Von Dr. phil. Clemens Heni, 28. Januar 2022
Einer der bekanntesten Intellektuellen Frankreichs und Europas hat schon im Frühjahr 2020 ein Buch geschrieben über Corona, das Leben und den Tod: Bernard-Henri Lévy (BHL):
Das Buch erschien 2020 in Paris auf Französisch, die englische Übersetzung erschien am 28. Juli 2020 bei Yale University Press. Der Verlag Yale University Press befindet sich nur wenige Hundert Meter von meiner alten Wohnung in Downtown New Haven, ich bin fast täglich an dem Verlagsgebäude vorbeigelaufen und hatte auch mal ein Treffen bei einem Verlagsmitarbeiter und Lektor, der mitunter bei Veranstaltungen unserer Yale Initiative for the Interdisciplinary Study of Antisemitism (YIISA) auftauchte.
Lévy schreibt:
But everyone also knows that there is a doctrine of hygienics that goes something like this: health becomes an obsession; all social and political problems are reduced to infections that must be treated; and the will to cure becomes the paradigm of political action. (S. 10)
Er wundert sich vorgeblich, dass seine kurdischen Freunde von den „Peshmerga“, echte Kämpfer*innen, Panik bekommen hatten vor einem Virus, dabei würde doch der Name „Peshmerga“ bedeuten:
Those who go out to meet death.
Er geht auf Nigeria ein, ein Land, mit dem er sich vor Ort beschäftigt, und erwähnt, dass es bis Mitte April 2020 12 Corona-Tote in Nigeria gegeben habe, aber 18 Tote, die von Sicherheitskräften erschossen worden waren, weil sie Lockdown-Regeln gebrochen hätten. (S. X) Man sieht, dass in manchen Teilen der Welt noch härter mit Lockdownbrecher*innen umgesprungen wird als in Hamburg, wo rasende Bullen einen Jugendlichen fangen wollten, der andere „abgeklatscht“ hatte in einem Park, oder in London, wo illegale Geburtstags- oder Weihnachtsparties von Premier Boris Johnson kurzzeitig eine kleine Krise auslösten.
Er macht sich über die islamistischen Terrorgruppen Hisbollah und Hamas lustig, die auch in Panik verfielen und vom Erzfeind Israel Beatmungsgeräte verlangten.
I can hear Richard III: ‚A mask! A mask! My kingdom for a mask!‘ (S. X)
Lévy zitiert den Gründungsdirektor des Yale-Griffin Prevention Research Centers, David L. Katz, der davor warnte, dass unser Kampf gegen das Coronavirus womöglich schlimmer sein könnte als die Krankheit. (S. 31) Ähnlich argumentierte der Bestsellerautor Thomas Friedman in seiner Kolumne in der New York Times (S. 33). Was passiert mit den Menschen, die nur eine Einzimmerwohnung haben, von Lärm und Kindern umgeben, bei Stay-at-Home-orders? (S. 40) Ganz zu schweigen von denen, die gar kein Zuhause haben, wie es Millionen im Trikont, aber auch in Amerika und Europa geht. (S. 43) Was das Menschsein ausmache, sei gerade der Blick auf die oder den Anderen, so der Philosoph Emmanuel Levinas (S. 45), den Lévy als Freund einführt.
But, in this very word, in the social distancing urged upon us, in the safety zones that we were exhorted to erect around ourselves, and in the wearing of masks (which is changing the look of our cities as the virus spreads), was there not something radically opposed to Levinas‘ ethic of faces and of ethics in general? (S. 46)
Diese sehr klugen Gedanken konterkariert Lévy aber immer wieder, wenn er die frühen Lockdowns und Maskenmandate von Merkel und Macron geradezu feiert in seinem Buch, es hätte ja wohl keine Alternative gegeben. Er hat bei aller Einsicht in die internationalen Verwerfungen, die kommenden Hungersnöte wegen der unterbrochenen Globalisierung – den disruptiven, ergo: logischen Konsequenzen einer kapitalistischen Weltwirtschaft -, keinen Begriff vom pandemic turn. Er redet, aber er analysiert nicht, er ignoriert die Zahlen und Fakten und reiht einen Philosophen an den anderen, von Diogenes über Aristoteles bis Foucault oder Hume.
