weist ein Artikel des britischen Journalisten und ehemaligen Korrespondenten in Moskau Jonathan Steele im FREITAG hin:

Während seiner ersten Wochen als Präsident im Jahr 2000 fragte der BBC-Journalist David Frost Putin, ob er es für möglich halte, dass Russland der Nato beitritt. Putin antwortete: „Ich würde eine solche Möglichkeit nicht ausschließen, vorausgesetzt Russlands Standpunkte werden als die eines gleichberechtigten Partners berücksichtigt.“

Der frühere Nato-Generalsekretär George Robertson erinnerte sich kürzlich an ein Zusammentreffen mit Putin, während seiner Zeit bei der Nato: „Putin sagte: ‚Wann werden Sie uns einladen, der Nato beizutreten?‘“ Robertson habe geantwortet: „Wir laden niemanden zur Nato ein, man beantragt den Beitritt zur Nato.“

Steele zeigt die Heuchelei der NATO und des Westens:

Die Haltung der Nato zur Mitgliedschaft der Ukraine war der Auslöser für Russlands Machtübernahme auf der Krimhalbinsel 2014. Putin fürchtete, dass der Hafen in Sevastopol, wo die russische Schiffsflotte im Schwarzen Meer stationiert ist, bald an die USA gehen könnte. Das westliche Narrativ zeichnet die Krim-Krise als den ersten gewaltsamen Versuch zur Änderung territorialer Grenzen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Putin betrachtet das als selektive Amnesie, die vergisst, dass die Nato 1999 Serbien bombardierte, um den Kosovo abzutrennen und zu einem unabhängigen Staat zu machen.

Was aber an zerstörerischer Symbolkraft nicht zu übertreffen ist, ist die Tatsache, dass Deutschland jetzt Waffen an die Ukraine liefert, um Russen töten zu können, denn das ist ja das Ziel. Zum ersten Mal seit dem Ende des Nationalsozialismus kooperiert Deutschland so offen mit einen Land bzw. einem damaligen Teil der UdSSR, der Ukraine, die damals am Holocaust beteiligt war und deren Hass auf Russland noch das antikommunistische Ressentiment der Bild-Zeitung oder der Bundesregierung und mit Schaum vor dem Mund krakeelenden politischen, militärischen und medialen Klasse in Deutschland übertrifft.

Steele schreibt im Freitag:

Von außerhalb des Nato-Bündnisses beobachtet Putin, wie es sich ständig erweitert. Er sagt, er strebe keine Rückkehr zur Sowjetunion an, aber eine Pufferzone, die – wie er es im vergangenen Jahr in einem langen Aufsatz formulierte – „nicht anti-Russland“ ist. 1962 wollte der damalige US-Präsident John Kennedy eine ähnliche Pufferzone, als der russische Regierungschef Nikita Chruschtschow versuchte, Nuklearraketen auf Kuba zu stationieren. Putin schlug am Dienstag vor, die Ukraine solle zu einer Strategie der Neutralität zurückkehren, die in der ukrainischen Verfassung bis zu dem „Umsturz“ festgelegt war, der 2014 die Regierung Janukowytsch aus dem Amt hob und pro-USA eingestellte Nationalisten an die Macht brachte. Immerhin glaubte damals eine Mehrheit im ukrainischen Parlament, dass die zerbrechliche Einheit des Landes sicherer wäre, wenn es nicht zwischen dem rivalisierenden Druck aus Moskau und dem Westen hin- und her gezogen würde.

Jeder Kriegshetzer in Deutschland scheint geradezu erpicht darauf zu sein, russisches Blut fließen zu sehen. Da ist der Unterschied zu den russischen Kriegshetzern nicht sehr weit!

Es ist wirklich absolut schockierend, wie heute die geradezu Geilheit, russisches Blut fließen zu sehen, in Deutschland wieder vorherrscht!