Mit einem besseren Lektorat hätte das ein gutes Buch werden können. Schweden ist ihm kein Wort wert, dabei haben die Schweden doch gezeigt, dass man ohne Lockdown und ohne Masken in so einer Mega-Krise sehr rational und vernünftig leben kann. Ich hatte erstmals Anfang April 2020 auf das schwedische Modell hingewiesen. Lévy leidet an dem Problem, das viele Essayist*innen und Feuilletonist*innen haben: Sie haben von allem eine Meinung, können sich zu allem, was angesagt ist, äußern – aber selten wird es wissenschaftlich und tiefgehend oder kohärent. Lévy präsentiert sich als eloquenter Autor, als narzisstischer Überflieger, der sich bei den Griechen so gut auskenne wie bei Nietzsche, Sartre, Foucault, Moria, Bangladesch, Nigeria, Bosnien oder der Ukraine sowie natürlich jüdischer Philosophie. Er ignoriert die epidemiologische Forschung, die es mit Prof. John Ioannidis schon seit März 2020 zu Corona gibt.
All die klugen Worte von Nietzsche sind in den Wind geschrieben, der sie im Meer der Beliebigkeit ertränkt. Lévy huldigt dem Lockdownwahn von Macron und Merkel:
Europe was doing the best it could. It flooded the market with liquidity. And its leaders (Emmanuel Macron, Angela Merkel, Christine Lagarde) proved worthy, standing firm against the storm and putting together a comprehensive plan for the north to support the south, for those countries best able to resist the pandemic to aid the most distressed. (S. 85f.)
Das ist großer Zynismus. Als ob nicht die Reisebeschränkungen gerade von Frankreich und Deutschland weltweit für unermessliches Leid und für unzählige Tote geführt hätte. Dabei war von Anfang an klar, dass Covid-19 eine Krankheit der Alten ist. Auf dem Kreuzfahrtschiff Princess Diamond, wo ja niemand entfliehen konnte, starben ziemlich exakt so wenige wie an allen anderen Orten in Europa und Amerika: ca. 0,23 Prozent Infektionssterblichkeit. Ioannidis ging am 17. März 2020 in seinem grundlegenden Text zur Kritik der Panikmache und in seinem Plädoyer für eine nüchterne und rationale Analyse der Situation, von ca. 0,3 Prozent Infektionssterblichkeit auf der Princess Diamond aus.
Bei den Montagsspaziergängen laufen viele ganz normale Deutsche mit. Früher und auch heute würde ich sicher nicht wenige dieser ganz normalen Deutschen in Anlehnung an Eike Geisel als „Otto Normalvergaser“ bezeichnen:
„Für Otto Normalvergaser ist die Welt von gestern noch in Ordnung gewesen.“ Damit ist alles über Deutschland nach 1945, das „Labyrinth des Schweigens“ – so der Titel eines aktuellen Kinofilms über die Vorgeschichte des Auschwitzprozesses – und die heutigen Retter des Abendlandes gesagt. Besser hat kein Autor die deutschen Zustände nach 1945 in einem Satz auf den Punkt gebracht.
Ganz normale Deutsche, die sich großteils nie um die NS-Vergangenheit ihrer politischen und kulturellen Elite, ihrer Verwandtschaft und der deutschen Richter und Henker gekümmert haben. Dazu gehören auch solche, die – wie jetzt in Österreich eine Journalistin, die zum Glück gefeuert wurde – meinen, die Nazis seinen „durch und durch Sozialisten“ gewesen. Lévy sekundiert das zumindest indirekt, indem er schreibt:
The one [mundus, world] that fell into ruins twice in the twentieth century – or three times, if you count the prolonged decay of communism – but that its inhabitants succeeded each time in rebuilding. (S. 90)
Nun, das europäische Judentum wurde zerstört. Da wurde nichts wieder aufgebaut. Das weiß Lévy eigentlich. Ansonsten ist das halt ein Auschwitz in seiner Singularität trivialisierendes Gerede, wenn er den Ersten mit dem Zweiten Weltkrieg gleichsetzt und dazu noch den Kommunismus packt. Das ist dann schon sehr nah an Joachim Gaucks Prager Deklaration von 2008, die Rot und Braun auf eine Stufe stellt und Europa auffordert, gerade die jungen Menschen zu indoktrinieren, dass Rot und Braun jeweils gleich schlimm und mörderisch seien.
Zudem gibt es auf den Demonstrationen gegen die Coronapolitik viele, die patriarchal die Genderschreibweise diffamieren (dazu schreiben mich häufig no-name Trottel an, die meine Texte zu Corona mitunter gut finden, aber meine Genderschreibweise verachten – auf solche Leser, fast immer Männer, kann ich SEHR gerne verzichten), den von Menschen gemachten Klimawandel leugen, das Abholzen der Urwälder in Brasilien und weltweit entwirklichen, die vom Kapitalismus – und nicht etwa nur den Big Pharma oder High Tech Giganten – zu verantwortenden Zustände auf diesem Planeten nichts hören wollen und lieber vom bösen Geld und der großen Verschwörung der Mächtigen faseln. Verschwörungswahnwichtel eben. Levy kritisiert all diesen Blöd- und Wahnsinn. Er ist ein Ex-Linker, aber er kritisiert den Rassismus der westlichen Welt, sieht die Klimakatstrophe und das Ungleichgewicht von Süd und Nord. Aber er verharmlost die Gründe dafür. Er mag den Kapitalismus.
Auch Lévy kritisiert das Versagen der linken Eliten en passant (S. IX), aber seine Anti-Trump-Position, die ja grundsätzlich sympathisch und völlig richtig ist, verhindert es, dass er auch mal nach der möglichen Lab Leak Theorie Ausschau hält und nicht erkennen kann, wie fanatisch Joe Biden abgehen würde. Biden hat ja nach Erscheinen des Buches von Lévy bekanntlich die toten amerikanischen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg im Krieg gegen Nazi-Deutschland gefallen sind, mit den Corona-Toten auf eine Stufe gestellt. So eine NS-Verharmlosung ist jetzt Mode.
Es laufen da montags auch viele stolzdeutsche Fußballfans mit, die sonst gerne wie der woke rot-grüne Mainstream 2006 oder 2014 fanatisch den Deutschen zujubeln. Es gibt aber auch junge Leute, Studierende mithin, die ich da jetzt immer öfter sehe auf den Montagsdemonstrationen, die nicht alle so unreflektiert sein müssen.
Lévy betont am Ende, dass „Xi“ aus China der größte Feind der Freiheit sei. Nun, was sagt aber Lévy zu jenen aus Italien, Deutschland, England, Israel, Amerika, die exakt diesen Xi als ihr großes Vorbild nahmen und die präzedenzlosen, niemals auch nur für denkmöglich gehaltenen Zerstörungen des gesamten gesellschaftlichen und privaten Lebens in Demokratien (!) voranbrachten und exekutierten? Da ist Lévy völlig blind und ignorant, ja weite Teile seines Buches, die ganz hervorragend, stellenweise herausragend sind, dementiert er selbst mit seiner affirmativ-totalitären Position Pro-Lockdown im Frühjahr 2020.
Ein besseres Lektorat des französischen oder amerikanischen Verlags hätte den Autor vor dieser Heuchelei, diesen Widersprüchen schützen müssen. Denn so bleibt ein ganz fahler Nachgeschmack.
In jedem Fall sind all diese Demonstrant*innen Kämpfer*innen für die Freiheit, die in der Bundesrepublik Deutschland noch nie so eingeschränkt war wie unter Merkel und Scholz sowie Steinmeier. Das hat Bernard-Henri Lévy gerade nicht erkannt.