Die sehr gefährliche und mörderische Politik von Putin ist schrecklich. Doch niemand macht auch nur minimal den Versuch, zu verstehen, dass es geopolitisch ganz ähnlich war, was die Deutschen und die NATO 1999 im Kosovo machten. Sie griffen Belgrad und Serbien an, töteten Tausende Menschen, um der Abspaltung einer jugoslawischen Provinz Vorschub zu gehen – Kosovo. Nichts anderes passierte auf der Krim oder jetzt im Donbass. Das war jeweils völkerrechtswidrig. Jeweils!

Dabei ist die Kritik am Antisemitismus auf beiden Seiten wichtig. Erstmal geht es um den Antisemitismus der Ukraine, um die Neonazis und Rechtsextremen, die dort überall in der Politik, der Verwaltung und der Zivilgesellschaft zu finden sind. Doch auch in Russland gibt es genug antisemitische Attacken und ideologisch problematische Theoreme, inklusive nationalistischer Rhetorik ohne Ende. Das war zum Beispiel der Grund, warum ich mit einigen anderen – amerikanischen – Freunden und Kollegen skeptisch war bezüglich einer Konferenz gegen den „Nazismus“ – A World without Nazism (WWN) -, die 2010 in Kiew stattfand. Das Tablet Magazine berichtete ganz differenziert und kritisch:

That the European Union has indeed failed to rigorously enforce laws on extremism and denial does not change the fact that the WWN’s condemnations, if they are to be taken seriously, must be matched by efforts to shame authorities in Russia itself, which is home to a growing culture of far-right street violence targeting Jews, activists, and, especially, migrant workers from Central Asia. Notably, WWN was silent in late August when 100 skinheads attacked a concert in the central Russian city of Miass, resulting in dozens of injuries and the death of a 14-year-old girl. (The organization did, however, find time in August to issue a statement in opposition to Manhattan’s Park51 development, aka the “Ground Zero Mosque.”)

One speaker in Kiev publicly addressed these issues and urged the new organization to recognize the historical crimes of communism, even as it challenges official efforts in Eastern Europe to equate and conflate those crimes with those of the Nazis. That speaker was Dovid Katz, a former professor at the University of Vilnius (and Tablet contributor) and the curator of HolocaustInTheBaltics.com. “While we reject the theories of ‘equivalence’ of Nazi and Soviet crimes,” said Katz, “we must be careful never to join those who would deny or mitigate or trivialize the enormous crimes committed by Stalinism and Soviet domination of many lands and peoples against their will.”

“It is also very important that our movement has a democratic Western atmosphere,” he continued. “It must never be seen to be in any way subservient to today’s Russian area politics. We should be meeting in Amsterdam, London, and Paris, not just Kiev, Moscow, and Minsk.”

Wir haben damals die antisemitische Prager Deklaration (für die der spätere Bundespräsident Joachim Gauck steht) bekämpft, ohne Putin zu unterstützen. Wir kritischen Antisemitismusforscher und Holocausthistoriker (m/w/d) waren eine Minderheit, aber wir wurden gehört und das Tablet Magazine hat darüber berichtet. Dovid Katz ist Teil meines Forschungszentrums The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA).

Sodann gibt es einen aktuellen Text ebenfalls im Tablet Magazine, der sich kritisch mit der pro-ukrainischen Kampagne in den USA befasst.

Der Autor Lee Smith hat sicher eine eher Pro-Trump Position, was selbstredend problematisch ist – aber das heißt nicht, dass viele seiner Aspekte wie die Korruption der Familie Biden und der Ukraine, oder der vom CIA ganz offensiv unterstützte Umsturz 2014, der ‚legale‘ Staatsstreich gegen eine pro-russische Regierung in Kiew, von hoher Relevanz sind. Das Tablet Magazine schreibt:

It is not an expression of support for Putin’s grotesque actions to try to understand why it seemed worthwhile for him to risk hundreds of billions of dollars, the lives of thousands of servicemen, and the possible stability of his own regime in order to invade his neighbor. After all, Putin’s reputation until this moment has always been as a shrewd ex-KGB man who eschewed high-risk gambles in favor of sure things backed by the United States, like entering Syria and then escalating forces there. So why has he adopted exactly the opposite strategy here, and chosen the road of open high-risk confrontation with the American superpower?