Lévy affirmiert sogar den ZeroCovid-Wahn in Australien, früh im Jahr 2020:
And, all things considered, a heavy dose of caution, and even pandemic regulations like those in Australia authorizing visits to the beach provided one did not built sandcastles or sunbathe, or in California where one had to remain mobile on the beaches (yes to walking, running, swimming; no to sunbathing, picnics, and volleyball), are preferable to the irresponsible stupidity of the Belarussian leaders who deemed it ‚patriotic‘ not to cancel soccer matches or to Trump brazenly and blindly declaring that the country would be open for business by Easter. (S. 72)
Offenbar glaubte Lévy diesen epidemiologischen Blödsinn selbst! Er macht sich gar nicht die Mühe zu eruieren, wie minimal die Chance ist, sich am Strand in Kalifornien, also im Freien, überhaupt mit einem Virus wie SARS-CoV-2 anzustecken, am Strand sitzend oder liegend bei Sonnenschein oder Regen. Er glaubt einfach daran, das macht ihn zu einem Zeugen Coronas, einem irrationalen Gläubigen, auch contre coeur.
Apodiktisch schreibt der Lockdown-Befürworter Lévy ohne den Hauch von Kenntnis epidemiologischer Zahlen:
Well, I will say it again: we probably had no other choice, certainly not at first. (S. 71)
Nun, wer ist nur der wirklich Dumme, der Diktator aus Weißrussland oder der Coronapolitik-Großaffirmator Lévy? Hier mal die offiziellen Todeszahlen pro eine Million Einwohner*innen, wobei wir wie empirisch gesättigt gezeigt an Hand britischer Zahlen davon ausgehen können, dass nur 12 Prozent (!) aller Corona-Toten auch Corona-Tote waren: Frankreich 1985, USA 2701, Weißrussland 634, Kalifornien 2017. Sprich: mit weniger restriktiven Maßnahmen als in Kalifornien starben in Weißrussland dreimal weniger Menschen an oder doch nur mit Corona als im hardcore Lockdown- und Maskenfetischismus- sowie A-Sozialem Abstandsbundesstaat Kalifornien. Wer lacht da länger, Bernard-Henri Lévy?
Dabei hat er interessante und zum Nachdenken anregende Passagen:
… as Foucault did, with his last breath, ‚Call Canguilhem, he knows how to die!’… (S. 62)
Man muss also Levinas und Nietzsche vor dem Zugriff des Großaffirmators und Lockdownbefürworters Lévy retten.
Denn was Lévy von Nietzsche zitiert, trifft die Zeugen Coronas ins Herz, so sie je eines hatten, aber es trifft eben auch Lévy selbst, der es wirklich schafft, jede kritische Erkenntnis zu ‚verbabbeln‘, wie die Schwaben sagen würden.
Er geht auf so gut wie jeden weltweiten politischen Konflikt ein, Klimakatastrophe, China, Sudan, Syrien, Bosnien, Nigeria, Brexit, Bangladesch, Islamismus und sonstigen religiösen Fanatismus, Konflikte, die wegen Corona alle vergessen wurden. Aber er erwähnt sie unterm Strich doch nur, um seine Affirmation von Merkel und Macron wattebauschig zu verpacken und sich ein gutes Gewissen zu verschaffen. Denn im Kern hat er Folgendes selbst gar nicht kapiert – oder aber er ist doch nur ein typischer und durchaus zynischer und selbstredend narzisstischer Celebrity-Opportunist, der halt den Mächtigen schmeicheln will, obwohl er sie tief im Innern verabscheut, die Zeugen Coronas:
It was the thinking of Nietzsche, the anti-Greek, who nevertheless agreed with the Greeks that life is never just that, and that unless it tends to toward something else, unless it aspires to great life, unless it opens the hatches and portholes to the intelligence of other people and other things, it does not deserve to be called life. (S. 69f.)