Yes, Putin wants to prevent NATO from expanding to Russia’s border. But the larger answer is that he finds the U.S. government’s relationship with Ukraine genuinely threatening. That’s because for nearly two decades, the U.S. national security establishment under both Democratic and Republican administrations has used Ukraine as an instrument to destabilize Russia, and specifically to target Putin.

Für das Tablet Magazine und die weltweite Friedensbewegung sollte die Ukraine eine Pufferzone sein. Ein Land, das neutral bleiben sollte. Die völlig absurde einseitige Fokussierung auf die USA, ein Land, das kulturell, politisch, geographisch überhaupt gar nichts mit der Ukraine zu tun hat, im Gegensatz zu Russland, zeigt jetzt ihre fürchterliche Fratze. Ohne diese Einseitigkeit hätte es Putins Aggression nicht gegeben.

Und was soll man von einem Land, das so offen mit Neonazis kooperiert und sie gewähren lässt, seit Jahrzehnten, halten? Schon in den 1990er Jahren wurden Straßen nach dem Massenmörder, Antisemiten und Ultranationalisten Stepan Bandera in der Ukraine benannt, anstatt dass sich das Land einer gesamteuropäischen, friedlichen Zukunft geöffnet hätte, die sich Lissabon und Moskau verbunden fühlt.

Der aktuelle Krieg in der Ukraine hat eine lange Vorgeschichte. Da wäre, so das Tablet Magazine, z.B. das geplante Wirtschaftsabkommen der EU mit der Ukraine von 2013, das den dortigen Markt mit europäischen Waren fluten sollte, was dem europäischen Kapitalismus ein Freudenfest gewesen wäre, da diese auch den russischen Markt destabilisiert hätten. Dann kam 2014 und der Putsch in Kiew, der als ‚friedlich‘ dargestellt wird ohne zu betonen, welche enorme virtuelle, social media und geheimdienstliche Rolle dort z.B. die USA spielten:

The White House seems to have taken a perverse pride in the death and destruction it helped incite in Eastern Europe. In April 2014, CIA Director John Brennan visited Kyiv, appearing to confirm the agency’s role in the coup. Shortly after came Vice President Biden, who took his own victory lap and counseled the Ukrainians to root out corruption. Naturally, a prominent Ukrainian energy company called Burisma, which was then under investigation for corruption, hired Biden’s son Hunter for protection.

By tying itself to an American administration that had shown itself to be reckless and dangerous, the Ukrainians made a geopolitical blunder that statesmen will study for years to come: A buffer state had staked its future on a distant power that had simply seen it as an instrument to annoy its powerful neighbor with no attachment to any larger strategic concept that it was willing to support. Russia then lopped off half of the Donbas region on its border and subjected Ukraine to a grinding, eight-year-long war, intended in large part to underline Russian capacity and Ukrainian and American impotence.

Und was jetzt folgt, hätte es unter Willy Brandt niemals gegeben, nicht mal zur Hochzeit des Kalten Krieges: jetzt gibt es den heißen Krieg mit deutschen Waffen, gegen „den“ Russen! Darauf hat das deutsche Kapital, hat die Bundeswehr und haben die Bluthunde der reaktionären und Mainstreampresse seit 1945 gewartet. Endlich wieder gegen „den“ Russen kämpfen, endlich!! Und diesmal mit Erfolg. Daher wird die Bundeswehr so locker flockig 100 Milliarden (!) bekommen, damit sie aufrüsten kann, wie die Tagesschau berichtet. 2019 analysierte die Tagesschau noch differenziert und relativ ausgewogen, dass weder Trump noch Biden koscher sind:

Wenige Tage später zeigte Vizepräsident Biden mit einem Besuch in Kiew Unterstützung für die ukrainische Regierung, dies inmitten steigender Spannungen mit Russland. Am 13. Mai 2014 gab Burisma bekannt, dass Hunter Biden einen Vorstandsposten übernehmen werde. Er hielt ihn bis 2019 inne. In Zusammenhang mit dieser Tätigkeit wurde laut „Kyiv Post“ zu keiner Zeit gegen Hunter Biden ermittelt.

Entlassung des Generalstaatsanwalts durchgesetzt

Der Vorwurf gegen Joe Biden lautet nun, er habe die Ermittlungen gegen Burisma und damit möglicherweise gegen seinen Sohn unterdrücken wollen. Dazu habe er 2016 die Absetzung von Generalstaatsanwalt Viktor Schokin gefordert und davon die Gewährung einer Kreditgarantie in Höhe von eine Milliarde US-Dollar an die Ukraine abhängig gemacht.

Bei einer Veranstaltung des „Council on Foreign Relations“ am 23. Januar 2018 in Washington beschrieb er selbst, wie er die ukrainische Führung im Frühjahr 2016 unter Druck setzte:

… Ich schaute sie an und sagte: Ich reise in sechs Stunden ab. Wenn der Staatsanwalt bis dahin nicht gefeuert ist, bekommt ihr das Geld nicht. Nun ja, Mistkerl. Er wurde gefeuert. Und sie ersetzten ihn durch jemanden, der zu der Zeit zuverlässig war.

 

Man muss sich das vorstellen. Ein Politiker eines anderen Landes, ein Vizepräsident der USA, rühmt sich, dass er den Generalstaatsanwalt der Ukraine entlassen ließ, indem er die Regierung in Kiew erpresste.

Dazu schweigen die Scholz‘ und Baerbocks und Lindners und manövrieren sich jetzt parallel zur Corona-Krise in die nächste für eine Demokratie wie die Bundesrepublik Deutschland präzedenzlose Zerbröselung aller verhältnismäßigen und rechtsstaatlichen Institutionen und vor allem der abwägenden, reflektierten und zurückhaltenden politischen Kultur.

Scholz möchte wie die Fanatiker im Kalten Krieg mit Milliarden die Russen fertig machen, das ist die Motivation.

Eine demokratische Antwort auf den Angriff von Putin wäre gewesen, seinen diplomatischen Vorstoß von Dezember 2021 aufzugreifen und jegliche NATO-Aktivität in Osteuropa zu hinterfragen. Besonders faszinierend wäre es gewesen, gerade jetzt Russland eine Mitgliedschaft in der NATO anzubieten und damit das Bündnis ad absurdum zu führen oder aber als tatsächliches Abwehrbündnis, das Völker verbindet.

Aber der Kapitalismus oder die ach-so-freie Markwirtschaft dulden keine Nebenbuhler. Sie sehen sich als einzigen Sieger der Geschichte an und werden alles tun, bis Russland völlig am Ende ist.

Dass Russland Atomwaffen hat, das vergessen die Wahnsinnigen. Da können die westlichen Kapitalisten Russland noch so bankrott wirtschaften, diese Waffen sind da.

Und dass Amerika das Land ist, das das größte Verbrechen mit Atombomben bereits 1945 zweimal begangen hat, das vergessen diese Leute auch.

 

Der Philosoph Günther Anders hat damals sofort erkannt, dass wir in der „Endzeit“ leben, unser Leben ist nur noch eine „Frist“. Und die deutsche Bundesregierung, die Amerikaner und die NATO tun aktuell alles, damit diese Frist möglich kurz ist.

Ja, Putin hat diesen Krieg gegen die Ukraine begonnen und der Krieg muss sofort aufhören.

Aber ohne die NATO, die Amerikaner und Deutschen wäre es nicht zu diesem Krieg gekommen. Sie haben die obsessiven Antikommunisten und Pro-Nazis in der Ukraine jahrzehntelang hofiert und aktiv unterstützt, eine Regierung weggeputscht und in der Ukraine NATO Manöver abgehalten.

Wenn das keine Bedrohung ist für Russland, was dann?

 

Der Konflikt ist also weit komplexer, als es die antikommunistischen Bluthunde im deutschen Feuilleton und im Boulevard, der Politik oder in der Bundesliga und der Berliner Staatsbibliothek sehen wollen, die alle nur einen Bösen kennen und von Diplomatie, verbaler Abrüstung nichts wissen wollen.

Der größte Sieger ist die deutsche Rüstungsindustrie. Die politische Kultur, die von Merkel und Scholz schon seit März 2020 während Corona so massiv beschädigt wurde wie noch nie seit 1945, die nimmt jetzt noch dramatischeren Schaden.

 

So wie 1979 ff. viele alte Nazis bei der Gründung der Grünen dabei waren, so wie 1999 die Grünen  den ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945 planten und durchführten, so sind es jetzt wieder die Grünen, wieder zusammen mit der SPD und auch mit den ‚Liberalen‘ (FDP), die mehr Waffen wollen, mehr Gewalt fördern und wieder eine bislang nicht überschrittene Grenze planieren.

Es gibt „keine roten Linien“ mehr für ein völlig durchgeknalltes Establishment, dem kein Mensch Einhalt gebietet. Der Unterschied zwischen Putin und seinen westlichen Counterparts ist minimal. Die Deutschen unterscheiden zwischen russischem und ukrainischem Blut. Menschenrechtler*innen sind gegen jeden Krieg, egal ob er virtuell und kapitalistisch, aber nicht minder mörderisch ist wie der offen blutige Krieg Putins gegen die Ukraine.

Das ist also kein Plädoyer für eine Seite, Putin ist die Gefahr UND die NATO, Amerika und Deutschland sind auch eine Gefahr.

Doch solche der Reflektion und Verhältnismäßigkeit verpflichtenden Positionen sind nicht erwünscht. Die Deutschen wollen wieder gegen „den“ Russen kämpfen. Lesen Sie die Bild-Zeitung oder die Springer-Presse insgesamt, schauen Sie sich Statements der deutschen Bundesregierung an und Sie wissen, dass ich Recht habe.

Im Freitag ist ein weiterer kritischer Text zu finden, der selbstredend den Angriffskrieg von Putin verurteilt, aber auch einen verschärften Blick auf das unerträgliche Klima in Deutschland hat:

Aber auch in Deutschland ist die Brutalisierung der Gesellschaft bereits zu spüren. Die unkontrollierten Münder des Röttgen und der Stelzenmüller waren ein Symptom dieser Zuspitzung; dass die Position Wagenknechts dermaßen lächerlich gemacht werden konnte, war ebenfalls ein Symptom dafür, dass Putin sich längst außerhalb des Denkbaren bewegt hat. Die Schlagzeilen der letzten Tage vor dem Krieg rochen nach dieser Verrohung: Putin wurde als „wahnsinnig“ bezeichnet, als „krank“. Bei hart aber fair wurde darüber sinniert, ob er mit Steroiden behandelt werde. Und verhandelt man etwa mit Wahnsinnigen?

Die drohende Brutalisierung der Gesellschaft geht aber weit über diese (noch?) relativ zaghafte Kriegsrhetorik hinaus. Im Focus ließ sich Josef Seitz bereits zu dem Argument herab, Minderheitenmeinungen seien doch endlich zu ignorieren: Dazu zählte er sowohl lesbische und schwule Elternschaft, als auch Coronaleugner, als auch die politischen Einschätzungen von Sahra Wagenknecht. Tenor: Es herrscht Krieg, wir haben keine Zeit mehr für diesen Schwachsinn! Am Tag des Angriffs knüpft der Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt direkt an diese Argumentation an. Deutschland sei in den Nachkriegsjahren unter dem Schutz der Nato „schwach“ geworden: „Die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Debatten der vergangenen Jahre waren Ausdruck einer geradezu liebenswerten Naivität und Entrücktheit, die sich jetzt rächen könnten“, und: „Jetzt ist klar, dass man sich wehren muss und wehrhafter sein muss. Die Freiheit wird nicht am Tampon-Behälter in der Männertoilette verteidigt, eher am Hindukusch und ganz konkret bei unseren Freunden in der Ukraine, in Kiew, in der Ostukraine und im ganzen Land.“

„Bleibt zärtlich“ ist zwar süß gemeint, aber bei Leuten, die kapitalistisch, imperialistisch, deutsch und revanchistisch, aber nie zärtlich waren, ein Schrei in die Leere.